UNIVERSITÄT WÜRZBURG lulius-Maximilians- Instituttür deutsche Philologie Sprachwissenschaftliche Abteilung Am Hublsnd D 97074 Würzburg Prof. em. Dr. DDDDr.h.c. Norbert Richard Wolf nrwolf@t-online.de 11.Februar 2015 Gutachten Veronika KotÜLKOVÄ: Infinitivkonstruktionen valenz- und konstruktionsgrammatisch betrachtet. Am Beispiel des Acl. Habilitationsschrift, Brno 2014. Dem Titel der vorliegenden Arbeit ist nicht zu entnehmen, dass Frau Kotülkovä eine kontrastive Untersuchung zur Syntax einer bestimmten Verbform als Habilitationsschrift vorgelegt hat: Gegenstand der Arbeit ist der verbale Infinitiv, im Speziellen in sog. Acl-Konstruktionen, im Deutschen und Tschechischen. Sie legt dabei theoretische und methodische Ansätze sowohl der Valenz- als auch der Konstruktionsgrammatik zugrunde, was, wie ich vermute, nicht nur den Gutachter neugierig macht. Der Sprachenvergleich ist vor allem auch deshalb interessant, weil das Deutsche und das Tschechische ziemlich unterschiedlich in und mit Infinitivkonstruktionen verfahren. So ist allein schon eine Zusammenstellung von tschechischen (Über-setzungs-)Äquivalenten zu deutschen Infinitivkonstruktionen eine verdienstvolle Sache s.u.). Damit ist ein weiteres Charakteristikum der Arbeit Frau KOTÜLKOVÄs angedeutet: Sie geht ,korpuslinguistisch' vor; sie hat dabei den Weg über gestaffelte Korpora' gewählt, d.h. sie sucht zunächst ihre Objekte in einem ,kleinen Korpus', dem zweisprachigen DeuCze-Korpus, das in Zusammenarbeit der Germanistischen Abteilung an der Schlesischen Universität Opava mit dem Lehrstuhl für deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Würzburg entstanden ist. Um weitere Beispiele und ,Fälle' zu finden, wendet sich Frau KOTÜLKOVÄ an die beiden großen Referenzkorpora des Deutschen und des Tschechischen; auf diese Weise werden auch .frequenzorientierte' Analysen möglich, die zumindest erste Hinweise auf Zentrum und Peripherie der behandelten Phänomene geben. Frau KotÜLKOVÄ schränkt schon im Untertitel ihrer Arbeit ihr Thema auf die Acl-Konstruktionen ein. Dennoch meint sie in ihrem Vorwort, dass es bei „der umfassenden Thematik dieser Arbeit [...] nicht möglich" sei, „alle angesprochenen Probleme erschöpfend zu klären" (S. 9). Es wird also auch eine Aufgabe des Gutachtens sein, festzustellen, ob alle wesentlichen „Probleme" angesprochen bzw. alle wesentlichen Fragen zumindest gestellt werden. Frau Kotülkovä wiederholt sogar ihre Einschätzung: „Infinitivkonstruktionen stellen ein recht komplexes und umfangreiches Thema dar, das als Ganzes nicht im Rahmen einer Arbeit abzuhandeln ist." (S. 12) Und sie fährt dann fort: „Aus diesem Grund beschränkt sich das Forschungsinteresse dieser Untersuchung auf Infinitivkonstruktionen, die einen Acl beinhalten." (Ebd.) Frau KotÜLKOVÄ formuliert hier etwas wider ihr besseres Wissen. Ich hätte mir eine deutlicher sachbezogene Begründung für die Wahl der Acl-Konstruktionen als Thema gewünscht. Diese Konstruktionen machen den unterschiedlichsten theoretischen Ansätzen Schwierigkeiten, weil hier eine Prädikation in eine andere eingebettet und diese Transformation flexionsmorphologische Konsequenzen hat. Ich gestehe gerne, dass ich als Valenztheoretiker an Seite 1 von 6 dieser Stelle mit einer Erklärung immer gescheitert bin. Frau KOTÜLKOVÄ liefert zumindest Ansätze zu einer besseren und adäquateren Beschreibung von solchen Konstruktionen. Allerdings sollte sie im Kapitel „Terminologisch-methodische Grundlagen" (S. 12) nicht formulieren, dass irgendwelche Konstruktionen „einen Acl beinhalten", da der Acl selber eine Konstruktion ist und nicht „beinhaltet" wird. Gerade ein terminologisch fundierendes Kapitel sollte terminologisch präzise verfahren. Es sollte überdies nicht verschweigen, dass auch andere Kombinationen von finiten Verben mit Verben im Infinitiv in dieser Arbeit thematisiert werden. Diese letzte Bemerkung sollte allerdings nicht an- und bedeuten, dass Frau KOTÜLKOVÄ unpräzise gearbeitet hat, sondern dass einige endgültig scheinenden Formulierungen doch (noch) nicht ganz fertig sind. Andererseits kann jetzt schon festgehalten werden, dass Frau KOTÜLKOVÄ ein sehr waches Theoriebewusstsein hat und dass sie sehr wohl imstande ist, Probleme ihres Faches zu erkennen und einer Lösung näher zu bringen. Die Arbeit ist klar gegliedert: Nach den „terminologisch-methodischen Grundlagen" (S. 12ff.) kommt der obligate Forschungsbericht „Die Darstellung des deutschen und tschechischen Infinitivs in modernen Grammatikbüchern" (Kap. 2, S. 55ff.); darauf folgen: Kap. 3: „Zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen des deutschen und tschechischen Infintivs" (S. 83ff.), Kap. 4: „Zentrale Fragestellungen der Infinitivforschung und daraus resultierende Zielsetzung der Forschung (S. 121 ff.), Kap. 5: Acl-Konstruktionen (S. 142ff.). Kap. 6: Acl-Konstruktionen nach Wahrnehmungsverben (S. I47ff.), Kap. 7: Acl-Konstruktionen nach dem Verb lassen (S. 182), Kap. 8: Zusammenfassende Analysen der Acl-Konstruktionen mit Auswirkung auf den Grammatikalisierungsprozess (S. 235ff.) Kap. 9: Fazit und Ausblick (S. 246ff.). Die Erläuterungen zu Theorie und Methode fallen sehr knapp aus. Frau KOTÜLKOVÄ diskutiert hier nicht, sondern - diesem Vorgehen möchte ich durchaus zustimmen - führt nur diese Kennzeichen einer Theorie oder/und einer Methode an, die für sie von Belang sind. Dadurch wird klar, worauf es Frau KOTÜLKOVÄ ankommt und wie sie vorzugehen gedenkt. Dennoch würde ich (mir) an manchen Stellen (in der ganzen Arbeit) wünschen, dass sie stärker argumentierend und abwägend vorgeht. Andererseits erweckt sie den Eindruck, dass sie über Selbstverständlichkeiten überrascht ist: „Das Dritte eines Vergleichs (das tertium comparationis) scheint tatsächlich ein wichtiges Konzept der kontrastiven Linguistik zu sein." (S. 17) Der Leser ist überrascht, dass das Tertium comparationis ein „Konzept" sein soll und dass Frau KOTÜLKOVÄ nicht bewusst gewesen zu sein scheint, dass jeder Vergleich eines Tertium comparationis bedarf. Für sie sind die Infinitive das Tertium comparationis, somit kein „Konzept", sondern ein Phänomen, das in den beiden verglichenen Sprachen vorhanden ist. Konsequenterweise handelt Frau KOTÜLKOVÄ danach das Problem der Übersetzung ab, wobei sie besonderes Gewicht auf das Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext bzw. zwischen Original und Translat legt. Auf diese Weise bekommt man noch wichtige Informationen und Begründungen zur Zusammenstellung des DeuCze-Korpus, das ja aus belletristischen Texten besteht. Die Vorstellung der beiden grammatischen Ansätze (im engeren Sinne) fällt ebenfalls sehr knapp aus. Die Autorin beweist dennoch, dass sie die Forschungsliteratur gut kennt und die bisherige Forschung sowohl nutzbar zu machen als auch fortzuführen weiß. Bedauerlich ist nur, dass immer wieder kleiner Unsauberkeiten, Fehler und Lücken begegnen. Auf S. 27f. z.B. will Seite 2 von 6 Frau kotülkovä anhand des Beispielsatzes (den sie im DeReKo gefunden hat) Er wollte damit wohl auf den Ehrgeiz und Fleiß seiner Leute hinweisen die Dreiwertigkeit eines Verbs demonstrieren, übersieht aber, dass hier das Verb unterwertig verwendet wird. Auf S. 39 übersieht Frau Kotülkovä - um einen anderen Fehlertyp anzuführen -, dass der Literaturhinweis „Willems/Coene" auf zwei Autoren verweist, weswegen der daran angeschlossene Relativsatz das Subjekt im Plural haben muss. Im Zusammenhang mit der Erörterung einiger Prinzipien der sog. Konstruktionsgrammatik betont Frau Kotülkovä, „dass es eine feste Beziehung zwischen Form und Bedeutung bzw. zwischen Syntax und Semantik gibt" (S. 29) und sieht diesen grammatiktheoretischen Ansatz „als Gegenbewegung zur generativen Grammatik" (S. 30). Abgesehen davon, dass dies höchstens teilweise zutrifft, sollte man festhalten, dass Derartiges in der europäischen Grammatiko-graphie seit Jahrzehnten nicht nur bekannt, sondern auch erfolg- und ertragreicher Usus ist. Ein Theoretiker wie Eugenio Coseriu hat mehrfach betont, dass die Generative Grammatik kein Ansatz zur Beschreibung einer Einzelsprache ist, sondern dass vielmehr der Langage (im Sinne de Saussures) damit erfasst werden soll(/kann?). Der Gegensatz zur Generativen Grammatik könnte sich aus der amerikanischen sprachwissenschaftlichen Situation erklären, die dazu führt, dass nicht die europäische Forschungstradition zur Kenntnis genommen wird, sondern dass es einfacher scheint, das Rad neu zu erfinden und dann auch neu zu benennen. Dennoch bleibt zu prüfen, ob alle Axiome, die im Zusammenhang mit der Konstruktionsgrammatik formuliert worden sind und werden, als Dogmen weiter transportiert werden müssen. Frau Kotülkovä präsentiert in diesem Kapitel einige ,Lehrsätze' (die in Frau kotülko-väs Text nicht so genannt sind), die sie sogar fett gedruckt werden. Einer dieser Sätze lautet: „Grammatik ist nicht-derivationell und nicht-modular." (S. 35) Dies trifft sicherlich zu, wenn man auf das Verhältnis von Form und Inhalt schaut; doch eine , Konstruktion' wie das Passiv ist doch viel besser als das Resultat einer Transformation zu beschreiben, weil ja die Passivstrukturen regelhaft und regelmäßig von Aktiv herzuleiten sind, auch wenn sich einige Verwendungsweisen verselbständigt haben. Dasselbe gilt Für den Satz „Grammatik und Lexikon werden nicht separat behandelt, sie stellen ein Kontinuum dar." (S. 36) Diese Äußerung ist nur dann sinnvoll, wenn man das Phänomen Semantik auf die Wortsemantik einschränkt. Dies würde aber dem Ansatz der Konstruktionsgrammatik zuwider laufen, andererseits geht Frau kotülkovä nicht darauf ein, dass die Wortsemantik gerade bei der Valenz eine zentrale Rolle spielt, dass wir hier an der ,Nahtstelle' von Syntax und Semantik sind. Ich konzediere, dass meine Wortwahl Nahtstelle nur dann sinnvoll ist. wenn ich das Kontinuum außer Acht lasse. Diese Gravamina verstehen sich als Hinweis für eine eventuelle Drucklegung der Arbeit. Frau Kotülkovä hat die wesentlichen Probleme erfasst, sie sollte nur die Formulierungen präzisieren und ihre Argumente auf diese Weise schärfen. Sehr schön erläutert Frau Kotülkovä die Relation von der Valenz- zur Konstruktionsgrammatik, sodass der Schlusssatz dieses Kapitels den Leser etwas ratlos lässt: „Ich glaube nicht grenzenlos an die Richtigkeit einer Sprachtheorie." (S. 39) Zum Einen handelt es sich nicht um Sprach-, sondern um Grammatiktheorie, zum Andern kombiniert Frau kotülkovä mit guten Gründen zwei Grammatiktheorien, um ein Phänomen so vollständig wie möglich zu erfassen. Dass Frau KOTÜLKOVÄ korpuslinguistisch vorgeht, wurde schon erwähnt. Dies ist zu begrüßen, weil solche Untersuchungen authentische Belege benötigen, um zu validen Ergebnissen zu kommen. In diesem Zusammenhang setzt Frau Kotülkovä die „Generative Grammatik" den „Funktionalen Grammatiken" (vgl. die Tabelle S. 49) gegenüber; der Plural in der Kopfzeile der Tabelle wird in der Unterschrift zur Tabelle „Generative Grammatik versus funktonale Grammatik" durch den Singular ersetzt. Nach der Tabelle erwähnt Frau kotülkovä knapp und ohne Konsequenzen die Einschätzung der Generativen Grammatik durch Euge- Seite3von 6 nio Coseriu und grenzt schließlich die „traditionelle (formale) Grammatik" von der „funktionalen Grammatik" ab. Methodische Erfordernisse korpuslinguistischen Vorgehens wie Exhaustivität, Frequenzorientiertheit und Kontextsensitivität werden nicht erwähnt und spielen im Folgenden der Arbeit kaum eine Rolle. Das zweite Kapitel, ein Forschungsbericht, befasst sich - die Kapitelüberschrift kündigt es schon an - nur mit Gesamtdarstellungen der deutschen Grammatik, beginnend mit Johannes Erben (1980) und endend mit Wolfgang Boettcher (2009). Vergleichbares gilt für die Beschreibungen der tschechischen Grammatik. Frau KotŮlková referiert dann für jedes einzelne Werk die Spezifika, die die Autoren in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlicher Gewichtung anführen. Es wird hauptsächlich referiert, kaum kommentiert oder gar evaluiert. Dieses Kapitel endet ohne Zusammenfassung. Für die Druckfassung empfehle ich ganz dringend, die referierten Arbeiten viel deutlicher zu kontextualisieren und auch die Notwendigkeit einer spezialisierten Beschäftigung mit einigen Infinitivkonstruktionen aus dem Forschungsüberblick abzuleiten. Einzig in der Fußnote 13 auf S. 83 verweist sie aufgrund einer nicht zufriedenstellenden Behandlung von „Gemeinsamkeiten und Differenzen im Bereich der Infinitivkonstruktionen" auf die Notwendigkeit ihrer Arbeit. Wir erfahren allerdings im zweiten Kapitel nichts über Monographien oder Aufsätze zum Thema Infinitivkonstruktionen. In der Einleitung zu dem Kapitel über das Vorkommen des Infinitivs in den beiden untersuchten Sprachen fasst Frau Kotülkova zusammen: „Den Infinitiv kann man in beiden Sprachen als Teil des Verbalkomplexes (der Verbalphrase), Ergänzung zum Verb, Angabe zum Verb, Attribut zum Nomen oder Adjektiv verwenden." (S. 85) Diese Verwendungsweisen werden dann ausführlich mit Beispielen, zum größten Teil aus dem DeuCze-Korpus. belegt und kommentiert. Schwierigkeiten habe ich vor Allem mit dem Kapitel 3.3 „Infinitiv als adverbiale Angabe zum Verb" (S. 109). meint hier Infinitivkonstruktionen als ,verkürzte' Nebensätze; etwa eine um zw-Konstruktion, die für einen Finalsatz (oder auch einen Vergleichsatz, in diesem Fall handelt es nicht mehr um eine Angabe) stehen kann. In solchen Fällen scheint es mir einfacher und damit angemessener zu sein, doch Transformationen von der satzförmigen Konstruktion zur satzwertigen Infinitivkonstruktion anzunehmen, wobei subjunktionsähnliche Elemente wie um die semantische Relation zwischen übergeordnetem und untergeordnetem Satz signalisieren. Zudem ist zu prüfen, ob Angaben zum Verb .gehören' oder nicht doch Konstituenten des Satzes sind; auf S. 134 schreibt Frau KotŮlková von „einer Angabe zum Matrixsatz", sodass sich der Leser fragt, ob die Autorin im Laufe der Arbeit etwas dazu gelernt, sie aber nicht mehr frühere Formulierungen ihrem neuen (Er-)Kenntnisstand angepasst hat. Dies trifft auch für die Terminologie zu: So spricht - ich nenne hier nur ein Beispiel - an einer Stelle von .Matrix-', an anderer Stelle von ,Hauptsätzen'. Interessant sind für mich die Kombinationen von Infinitivkonstruktionen mit Fortbewe-gungsverben (vgl. S. 113f.). Die wenigen Beispiele dafür können Lust auf mehr wecken; ich verstehe dieses Bekenntnis als Anregung für eine spätere Untersuchung. Das ganze dritte Kapitel bekommt in einem „Fazit" die Aufgabe, zu demonstrieren, dass es kaum möglich sei, festzustellen, „wann den deutschen Infinitivkonstruktionen im Tschechischen Infinitivformen gegenüberstehen" (S. 120). Die Frage, ob es sich hier um systematische Differenzen oder um Übersetzungsprobleme handelt, wird nicht gestellt. Kapitel 4 (S. 121 ff.) signalisiert fast eine neue Arbeit: Frau KotŮlková geht aufs Neue ins Grundsätzliche und stellt, z.T. in intensiver Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur, fundamentale Fragen, so nach den infiniten Verbformen, in Sonderheit nach dem Infinitiv; die Beschäftigung mit dieser Form wird aufs Neue begründet. Nahezu 100 Seiten der Arbeit widmet Frau kotůlková den sog. Acl-Konstruktionen. Sie Seite 4 von 6 klassifiziert diese in zwei Gruppen; zum Einen in die „Ad-Konstruktionen nach Wahrnehmungsverben" (S. 147), zum Zweiten in „Acl-Konstruktionen nach dem Verb lassen" (S, 182ff.). lassen ist sicherlich das am häufigsten verwendete ,Kausativverb', zu dieser Klasse gehören noch machen (vgl. Goethes Faust: Der Kasus macht mich lachen; das Wahrig-Wörterbuch nennt die hiefür die Fügungen jmdn. lachen, weinen machen ,zum Lachen, Weinen bringen') und heißen (das Wahrig-Wörterbuch annotiert heißen in seiner Verwendung als Kausativverb mit der Frequenzangabe „seltener" und bringt als Kontextbeispiele: ich hieß ihn antworten, eintreten, schweigen). Es lässt sich also gut begründen, warum man sich im Rahmen einer Monographie wie der vorliegenden nur mit lassen beschäftigt, auch wenn Frau KOTÜLKO-VÄ an mehreren Stellen vorher, besonders im Zusammenhang mit Literaturverweisen, alle drei Verben erwähnt, aber weder Verwendungsbeispiele noch Analysen davon bringt. Dennoch gilt: Gerade in diesem Kapitel zeigt Frau KOTÜLKOVÄ, was sie kann. Sie erörtert die unterschiedlichsten Verwendungsweisen, interpretiert sie zum Teil auch als Lesarten (Frau KOTÜLKOVÄ spricht von „Interpretationstypen"), berücksichtigt die Kontexte und liefert präzise syntaktische Analysen; auf diese Weise wird auch der Zusammenhang von Form/Morphosyntax und Bedeutung deutlich sichtbar. Ein Punkt scheint mir fragwürdig zu sein: Ist die Verwendung einer Konstruktion in Phraseologismen (etwa jemanden laufen lassen) ein eigener „Interpretationstyp" (S. 205), oder sollten wir nicht eher von einer Metaphorisierung eines anderen Interpretationstyps ausgehen? Gerade für die Konstruktion lassen als Kausativverb reicht ein kleines Korpus wie das DeuCze-Korpus gut aus. Allerdings, für die phraseologische Verwendung dieser Konstruktion muss Frau KOTÜLKOVÄ auf größere Korpora, vor Allem auf das DeReKo, aber auch auf Interkorp zurückgreifen. Das zweisprachige Korpus veranlasst Frau KOTÜLKOVÄ nicht, nach vergleichbaren Konstruktionen im Tschechischen zu suchen, sondern vielmehr Übersetzungsäquivalente zu präsentieren, was uns wieder einmal klar macht, dass nicht einzelne Konstruktionen — und seien sie noch so schön - übersetzt werden, sondern Texte, auf deren Inhaltsseite Textwelten angesiedelt sind und nicht Zusammenstellungen von einzelnen Wörtern, Phrasen oder, wie gesagt, Konstruktionen. Es Hegt auf der Hand, dass Wahrnehmungsverben ganz anders zu beschreiben sind als Kausativverben. Der Acl ist bei den Kausativverben sicherlich eine Konstruktion, ist nicht von einer (im Korpus belegten) Grundstruktur herzuleiten, Bei den Wahrnehmungsverben hingegen ist in der Regel ein Inhaltsatz mit den Subjunktionen dass oder wie (das hier keine Vergleichpartikel und kein lnterrogativ-/Relativadverb ist; vgl. auch die vorliegende Arbeit S. 161): Ich höre dich singen *- Ich höre, dass/wie du singst. Der Acl ist hier eine abgeleitete Struktur, die dem konstruktionsgrammatischen Axiom von der Nicht-Modularität der Grammatik widerspricht. Frau KOTÜLKOVÄ sucht alle Ausdrucksseiten auf, in denen Wahrnehmungsverben vorkommen, darunter auch idiomatisierte oder teilweise idiomatisierte Wortbildungen (sehen-sich wiedersehen), und will alle Kontexte erfassen, in denen diese Verben aufzufinden sind. Hier also geht es nicht so sehr um Konstruktionen, sondern um das syntaktisch-semantische Verhalten diverser Verben. Dabei fällt auf, dass bei Weitem nicht alle Wahrnehmungsverben einen Acl an sich binden können. Frau KOTÜLKOVÄ hält sich dabei terminologisch an Ulrich Engel, der in solchen Fällen von „Verbativergänzungen" spricht. Ich gebe zu bedenken, ob nicht der Eroms'sche Terminus der „Propositionalergänzung" angemessener ist, weil es in solchen Fällen doch eher um satzwertige als um wortwertige Strukturen geht. Zudem müsste deutlicher zwischen Akkusativergänzungen, die als Nebensätze realisiert sind, und Propositionalergän-zungen, die nur satzförmig möglich sind, unterschieden werden. Gegen Ende ihrer Arbeit plädiert Frau KOTÜLKOVÄ für eine „offene Grammatiktheorie" (S. Seite 5 von 6 240), von der sie sagt, dass unter diesem Begriff „solche theoretischen Ansätze verstanden [werden], in denen die Funktion der sprachlichen Formen im Vordergrund steht" (ebd.). Diese Charakterisierung trifft nur teilweise zu.,Offene Grammatiktheore' will zuallererst sagen, dass eine einzige Theorie zur Beschreibung und Erklärung eines so komplexen Systems wie des der Sprache nicht ausreicht und diesem nicht gerecht werden kann. Die abschließende Frage nach dem Stand der Grammatikalisierung der Wahrnehmungsverben und von lassen beinhaltet zunächst die Frage, ob diese Verben auxiliarisiert sind oder nicht. Eine endgültige Antwort auf diese Frage wird nicht gegeben, kann nicht gegeben werden. Etwa drei Seiten umfasst das Kapitel „Fazit und Ausblick". Dessen erster Satz lautet: „Die vorliegende Studie hat sich zum Ziel gesetzt, Infinitivkonstruktionen im Deutschen und Tschechischen zu vergleichen [...]." (S. 246) Dieser Satz bzw. seine Formulierung spiegeln einen Grundzug der vorliegenden Arbeit wider: Es wird ein zentrales Thema der Grammatik des Deutschen aufgegriffen, und in vielen Punkten werden plausible bis überzeugende Lösungsansätze geboten. Die mangelnde Durchstrukturierung bzw. Endredaktion der Arbeit führt an manchen Stellen zu inneren Widersprüchen und zu Lücken in der Stringenz und Kohärenz des Ganzen; überdies wird Manches mehr angedeutet als erschöpfend analytisch und synthetisch behandelt. Zudem hat Frau KOTÜLKOVÄ anscheinend vergessen, dass sie nicht nur tschechische Infinitivkonstruktionen erfasst, sondern in ganz großem Maße Übersetzungsäquivalente deutscher Konstruktionen, was ich aber - ich wiederhole dies absichtlich - durchaus positiv werte. Wenn ich die Pros und Contras der Arbeit Frau KOTÜLKOVÄs gegeneinander abwäge, dann komme ich zu dem abschließenden Urteil, dass sich die Autorin mit dieser Arbeit als eine begabte Grammatikerin präsentiert, die wesentliche Fragen ihres Faches erkennen und einer Antwort näher bringen kann. Dies wiegt weit schwerer, als die erwähnten Gravamina, sodass ich der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität Brno empfehle, die vorliegende Arbeit als vollwertige erste Habilitationsleistung anzunehmen und Frau KOTÜLKOVÄ zu den weiteren Schritten des Habilitationsverfahrens zuzulassen. Prof. Norbert Richard Wolf Seite 6 von 6