Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Winkelbauer Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung INSTITUT FÜR ÖSTERREICHISCHE GESCHICHTSFORSCHUNG Dr. Karl Lueger-Ring 1 (Universitäts-Hauptgebäude) A-1010Wien Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien Tel.: +43-1-4277-27210 Fax: +43-1-4277-9272 E-Mail: thomas.winkelbauer@univie.ac.at S. g. Herm prof. PhDr. Milan Pol, CSc. Masarykova univerzita Filozofická fakulta Habilitační a jmenovací řízení Arna Nováka 1 602 00 BRNO Sehr geehrter Herr Prodekan! Lieber Herr Kollege! Hiermit übermittle ich Ihnen - mit großer Verspätung, wofür ich ebenso um Nachsicht bitte wie für den Umstand, dass ich es in deutscher Sprache mache - mein Gutachten über das an der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität Brünn von Pavel HIML als Habilitationsschrift eingereichte Manuskript „Zrození vagabunda. Neusedlí lidé v Čechách v 17. a 18. století" (Brno 2012) Pavel Himl (geb. 1971), einer der begabtesten und besten tschechischen Frühneuzeithistoriker seiner Generation, hat seine 2007 ohne Fußnoten im Prager Verlag Argo erschienene zweite Forschungsmonographie um einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat erweitert und, soviel sei vorweggenommen, völlig zu Recht als Habilitationsschrift eingereicht. Das Thema liegt jenem seiner ersten Monographie - Wien, 11. Juli 2013 Tel.0043-(0) 1-4277/27201 od. 272/Dw. FaxOO43-(0 »1-4277/9272 ifoeg@univie.ac.at www.univie.ac.at/geschichtsforschung „Die .armben Leute' und die Macht. Die Untertanen der südböhmischen Herrschaft Český Krumlov/Krumau im Spannungsfeld zwischen Gemeinde, Obrigkeit und Kirche (1680-1781)", Stuttgart 2003 - nicht allzu fern. Diesmal stehen aber nicht angesessene Untertanen im Mittelpunkt seines Forschungsinteresses, sondern nichtsesshafte Menschen in Böhmen (und Mähren) in ungefähr demselben Zeitraum. Ein regionaler Schwerpunkt liegt auf der (ebenfalls schwarzenbergischen) Herrschaft Wittingau (Třeboň) und der Stadt Soběslav. Die Arbeit besteht neben einem einführenden Teil (Kapitel 1) und dem Schlusskapitel (Kapitel 6) aus vier Hauptabschnitten. Im einleitenden Teil bietet Himl sehr bedenkenswerte, in eher essayistischer Art vorgetragene theoretische Reflexionen über die Überprüfbarkeit, Glaubwürdigkeit und Angemessenheit historischer Interpretationen. Er geht dabei von persönlichen Beobachtungen der Behandlung von zeitgenössischen Obdachlosen aus, diskutiert die (problematische) Quellenlage für sein Thema und bekennt sich zu historiographischen Vorbildern und Anregern wie Carlo Ginzburg oder Natalie Zemon Davis. Im ersten Hauptabschnitt (Kapitel 2) umreißt der Autor den sozialen Raum, in dem sich die nichtsesshaften Menschen im frühneuzeitlichen Böhmen bewegten, wobei die königlichen Städte (besonders die Prager Städte) weitgehend ausgespart bleiben: die Institutionen der sesshaften Gesellschaft und deren Repräsentanten, mit denen die Nichtsesshaften in Kontakt und in Konflikt gerieten, also Landesämter und landesfürstliche Behörden (wie die Böhmische Statthalterei und das Prager Appellationsgericht), Kreisämter und Kreisbeamte, Herrschaftsbeamte, Ämter und Amtsträger der Städte und Dörfer (Bürgermeister, Stadträte, [Dorf-]Richter, Geschworene), Gemeinden und Nachbarschaften, Bauern, Haushaltsvorstände, Gastwirte etc. Weiters gibt er einen Überblick über die vagabundenfeindlichen Patente, Mandate und Dekrete der Landesfürsten. Eine deutliche und scharfe Kriminalisierung der „bloßen" Landstreicherei erfolgte übrigens erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts (namentlich in der 1708 von Joseph I. erlassenen Halsgerichtsordnung). Der zweite Hauptabschnitt (Kapitel 3) ist quellenmäßig fassbaren Nichtsesshaften und ihren Schicksalen gewidmet sowie der Frage, ob, wie und von wem die vagabundenfeindlichen Normen durchgesetzt wurden. Die Schilderung der konkreten Planung, Vorbereitung und Durchführung einiger der seit 1723 auch in den böhmischen Ländern erfolgenden Bettlervisitationen („Generalvisitationen" und „Partikular- Visitationen"), bei denen es sich um razzienartige Bettlerjagden handelte, leistet einen wichtigen Beitrag zur Geschichte von Verwaltung im Alltag. Der Autor gibt anschauliche Beispiele für die Auswirkungen der Landesvisitationen und des anschließenden „Schubs" auf das Leben konkreter Landstreicher und vazierender Bettler sowie für die „Handlungsstrategien" und „Aussagestrategien" der Aufgegriffenen und Verhafteten (beispielsweise das Verwenden mehrerer verschiedener Namen). Es sei nicht allzu schwierig gewesen, „padělat či prostě podle potřeby znovu a jinak zhotovit základní písemnosti, které totožnost jednotlivce dokládaly - kromě vysvědčení zachovalosti a počestného chování (ve službě) k nim patřily potvrzení o křtu, sňatku, propouštěcí list z panství (fedrovní list, losbríf), cechovní či řemeslnické dokumenty anebo vysvědčení chudoby a pasy pro žebráky či pocestné" (S. 126f.). Der dritte und mit 128 Seiten bei weitem umfangreichste Hauptabschnitt (Kapitel 4) hat die „nomadisierenden" „Zigeuner" in Böhmen und Mähren im 17. und 18. Jahrhundert zum Thema. Himl berichtet über zahlreiche Todesurteile gegen „Zigeuner", aber auch, und das ist doch überraschend, über zahlreiche bewilligte Gnadengesuche an den Monarchen. Der angeblich erst sechzehnjährige Honza Pinka gab auf den Vorwurf des Lomnitzer Syndikus (Schreibers) Thomas Velický, er treibe sich widerrechtlich ohne Passbrief herum, 1740 die bemerkenswerte Antwort (S. 139): „My jsme zdef rozený, nepotřebujem pasu." Der fünfzigjährige Jan Charvát äußerte 1712 beim Verhör in Kolín (S. 164): „Kdyby nás Pán Bůh na svět nechtěl mít, nebyl by nás na svět stvořil, však jsme také krví Krista Pána vykoupení a jsme křesťané." Charvát wurde zum Tod durch Erhängen verurteilt. Sein Gnadengesuch wurde abgelehnt, und er wurde wahrscheinlich hingerichtet. Wie das Prager Appellationsgericht mit Gnadengesuchen von „Zigeunern" und „Zigeunerinnen" verfuhr, geht aus seinen leider nur für die Jahre 1714 und 1715 erhaltenen, durch Kaiser Karl VI. veranlassten Gutachten hervor. Bei „böhmischen" (d. h. „einheimischen") Zigeunern jugendlichen Alters, bei denen eine Hoffnung auf „Besserung" bestand, neigten die Appellationsräte zu der Empfehlung, dem Gnadengesuch stattzugeben, sowie zu veranlassen, „Zigeunerkinder" ihren Eltern abzunehmen und an „sesshafte" Untertanenhaushalte zu übergeben. Ebenso interessant wie schwierig zu interpretieren ist der Umstand, dass das Appellationsgericht einen gewissen Vavřinec Groš sowohl als „Cikán" als auch als „dobrý Čech" bezeichnete (S. 175). Die offenbar gängige Vorstellung einer möglichen „Besserung" der als Die- be, Brandstifter und Spione verschrienen „Zigeuner" verdeutlicht, dass „Zigeuner" im Untersuchungszeitraum wohl keine essentialistische oder rassistische Zuschreibung war. Im vierten und letzten Hauptabschnitt (Kapitel 5) untersucht Himl die (wachsende) Bedeutung von Grenzen und territorialen Zugehörigkeiten für das Leben der Nichtsesshaften. Im Schlusskapitel schließlich geht der Autor den Zusammenhängen zwischen der „Sicherheit" (der sesshaften Bevölkerung), den (neuen) Praktiken und Techniken der „Identifikation" und der Entstehung des „modernen Staates" nach. Er macht dabei unter anderem darauf aufmerksam, dass die verschiedenen Identifizierungs- und Überprüfungsmethoden (z. B. eigenhändige Unterschriften in Pässen) erstmals im Umgang mit der nichtsesshaften Bevölkerung und anderen „verdächtigen" Gruppen angewendet wurden. In überzeugender Weise argumentiert er, dass die Notwendigkeit, die Maßnahmen gegen „Landstreicherei" zu koordinieren, neben der Einhebung von Steuern und der Rekrutierung von Soldaten eine wichtige Rolle bei der Integration der Grundherrschaften, Städte und Dörfer in eine zentrale staatliche Struktur spielte. Am Beispiel von quellenmäßig fassbaren „Landstreichern" und „Vagunden" - Männern, Frauen und Kindern ohne Zugehörigkeit zu einer bestimmten Grundherrschaft oder Stadt - untersucht Himl, welcher Methoden sich der sich allmählich zentralisierende und bürokratisierende „Staat" des 17. und 18. Jahrhunderts (in Gestalt der Habsburgermonarchie bzw. des Königreichs Böhmen) bediente, um die „Nichtsesshaften" zu erfassen, zu kontrollieren, zu disziplinieren, sesshaft zu machen, (wie-der)erkennbar zu machen (durch Pässe, Brandmarkung, Ohrenabschneiden etc.), aus dem Land zu schaffen oder letztendlich durch die Vollstreckung der Todesstrafe zu eliminieren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit der mustergültigen historisch-anthropologischen und Analyse stehen dabei eindeutig die „Leute am Rande", also die „Nichtsesshaften" selbst. Auf breitestmöglicher Quellengrundlage macht Himl die Leser mit den Lebensläufen und Schicksalen von mehreren Dutzend Menschen bekannt. Dabei handelt es sich bei einem großen Teil um Menschen, die von den Obrigkeiten (den Wiener Zentralbehörden, böhmischen Landesbehörden, regionalen Kreishauptleuten und Kreisbeamten, lokalen Grundherren und Herrschaftsbeamten, Bürgermeistern und Stadträten etc.) als „Zigeuner" bezeichnet wurde und die sich vielfach auch ausdrücklich zu dieser Identität bekannten (sei es als „böhmische" oder „deutsche Zigeuner", „einheimische" oder „fremde" bzw. „ausländische Zigeuner"). Wiederholt macht der Autor darauf aufmerksam, „že rekonstruovat pohled usedlých na neusedlé, a tedy to, zda a jak byli vrchnostenskými normami opravdu ovlivněni, se podaří jen zřídka" (hier S. 186). Der Autor ist ein ausgezeichneter Kenner der für sein Thema im weitesten Sinne einschlägigen Literatur in tschechischer, deutscher, französischer, englischer und polnischer Sprache. Kritisch setzt er sich besonders mit den Arbeiten jener tschechischen Kolleginnen und Kollegen auseinander, die sich schon vor ihm den „Vagabunden" und „Zigeunern" im barocken Böhmen gewidmet haben, wie insbesondere Eva Procházková, Jaroslav Pánek und Jiří Hanzal. Pavel Himl ist ein außerordentlich subtil argumentierender und seine eigene Rolle im Forschungsprozess konsequent reflektierender Historiker. Die Habilitationsschrift gewinnt dadurch stellenweise den Charakter eines großen, quellenbasierten, stark narrativen Essays und macht manchmal einen etwas unsystematischen, nicht allzu glücklich und übersichtlich gegliederten Eindruck, der durch nicht näher (etwa durch Zwischenüberschriften) gekennzeichnete, durch drei Sternchen vom Haupttext abgesetzte Textpassagen verstärkt wird. Sie hat dafür durchaus gewisse literarische Qualitäten. Das vorliegende Manuskript erfüllt die international an eine Habilitationsschrift im Fach Geschichte gestellten Erfordernisse ohne jeden Zweifel. Ich empfehle daher die Annahme des Manuskripts als Habilitationsschrift. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Winkelbauer