UNIVERSITÄT HEIDELBERG GERMANISTISCHES SEMINAR D - 69117 Heidelberg Hauptstraße 207-209 Prof. Dr. Heimuch Kiesel hetmuth.klesel@gs.unl-heidelberg.de Gutachten zur Habilitationsschrift von Herrn Dr. AleS Urvälck Über Reflexionen der Nachriegsdeutschheit in der westdeutschen Literatur und Geschichtswissenschaft: Herr Urválek widmet sich mit seiner Habilitationsschrift über die Reflexionen der Nachriegsdeutschheit in der westdeutschen Literatur und Geschichtswissenschaft einer besonders komplexen und umstrittenen Thematik. Sie wurde in unzähligen Schriften verschiedenster Art und in bedeutungsvollen Reden von Politikern, Historikern und Schriftstellern erörtert und führte mehrfach zu heftigen Debatten (Fischer-Kontroverse, Historikerstreit, Walser-Bubis-Debatte), die - teils geschichtswissenschaftlich, teils literarisch induziert - über den jeweiligen Ursprungsrahmen hinausdrängten und eine breitere Öffentlichkeit nicht nur interessierten, sondern involvierten und zu einem Publikum machten, das sich Leserbriefen, Memoranden und anderen Formen artikulierte. Und das heißt: Der Gegenstand der Arbeit von Heim Urválek ist in verschiedener disziplinarer Hinsicht eine Untersuchung wert - und hatte eine objektivierende Exploration und Darstellung, wie sie Herr Urválek im letzten Jahr vorgelegte, dringend nötig, weil die Frontstellungen und dogmatischen Behauptungsansprüche, die einer objektivierenden Betrachtung im Weg stehen, in Deutschland immer noch wirksam sind. Insofern ist es, wie ich nach der Lektüre der Arbeit von Herrn Urválek sagen kann, geradezu ein Glücksfall, daß sich einmal ein ausländischer Experte, der kein Vertreter der einen oder anderen Richtung ist, dieses Themas angenommen hat und es sine ira et studio behandelt, zugleich aber mit bewundernswürdiger Sachkunde und mit großem, aber nicht unkritischem Verständnis für die Motive, Absichten und Bedingtheiten der einzelnen Richtungen und ihrer Exponenten. Darstellungstechnisch geschickt und sachlich erhellend ist das erste Kapitel über Deutschlandreden in den 1980er Jahren. Sie kommen aus verschiedenen Bereichen (Sozialphilosophie, Geschichtswissenschaft, Politik, Literatur) und haben entsprechend unterschiedliche Charaktere und Zielsetzungen, zeigen aber, wie eng die gedanklichen, wenn auch kontroversen Verbindungen zwischen den verschiedenen Artikulationen sind; in dem zusammenfassenden Unterkapitel „Deutschlandreden jenseits der Disziplinarität und Ideologie" (S. 28-32) wird dies verdeutlicht. Zugleich wird damit der Problemhorizont beschrieben, der das weitere Vorgehen bestimmt. In den folgenden Kapitel werden zunächst basale Denkmuster (wie „entweder - oder", aufgefächert in „Freiheit oder Einheit" usw.) und Theoreme (wie „deutscher Sonderweg") erörtert (S. 33-65); danach werden in längeren Kapiteln die wichtigen (und bereits erwähnten) Debatten rekapituliert (S. 66-143). Alle diese Kapitel zeichnen sich durch explorative Umsicht (zumal wenn man unzähligen Hinweise in den Anmerkungen mit berücksichtigt), analytische Eindringlichkeit und darstellerische Prägnanz aus; auch wenn man diese Debatten, wie ich, seit Ende der 1960er Jahre miterlebt und in wissenschaftlicher Absicht beobachtet hat, liest man die Ausführungen von Herrn Urválek von Seite zu Seite mit Gewinn. Auch die folgenden Kapitel stellen eine großartige Leistung dar. Unter dem leitenden Gesichtspunkt - Deutschland- oder Deutschheitsproblematik - werden die umfangreichen, komplexen und vielfach erörterten Werke von Günter Grass, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und Botho Strauß auf eine wiederum eindringliche und zugleich prägnante Weise unter Berücksichtigung der reichen Forschungsliteratúr erörtert. Die eingangs exponierte These, daß in der „Vielheit" der Werke eine große „Einheit" von Problemstellungen und Erpressungsversuchen zu beobachten sei (S. 143) wird vielfach bestätigt. Als fruchtbar erweist sich auch der hier neu gewählte methodologische Ansatz, der auf die Generationsspezifik der Deutschland- oder Deutschheitsthematisierung abhebt (S. 150 ff.). In den literarischen Werken und sonstigen Artikulationen der untersuchten Autoren ist sie mit Händen zu greifen; die Ausfiihrungen von Herrn Urválek zeigen aber auch, daß es viele generationsübergTeifende Fragestellungen und Denkmuster gab, die auf eine manchmal überraschende und für manche Beobachter konsternierende Weise in Anschlag gebracht wurden, insbesondere von Martin Walser und Botho Strauß. Insgesamt stellt die Arbeit von Herrn Urválek einen wichtigen und glänzenden Beitrag zu literaturgeschichtlichen Aufarbeitung der politisch-literarischen Deutschlanddebatten in der Bundesrepublik Deutschland dar. Sie reflektiert nicht nur ein erregendes Stück Literaturgeschichte, sondern auch die Entwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland auf eine überaus erhellende Weise. Sie besticht durch die breite literarische und geschichtswissenschaftliche Belesenheit, die sich in ihr dokumentiert, und durch ebenso triftige wie prononcierte Thesen. Sie überzeugt durch ihr interdisziplinär ausgreifendes und zugleich stringentes Konzept, durch ihre analytische Eindringlichkeit und Differenziertheit, durch die Klarheit und Ausgewogenheit des Urteils im einzelnen wie im ganzen, durch ihre kompositorische Wohlproportioniertheit sowie ihre terminologische Präzision und sprachliche Lebendigkeit und Eleganz, die für einen Verfasser, der Deutsch nicht als Muttersprache hat, trotz einiger kleiner Fehler bewundernswürdig ist. Sie genügt allen Standards, die von einer Habilitationsschrift auf diesem Gebiet zu erwarten sind, in reichlichem Maß. Ich würde keinen Augenblick zögern, sie meiner eigenen Fakultät als gültige Habilitationsleistung vorzulegen. Ich erlaube mir, der Filozofická fakulta Masarykovy univerzity zu empfehlen, die von Herrn Dr. Urválek vorgelegte Arbeit als Habilitationsschrift anzunehmen. Heidelberg, den 13. März 2017 Prof. Dr. Helmuth Kiesel PS. An einer Stelle ist die Darlegung für einen Moment irritierend. Auf Seite 277 f. heißt es: „Aus Walser wurde somit spätestens in den 1990er Jahren ein (freilich auch generationell) dubioser Autor, der langfristig die Literatur dazu missbrauche, um darin unbestraft nationalistische und antisemitische Meinungen zu präsentieren, Aufgrund des Indikativs von „wurde" liest man dies als Befund des Verfassers, wundert sich dann aber über den folgenden Konjunktiv („missbrauche"), der indirekte Rede anzeigt und auf Dritte verweist, die aber nicht ausdrücklich genannt wurden, sondern nur hinter der vorausgehenden Formulierung, daß „es nie besonders schwierig gewesen" sei, „hinter seinem Unwillen [...] einen Wunsch zu entdecken [...]". Mit dem folgenden Abschnitt („Entgegen dieser Kritik [...]") wird diese Irritation ausgeräumt, doch sollte sie besser schon gar nicht zugelassen werden.