Prof. em. Dr. Gerhard Hahn Dechbettener Straße 5a 93049 Regensburg Universität Regensburg Institut für Germanistik Regensburg, 7.7.2011 Gutachten über die Habilitationsschrift von Frau Dr. Sylvie Stanovskä: Zur alttschechischen Liebeslieddichtung im Lichte des deutschsprachigen Minnesangs und der jüngeren deutschen Liebeslieddichtung. (Verbindungslinien, Motive, Stnikturelemente) Wenn Frau Stanovskä in ihrer Untersuchung die alttschechischen Liebeslieder auf die deutschsprachigen Lieder dieser Gattung bezieht, so hatte sie davon auszugehen, dass bislang kein direkter Verbindungsweg mit einiger Sicherheit nachgewiesen werden konnte, weder von Autor zu Autor noch von Lied zu Lied; auch über Orte oder Gelegenheiten einer Begegnung (Prager Hof, wandernde Scholaren) oder die Benüzung von Liedsammlungen kann nur spekuliert werden. Gleichwohl kann Frau Stanovskä durch ihr sachgerecht angelegtes, intensives Vergleichsverfahren überzeugend bestätigen, dass prägende Verbindungen bestanden haben müssen; sie kann zeigen, dass die Kenntnis der ( fast ausschließlich anonymen) tschechischen Autoren über Bestand und Struktur der Liebeslieddichtung im unmittelbar benachbarten Sprachgebiet sogar umfänglicher und genauer gewesen sein muss als vermutet. Die Sicherheit und die Fertigkeit, mit der die tschechischen Autoren ihre Lieder mit den spezifischen Mitteln der Gattungstradition gestalten, ohne dass eine eigene ältere Gattungstradition sichtbar ist, lässt sich am besten aus solchen nachbarlichen Beziehungen erklären. Der anzunehmende Einfluss der romanischen Liebeslieddichtung, ob direkt oder auf jeden Fall indirekt über den deutschen Minnesang, stellt ein eigenes Thema dar. Das Material für den Vergleich konnte, was die tschechische Seite anlangt, der Ausgabe der überlieferten Lieder entnommen werden, die Sylvie Stanovskä mit Manfred Kern erarbeitet hat. Diese bietet nicht nur die Lieder selbst auf heutigem textkritischen und editorischen Stand. Der ausführliche Kommentar von Frau Stanovskä gibt bereits viele Hinweise und Beispiele, wie der Vergleich mit der deutschsprachigen Gattung sinnvoll anzulegen sei und wohin er führen könne. Die schwierigere Frage war, wie das deutschsprachige Material sachgerecht aufbereitet werden konnte. Frau Stanovskä geht von der wichtigen und richtigen Erkenntnis aus, dass zum Zeitpunkt, zu dem die Überlieferung und wohl auch die Produktion der altschechischen Lieder beginnt, nämlich im 14.Jh., im deutschsprachigen Raum eine bereits breite 1 Sammeltätigkeit für die Lieder der Gattung eingesetzt hatte. Vor allem die drei großen Minnesang-Sammlungen, die Große (C) und Kleine (A) Heidelberger wie die Weingartner (B) Liederhandschrift, zeigen das Interesse und Bedürfnis der Benutzer, über den gesamten bisherigen Bestand des Minnesangs verfugen zu können, von seinen Anfangen im 12. Jh. über seine ,Blütezeit' um die Jahrhundertwende bis zur aktuellen Gegenwart um 1300. Aber auch die Produktion von Liedern geht nach dem „Minnesang" im engeren Sinne weiter in den veränderten Formen einer Jüngeren Liebeslieddichtung" und findet ihrerseits Aufnahme in Sammlungen wie etwa in das „Liederbuch der Clara Hätzlerin". Das enge Neben- und Miteinander von Altem, ja Ältestem und Neuem, das nach Sylvie Stanovskä ein, wenn nicht überhaupt das wesentliche Kennzeichen der alttschechischen Liebeslieder ist, erklärt sich am besten daraus, dass die tschechischen Verfasser Zugang zur deutschen Liebeslieddichtung auf einer Stufe hatten, die ebenfalls diese Gleichzeitigkeit von Altem und Neuem bot, eben in Sammlungen und Aufführungssituationen, in denen diese Gleichzeitigkeit zur Geltung kam. Dieser Lage entsprechend entwickelt Frau Stanovskä im Hauptteil I einen Überblick über die Geschichte des deutschen Minnesangs und der anschließenden Liebeslieddichtung, und zwar zurück bis in die „frühe ritterliche Liebesheddichtung" des 12. Jh., die durchaus bereits für den Vergleich in Betracht kommt, wie sie zeigen kann, über die wichtigsten Etappen des eigentlichen „Minnesangs" bis zur Lieddichtung des späteren Mittelalters. Dieser Überblick gewinnt seine Konturen und seine Anschaulichkeit dadurch, dass die Verfasserin in sorgfältig erarbeiteter Kenntnis der Gattungsgeschichte und Gattungspoetik sowie der einschlägigen Forschungsliteratur charakeristische Lieder ausgewählt und nicht nur punktuell kommentiert, sondern eingehend, Strophe um Strophe, interpretiert hat. Auf diese Weise konnte am besten das erstaunlich konstante Modell von Mann-Frau-Beziehungen wie auch die grundlegende poetische Struktur der Lieder sichtbar gemacht werden: die Variation von Grundmustern und ihrer Bestandteile. Mittelalterliche Liebeslieddichtung ist wesentlich „Variationskunst". Diese grundlegende Bestimmung gilt für beide Sprachbereiche, den deutschen wie den tschechischen (wie auch für die Romania). Auch profilierte Minnesänger wie Morungen, Reinmar, Walther sind nur unter dieser Voraussetzung sachgerecht zu erfassen und von Frau Stanovskä entsprechend charakterisiert. Für den Vergleich war es weiterhin notwendig, auch Sonderformen neben dem monologischen „Hohen Minnelied" einzubeziehen wie „Wechsel", Frauenlied, Dialoglied, Tagelied und weitere Typen. Der Preis für diese Art von Überblick ist allerdings ein ,Überschuss' an Daten, die nicht insgesamt und unmittelbar in den Vergleich einbezogen werden können, zumindest jedoch didaktischen Wert besitzen (s.u.). Die wichtigsten Merkmale der einzelnen Phasen der deutschen Liedgeschichte sind hilfreich noch einmal zusammengefasst. Fast versteckt als Einleitung und Hinleitung (2., S.6ff, ergänzend S.97-109) bietet die Arbeit eine Beschreibung des historischen Phänomens „Minne" und eine Poetik der historischen Gattung „Minnesang", wie sie konzentrierter und klarer kaum in der Forschungsliteratur zu finden sind, nimmt man einige Vereinfachungen in Kauf. Das ist mir Anlass zur Feststellung, dass Frau Stanovskäs Darstellung des deutschsprachigen mittelalterlichen Liebesliedes an den genannten Stellen und in Hauptteil I nicht nur dem erhellenden Vergleich mit dem alttschechischen Liebeslied dienlich ist, sondern sehr gut auch einer lehrenden Einfuhrung in diesen wichtigen Bereich der deutschen Literaturgeschichte dienen kann, durchaus geeignet etwa auch für deutsche Studierende. Frau Stanovskäs ausgeprägte Lehrbegabung und ihre Lehrerfahrung sollen in diesem Gutachten nicht unerwähnt bleiben. Aufgabe in Teil 1 war also, vergleichbares Material bereitzustellen und in vergleichbarer Form darzubieten. Einen zusätzlichen Gewinn für die Forschung (und Lehre) über disen Zweck hinaus bilden die eingehenden Interpretationen einzelner Lieder selbst, an denen es in der 2 Forschungsliteratur, auch In gattungsgeschichtlichen Darstellungen oft genug mangelt. Als weitere eigene, weiterführende Leistung Frau Stanovskäs ist zu vermerken: Während in der germanistischen Forschung zur späteren deutschen Liebeslieddichtung meist und vor allem das Neue betont und beschrieben wird, das sie in die Gattungsgeschichte einbringen (vgl. S. 193-195), sieht Frau Stanovskä ihr Charakteristisches gerade in der dichten Mischung von Altem und Neuem. Darin stünden diese Lieder den alttschechischen besonders nahe. Es war deshalb eine gute Entscheidung, eine charakteristische Auswahl dieser späteren deutschen Liebeslieder nicht in Teil I, sondern in ,Engführung' direkt neben entssprechenden alttschechischen Liedern in Teil II zu behandeln. Hier liegt auch ein Punkt der Arbeit vor, an dem deutlich wird, wie Merkmale der alttschechischen Lieder ihrerseits einen schärferen Blick auf die entsprechenden deutschen Lieder anregen und differenzierend zu deren Erforschung beitragen können. Den Gewinn der vergleichenden Arbeit für die alttschechischen Liebeslieder, die im Hauptteil II behandelt sind, kann die slawistische Forschung genauer beurteilen. Immerhin scheint mir sicher, dass die eingehenden Interpretationen nach Art und in Parallele zu den deutschen Liedern, in deren „Licht" also, deutlicheren Aufschluss darüber ergeben hat, wie auch sie aus ,Bausteinen' der Gattungstradition aufgebaut sind und ihr eigenes Profil durch das Gestaltungsprinzip der Variation gewinnen. Dabei hat Frau Stanovskä die je eigenen ,Baupläne' der Sonderformen genau beachtet. Die Interpretationen auf dieser Grundlage stützen und bestätigen vorliegende Forschung, argumentieren umsichtig zu alternativen Deutungen (z.B. S.273-276; 305-308), bringen Korrekturen (z.B. S.234.236) und neue Beobachtungen ein. Leitende Frage ist, gattungsgeschichtlich angemessen, das Verhältnis von Altem und Neuem, Traditionellem und Innovativem nach Inhalt und Darstellung in den alttschechischen und deutschen Liedern, die ihnen vergleichend beigegeben sind. Die Vielfalt der Mischungsmöglichkeiten, die uns aus Frau Stanovskäs Interpretationen konkret und anschaulich entgegentritt und bei der die tschechischen und deutschen Lieder teils gemeinsame, teils getrennte Wege gehen, kann nicht überraschen und spiegelt die allgemeine Entwicklung der Gattung Liebeslied. In welchem Maße jedoch die aittschechischen Lieder stärker auf die älteren Modelle der Liebesbeziehung, die klassische Minne, zurückgreifen und sie in älteren literarischen Formen darbieten, als Minneklage und Preislied, ist als weiterführend in Frau Stanovskäs Arbeit zu verbuchen (vgl. S.317 u. Anm. 208). Ich verzichte in dieser Würdigung der wissenschaftlichen Leistung Frau Stanovskäs auf eine Liste von Tippfehlern, orthographischen und grammatischen Versehen und stilistischen Ungeschicklichkeiten, die beim Umfang der in sicherem fachsprachlichen Deutsch verfassten Arbeit und für das Ergebnis ohne Bedeutung sind. Sie steht im Falle von Veröffentlichung(en) zur Verfügung. Für diese Gelegenheit wäre auch zu überlegen, ob die Vielzahl gleich angelegter genauer Interpretationen, die die methodische Grundlage für die Suche nach weiterführenden Erkenntnissen im Themengebiet waren und die sicher ihren philologischen und didaktischen Eigenwert haben, nicht dennoch von den Ergebnissen her stärker gebündelt und zusammengefasst werden könnten. Wichtig erscheint mir, dass der Beitrag Tschechiens zur Gattung des europäischen mittelalterlichen Liebesliedes durch die vorliegende ausführliche, genau charakterisierende Untersuchung noch deutlicher als bisher ins Licht der Liedforschung gerückt wird, und zwar über das Interesse der Slawistik hinaus. Vergleichend auf die deutschen Lieder bezogen, an den deutschen Forschungsstand angeschlossen, auf Deutsch verfasst, mit guten Übersetzungen dargeboten, vermittelt Frau Stanovskäs Arbeit besonders der germanistischen Mediävistik ein profiliertes Bild der Lieder. Diese wird die tschechischen Lieder auch deshalb stärker zu beachten haben, weil im Vergleich durchaus auch schärferes Licht auf die deutschen Verhältnisse fallen kann, wie die Verfasserin gezeigt hat. Die gemeinsame kommentierte Edition der alttschechischen Lieder mit Manfred Kern ist bereits ein Beispiel für neue fruchtbare Zusammenarbeit der beiden Philologien. Die vorliegende Habilitationsschrift erfüllt die Anforderungen, die als Standard für das, Niveau von Habilitationsarbeiten im Fach zu erheben sind. (PrdfrW Dr. Gerhard Hahn) 4