Gutachten zur Habilitationsschrift von Frau Dr. Renata Cornejo Die Habilitationsschrift von Frau Cornejo trägt den Titel „Heimat im Wort" und liegt bereits als Druckfassung vor, veröffentlicht 2010 im Praesens Verlag, Wien. Sie untersucht das künstlerische Schreiben zwischen zwei Sprachen, genauer^ den migrationsbedingten Sprachwechsel von Autorinnen und Autoren, die nach 1968 in ein deutschsprachiges Land emigrierten. Diese Analyse wird an einer Reihe treffend ausgewählter Schriftsteller(innen) vollzogen und durch insgesamt zehn Interviews ergänzt, die Frau Cornejo mit tschechisch-deutschsprachigen Autoren führte. Zur Fragestellung: Das Thema dieser Studie ist ebenso innovativ wie höchst relevant. Der Sprachwechsel von Schriftstellern zwischen Tschechisch und Deutsch wurde bislang, soweit ich sehe, nur punktuell untersucht, auf keinen Fall jedoch in so übergreifender, ja paradigmatischer Weise, wie Frau Cornejo das schätzenswerterweise tut. Dabei liefert die Studie neben treffenden Analysen auch neues Quellenmaterial, indem Frau Cornejo ihrer Untersuchung einen etwa 150-seitigen Anhang mit Autoren-Interviews beigesellt. Zudem versteht es Frau Cornejo in jedem Kapitel, die sehr gut erfasste, konkrete interkulturelle Situation tschechisch-deutschsprachiger Autoren mit grundlegenden Fragen der Interkulturalität zu verbinden. In diesem Sinne oszilliert der Text stets auf das Inspirierendste zwischen kompetenten Einzelanalysen und allgemeinen Diagnosen. Zur Gliederung: Frau Cornejo befasst sich, nach einer Ein leitung, mit literatur- und kulturgeschichtlichen Hinter gründen des Sprachwechsels allgemein wie des deutsch tschechischen Sprachwechsels im Besonderen. Danach fol gen zwei Analyse-Kapitel (3 und 4), die sich in Einzelbe trachtungen der Literarisierung des Sprachwechsels bei unterschiedlichen Autorinnen und Autoren annähern. Die Ergebnisse werden dann in mehreren Abschnitten auf eine abstraktere Ebene gehoben, indem im Kontext des Sprachwechsels über Phänomene wie Grenzgang, (Kultur-) Ubersetzung, Heimat, Fremd- und Selbstbild, Interimsexis- PROF. DR. ANDREA BARTL Neuere deutsche Litera turwissenschaft An der Universität 5 96047 Bamberg Tel. +49 (0)951- 863-2210 Fax +49 (0)951- 863-5210 andrea.bartl@uni-bamberg.de www.uni-bamberg.de Bamberg, den 23.09.10 tenz etc. reflektiert wird. Nach einem Schlusswort wird ein umfangreicher Anhang mit Autoreninterviews, Kurzlebensläufen, einem Literaturverzeichnis und Personenregister angefügt. Diese Vorgehensweise überzeugt in jedem Aspekt und erschließt das Thema facettenreich wie gründlich. Zur Einleitung sowie den Kapiteln 1 und 2: Die Einleitung macht sehr nachvollziehbar deutlich, welch große Relevanz diese Studie — allein schon angesichts der verstärkten Migrationsbewegungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und in der Gegenwart - hat. Sie reflektiert zudem kompetent über Schlüsselwörter der aktuellen Migrationsforschung und Kulturtheorie wie Migration, Interkulturali-tät, Hybridität. Auch Zielsetzung, Textkorpus, Forschungslage der Untersuchung werden stimmig umrissen. Die nächsten Kapitel führen dann viele der hier ausgerollten Fäden auf gedanklich hohem Niveau und mit nachweislicher Theoriekompetenz weiter, etwa wenn politikgeschichtliche und literarhistorische Hintergründe zum Schreiben in tschechischer wie deutscher Sprache bzw. in dem jeweiligen Literaturbetrieb geschildert werden. Sehr sensibel verortet Frau Cornejo dabei die jeweiligen Au-tor(inn)en zwischen den Sprachen und Kulturen — und in Bezug auf Begriffe wie Exil, Emigration, Migration, Inter-kulturalität, Bilingualität, Sprachwechsel etc. Dabei geht Frau Cornejo stets auch differenziert auf Besonderheiten, so die Sonderstellung Böhmens, ein. Interessant finde ich zudem die Abschnitte zur Kafka-Rezeption tschechischdeutschsprachiger Schriftsteller. Alles in allem gelingt es in diesen Kapiteln, eine wissenschaftlich fundierte und inhaltlich treffende Grundlage für die folgenden Einzeluntersuchungen zu etablieren. Zu den Einzelanalysen in den Kapiteln 3 und 4- Die Einzelanalysen, die in Kapitel 3 und 4 unternommen werden und die durch scharfsinnige Einleitungspassagen miteinander verknüpft sind, bieten ein facettenreiches Kaleidoskop unterschiedlicher Antworten auf die Fragen: Wie bereichert Zweisprachigkeit bzw. ein Sprachwechsel die Texte eines Autors? Wie verändert die erste Muttersprache die künstlerischen Formulierungen der zweiten? Welche existentiellen Probleme verursacht aber auch der Sprachwechsel? Ich kann hier aus Raumgründen nicht alle inspirierenden Thesen auflisten, die Frau Cornejo durch ihre kluge Textarbeit erzielt. Stellvertretend seinen einige genannt, weitere ließen sich unschwer finden: die dezidierte rhetorische Mittel- Stellung der Texte Monikoväs, auch deren Dialogizität und variantenreiche Einbeziehung tschechischen Vokabulars ins Deutsche; die kreativen Sprach-Experimente Stavarics, selbst und insbesondere in dessen Kinderbüchern (gerade dass diese in die Analyse miteinbezogen werden, ist äußerst reizvoll!); neuere, jüngere' Formen des produktiv verwandelten Sprachwechsels in Poetry Slam-Texten etc. Ich halte die Einzelanalysen für sehr gelungen, innovativ und auch in Auswahl wie Verzahnung gedanklich stringent. Zu Kapitel 5, dem „Exkurs" und den Schlussbetrachtungen: Die letzten Kapitel führen die ausgerollten Fäden elegant zusammen, verknüpfen sie und produzieren ein stimmiges Gedankengewebe, das die Einzeluntersuchungen nochmals auf abstraktere, repräsentative Gesichtspunkte hin trans-zendiert und mit aktuellen Kulturtheorien verbindet. Dabei kommen auch Reflexionen zum Selbstverständnis der Autoren und deren Wirkung im tschechischen Kulturkreis (vor / nach 1989) oder auch ihre Ubersetzertätigkeit zur Sprache. Das beweist einmal mehr, wie umfassend die Untersuchung ihren Gegenstand betrachtet - es bleibt im Grunde kein wichtiger Aspekt unbearbeitet! Hier wird in der Tat Grundlegendes zum tschechisch-deutschen Sprachwechsel erarbeitet. Zum Anhang: Besondere Perlen des Bandes sind natürlich die Interviews, die Frau Cornejo mit zehn Autor(inn)en führte und die im Anhang dokumentiert sind. In diesen grundlegenden Quellen werden künftig zahlreiche Literaturwissenschaftler nachlesen, die sich mit interkultureller Literatur, insbesondere der tschechisch-deutschen, beschäftigen. Diese Gespräche bieten viele interessante Lektüre-funde, die sich durch die intelligenten Kommentierungen zudem den Lesern gut erschließen. Zu Form. Stil, wissenschaftlicher Arbeitsweise der Untersuchung: Die Habilitationsschrift ist nicht „nur" inhaltlich, sondern auch in Bezug auf Stil und Form erstklassig. Frau Cornejo entwickelt einen wissenschaftlich präzisen, dabei eleganten Stil; die Kapitel sind gut miteinander verbunden - ja werden ausgesprochen reizvoll mit jeweils einem passenden Gedichttext eingeleitet. Auch alle formalen Aspekte (Umgang mit Sekundärliteratur, Theoriekompetenz, Methodik der Textinterpretation, Fußnotenapparat, Literaturverzeichnis etc.) überzeugen. Alles Gesagte zusammenfassend, komme ich zu folgendem Gesamtergebnis: Ich halte die Habilitationsschrift von Frau Cornejo für ein Grundlagenwerk der interkulturellen Literaturwissenschaft. Dank Frau Cornejo geraten endlich Texte in den Blick, die zum Teil bisher kaum untersucht wurden, und selbst bekannte Texte werden neu zum Sprechen gebracht. Alle der überzeugenden Einzelanalysen werden zudem zu einer abstrakten, repräsentativen und daher fachwissenschaftlich höchst wichtigen Reflexion über In-terkulturalität und Sprachwechsel verbunden. Ich bin sicher, die Untersuchung wird bald die große Aufmerksamkeit in der Forschung finden, die sie verdient! Die Arbeit erfüllt alle Bedingungen, die an eine Habilitationsschrift gestellt werden. Ich empfehle sie — ohne Einschränkungen und mit Nachdruck — zur Verteidigung. (Prof. Dr. Andrea Bartl.)