UNIVERSITÄT WÜRZBURG Julius-Maximilians- Institut für deutsche Philologie Philosophische Fakultät JMU Würzburg, Am Hubland, 97074 Würzburg Prof. Dr. Wolfgang Riedel Lehrstuhl für neuere deutsche Literatur- und Ideengeschichte An/To Filozofická fakulkta/Faculty of Arts Masarykova univerzita Vice Dean Prof. PhDr. Petr Kyloušek, CSc. Arna Nováka 1 60200 Brno Akademie der Wissenschaften München Telefon: 0931 / 31-85639 Vizepräsident der Univ. Würzburg wolfgang.riedel@.uni-wuerzburg.de o. Mitglied der Bayerischen Würzburg, 15.4.2017 GUTACHTEN zur Habilitationsschrift von Herrn Mgr. Ales Urvälek, Ph.D., Reflexionen der Nachkriegsdeutschheit in der westdeutschen Literatur und Geschichtswissenschaft Die der Fakultät vorgelegte Arbeit widmet sich einem ungemein wichtigen Thema öffentlicher - politischer, publizistischer, geschichtswissenschaftlicher und literarischer - Diskurse und Debatten seit 1945. Der untersuchte Zeitraum erstreckt sich über das zweite Halbjahrhundert nach Kriegsende, etwa bis zur Mitte der 1990er Jahre. In die Untersuchung einbezogen sind einerseits repräsentative öffentliche Reden, vorwiegend aus den 1980er Jahren, von Politikern wie zum Beispiel dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker [1985], politischen einflussreichen Philosophen wie Hermann Lübbe (1986) oder weithin als politische Meinungsführer geachteten Schriftstellern wie Günter Grass (1985) oder Martin Walser (1988). Einen weiteren Schwerpunkt bilden die auf breiter Ebene zur Kenntnis genommenen, ja seinerzeit mir großer Heftigkeit rezipierten wissenschaftlichen Grundsatzdebatten wie die Fischer-Kontroverse der 60er, der Historiker-Streit der 80er und die Goldha-gen-Debatte der 90er Jahre. Und nicht zuletzt werden auch und vor allem - und für eine germanistische Qualifikationsschrift ist dies auch essentiell - die literarischen Tendenzen im Hinblick auf die Diskussionen um das Deutschlandbild und die nachkriegsdeutsche(n) >Iden-tität(en) vor und nach 1968 einlässlich untersucht (Drei Siebtel der Arbeit widmen sich diesem literaturgeschichtlichen Seite des Themas): skeptische Generation< (50er Jahre), >Acht-undsechzigen (1968ff.), >Abschied von der Geschichtsphilosophie< (etwa der Enzensberger der 80er Jahre) und schließlich Öffnung zum Neokonservatismus (etwa der Botho Strauß der 90er Jahre) heißen hier die entwicklungsgeschichtlichen Stichworte. Mit alledem ist ein sehr breites, ja erschöpfend zu nennendes Fundament gelegt, was gleichzeitig, ich betone das nachdrücklich, eine enorme Leistung in der Aufarbeitung des reichen und zugleich sehr unterschiedlichen Quellenmaterials darstellt. Ich zögere nicht, diese Anstrengung imponierend zu nennen! 1, Zum Thema 2. Zur Arbeit Die Arbeit umfasst 370 Seiten ist in insgesamt 10 Kapitel gegliedert; eine umfangreiche, 25-seitige Bibliographie beschließt sie. Kap. 1, eine Art Einleitung, beginnt mit der >kleinen Form< der Rede, wie schon erwähnt, exemplarisch aus den 1980er Jahren: Deutschlandreden nach 1945 (S. 1-32). Hier werden gleichsam en miniature das Gesamtfeld und die politischen Positionierungen darin abgesteckt, und vor allem auch die Sprachpolitik (Weizsäcker), die sprachlichen Grenzverschiebungen (Nolte), aber auch die sprachlichen Fallstricke (Jenninger) aufgezeigt. Kap. 2, Entweder-Oder: Kontinuität der Schemata (S. 33-65), zeigt einige Konstanten oder To-poi in diesen über mehrere Jahrzehnte hinweg reichenden Diskursen auf: »Einheit vs. Freiheit«, »Sonderweg«, »Weg nach Westen«, aber auch die bis auf die deutsche Aufklärung zurückzuführende Rede von der »Kulturnation« oder die Sternberger-Habermas'sche >Versöh-nungsformeh vom »Verfassungspatriotismus«. Kap. 3 und 4, Niederlage oder Befreiung (S. 66-102) und Essentielle Deutschheit (S. 103-143) befasst sich mit den erwähnten Debatten der Historiker, beginnend bei den Nazismus und Kommunismus gleichsam abstrakt egalisierenden Totalitarismuskonzepten der unmittelbaren Nachkriegszeit (als seriösester mag hier wohl der Historiker Karl-Dietrich Bracher gelten) und ihrer Diskussion. Täusche ich mich, oder nimmt man aus dem Fernblick von heute her einen gewissen Soliditätsabfall durch diese Debatten hindurch wahr. Einerseits wird man sagen können, dass etwa Bracher und Goldhagen in durch verschiedenen Klassen spielen, aber auch die Fischer-Kontroverse scheint mir vielfach sachorientierter und substantieller gewesen zu sein als der Historiker-Streit. Freilich, ideologisch durchwirkt ist dies ailes gleichermaßen, und anders als distanziert kann man wohl nicht zurückblicken. Jedenfalls wählt die Arbeit mit dieser Ferndistanz die wissenschaftlich angemessene Einstellung dazu. Mit Kap. 5, Die Suche nach einem passenden Zugang (S. 144-185), beginnt der literaturgeschichtliche Teil der Untersuchung, zunächst ansetzend beim Generationenproblem. Dieses war soziologisch früh konzeptualisiert (Karl Mannheim) und wurde bald nach dem Krieg auf die westdeutsche Lage adaptiert (Helmut Schlesky). Nicht ungeschickt das Verfahren, durch eine spätere Brille (Bodo Morshäuser) und jene 50er Jahre - ihr Exponent hier ist Grass - zurückzublicken. Die analytische Distanzhaltung wird somit, bei aller kritischen Einstellung des Verfassers, sogleich etabliert. Kap. 6 bis 9 widmen sich nacheinander Martin Walser (S. 200-239), Hans Magnus Enzensberger (S. 239-299, mit dem resümierenden Einschub Enzensberger und Peter Schneider in Kap. 8, S. 273ff.) und schließlich Botho Strauß (S. 299-336); sie stellen eine in sich konsistente Folge monographischer Kapitel dar. Diese Kapitel zeichnen sich durch große Differenziertheit aus. Obwohl hier nichts beschönigt wird, etwa beim manchmal recht zwiespältigen Walser, gelangt der Verfasser durchweg zu ausgewogenen Urteilen. Besonders bei Enzensberger gelingt ein literarisches Profil eines - in der Zeit, aber auch in sich selbst - sehr beweglichen Geistes, immer mit punktgenauen, erhellenden Bezügen zu Zeitgenossen wie Hannah Arendt oder Odo Marquard. Speziell das Strauß-Kapitel war für mich lehrreich. So, mit genau abgeleiteter Konntextualisierung, habe ich Strauß' geistigen Entwicklungsgang von Adorno bis Gömez-Dävila noch nicht gelesen. 2 Kap. 10 rundet als Nachwort die Studie ab (S. 337-345). In ihm wird nicht zuletzt mit der Neigung auch der deutschen Nachkriegsintellektuellen, im Entweder/Oder-Schema zu denken, (kann man sagen, mit dem Fichte-Heidegger-Erbe in deutschen Köpfen?) abgerechnet -im Namen eines (mir persönlich jedenfalls sehr sympathischen) Skeptizismus. Aber es wird (S. 339) auch festgehalten, dass die deutschen Schriftsteller und Vordenker de facto und vor allem lebenspraktisch sehr viel skepsisaffiner waren, als sie in der Auseinandersetzung bereit waren zuzugeben. Sie waren fähig, »sich selbst zu bezweifeln« (ebd.). Dass das den Auslandsgermanisten tröstlich stimmt, kann nicht überraschen. Es entspricht aber auch, wenn ich diese unvermeidlicherweise etwas persönlich getönte Bemerkung hinzufügen darf, auch der Selbstwahrnehmung meiner Generation (Jahrgang 1952). 3. In summa: Die »Deutschheit« (der Duden kennt das Wort übrigens nicht! Als Kunstwort zum Zwecke einer wissenschaftlichen Analyse wie hier mag es taugen; sein befremdlicher Charakter mag für die innerdeutsche Rezeption der Studie sogar nützlich sein) der Nachkriegsdeutschen lässt sich schwer fassen oder in eindeutigen Begriffen fixieren. Wahrscheinlich gibt es sie auch außerhalb der untersuchten Texte und Diskurse nur im Plural, vielleicht wie überall. Als deutscher Germanist halte ich es für eine der wichtigsten und berufensten Aufgaben nichtdeutscher Germanisten, analytisch und mit kühlem Fernblick diese Fragen aufzugreifen und die historisch gegebenen Antworten darauf zu sezieren. Dies ist hier getan - und gelungen! Ich spreche dem Kandidaten darob als Gutachter meine ausdrückliche Hochachtung aus (obwohl ich als Deutscher eher dazu schweigen sollte). Das für germanistische Arbeiten dieses Zuschnitts wichtige, manchmal schwierige Verhältnis zwischen ideengeschichtlichen und literaturhistorischen Anteilen ist hier sehr gut ausbalanciert. Auch ist diese deutschen Fassung der Arbeit sehr gut und leserfreundlich, ohne peinlichen Wissenschaftsjargon, geschrieben. Diese wichtige Studie, der ich eine Publikation in einem sichtbaren deutschen Verlag wünsche (Empfehlungen dazu könnte und würde ich bei Bedarf geben), erfüllt ohne Einschränkung alle Anforderung an eine Habilitationsschrift an einer Philosophischen Fakultät, oder in der im Anschreiben an mich vorgeschlagenen englischen Version, it meets the Standard requirements placed on habilitation theses in the field. Ich beglückwünsche die Fakultät zu ihrem Kandidaten. Nach bestem Wissen und Gewissen, hochachtungsvoll (Wolfgang Riedel) 3