Aleš Urválek — Das deutsche Problem in der nachkriegsdeutschen Literatur und der Geschichtswissenschaft Der Autor Aleš Urválek studierte an der Masaryk Universität in Brno Germanistik und Philosophie; seit 2013 dort als wissenschaftlicher Assistent, seit 2017 als Dozent für neuere deutsche Literatur tätig. Schwerpunkte: deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts, Geschichte der insbesondere politischen und philosophischen Ideen in der Moderne. Aleš Urválek Das deutsche Problem in der nachkriegsdeutschen Literatur und der Geschichtswissenschaft Königshausen & Neumann Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Philosophische Fakultät der Masaryk Universität in Brno. Bei dieser Monografie handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Herbst 2017 an der Philosophischen Fakultät der Masaryk Universität in Brno erfolgreich verteidigt wurde. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2018 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics / coverart Bindung: docupoint GmbH, Magdeburg Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany ISBN 978-3-8260-6303-9 www.koenigshausen-neumann.de www.libri.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de 5 Inhaltsverzeichnis Einleitung........................................................................................................9 1 Deutschlandreden nach 1945.............................................................15 1.1 Hermann Lübbe: Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart.......................................................................19 1.2 Richard von Weizsäcker: 8. Mai 1945 .................................................22 1.3 G. Grass: Geschenkte Freiheit...............................................................25 1.4 E. Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will..................................29 1.5 P. Jenningers Bundestagsrede vom 10. November 1988....................31 1.6 M. Walser: Über Deutschland reden.....................................................36 1.7 Deutschlandreden jenseits der Disziplinarität und Ideologie............39 2 Entweder-oder: Kontinuität der Schemata ......................................45 2.1 Freiheit oder Einheit ............................................................................47 2.2 Variationen des deutschen Sonderwegs ..............................................54 2.3 Der lange Weg zum Westen als Schwundstufe des Sonderwegs?......66 2.4 Kulturnation und Verfassungspatriotismus........................................69 3 Niederlage und/oder Befreiung.........................................................77 3.1 Geschichtspolitik als Bestandteil der Reflexionen der Deutschheit ....................................................................................80 3.2 Im Schatten des Kalten Krieges...........................................................85 3.3 Totalitarismus.......................................................................................87 3.4 1960er Jahre. Ein Wendepunkt? ..........................................................90 3.5 Deutsche Nachkriegsgeschichtswissenschaft.....................................94 3.6 Fischer-Kontroverse.............................................................................97 3.7 Historikerstreit...................................................................................101 3.8 Gute Karten, klarer Sieg.....................................................................104 3.9 Historikerstreit und die Reflexion der Deutschheit ........................107 4 Essentielle Deutschheit.....................................................................115 4.1 Der nützliche Goldhagen...................................................................117 4.2 Zwischen Grundsätzlichkeit und Zweckmäßigkeit..........................120 4.3 Historisierung des Nationalsozialismus ...........................................127 6 4.4 Vom Nutzen und Nachteil der „Erinnerungskultur“ ......................134 4.5 Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus..............................143 4.6 Schatten der Gruppe 47......................................................................151 5 Die Suche nach einem passenden Zugang .....................................159 5.1 Generation ..........................................................................................166 5.2 „Das Problem der Generationen“ K. Mannheims ............................169 5.3 Skeptische Generation........................................................................172 5.4 Bodo Morshäuser ...............................................................................182 5.5 Skeptische Folien................................................................................185 5.6 Günter Grass.......................................................................................195 5.7 Zwischen Blechtrommel und Dunkelkammergeschichten ..................202 6 Martin Walser ....................................................................................217 6.1 Zwischen Intimität und Öffentlichkeit.............................................220 6.2 Ich denke anderes, als ich zu denken habe, also bin ich...................224 6.3 Zwischen Historismus und der „naiven Dichtung“ .........................238 6.4 Die Wunde namens Deutschland ......................................................245 7 Hans Magnus Enzensberger.............................................................253 7.1 Jenseits der Schablonen......................................................................255 7.2 „Harlekin am Hof der Scheinrevolutionäre“: Enzensberger und die Studentenbewegung..............................................................259 7.3 Generationssemantik..........................................................................263 7.4 Innerhalb seiner Generation ..............................................................266 7.5 Sprache der Deutschheit ....................................................................272 7.6 H.M. Enzensberger und H. Arendt ..................................................276 7.7 Zwischen Geschichtsphilosophie und Anthropologie: Enzensberger und die Natur..............................................................285 8 Kurzes Zwischenresümee der literarischen Beiträge ....................295 8.1 Inter- und intragenerationeller Vergleich: H.M. Enzensberger und Peter Schneider............................................................................306 8.2 Im Spannungsfeld der Generationen.................................................309 8.3 Der intragenerationelle Blick: Autobiographische Texte der „skeptischen“ Generation............................................................311 7 8.4 Der intergenerationelle Vergleich: Autobiographische Texte über die 1960er Jahre..........................................................................313 9 Botho Strauß......................................................................................323 9.1 Im Banne der Vorurteile ....................................................................324 9.2 Das Ende der Nachkriegszeit ist kein Ende der Auklärung ............330 9.3 Das Erhabene......................................................................................338 9.4 Man wird wohl auch ohne Adorno denken können.........................341 9.5 Politisch-ästhetische Symbiosen .......................................................345 9.6 Politisch-ästhetische Symbiosen mit der Naturwissenschaft ..........348 10 Nachwort............................................................................................363 11 Bibliographie .....................................................................................373 9 Einleitung Über Deutschland zu reden war wohl nie einfach. Doch im Nachkriegsdeutschland über Deutschland zu reden ist besonders schwer. Zu diesem Schluss kommt früher oder später jeder, der sich die lange Liste der Artikulationen dessen anschaut, was in vorliegender Arbeit – mangels besserer Begrifflichkeit1 – als das deutsche Problem bezeichnet wird. Das Problematische darin, und das haben Literaten mit Historikern, Philosophen, Politikern und Publizisten gemeinsam, resultiert aus der langen und über weite Strecke äußerst verspannten Tradition des Sprechens über Deutschland, doch insbesondere aus den zwei Weltkriegen, in denen diese Tradition in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren tragischen Kulminationspunkt erreicht hat. Nach diesen Kriegen ist man, will man trotzdem über Deutschland, die Deutschen, ihre Geschichte und Zukunft sprechen, in einer Situation, die einer der prominentesten und zugleich umstrittensten Deutschlandredner wie folgt auf den Punkt gebracht hat: „Es ist so gut wie unmöglich, Anmerkungen zur Psychopathologie deutscher politischer Befangenheiten zu machen, ohne selbst in sie verstrickt zu werden. Hier ist niemand Arzt, sondern alle sind Leidende, Befallene. Hier gibt es keine freie Rede, sondern in erster Linie Probleme krankhafter Reizbarkeit – offenbar der letzte Lebensnerv eines im übrigen eiskalten und indifferenten Öffentlichkeitsbetriebs.“2 Befangen im Sprechen, an dessen Grund man nie herankommt. Befangen im reizbaren Reagieren, das sich vor jede abwägende Reflexion voranschiebt, um ein freies Sprechen über Deutschland sogleich zu vereiteln. Selbst dann befangen, wenn man glaubt, über dieses Reden hinauskommen zu können, um den Teufelskreis der Reiz-Reaktionen zu brechen. Beinahe aussichtlos scheint somit die Lage derer, die sich im Nachkriegsdeutschland am intellektuellen Gespräch über Deutschland beteiligen wollen. Dennoch zeigt die literarische, publizistische sowie (geschichts)wissenschaftliche Produktion, dass dieses Gespräch immer wieder eröffnet, dass immer von neuem und in verwandelten Konstellationen über Deutschland geredet wird. Nicht immer gehen solche Versuche glücklich aus; ob die verhärteten und sich gegenseitig ausschließenden Positionen, in denen das Gespräch in der Regel endet, dem Deutschlandsprechen 1 Deutschheit oder Deutschsein wären hier die Alternativen, die im deutschen Sprachraum allerdings belastet und darum als Titel einer Publikation ungeeignet sind. 2 B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang (Postscriptum 1994). In ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. München Wien 1999, S. 57–78, hier S. 77. 10 zuträglich sind, ist mehr als fraglich. Vielmehr führen sie dieses Sprechen in unheilvolle Sackgassen, wo man übrigens auch dann endet, wenn man die Voraussetzungen der eigenen Position schlichtweg für universal, daher für unbefragbar hält. Nimmt jede Nachkriegsartikulation dieses Themas explizit oder implizit Bezug auf die lange Tradition des Deutschlandredens, heißt es auch für den Interpreten, dass er um diese Tradition nicht herum kommt. Die prägenden historischen Denkmuster und Theoreme des Nachdenkens über Deutschland zu erläutern, deren Wirksamkeit allerdings weit über das Jahr 1945 hinausgeht und die Debatten in einigen Fällen bis in die Gegenwart bestimmt, ist das Ziel der häufigen historischen Exkurse dieses Buches. Aus ihnen sollte auch deutlich hervorgehen, welche geschichtlich unbefragten, bloß repetierten Voraussetzungen die Nachkriegsdebatten immer wieder gedanklich zum Scheitern verurteilt haben, ungeachtet dessen, ob man aus ihnen als Sieger hervorging, und dadurch die eigene ideologische Position bestätigt sah. Und nicht zuletzt mögen diese historischen Exkurse den Leser für umso erfreulichere intellektuelle Versuche sensibilisieren, den wie auch immer gearteten Sackgassen des Deutschlandsprechens zu entkommen. Darum nimmt sich diese Arbeit mit Vorliebe all derjenigen Intellektuellen an, die auf dem gefährlichen Terrain unermüdlich nach Mittelwegen, Kompromissen und Zwischenpositionen suchen, denn ein Mittler zu werden, scheint bei diesem Thema kaum mit fauler Trägheit, vielmehr mit menschlichem und intellektuellem Mut zu tun zu haben. Eingespannt zwischen nichtsbringende, doch selbstbestätigende ideologische Reflexe einerseits, und das Risiko der waghalsigen Anstrengungen, bei denen man die Wärme des eigenen ideologischen Lagers aufs Spiel setzt, andererseits, bewegen sich diese Mittler auf des Messers Schneide, vielmals dem Vorwurf des Verrats an eigenen Überzeugungen ausgesetzt. Um diese Konsequenzen zu meiden, suchen sie sich nach Kräften abzusichern. Geholfen scheinen sie sich damit in der Tat genauso wenig zu haben wie durch die Wahl der ausgeklügelten Strategie, die darin besteht, die mögliche intellektuelle Blamage als eine absichtliche einzukalkulieren, damit man überhaupt etwas sagen kann, was nicht von diesem Diskurs gleich gekappt wäre. In der Regel behält am Ende die untröstliche Regelmäßigkeit die Oberhand: je mehr man sich abzuheben sucht, desto pauschaler wird man gleichgeschaltet; je feiner und subtiler die Unterschiede, die man im Sinne hat, desto robustere Probleme handelt man sich damit ein; je mehr es einem auf eine unmissverständliche Artikulation ankommt, desto schneller wird man missver- standen. Der Blick auf ein derart untröstliches Bild des nachkriegsdeutschen Deutschlanddiskurses schließt, wendet man sich der gewählten Methode zu, eben den wohl naheliegendsten Zugang aus, der den Textkorpus nach 11 ideologischen Kriterien gliedern würde. Anbetracht der ideologisch bedingten Verspanntheit scheint das Ordnen nach politisch sattsam bekannten Schemata (links versus rechts, liberal versus konservativ, eventuell aufklärerisch versus gegenaufklärerisch) unserem Thema kaum sinnvoll beizukommen, zumal durch die dichotomische Struktur der sich auschließenden Positionen die unheilvolle Polarität des schwarz-weißen Denkens nur noch gesteigert, der Reflexcharakter der Deutschlanddebatten verhärtet wird. Erwünscht ist vielmehr ein Zugang, der die Strategien der vermittelnden Positionen innerhalb von komplexeren Konstellationen erfassen, ihre Plastizität jenseits ererbter Muster nachzeichnen würde. Darum werden im ersten Kapitel, wo die fürs Thema zentrale Periode der 1980er Jahre in den Mittelpunkt rückt, die einzelnen Deutschlandredner unabhängig von ihren ideologischen Positionen und Rollen dargestellt, damit der Problemhorizont möglichst offen für Übergänge und Überlappungen bleibt. Eine ideologische Gliederung, bei der man linke, liberale oder sozialistische Artikulationen des deutschen Problems (K. Jaspers, H.W. Richter, W. Brandt, J. Habermas, G. Grass, H.M. Enzensberger) den rechten, konservativen oder konservativ-nationalistischen gegenüberstellen würde (K. Adenauer, R. v. Weizsäcker, H. Lübbe, A. Mohler, M. Walser, B. Strauß, E. Nolte), wäre daher vom minimalen analytischen Wert. Bedenkt man, dass die Nachkriegsperiode der relevanten Deutschlandreden spätestens bei Adornos Essay Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit? im Jahre 19593 ansetzt, um dann in den 1960er Jahren mit einigen programmatischen Reden (zum Beispiel H.M. Enzensbergers Katechismus zur deutschen Frage)4 fortgesetzt zu werden, denen dann in der Tat bis in die Gegenwart Jahr für Jahr etliche literarische Beiträge folgen, flankiert von schwerwiegenden historischen Kontroversen (in den 1960er Jahren die Fischerkontroverse, in den 1980er Jahren der Historikerstreit, in den 1990er Jahren die Goldhagen-Debatte), ergibt sich für die hier nachzuzeichnende Analyse des deutschen Problems die Schlußfolgerung, dass hier die gesamte als Nachkriegszeit bezeichnete Epoche in den Blick zu nehmen ist, einschließlich der nicht seltenen Versuche, diese Zeit zu Ende zu bringen. Konkret heißt es: der chronologische Aspekt kommt zum Tragen, sofern die Nachkriegszeit auf die zirka fünf für gegebene Fragestellung bestimmenden Jahrzehnte eingeschränkt wird. Hat 1990 die hypothetische und spekulative „deutsche Frage“ eine reale und greifbare deutsche Antwort gefunden, sind in genügendem Maße auch die Verwandlungen des deutschen Problems in den drei Jahrzehnten davor, also 3 T.W. Adorno: „Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?“. In ders.: Gesammelte Schriften, Band 10, 2. Kulturkritik und Gesellschaft, II. Frankfurt am Main 1977, S. 555–572 4 H.M. Enzensberger: „Katechismus zur deutschen Frage“. Kursbuch, 4, 1966, S. 1– 55. 12 seit den späten 1950er Jahren zu erfassen. Und zugleich sind auch die schwerwiegenden Konsequenzen mitzuberücksichtigen, die einzelne Intellektuelle für ihre Deutschlandreden aus dem verwandelten Klima der ersten Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung gezogen haben. Das Anliegen dieser Arbeit ist ein dezidiert interdisziplinäres. Es kann und will nicht verheimlicht werden, dass der Verfasser etliche Impulse aus dem Buch „Deutschland als Gedicht“ geschöpft hat, und dessen Autor Jürgen Schröder5 viel mehr als nur die erste Anregung zu diesem Thema zu verdanken hat. Schröders Vorschlag, die Verfasser von Deutschland-Gedichten aus fünf Jahrhunderten über Deutschland sprechen zu lassen, um ihre Gedichte aus dem weitreichenden Traditionsraum verständlich zu machen, hat es in sich, denn es kann über Deutschland (nur) mitgeredet werden, indem man kritisch untersucht, wie darüber geredet wurde und wird.6 Auch bezüglich der reichlichen historischen Exkurse sucht die vorliegende Studie recht unbescheiden an Schröders ambitioniertes Buch anzuschließen. Allein Schröders gattungsbedingte Einschränkung auf die Gedichte über Deutschland, so praktisch sie auch ist, teilt der Verfasser nicht und stellt stattdessen absichtlich die einzelnen literarischen Gattungen und Disziplinen nebeneinander, um die Nachkriegskonstellation möglichst komplex und auf die sich anbahnenden Zwischenpositionen und Brückenschläge hin darzustellen. Freilich werden, rein technisch gesehen, die Historiker in den historischen Kontroversen, Politiker in den politischen und Literaten innerhalb des literarischen Bereichs erfasst, stets mit Berücksichtigung der internen Regeln, doch de facto steht jede einzelne Darstellung im Dienste der Suche nach transdisziplinären Gemeinsamkeiten. Angesichts der verspannten Tradition des Themas gehören die Historiker E. Nolte, Ch. Meier, M. Brozsat, S. Friedländer mit den Philosophen, Soziologen oder Publizisten (J. Habermas, O. Marquard, P. Sloterdijk, A. Mohler, K. Sontheimer, H. Lübbe, J. Ritter) und Literaten (G. Grass, H.M. Enzensberger, M. Walser, P. Schneider, B. Strauß) zu ein und derselben nachkriegsdeutschen Konstellation. So bleiben auch die monographisch angelegten literarischen Portraits, die den zweiten Teil des Buches bilden, so sehr in ihnen die diskursive Analyse des Problems eher den Analysen der einzelnen Strategien zu weichen scheint, diesem Thema literarisch beizuspringen, auf die komplexe Diskursanalyse der ersten Hälfte zurückbezogen. Deshalb werden die Gattungs- oder Genregrenzen in den einzelnen literarischen Portraits weniger beachtet, als dies in einer unbestritten detaillierteren, sich auf eine Gattung beschränkende Studie möglich wäre, wie es eben in der erwähnten von J. Schröder der Fall ist. 5 J. Schröder: Deutschland als Gedicht. Über berühmte und berüchtigte DeutschlandGedichte aus fünf Jahrhunderten in fünfzehn Lektionen. Freiburg im Breisgau 2000. 6 Vgl. Ebenda, S. 14. 13 Dieses Buch stellt eine leicht überarbeitete Version der Habilitationsschrift „Reflexionen der Nachkriegsdeutschheit in der westdeutschen Literatur und Geschichtswissenschaft“ dar, die ich im Spätsommer 2016 an der Philosophischen Fakultät der Masaryk Universität in Brno (Tschechische Republik) vorgelegt habe. An dieser Stelle möchte ich mich somit herzlichst bei allen bedanken, ohne die es dieses Buch nie gegeben hätte. Die Habilitationsschrift wurde zunächst, da vom Drittmittelprojekt der GAČR finanziert, auf Tschechisch verfasst. Für die finanzielle Unterstützung bin ich dieser Agentur genauso verbunden wie der Gemeinnützigen Hermann Niermann Stiftung, dank der ich einen sechsmonatigen (2014) und einen vierwöchigen (2015) Aufenthalt an der JMU Würzburg absolvieren durfte. Während des zweiten Aufenthalts in Würzburg wurden große Teile der Arbeit ins Deutsche übersetzt, darüber hinaus entstanden weitere Kapitel, die für die deutsche Fassung unumgänglich schienen. Für inspirative Kommentare, wertvolle Ratschläge sowie ermunternde und geduldig nachsichtige Worte möchte ich mich insbesondere bei meiner Gattin Zuzana bedanken. In den Anfängen der Arbeit wurde ich von Prof. Jürgen Schröder (Tübingen) ins Thema eingeführt, der mir gemeinsam mit Prof. Dr. Helmuth Kiesel (Heidelberg) geholfen hat, nicht nur die kaum ermessbare Breite dieser Problematik in den Blick zu fassen, sondern mir darüber hinaus auch den Weg zur ausschlaggebenden Literatur vermittelt hat. Über weite Strecken der Arbeit konnte ich mich auf fachkundige Unterstützung von Prof. Dr. Wolfgang Riedel (Würzburg) verlassen. Für die kritische Lektüre einiger Kapitel bin ich Prof. Dr. Jiří Stromšík (Prag) dankbar; da wo meine philosophischen Kompetenzen nicht ausreichten, konnte ich mich jederzeit mit großem Gewinn an Doz. Radim Brázda (Brünn) und Prof. Dr. Břetislav Horyna (Brünn) wenden. Etliche Diskussionen mit dem Letztgenannten über dieses Thema sind ins Nachwort eingegangen, dessen Form sie wesentlich geprägt haben. Einige inhaltliche Verbesserungen gegenüber der ersten Fassung sind PD Dr. Matthias Schöning (Konstanz) zu verdanken, der zu der Habilitationsschrift, wie die beiden anderen Gutachter Prof. H. Kiesel und Prof. W. Riedel auch, ein höchst anregendes Gutachten verfasst hat. 15 1 Deutschlandreden nach 1945 Das Ziel folgender Arbeit kann nicht sein, die Nachkriegsdeutschlandreden nach schablonenhaften linken oder rechten ideologischen Positionen zu gruppieren, sondern es geht darum, zu unideologischen Elementen der jeweiligen Positionen zu gelangen. Denn es steht fest: die anregendsten Beiträge sind entstanden, sobald man versucht hat, gewöhnlichen Stereotypen, negativen Fixierungen und Reflexen zu entkommen, und dies sogar auf die Gefahr hin, in Widerspruch dazu zu gelangen, was man selbst bisher für richtig und lebensnotwendig gehalten hatte. Daher sind weniger Autoren zu fokussieren, die nach Argumenten für ihre eigene unerschütterliche Position suchen, sondern vielmehr solche, die sich der Relativität eines jeden Standpunktes, und daher der Grenzen des ihrigen bewusst sind. Wohl auch deshalb sind sie dann in der Regel kaum bereit, bipolare links-rechte Lösungen zu akzeptieren. Tendiert die deutsche Nachkriegsintelligenz im Allgemeinen eher zu abstrakten Begriffen, scheinen die für unsere Fragestellung zentralen Autoren eher zu überprüfen, inwiefern ihre kritischen Urteile und erhobenen Ansprüche noch der Realität entsprechen können. Als eine Art Vermittler, die die Schärfe des prinzipiellen Denkens abstumpfen, sind sie zum Teil bereit, jenseits der traditionellen Schemata zu denken. Wo ihnen die Begriffe zu starr und die Ideologien zu orthodox sind, verraten sie paradoxerweise kaum sich selbst, vielmehr eben solche Formen der Reflexion der Deutschheit, die sich durch ideologische Regeln und Gebote knechten lassen. Indem sie sich quer durch das begriffliche Spektrum und die ideologischen Schemata zu bewegen versuchen, entsteht in ihrem Denken eine produktive Spannung, von der orthodoxe Denker meist unberührt bleiben. In einigen literarischen Deutschlandreden (etwa bei M. Walser, B. Strauß, H.M. Enzensberger, oder auch G. Grass) manifestiert sich diese produktive Spannung in der Suche nach einer Sprache, in der man über das deutsche Problem überhaupt sprechen könnte; einer Sprache, die der Notwendigkeit zu artikulieren genauso Rechnung trägt, wie all den wohl unumgänglichen Verboten und Tabuisierungen; die das, worüber geschwiegen wird, nicht weniger beachtet, als das, worüber man spricht. Über die Formen, in denen literarische Deutschlandreden ihre eigenen Möglichkeiten thematisieren, also zur Selbstkritik ansetzen, ist der Bogen zu schlagen zu Fragen, die in Bezug auf die Möglichkeiten des Denkens über das deutsche Problem die Literaten mit den Historikern, Politologen, Soziologen, Philosophen oder Publizisten teilen. Wie sähe so ein Fragenkatalog aus? 16 Was besagt die jeweilige Definition des Deutschseins über die Motivation des Definierenden? Wie hat man sich zur deutschen Geschichte zu stellen? Akzeptierend oder ablehnend, sprich antinationalistisch, oder lieber neutral dessen eingedenk, dass Geschichte immer instrumentalisierbar sei? Inwieweit ist der kausale Bezug legitimiert, der zwischen dem Kulturnationalismus (deutsche Nation gespalten in zwei Staaten, die allenfalls eine gemeinsame Kultur verbinde), der Schuldanerkennung (die Trennung als gerechte Strafe) und der proklamierten nachkriegsdeutschen Westorientierung bestehen soll? Ist daraus auch die Schlussfolgerung zu ziehen, dass Deutsche zwangsläufig das zivilisierte Europa (gegebenenfalls den Westen) verlassen, wenn sie nach einem (ungetrennten) Deutschland rufen, da sie dadurch die Schuldanerkennung von sich weisen? Also impliziert der Kulturnationalismus des getrennten Deutschlands eine moralische und der politische Nationalismus des vereinten Deutschlands eine amoralische Haltung? Inwiefern und wie lange sollen die Jahre 1933–45 für das Nachkriegsdeutschland determinierend sein? Wann, wenn überhaupt, wird man aus dem Schatten der NS-Zeit heraustreten dürfen? Wann geht also die Nachkriegszeit mit den aus dem Krieg abgeleiteten Konstellationen zu Ende? Darf sie überhaupt jemals zu Ende gehen? Wie sind die unmittelbaren Nachkriegsjahre (etwa 1945–1960) zu verstehen? Als eine unheilvolle Restauration (da müsste man aber fragen, was da genau restauriert wurde?), in der die nazistische Vergangenheit massiv verdrängt wurde, oder als eine menschlich akzeptierbare und wohl auch einzig mögliche Reintegration der Millionen Nazi-Deutschen in das neue Deutschland, bei der die NS-Vergangenheit allgemein und pauschal abgelehnt wurde, doch parallel dazu auf der persönlichen Ebene die einzelnen persönlichen „Fälle“ eher beschwiegen und diskret übergangen wurden? Was hat sich diesbezüglich in den 1960er Jahren geändert? Welche Rolle spielte im Deutschlanddiskurs die Generation der 68er? Kommt ihr das Verdienst zu, sich als erste Generation mit der unangenehmen Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen und all das zu Unrecht Verdrängte und Verschwiegene zu thematisieren, oder nutzte sie eher ihre Chance per Faschismusvorwurf ihre politischen Gegner zu diskreditieren, um mit der bürgerlichen Demokratie in der Bundesrepublik schlechthin aufzuräumen? Muss Ausschwitz als ein unvergleichbares, singuläres Verbrechen verstanden werden, oder darf man es mit anderen europäischen Verbrechen vergleichen? Steckt hinter jedem solcher Vergleiche die Versuchung, das Schlimme zu verharmlosen? Ist bereits das Vergleichen ein Sakrileg, weil man dadurch Auschwitz relativiert, oder ist es eher als verbrecherisch zu bezeichnen, wenn man Auschwitz ein für alle Mal zu vergleichen verbietet? Ist das Bestehen auf der negativen Singularität von Auschwitz interesselos, oder verstecken sich dahinter gewisse Interessen, etwa das Interesse, Auschwitz moralisch und politisch zu instrumentalisieren, und 17 oder dadurch moralisch denjenigen überlegen zu sein, die mit der bösen Vergangenheit anders umgehen? Wie ist das Dilemma zu lösen, das den Deutschen einerseits vorschreibt, sich ständig an ihre Nazivergangenheit zu erinnern, sie aufzubewahren, ja sie abzuarbeiten, andererseits aber jede Erinnerung und jede Arbeit an der Vergangenheit für unzureichend erklärt? Was hat sich an der deutschen Position in Europa verändert, nachdem Deutschland wieder einheitlich geworden ist? Stellt ein einheitliches Deutschland für Europa irgendwelche Gefahr dar? Geht am Tag der Wiedervereinigung für Deutschland die Nachkriegszeit mit ihrem Blockdenken und festgefahrenen Denkschemata definitiv zu Ende, oder bleiben die Deutschen darin nach wie vor verhaftet? Wie ist es nach der Wende um die Aussagekraft der Kategorien links und rechts, liberal und konservativ, aufklärerisch und gegenaufklärerisch bestellt? Ist die Vergangenheitsbewältigung zwingend eine Bewältigung der Vergangenheit von anderen (ideologisch oder generationsbedingt anders Denkenden)? Zu welchen Änderungen und Variationen der Relation zwischen Tätern und Opfern kommt es in der inkriminierten Zeitspanne, und zwar sowohl auf der Ebene der Individuen, als auch der Kollektive (Deutsche versus Alliierte, bzw. Deutsche versus Juden)? Ist eine vergleichbare Empathie gegenüber Tätern und Opfern festzustellen? Ist das Erinnerungsgebot dermaßen unbedingt, dass es alle, auch die ritualisierten und instrumentalisierten Erinnerungsformen rechtfertigt? Kann es auch absolute Anforderungen legitimieren, etwa den deutschen Pazifismus für alle Zeiten oder Stigmatisierungen aller, die darauf hinzuweisen wagen, dass der Mensch um leben zu können vergessen muss? Welche Relationen bestehen zwischen den einzelnen äußeren und inneren Formen des Vergangenheitsbezugs? Ist etwa der nachkriegsdeutsche Philosemitismus eine verinnerlichte Haltung, oder stellt er eher eine gute und zur Schau gestellte Absicht dar, nicht unähnlich dem von M. Walser verschmähten „Lippengebet“? Und ist wiederum die Privatisierung der nazistischen Vergangenheit, die man eben Walser vorzuwerfen pflegt, nur eine entlastende Strategie, oder vielmehr eine berechtigte Reaktion auf die Praxis, dank der man sich mittels Vergangenheit ein Alibi für heute verschafft? Ist der Umgang mit dem Nachkriegsdeutschsein in Händen der auf political correctness achtenden „Diskurspolizei“, die überwacht und bestraft? Oder sind vielmehr die Stigmatisierten darauf aus, vermeintliche Tabus zu produzieren, um sie folglich zu brechen und den Eindruck hervorzurufen, alles werde von der „Diskurspolizei“ beherrscht? Ist es erwünscht, Deutschland zu normalisieren? Falls ja, erreicht man es eher, indem man die Gründe anzweifelt, die der Normalität im Wege stehen, oder eher indem man sich zu der Abnormalität Deutschlands bekennt? Ist die Anerkennung der historischen Schuld etwas, was Deutschland herabwürdigt und dessen internati- 18 onale Anerkennung verhindert, oder stellt gerade sie die unumgängliche Voraussetzung dafür dar, eine akzeptable Identität zu gewinnen? Diese Fragen sind im Laufe der Nachkriegsjahre in scharfen und medialisierten Debatten eskaliert. Hinsichtlich der Antwort auf die Frage nach dem deutschen Problem scheinen diese Debatten beschleunigt zu haben, wozu es auch ohne sie gekommen wäre. Auch sind dank ihnen bisher verdeckte Symptome deutlich geworden. Genau in diesem Sinne werden in folgender Arbeit etwa die „Fischer-Kontroverse“ (1961–1970), der sogenannte „Historikerstreit“ (1986) wie auch die „Goldhagen-Debatte“ (1996) verstanden.7 Die für die literarische Reflexion der Deutschheit prägenden Symptome kamen dann auf eine ähnliche Weise etwa bei den Diskussionen über B. Strauß’ Anschwellenden Bocksgesang (1993), M. Walsers Romane und Essays, oder G. Grass’ Novelle Im Krebsgang8 zum Vorschein, die ja eng mit den Reaktionen auf J. Friedrichs dokumentarisches Buch Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–19459 verbunden war. Das letzte Beispiel zeigt exemplarisch, was für die Deutschlandreden im Allgemeinen gilt: Die einzelnen Beiträge sind miteinander aufs Engste verkoppelt, sie reagieren aufeinander, tragen in sich Spuren aller bisherigen Versuche, das Thema zu reflektieren. Diese gegenseitige Bedingtheit ist modellhaft an einigen Texten aus den 1980er Jahren unter Beweis zu stellen; deren Auswahl strebt eine gleichmäßige Verteilung der einzelnen Disziplinen, Diskurse und Weltanschauungen an. Darüber hinaus sucht folgende Komparation zeigen, wie nutzlos es ist, die Deutschlandreden nur (oder gar) innerhalb der gegebenen ideologischen oder disziplinären Rahmen zu interpretieren. Daher spielen in folgender Auswahl die Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen eine geringe Rolle: die Perspektive der Historiker und Philosophen repräsentieren H. Lübbe und E. Nolte, politische Deutschlandreden vertreten R. von Weizsäcker und P. von Jenninger, von den Literaten wurden G. Grass und M. Walser herangezogen. Die ausgewählten Reden sind: H. Lübbes Vortrag Der Nationalsozialismus im Bewußtsein der deutschen Gegenwart aus dem Jahre 1983,10 der recht früh auf heftigen Widerspruch gestoßen ist, ja nicht selten sogar für den Prolog zum „Historikerstreit“ gehalten wird. E. Noltes Rede Vergan- 7 Auf die Kontroversen unter den Historikern wird im dritten Kapitel näher einge- gangen. 8 G. Grass: Im Krebsgang. Göttingen 2002. 9 J. Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945. München 2002. 10 H. Lübbe: „Der Nationalsozialismus im Bewußtsein der deutschen Gegenwart“. In ders.: Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten. München 2007, S. 11–38. 19 genheit, die nicht vergehen will vom Sommer 1986,11 die den realen Auftakt zum „Historikerstreit“ bildet. Die am 8. Mai 1985 von R. von Weizsäcker gehaltene Rede Der 8. Mai 1945,12 ein Wendepunkt darin, wie die Deutschen mit ihrer tragischen Vergangenheit umzugehen hätten. Die dasselbe Jubiläum zum Anlass nehmende und drei Tage früher, also am 5. Mai 1985, von G. Grass gehaltene Rede Geschenkte Freiheit.13 Folglich die sogenannte „Jenninger-Rede“, in der dem damaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages das fünfzigjährige Jubiläum der Novemberpogrome des Jahres 1938 zum Grund wurde, seine Erinnerungen an diese Pogrome mit einer subjektiven Analyse der Faszination des Nationalsozialismus zu verbinden.14 Ein gewagter Versuch, der Jenninger zum Verhängnis wurde, denn er musste nach zwei Tagen zurücktreten. Und schließlich die im Rahmen der Münchner Vortragsreihe „Reden über das Land“ von M. Walser vorgetragene Rede Über Deutschland reden.15 1.1 Hermann Lübbe: Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart Mögen die einzelnen Beiträge recht unterschiedlich sein, ihre gegenseitige Verflechtung ist unumstritten. Intertextuell kommunizieren sie miteinander auf mehreren Ebenen. Lübbes Text Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart wartet mit mindestens zwei neuen und daher provokativen Ansätzen auf: recht ungewöhnlich wird darin die Zäsur zwischen dem Dritten Reich und dem Nachkriegsdeutschland interpretiert, und zugleich wird die damals (und wohl bis heute) dominierende Diagnose angezweifelt, die besagt, bis in die 1960er Jahre wäre die unheilvolle nazistische Vergangenheit verdrängt worden, und erst den revoltierenden Jugendlichen (wie auch der Neuen Linken insgesamt) sei es gelungen, diese Vergangenheit restlos ans Licht zu bringen, sie kritisch zu thematisieren und dadurch ihre potentielle Rückkehr zu verhindern. Dem stemmt sich Lübbe entgegen, indem er von folgenden Voraussetzungen ausgeht: das von der Mehrheit der Deutschen aktiv oder passiv 11 E. Nolte: „Vergangenheit, die nicht vergehen will“. In „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987, S. 39–47. 12 R. von Weizsäcker: „Der 8. Mai 1945“ (Ansprache bei einer Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages): In ders.: Reden und Interviews (1). Bonn 1986, S. 279–295. 13 G. Grass: „Geschenkte Freiheit“ (Rede zum 8. Mai 1945 in der Akademie der Künste Berlin). In ders.: Essays und Reden 1980–2007, Göttingen 2007, S. 141- 156. 14 P. Jenninger: Rede und Reaktion. Hg.:A. Laschet – H. Malangré. Koblenz 1989. 15 M.Walser: „Über Deutschland reden. Ein Bericht“. In ders.: Ansichten, Einsichten. Aufsätze zur Zeitgeschichte. Frankfurt am Main 1997, S. 896–915. 20 unterstützte NS-Regime habe sich 1945 komplett diskreditiert. Es sei schlichtweg ausgeschlossen, dass sich jemand 1945 offen zu diesem Regime bekannt hätte oder zu irgendeiner Version der nach dem Ersten Weltkrieg so berühmten Dolchstoßlegende geflüchtet wäre. Der Nazismus habe nichts mehr zu bieten gehabt. Die Kriegsverbrecher seien freilich zu verurteilen, doch viel schwieriger sei eine andere Aufgabe gewesen: für das Nachkriegsdeutschland nun reale Unterstützung eben derselben Leute zu gewinnen, die in absoluter Mehrheit noch vor Kurzem Hitler unterstützt hätten. Mit Lübbe gesagt: „Gegen Ideologie und Politik des Nationalsozialismus, in dessen Katastrophe zugleich auch das Reich untergegangen war, musste der neue Staat eingerichtet werden. Gegen die Mehrheit des Volkes konnte er schwerlich eingerichtet werden.“16 Der einzige Weg habe nun darin bestehen können, sich normativ vom NS-Regime zu distanzieren und dessen Subjekte in den neuen Staat einzugliedern. Man sieht: Die Vergangenheit dieser Subjekte ist für Lübbe insofern sekundär, als sich ihrer sowieso alle gut genug bewusst gewesen seien. Daher hätte es keinen Zweck, wenn man sich diese Vergangenheit gegenseitig vorgeworfen hätte. Somit fasst Lübbe zusammen: Unmittelbar nach dem Krieg haben Verhältnisse „nicht-symmetrischer Diskretion“ geherrscht, dank denen sich einzelne Deutsche mit dem neuen Staat überhaupt identifizieren, ja wohl erst einen schwerwiegenden Grund dazu finden konnten: „[...] und nach zehn Jahren war nichts vergessen, aber einiges schließlich ausgeheilt.“17 Laut Lübbe wurde die Vergangenheit nur im Sinne der normativen Abgrenzung thematisiert, während in der Privatsphäre diskretes Schweigen herrschte (kommunikatives Beschweigen). Lübbe, darin mit beiden Füßen in der konservativen Tradition stehend – interessiert sich stärker für das Funktionieren das Ganzen, des Systems, während die private, psychologisch-emotionale Ebene in seiner Darlegung unterbelichtet zu sein scheint. Daher kann er problemlos verschmerzen, dass der radikale Umbruch des Jahres 1945 keine innere Wandlung der Bevölkerung nach sich gezogen hat. Über die Belastungen und Hypotheken, die die Praxis des kommunikativen Beschweigens für die Zukunft bildeten, war sich Lübbe bewusst, ohne dass sie ihn allzu sehr beunruhigt hätten. Die Verhältnisse der nicht symmetrischen Diskretion behagten ihm zwar nicht, doch er fand sie politisch und sozialpsychologisch zwingend. Pointiert gesagt: einen gewissen Pragmatismus, ja Opportunismus schien Lübbe eher zu tolerieren, als jedes unpragmatische Moralisieren. 16 H. Lübbe: „Der Nationalsozialismus im Bewußtsein der deutschen Gegenwart“. In ders.: Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten. München 2017, S. 20. 17 Ebenda, S. 22. 21 Damit geht auch seine höchst kritische Beurteilung der Rolle der Neuen Linken in den 1960er Jahren einher: gegen die proklamierte psychotherapeutisch revolutionäre Rolle der Neuen Linken weist er unermüdlich darauf hin, dass die nationalsozialistische Vergangenheit keinesfalls über lange Jahre verdrängt würde, wie behauptet wird, sondern bereits seit dem Ende der 1940er Jahre thematisiert worden wäre.18 Deshalb fragt er, warum mit zunehmendem Abstand von der NS-Vergangenheit das Interesse an ihr nicht ab-, sondern zunimmt. Seine Erklärung setzt an dem Argument an, dass die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre heranwachsende Generation der Studentenrevolte (geboren meist in den letzten Kriegsjahren, oder sogar erst nach dem Kriege) sich auf die NS-Zeit kritisch bezogen hätte, ohne diese Kritik auf sich selbst anwenden zu müssen. Zunehmende Thematisierung der NS-Vergangenheit sei also in den 1960er Jahren nicht auf moralische Verstörung ob deren Verdrängen und Ver- oder Beschweigen zurückzuführen, sondern auf den Willen der Protagonisten der Studentenrevolte, sich von der Bundespublik zu distanzieren. Beide kritischen Distanzierungen, also gegen das NS-Regime, wie auch gegen die BRD, bedingen, ja unterfüttern einander, indem sie zur Zielschiebe ihrer Kritik den Kapitalismus machen. Stellte der Faschismus in der damals dominierenden marxistischen Definition das letzte Stadium des Kapitalismus dar,19 setzte in dieser Perspektive die kapitalistische BRD diese unheilvollen faschistischen Intentionen in der Tat fort; vom Bruch konnte daher keine Rede sein. In dieser Logik setzten sich die linken Jugendlichen von der BRD desto mehr ab, je antifaschistischer sie sich gaben. Je unbarmherziger sie die Generation ihrer Väter kritisierten, desto weniger fühlten sie sich den postfaschistoiden Verhältnissen in der BRD ausgesetzt. In beiden Fällen wusste sich also das kritisierende Subjekt der Kritik zu entziehen, seine Kritik galt immer den anderen: den in der NS-Zeit versagenden Vätern und allen, die über das Wohlergehen der BRD vergessen haben, die Restauration der postfaschistisch-kapitalistischen Verhältnisse zu kritisieren. Lübbes Konklusionen haben das Ziel, die vermeintlichen Verdienste der 68er zu untergraben. Die scharfe Kritik der NS-Vergangenheit wie auch der BRD wird als eine bequeme Abrechnung mit etwas demaskiert, was man in keinem der beiden Fälle für das Eigene hält. Lübbe spricht im konservativen Sinne im Sinne des Staates, der nach dem Krieg zu erneuern war, von Belang sind für ihn allenfalls Prozesse, 18 Als Belege für seine These führt er folgende Bücher an: E. Kogons Der SS-Staat (1946), die im Jahre 1957 von W. Hofer publizierten NS-Dokumente, die Memoiren von M. Buber-Neumann (1958), Das Tagebuch der Anne Frank (1947), oder Die Auflösung der Weimarer Republik (1955) von K.D. Bracher. 19 Faschismus ist die terroristische Diktatur der am meisten reaktionären Elemente des Finanzkapitals, so die berühmte Dimitroff-These. 22 die den Staat stabilisieren helfen. Einzelne Menschen interessieren ihn nur insofern, als sie sich erfolgreich „in die Bürgschaft der Bundesrepublik Deutschland“20 verwandeln. Somit beschränkt der Text seine Optik ausschließlich auf die deutsche Sicht. Zwar ist nicht auszuschließen, dass es sich nach dem Krieg unter den Deutschen, die mehr oder weniger „mitgelaufen“ sind, tatsächlich so abgespielt haben mag, wie von Lübbe beschrieben. Dann bleibt aber noch zu fragen, wann es um diese Praxis geschehen ist und ob der Abstand zwischen der normierten öffentlichen Diskussion über die NS-Vergangenheit und den privaten, meist nicht mitteilbaren Erfahrungen tatsächlich nicht auf seine Zukunftshypotheken hin zu untersuchen wäre. Diesen Fragen geht Lübbe aus dem Weg. Wohl noch schwerer wiegt eine weitere ausgesparte Frage, die die für die deutsche Nachkriegsidentität grundsätzliche Asymmetrie betrifft: als Deutscher war man nach dem Kriege nicht nur in der Rolle des Geschlagenen, der seine bisherige und nun unakzeptable Überzeugung gegen eine neue, demokratische zu tauschen hatte, sondern, und zwar vor allem, in der Rolle des (Mit-)Täters, der sich auf eine bis dahin unvorstellbare Art an seinen Opfern vergriffen hat. Der Perspektive der Opfer bleibt Lübbes Text viel schuldig; diese Schuld versuchte zwei Jahre später Richard von Weizsäcker wettzumachen. 1.2 Richard von Weizsäcker: 8. Mai 1945 Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zeichnet sich durch einen versöhnlichen, ja allumarmenden Ton aus. Ähnlich wie Lübbe geht Weizsäcker davon aus, dass alle Deutschen wissen konnten, was während des Krieges geschah. Von da an schaltet jedoch Weizsäcker nicht auf die übergreifende Ebene der Staatsinteressen um, vielmehr wendet er sich dem Einzelnen zu, der in seinem Gewissen zu entscheiden habe, inwiefern er sich vom Nazismus korrumpieren ließ. Eben die moralische Bereitschaft, sich über das Maß der eigenen Verstrickung Rechenschaft abzulegen, für Lübbe eine sekundäre Eigenschaft, stellt für Weizsäcker den unumgänglichen ersten Schritt auf den anderen zu dar. Abgeschlossenes Systemdenken Lübbes löst bei Weizsäcker prinzipielle Offenheit ab, die sämtliche Grenzen zu überwinden hat. Die Ambition dieser semantischen Bewegung ist klar: Wo Weizsäcker zu den Deutschen spricht, will er alle ansprechen, die guten Willens sind. Wo er von der nichtdeutschen Öffentlichkeit gehört werden will, trachtet er danach, das Tor zu öffnen, durch das die Deutschen 40 Jahre nach dem Krieg in die Weltgemein- 20 H. Lübbe: „Der Nationalsozialismus im Bewußtsein der deutschen Gegenwart ...“, S. 20. 23 schaft integrierbar wären. Der politische Pragmatismus Lübbes weicht der Moral, die indes niemanden moralisieren will. Zu Beginn seiner Rede betont Weizsäcker, dass er keine Gruppen der Deutschen exkludieren will. Seine Beschreibung der deutschen (mentalen) Lage am Kriegsende schließt alle ein: die Rückkehrer, die heimatlos Gewordenen, die Befreiten wie auch die nun Gefangenen, die Davongekommenen wie auch die über die Niederlage des eigenen Vaterlandes Verbitterten. Für alle galt: Der Blick zurück war untröstlich, nach vorne zu schauen war recht unsicher. Nach diesem Auftakt erklärt Weizsäcker im Namen aller Deutschen den 8. Mai 1945 für einen Tag der Befreiung, nicht etwa der Niederlage, wie es bisher üblicher war: Man sei vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befreit gewesen. Das ist erstens ein Schritt auf die anderen zu, denn dadurch reklamiert Weizsäcker für das Nachkriegsdeutschland friedliche Werte der Humanität; und zweitens, obzwar die Deutschen vom Nazismus zum Teil abgekoppelt werden, werden sie an keiner Stelle von der Verantwortung für ihn freigesprochen. Dies macht den zweiten Aspekt des versöhnlichen und in alle Richtungen offenen semantischen Gestus Weizsäckers aus. Er meidet jegliche Extreme, drohende Einseitigkeit wird immer schon durch einen Schritt in die andere Richtung aufgewogen. Dass der 8. Mai 1945 für die Deutschen zum Tag der Befreiung erklärt wird, hindert sie gleichzeitig daran, über das Leiden hinwegzusehen, das 1945 erst begonnen hat und zu dem es nicht gekommen wäre, wenn die nun befreiten Deutschen den schrecklichen Krieg nicht entfacht hätten: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“21 Andererseits gilt: dass die Deutschen heute keinen Grund haben, sich am 8.5.1985 an Siegesfesten zu beteiligen, dürfe sie nicht daran hindern, den 8. Mai als „das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“22 Weizsäcker ist weit davon, den Deutschen eine Kollektivschuld zu unterstellen, genauso fern liegt ihm aber, sie ohne weiteres freizusprechen. Nationalismus in seiner affirmativen wie auch negativen Variante ist ihm fremd. Deutschland sei weder zur Weltherrschaft, noch zu ewiger Verdammnis auserwählt. Seine Schuld sei unumstritten, aber nicht ewig. Andere Nationen seien zwar auch nicht frei von Schuld, doch es bestehe kein Grund dazu, darin einen Freispruch für die Deutschen zu suchen, denn „die Initiative zum Krieg aber ging von Deutschland aus, nicht von der Sowjet- union.“23 In all diesen Punkten reagiert Weizsäcker auf die unzählige Male 21 R. von Weizsäcker: „Der 8. Mai 1945“ (Ansprache bei einer Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages): In ders.: Reden und Interviews (1), Bonn 1986, S. 280. 22 Ebenda. 23 Ebenda, S. 286. 24 vorgetragenen Extrempositionen, oder aber nimmt er sie vorweg, um sie zu neutralisieren. Der zweite Teil der Rede ist der Frage gewidmet, wie man sich 40 Jahre nach dem Krieg zu diesem zu stellen hat. Und gleich wird der Begriff der Erinnerung in den Vordergrund gerückt, die er als die Fähigkeit versteht, „eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird.“24 Es folgt eine wohlstrukturierte Passage, wo jeweils dreimal aus der allgemein menschlichen Perspektive und dann einmal aus der Sicht der Deutschen darüber nachgedacht wird, wessen man 40 Jahre nach dem Krieg zu gedenken habe. Wiederum ist Gleichgewicht angesagt, indem darauf bestanden wird, zu gedenken wäre aller Toten des Krieges, wie auch deren der Gewaltherrschaft, aller unter dem Krieg leidenden Nationen, ermordeter Sinti und Roma, Homosexueller und weiterer Minderheiten. Die Deutschen mögen aller im Krieg gefallenen Landsleute gedenken, seien sie schon als Soldaten, als Zivilbevölkerung oder Gefangene und Vertriebene gestorben. Nicht vergessen werden die Opfer aus den Reihen des deutschen Widerstandes, unter anderem des kommunistischen, doch am meisten werden in dieser Aufzählung zwei Kategorien betont: Die Frauen und die Juden, denen der ganze dritte Teil der Rede gewidmet ist. Festgehalten wird, der von Hitler geplante Völkermord an den Juden sei in der Geschichte beispiellos. Was die Schuldzuweisung anbelangt, hält Weizsäcker wieder die Waage: Ausgeführt wurde der Völkermord zwar von einigen wenigen, doch jeder Deutsche konnte sehen, was die Juden zu erleiden hatten, es sei denn, er hätte davor die Augen absichtlich verschlossen. Selbstkritisch gibt Weizsäcker zu, zu viele Leute, „auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren,“25 wollten nicht zur Kenntnis nehmen, was geschah, sie hätten vorbeigeschaut und später behauptet, von nichts gewusst zu haben. Der einzig mögliche versöhnliche Zugang zu der Vergangenheit würde heute darin bestehen, an diese zu erinnern. Auch diejenigen, denen aufgrund ihres Alters der Völkermord nicht direkt anzulasten ist, sollten diese Vergangenheit aufnehmen, und zwar nicht, um sie zu überwinden, sondern, um Versöhnung zu finden. Indem sich Weizsäcker der Perspektive der anderen Gruppen (mancherorts identifiziert er sich mit der jüdischen Sicht26 ), signalisiert er, dass die Vergangenheit nicht anders zu verarbeiten ist, als durch bewahrende Erinnerung, die es erreichen will, dass die eigene Perspektive (samt dazugehörenden Interessen) auf diejenigen (hin) transzendiert wird, deren Verzeihung und Versöhnung uns am Herzen liegt. Dieses Gebot wird folglich auf andere Nationen erweitert, denen gegenüber die Deutschen 24 Ebenda, S. 285. 25 Ebenda, S. 280. 26 Vgl. Ebenda, S. 284. 25 einiges gutzumachen haben: „Können wir uns wirklich in die Lage von Angehörigen der Opfer des Warschauer Ghettos oder des Massakers von Lidice versetzen? Wie schwer musste es aber auch einem Bürger in Rotterdam oder London fallen, den Wiederaufbau unseres Landes zu unterstützen, aus dem die Bomben stammten, die erst kurze Zeit zuvor auf seine Stadt gefallen waren.“27 Die Teilung Deutschlands hält Weizsäcker also für eine gerechte Strafe, die Deutschland auf sich zu nehmen hat. Aus dem Vergleich mit Lübbes Rede resultiert eine gravierende Wandlung im Hinblick auf das Thematisieren des Deutschseins. Weizsäckers Text stellt sich dem Dialog mit den Opfern der nazistischen Gewaltherrschaft, er integriert in seine Sicht die Perspektive der Opfer und räumt mit der Angst auf, das Eingeständnis der eigenen Schuld sei automatisch ein weiterer belastender Umstand. Er wird nicht von dem Bedürfnis motiviert, die unheilvolle Vergangenheit zu vergessen, zu verschweigen, sie bewältigend zu überwinden. Es ist, als würde sich Weizsäcker deutlich weniger vor eigenen Fehlern fürchten. Seine Bereitschaft, sie zu bekennen, sich die eigene Verstrickung einzugestehen, öffnet ihm den Weg zu den Opfern in etwa so, wie ihm das Beharren auf der eigenen Fehlerlosigkeit, ja der Schuldlosigkeit um jeden Preis diesen Weg verstellt hätte. Aus eben diesem Grunde kann Weizsäckers Rede seine Intention verwirklichen, aus diesem Grunde transzendiert sie die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, marginalisiert die Unterschiede zwischen den jüngeren und älteren Generationen, ja überbrückt die Differenzen zwischen einzelnen Nationen wie auch zwischen Tätern und Op- fern. 1.3 G. Grass: Geschenkte Freiheit Obwohl G. Grass seine Rede Geschenkte Freiheit schon am 5. Mai 1985 gehalten hat, stellt sich beim Lesen eher der Eindruck ein, als wäre sie unmittelbar nach Weizsäckers Rede verfasst worden. Gleich zu Beginn wird eingeräumt, eine „Rede zu gebotenem Anlass könnte sich leicht bewährten Riten unterwerfen, indem sie Distanz beansprucht, zwischen Extremen den Ausgleich sucht, nichts unerwähnt lassen möchte und den Redner hinter Zitaten verbirgt.“28 Nichts davon schwebt Grass offensichtlich vor, denn eines der Zentralthemen seiner Rede ist der Kampf gegen allzu bewährte Rituale; sachlichen Abstand und Symmetrie um jeden Preis überlässt er den Politikern. Im Vergleich zu den bisher erwähnten Deutschlandreden hebt sich die Grass’sche dadurch ab, dass sie im gegebenen 27 Ebenda, S. 287–288. 28 G. Grass: „Geschenkte Freiheit“ (Rede zum 8. Mai 1945 in der Akademie der Künste Berlin). In ders.: Essays und Reden 1980–2007. Göttingen 2007, S. 141. 26 Kontext nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten sucht, die der stark subjektiven Prägung Rechnung zu tragen hätten. Bereits im zweiten Absatz schwenkt Grass auf eine subjektiv-persönliche Ebene, um das Nachkriegsdeutschland in der Form schildern zu können, wie er es damals wahrgenommen hat. Und er schont sich nicht, hat keineswegs vor, seine Vergangenheit nachträglich zu stilisieren: Seine Erziehung sei „als Drill im Sinne nationalsozialistischer Zielvorstellungen verlaufen [...] Gewiß waren gegen Kriegsende diffuse Zweifel aufgekommen, doch von Widerstand keine Rede.“29 Grass’ Text unterstreicht recht oft Verbindungspunkte zwischen der subjektiven Perspektive und einem allgemeingültigen Gestus: „Gleich nach der Gewißheit, besiegt zu sein, bedeutete für mich und viele, die in benachbarten Lazarettbetten lagen, die bedingungslose Kapitulation: Befreiung von Angst [...]: die Abkürzung KZ war Begriff. Nur gefragt wurde nicht: was geschieht dort und anderswo mit wem und bis zu welchem Ende? Auch ich habe nicht gefragt, die Lehrer blieben fraglos, die Priester.“30 Zum Urteil über die damalige Lage kommt Grass über seine persönliche Erfahrung: was er damals empfunden hat, möge allgemein gültig sein. Kam er sich (mit seinen Zeitgenossen) am 8. Mai 1945 geschlagen vor, „befreit zwar vom Feldwebel, doch ohne Begriff von dem, was Freiheit ist oder sein könnte,“31 dann soll diese Aussage nicht nur für ihn oder seinesgleichen gelten. Die Deutschen wurden geschlagen, die Freiheit haben sie also nicht gewonnen, sondern nur geschenkt bekommen, und zwar von den Alliierten. Diese Freiheit hatte nun den Nachkriegsbedingungen zu entsprechen; sie war eine geteilte. Für geschenkte Freiheit hatten die Deutschen mit der Teilung seines Staates zu büßen. Die Antwort auf die Frage, ob der 8. Mai den Deutschen ein Tag der Befreiung oder der Niederlage war, macht Grass davon abhängig, wie sie während des Krieges und nach dem Krieg agiert hatten. Und diesbezüglich muss er nicht lange überlegen: nachdem der deutsche Widerstand eliminiert oder liquidiert worden wäre, habe die Masse des deutschen Volkes alles getan, um die „Befreiung zu verhindern“.32 In dem emotionalen Chaos, wo, so beteuert Grass selbstkritisch, nur zögerlich auch Scham aufkam, wählten die Deutschen meist den einfacheren Weg: sie hätten lieber nicht viel gefragt, um nicht erfahren zu müssen, was sie noch mehr beunruhigt, destabilisiert hätte. Das Unheilvolle erblickt Grass darin, dass das Nachkriegsdeutschland diesen „einfacheren“ Weg bis dato nicht verlassen und von ihm scheinheilig profitiert hat: „Ich weiß, dass bis in die Leitartikel dieser Tage Unschuldszeugnisse ausgestellt werden. Wir leisten uns gegenwärtig einen Bundeskanzler, dem 29 Ebenda, S. 141. 30 Ebenda, S. 143. 31 Ebenda, S. 142. 32 Ebenda. 27 die Unschuld, wenn nicht eingefleischt, so doch eingeboren ist. Fix sind abermals die Persilscheine der fünfziger Jahre zur Hand. Doch was sagen die wiederholten Beteuerungen, es habe die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes von Gaskammern, Massenvernichtungen, vom Völkermord nichts gewusst? Diese Unwissenheit spricht nicht frei. Sie ist selbstverschuldet [...] Alle wussten, konnten wissen, hätten wissen müssen.“33 Unbarmherzig aus der subjektiv urteilenden (hätten wissen müssen) Position, die sich auf das Potential der Aufklärung (selbstverschuldet) beruft, bemängelt Grass gerade das, was Lübbe für das adäquate und nötige modus vivendi hält. Auf die bekannte Definition Kants anspielend schließt Grass die Deutschen aus dem Prozess der Aufklärung aus, spricht ihnen jedwede Chance zu Befreiung ab: „Deshalb wurden die Deutschen am 8. Mai nicht befreit, sondern besiegt. Deshalb verloren sie Provinzen; ich verlor meine Heimatstadt. Weit folgenreicher bis heute: die Deutschen verloren ihre Identität.“34 Dieser Verlust ist die Folge eines bequemen Opportunismus,35 der in den Nachkriegsjahren recht viele Formen angenommen hat: etwa die lexikalische, als man die Niederlage als Zusammenbruch oder Katastrophe hinaufstilisierte, oder politische (in der BRD ein staatlich geförderter Antikommunismus, in der DDR Eliminierung der Sozialdemokratie und der nachträgliche Antifaschismus). Diese Formen des Opportunismus boten in der Konstellation des Kalten Krieges allen Deutschen die Option, die Niederlage im Zweiten Weltkrieg nachträglich zu neutralisieren, indem man sich als die Befreiten den Alliierten zur Seite stellen konnte. Gegen den Wunsch, eine befreite Nation zu sein, setzt sich Grass zur Wehr, da er sieht, dass jeder, der sich befreit gibt, sich zugleich unschuldig geben kann, da er damit die Opferrolle für sich beansprucht. Dadurch bleibt Grass auf Distanz sowohl zu der Linken, die sich als Opfer Hitlers gefällt, als auch etwa zu Weizsäcker, der gegenüber den Deutschen mehr Vertrauen hegt, ja bei jedem sein besseres Ich anzusprechen sucht. Der Eindruck, dass Grass’ Beharren auf der Niederlage eine Tendenz ist, die ihn in die Nähe der Rechten bringt, täuscht allerdings. Während die Rechte auf der Niederlage besteht, um die Kontinuität zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik zu betonen, tut es Grass, um die Bundesrepublik von dem Dritten Reich möglichst zu trennen. Zwischen beiden „muss“ eine Zäsur sein; gerade weil manche diese Zäsur zu marginalisieren suchen, ist er nicht bereit, nicht nur manche, sondern alle Deutschen für eine Nation zu halten, die sich auf ihre Befreiung etwas zugutehalten kann. Die Deutschen würden die Rolle 33 Ebenda, S. 143. 34 Ebenda. 35 „Man lebte in Nachbarschaft mit dem alltäglichen Verbrechen – abgesehen vom Krieg und seinen Rückschlägen – gar nicht so schlecht.“ Ebenda, S. 143. 28 einer befreiten Nation nicht verdienen, da sie allzu sehr zu der Tendenz passe, die Schuld an andere zu delegieren. Die Nachkriegszeit setzte mit ihren Hetzkampagnen gegen die Kommunisten im Westen und mit der Eliminierung der Sozialdemokratie im Osten eine unheilvolle Tradition fort, die zu den Zeiten der Weimarer Republik von den Nazis betrieben worden war. Statt eine Zäsur zu setzen, hatte man sich nach dem 8. Mai nur darauf konzentriert, die Wunden zu heilen. Dem setzt Grass eine moralische Perspektive entgegen, in der der 8. Mai einen radikalen Bruch darstellen solle, eine Zäsur, die nicht zu glätten sei. Die Frage des 8. Mai ist nur dann zu stellen, wenn man sie auf die Gründe hin abhorcht, warum die Deutschen nach diesem Tag nicht anders geworden sind, ja dies gar nicht gewollt haben. Im Jahre 1985 nach dem Sinn des 8. Mai zu fragen, heißt abzuwägen, welche Optionen Deutschland im Jahre 1945 nicht wahrgenommen hat. So sehr Grass einräumt, dass ein absoluter Beginn („Stunde Null“) damals nicht zu setzen war, so ganz verzichten will er auf seinen Traum nicht: Man habe nach dem Krieg die Möglichkeit versäumt, ein „anderes Deutschland“ zu bilden und aufzubauen, indem man die Politik hinterhältigen Politikern (namentlich dem „rheinländischen Separatisten“ Adenauer und dem „sächsischen Stalinisten“ Ulbricht36 ) überlassen und statt einer kompromisslosen Auseinandersetzung mit all den korrumpierten Filbingers und seinesgleichen einen passiven apolitischen Standpunkt eingenommen habe. Adenauer und Ulbricht hätten den Traum eines anderen Deutschlands zerstört, seine Teilung besiegelt und die verlorene Identität durch das verlockende Angebot kompensiert, das Böse immer bei den Feinden „drüben“ zu finden. Den Westdeutschen war der Osten Deutschlands nicht genug freiheitlich und antikommunistisch, die Ostdeutschen waren wiederum der Meinung, der Westen habe sich nicht deutlich genug vom Nazismus ge- trennt. Im Gegensatz zu Weizsäcker, der die Vergangenheit möglichst mit Gegenwart und Zukunft verbindet, trennt Grass diese von der Gegenwart durch eine Zäsur, die man in Deutschland zu hüten habe, wolle man die Zukunft nicht verspielen. Die geschichtliche Last ist, so paradox es klingen mag, wertvoll, ja unumgänglich. Indem sie von den Nachkriegsdeutschen verschwiegen, in der Literatur mit Phrasen oder in anderen Künsten mit abstrakter Gegenstandslosigkeit übertüncht und in der Politik von ihren europäischen politischen Konsequenzen abgekoppelt wurde (geteiltes Deutschland), haben laut Grass die Deutschen die große Chance verspielt, die ihnen am Kriegsende im Moment des restlosen Zusammenbruchs beschert wurde. 36 Ebenda, S. 144. 29 Wie berechtigt auch immer die subjektive Ansicht Grassʼ sein kann, der ja niemanden, und schon gar nicht sich selbst schont, kommt bei der heutigen Lektüre dieser Rede der Verdacht auf, Grass erhebt Ansprüche, denen man beim besten Willen nicht genügen kann: „Und doch schlägt bei allem Bemühen das Ungenügen durch. Es ist, als hinge den Deutschen der Fluch ihrer Opfer an [...] Was wir auch tun, der Makel bleibt.“37 Den Deutschlanddiskurs fasst Grass absichtlich nicht als irgendeinen Wettbewerb auf, bei dem man vorankommt, wenn man Hindernisse überwindet und Probleme bewältigt; vielmehr ist es ein unendlicher Prozess, bei dem die Deutschen mit ihrer Vergangenheit nur leben können, indem sie anerkennen, dass Deutschland die Hypothek dieser Vergangenheit nie restlos begleichen wird. Somit vollzieht Grass in seiner Rede den von vielen Theoretikern begrüßten Schritt von der Vergangenheitsbewältigung zur Ver- gangenheitsbewahrung.38 1.4 E. Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will Diese absichtlich negative Potenzierung der Vergangenheit, die Zäsur der „Stunde Null“, ohne die sich Grass wie auch manch anderer linker und linksliberaler Intellektueller seine nachkriegsdeutsche Vision nicht vorstellen kann, ist dem Historiker E. Nolte ein Dorn im Auge. Die Vergangenheit des Dritten Reiches kann Grass keiner anderen Vergangenheit zur Seite stellen, da sie nie zu überwinden sei. Sie stelle gleichsam eine ewige Gegenwart dar, die unter keinen Umständen vergehen dürfe. In dieser Hinsicht ist E. Nolte ein absoluter Gegenpol zu G. Grass; seine Essays aus den 1980er Jahren stellen grundsätzliche Axiome der deutschen linksliberalen Intellektuellen in Frage, indem sie einfach bezweifeln, dass man die Gegenwart ausschließlich durch die negative Brille der Vergangenheit verstehen muss, die nie vergehen darf. In einem älteren Text, dem Essay Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus39 stellt Nolte gleich zu Beginn fest, das Dritte Reich sei nur noch in seiner Negation lebendig, was der Geschichtswissenschaft in Bezug auf diesen Teil der Geschichte keinen wissenschaftlich sachlichen Zugang ermögliche. Statt die Periode des Drittens Reiches auf ihre positiven und negativen Aspekte hin zu befragen, werde sie dämonisiert; statt sie in ihrer Komplexität zu betrachten, werde sie isoliert und aus dem gesamteuropäischen Kontext herausgerissen. 37 G. Grass: „Geschenkte Freiheit“ (Rede zum 8. Mai 1945 in der Akademie der Künste Berlin). In ders.: Essays und Reden 1980–2007, Göttingen, S. 143. 38 Vgl. Kapitel 3. 39 E. Nolte: Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus. In: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987, S. 13–35. 30 In seinen Essays argumentiert Nolte meist auf mehreren Ebenen. Auf der ersten agiert er eher defensiv, indem er methodologische Einwände gegen die traditionelle Praxis der Vergangenheitsbewältigung vorbringt. Dabei denkt er über die Gründe nach, warum es nicht einfach ist, dieser Praxis etwas entgegenzusetzen; hier bringt er nicht selten Argumente vor, die er sonst von seinen Gegnern zu hören bekommt (Risiko der Relativierung des Nationalsozialismus, Exkulpation Hitlers, der Deutschen etc.). Den defensiven Teil seiner Reden pflegt Nolte mit ostentativen Proklamationen abzuschließen, dass auch andere Fragen gestellt werden müssen, als die in den Debatten obligatorischen und zugelassenen. Den offensiven Teil eröffnet er mit Demaskierungsverfahren: Hinter der negativen Gegenwart des Dritten Reiches, die in seinen Augen einer hysterischen Dämonisierung der Vergangenheit gleicht, entlarvt er Interessen derjenigen, die die Vergangenheit dämonisieren. Er hält es sogar für möglich, dass, so sein Essay ,Vergangenheit, die nicht vergehen willʻ, hinter dem Singularitätspostulat von Auschwitz andere Motive stecken könnten, etwa die Ambition der jüngeren Generationen, die Generation ihrer Väter zu diskreditieren und den Blick von den brennenden Problemen der Gegenwart abzulenken oder einfach „die Interessen der Verfolgten und ihrer Nachfahren an einem permanenten Status des Herausgehoben- und Privilegiert- seins.“40 Das Verbot, die Schrecken des Nazismus mit den Schrecken des Kommunismus zu vergleichen, war laut Nolte durch die recht banale reziproke Instrumentalisierung von Kommunismus und Nazismus motiviert, die wie folgt funktioniert: Je mehr man über die kommunistischen Gräueltaten hinwegsieht, desto schrecklicher muten die nazistischen an; und je strenger es verboten ist, Nazismus mit Kommunismus zu vergleichen, desto besser kommt im Vergleich der Kommunismus weg, da das Vergleichsverbot das unvergleichbar Schreckliche des Nazismus zementiert. Danach rückt Nolte mit Vorschlägen heraus, die das schwarz-weiße Schildern des Dritten Reiches, ja dessen moralisch-pädagogische Instrumentalisierung durch eine andere Zugangsweise ersetzen würden, welche das Dritte Reich im Rahmen der geschichtswissenschaftlichen Forschung politisch und moralisch nicht missbrauche. Dem Gebot der Komplexität folgt er insofern, als er für den nazistischen Völkermord etwas Vergleichbares sucht, was er ihm zur Seite stellen könnte. Er findet jedoch nur das vor, was dem Nazismus historisch vorausgegangen sein soll: die bolschewistische Revolution. Also fragt er: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler die ‚asiatische Tat‘ vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ 40 E. Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will. In „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München, S. 41. 31 Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“41 Nolte räumt zwar ein, die bolschewistische Revolution möge nicht so irrational, abstoßend und schrecklich gewesen sein, doch er stellt sie in die Rolle des Vorgängers und Vorbilds der nazistischen Revolution, wodurch er die im Namen des Nazismus verübten Gräueltaten insofern relativiert, als er sie zu Kopien und Reaktionen macht. Statt sachlich zu vergleichen, macht Nolte denselben Fehler, den er bei seinen Gegnern bemängelt hatte: Auch er kann nicht umhin, einen Mord durch den anderen zu rechtfertigen, also den Nazismus dadurch zu exkulpieren, dass er den Bolschewismus anschwärzt. Wollte er sachlich und gerecht Täter und Opfer bestimmen, ist ihm das nicht gelungen, weil er ein asymmetrisches Verhältnis zwischen bolschewistischen Tätern und nazistischen Opfern gebildet hat. Hatte er daran Anstoß genommen, dass man wegen den nazistischen Verbrechen nicht die bolschewistischen sehen will, dann stellte er die nazistische Tragödie so sehr in den Schatten der bolschewistischen, dass der Nationalsozialismus seinen bösen Schatten beinahe verloren hätte. In seinen Texten der 1990er Jahre bemüht sich Nolte offensichtlich darum, die Bundesrepublik von dem bösen Schatten des Nationalsozialismus zu befreien. Dies gelingt ihm nur um den Preis, dass er das kritische Augenmerk anderswohin lenkt, zu anderen, vermeintlich primären, weil ursprünglichen Verbrechen. Er geht sogar so weit, dass er sich Auschwitz als ein Verbrechen vorstellen kann, das „vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit [her, A.U.] rührte, die nicht vergehen wollte?“42 Diese Frage manifestiert in aller Deutlichkeit die Konsequenzen seines Gedankenganges: Auschwitz wird von stalinistischen Lagern abgelöst; was nach ihnen kam, war nur noch ihr Abbild. Auschwitz wird dadurch aus seiner historischen Einmaligkeit herausgenommen, doch nicht um erklärbar, sondern um nachvollziehbar gemacht zu werden als eine Abwehrtat vor bolschewistischen Verbrechen, die ihrerseits unvergleichbar seien, und daher nicht vergehen dürften. 1.5 P. Jenningers Bundestagsrede vom 10. November 1988 P. Jenningers Rede, die genau 50 Jahre nach den jüdischen Pogromen vom November 1938 gehalten wurde, hat ihrem Autor wenig Erfreuliches gebracht. Ihre Kritiker nahmen in der Regel Anstoß an Jenningers rhetorischen Verstößen gegen den diesem Thema entsprechenden Stil, Ton und 41 Ebenda, S. 45. 42 Ebenda, S. 45. 32 Takt. Vieles davon wird deutlich, sobald man diese Rede in den Kontext der Deutschlandreden einbettet. Obwohl sie zum Anlass die Pogrome der Kristallnacht hatte, fokussieren Jenningers Erinnerungen weniger die verstorbenen Juden, als die Deutschen. In den Vordergrund rückt nämlich die Frage, wie die Deutschen ihre Geschichte zu verstehen hätten, „[...] weil nicht die Opfer, sondern wir, in deren Mitte die Verbrechen geschahen, erinnern und Rechenschaft ablegen müssen, weil wir Deutsche uns klarwerden wollen über das Verständnis unserer Geschichte und über Lehren für die politische Gestaltung unserer Gegenwart und Zukunft.“43 Mangelnde Bereitschaft die Perspektive der Opfer miteinzubeziehen, scheint im Vergleich zu Weizsäckers Rede wie ein Schritt zurück zu sein, der Jenninger eher in die argumentative Nähe zu Nolte und Lübbe bringt. Jenningers Rede sucht offensichtlich intertextuellen Kontakt mit anderen hier analysierten Reden. Wo Jenninger darauf besteht, die Verantwortung für die Vergangenheit sei nicht nach Maßgabe der unterm Vorzeichen des Kalten Krieges stehenden Nachkriegsordnung zu regeln, zielt er genauso wie Grass auf die mangelnde Bereitschaft beider deutschen Staaten, die Last der Vergangenheit gerecht zu tragen. Um die argumentative Verwandtschaft mit Grass ist es indes geschehen, sobald sich Jenninger in seiner Rede an Lübbe anlehnt. Nach der Schilderung der häufig praktizierten Strategie, dank der sich die Nachkriegsdeutschen via Identifizierung mit dem Westen als Opfer von Hitlers Willkür empfunden haben wollten, und daher weniger bereit gewesen seien, sich mit eigenem Schuldanteil auseinanderzusetzen, verzichtet Jenninger auf die zu erwartende Kritik und rät stattdessen zum Abwägen: „Man kann solche Verdrängungsprozesse, meine Damen und Herren, heute mit einleuchtenden Gründen kritisieren, und wir tun gut daran, die Kritik ernsthaft und vorbehaltlos zu bedenken. Moralische Überheblichkeit führt dabei allerdings nicht weiter.“44 Statt eilfertig zu moralisieren, nimmt der Redner eine diskrete Haltung ein, indem er die damaligen Deutschen in Schutz nimmt: „Vielleicht konnte das deutsche Volk in der heillosen Lage des Jahres 1945 gar nicht anders angesichts der großen Not, des Hungers, der Trümmer reagieren, und vielleicht überfordern wir uns rückblickend auch selbst in unseren Ansprüchen an die damalige Zeit.“45 Das moralische Urteil über die damalige Bevölkerung tritt zurück zugunsten der Frage, ob unsere an diese Bevölkerung gestellten Ansprüche angemessen, ja berechtigt seien, was auch Lübbes (oder etwa auch K. Sontheimers) Standpunkt ist. Inwieweit sich hier Jenninger von Grass und seinesgleichen distanziert, geht klar aus der scharfen Kritik von W. Jens hervor, der seinerseits an den Nachkriegsgenerationen kein gutes Haar lässt, weil sie davon zu profitie- 43 P. Jenninger: Rede und Reaktion ..., S. 13. 44 Ebenda, S. 23–24. 45 Ebenda, S. 24. 33 ren wüssten, dass Adenauer in Bezug auf die nazistische Vergangenheit eine restaurative und daher Einzelne eher entlastende Politik betrieben habe. Jenninger, so Jens in seiner Kritik, habe die ideale Gelegenheit versäumt, eben bei diesem Anlass diese entlastenden Strategien anzuprangern, stattdessen habe er unsere jetzige Kompetenz angezweifelt, die Nachkriegspraxis kritisch beurteilen zu können.46 Die in diesem Punkte deutliche Nähe Jenningers zu Lübbe und in gewissem Sinne auch zu Nolte, wird in anderen Passagen wiederum von andersartigen textuellen Bündnissen und Gemeinschaften abgelöst. Etwa in der Mitte der Rede wird ein grauenhaftes Zeugnis der Juden zitiert, und darauf lässt Jenninger Himmler zum Wort kommen, der stolz von seiner Fähigkeit doziert, den Anblick von 1000 jüdischen Leichen „durchgehalten zu haben“. Diese skandalöse Aussage Himmlers vom Oktober 1943 nutzt Jenninger nicht dazu, zu analysieren und zu erklären, wodurch die hier beschriebenen Taten wie auch die in Himmlers Aussage zutage getretene Unmenschlichkeit wohl ermöglicht worden sind. Jenninger zitiert sie vielmehr, um zu gestehen, dass wir – als Deutsche und auch als Menschen – nicht nur angesichts „des millionenfachen Untergangs“, sondern auch „angesichts dieser Sätze“ ohnmächtig seien, und daher bleibe ein „Rest, an dem alle Versuche scheitern, zu erklären und zu begreifen.“47 Da, wo Jenninger die Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die zunehmende Diskriminierung der Juden von 1933 an kommentiert, hält er sich weniger zurück: „Alle sahen, was geschah, aber die allermeisten schauten weg und schwiegen. Auch die Kirchen schwiegen.“48 Ähnlich wie Weizsäcker hält Jenninger kollektive Schuldzuweisungen für unheilvoll; den jeweiligen Schuldanteil habe jeder mit seinem Gewissen auszumachen. Auf Weizsäckers Worte anspielend, „jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Hass“, indes „die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger“,49 geht Jenninger sogar noch einen Schritt weiter, indem er schreibt: „Wahr ist aber auch, dass jedermann um die Nürnberger Gesetze wusste, dass alle sehen konnten, was heute vor 50 Jahren in Deutschland geschah, und dass die Deportationen in aller Öffentlichkeit vonstattengingen. Und wahr ist, dass das millionenfache Verbrechen aus den Taten vieler einzelner bestand [...]“50 In diesem Punkte brauchte Jenninger keine Kritik zu erwarten, ja genauso überraschend 46 Vgl. W. Jens: „Ungehaltene Worte über eine gehaltene Rede. Wie Philipp Jenninger hätte reden müssen“. In Die Zeit, 18.11.1988. 47 P. Jenninger: Rede und Reaktion ..., S. 22–23. 48 Ebenda, S. 15. 49 R. von Weizsäcker: „Der 8. Mai 1945 (Ansprache bei einer Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages)“ ..., S. 283. 50 P. Jenninger: Rede und Reaktion ..., S. 24. 34 wäre sie dort gewesen, wo er sich in einem der vielen intertextuellen Spiele negativ zu den Wünschen gestellt hat, einen Strich unter die Vergangenheit zu machen, die ja in den 1970er (F.J. Strauß) und dann noch intensiver in den 1980er Jahren in rechts-konservativen Kreisen publik wurden. „Deshalb ist auch die Forderung sinnlos, mit der Vergangenheit endlich Schluss zu machen. Unsere Vergangenheit wird nicht ruhen, sie wird auch nicht vergehen. Und zwar unabhängig davon, dass die jungen Menschen eine Schuld gar nicht treffen kann.“51 Kein Missverständnis lässt Jenninger auch bezüglich der Frage aufkommen, zu welchem Flügel des Historikerstreites er sich meldet. Folgende Sätze sind als eine direkte Polemik mit E. Nolte zu verstehen: „Wogegen wir uns aber gemeinsam wenden müssen, das ist das Infragestellen der historischen Wahrheit, das Verrechnen der Opfer, das Ableugnen der Fakten. Wer Schuld aufrechnen will, wer behauptet, es sei doch nicht alles so – oder nicht ganz so – schlimm gewesen, der macht schon den Versuch, zu verteidigen, wo es nichts zu verteidigen gibt.“52 Etwas später übernimmt Jenninger fast wortwörtlich Lübbes Gedanken: „So nimmt die Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen trotz des wachsenden zeitlichen Abstandes zu den Ereignissen nicht ab, sondern gewinnt an Intensität.“53 Doch er zieht daraus Schlussfolgerungen, die konträr zu denen von Lübbe verlaufen: „Auch für die Psyche eines Volkes gilt, dass die Verarbeitung des Vergangenen nur in der schmerzlichen Erfahrung der Wahrheit möglich ist. Diese Selbstbefreiung in der Konfrontation mit dem Grauen ist weniger quälend als seine Verdrängung.“54 Insgesamt ruft Jenningers Rede einen disparaten Eindruck hervor, als wollte der Autor aus Themen und Argumenten herausgreifen, was ihm gerade passt, ohne breitere Kontexte in Betracht gezogen zu haben. In seiner Argumentation stützt er sich hier auf linke, da auf rechte Theoreme, manchmal sogar in extremer Form; meist übernimmt er sie unkommentiert. Statt sich abzugrenzen oder sie zu korrigieren, geht er meist schnell zu anderen, nicht selten gegensätzlichen Meinungen über. Dies mag einer der Gründe für die hohe Zahl der empörten Reaktionen gewesen sein, die seine Rede hervorgerufen hat. Vage Argumente und uneindeutige Formulierungen führten nicht nur zu polarisierten Lesarten, sondern auch zu Missverständnissen. Genauso vage und unschlüssig geht er auch mit Gedankengängen anderer um, die er in seine Rede einbaut. Offensichtlich hat er unterschätzt, dass man als Autor seine Gedanken und Meinungen von denjenigen streng zu trennen hat, die die Zeitgenossen vor 50 Jahren gehabt haben 51 Ebenda, S. 25. 52 Ebenda, S. 24. 53 Ebenda, S. 25. 54 Ebenda, S. 26. 35 dürften. Der Standpunkt der in den 1930er Jahren lebenden Deutschen, nach deren Beweggründen Jenninger nun fragt, ist im Text nicht deutlich genug von seinem eigenen Standpunkt zu unterscheiden. So hat etwa W. Jens auf die Probleme hingewiesen, die entstehen, wenn man den Satz „Die Jahre von 1933 bis 1936 sind selbst aus der distanzierenden Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während der ersten Jahre gibt“55 aufschreibt, ohne hinzuzufügen, dass Hitlers Triumph mit der „Entwürdigung, mit dem Foltern und dem sadistischen Quälen von Tausenden Sozialdemokraten, Kommunisten, Christen und Pazifisten erkauft waren.“56 Andernorts gehen die Perspektiven noch prekärer ineinander über. Schuld daran ist die unglücklich gewählte erlebte Rede, die bei diesem heiklen Thema zu missverständlichem Lesen führen muss. Ob Passagen, in denen Jenninger schildert, wie die damaligen Deutschen Hitlers Aufstieg empfunden haben, wie sie ihn trotz allem zu goutieren bereit waren, missversteht, wer in ihnen Jenningers Meinungen identifiziert, ist kaum zu entscheiden; zumal er oft bei der Reproduktion der damaligen Meinung in gefährliche Nähe zu den Holocaustleugnern gelangt: Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals – , die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach die Propaganda – abgesehen von wilden, nicht ernstzunehmenden Übertreibungen – nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen?57 Die Uneindeutigkeit in der Zuschreibung der einzelnen Aussagen zu den jeweiligen Sprechern ist der bestimmende Charakterzug dieses Textes. Jenninger spricht etwa über die Glücksmomente der damaligen Deutschen, nachdem sie wieder eine Arbeit bekommen hatten und nun optimistischer in die Zukunft blickten, und zugleich versetzt er dies mit Passagen, die wie eine Zelebration des Führers anmuten: „Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird?“58 55 Ebenda, S. 16. 56 W. Jens: „Ungehaltene Worte über eine gehaltene Rede. Wie Philipp Jenninger hätte reden müssen“ ... 57 P. Jenninger: Rede und Reaktion ..., S. 17–18. 58 Ebenda, S. 17. 36 Jenningers Rede stellt auf den ersten Blick eben den Texttypus dar, dessen Autor jenseits von ideologischen Zwängen argumentiert, linksrechte Fixierungen und Reflexe meidet. Doch dieser Eindruck täuscht, denn die scheinbar anvisierte Mittelposition stellt weniger das Ziel als vielmehr die Folge von gedanklicher Uneindeutigkeit und rhetorischer Ungeschicklichkeit Jenningers dar. Wer über die Beweggründe der Deutschen der Jahre 1933–1936 öffentlich nachdenken will, sollte möglichst auf die erlebte Rede verzichten, die sich genau an der Schwelle zwischen den (damaligen) Sprechern oder Figuren und dem (heutigen) Autor befindet, der sich hiermit jeder Chance beraubt, fremde Meinungen seines Textes als solche zu markieren. Die Ablehnung, die Jenningers Text hervorgerufen hat, ist somit weniger auf die ideologischen Grenzen der Kritiker der Rede, als auf Jenningers ungenügende rhetorische Kompetenz zurückzuführen. 1.6 M. Walser: Über Deutschland reden Der Weg zu Walsers Essay „Über Deutschland reden“ aus dem Jahre 1988 führt gerade über die größte Schwäche der Rede von Jenninger. Um es nochmals auf den Punkt zu bringen: Indem sich Jenninger nicht deutlich genug von den in seiner Rede transponierten Meinungen damaliger Deutschen distanzierte, konnten diese Meinungen ihm selbst zugeschrieben werden. Das Verhältnis zwischen dem, wie die Deutschen die Epoche des Nationalsozialismus in den Jahren 1933–45 erlebt hatten, und dem, wie sie diese Jahre, eventuell sich selbst darin heute wahrnehmen, stellt einen der Schlüsselpunkte des Textes ,Über Deutschland redenʻ aus dem Jahre 1988 dar. Walser interessiert darin aber weniger die Frage, was man heute über das Verhalten der damaligen Deutschen denken soll, sondern eher die nach unserer Berechtigung, eigene Erinnerungen zu modellieren unter dem Einfluss dessen, was man heute über die damalige Zeit weiß. Anders gesagt: Er geht der Frage nach, ob unser Gedächtnis seine ehemalige Unschuld auch heute bewahren kann, wenn man über damals viel mehr weiß, als man damals gewusst hat. Walser, der als Jahrgang 1927 in der nationalsozialistischen Epoche seine „Lehrjahre“ verbracht hat, besteht auf einer gewissen Stabilität der Bilder der Vergangenheit, die über ihr eigenes Leben verfügen: „Ich habe das Gefühl, ich könne mit meiner Erinnerung nicht nach Belieben umgehen. Es ist mir, zum Beispiel, nicht möglich, meine Erinnerung mit Hilfe eines inzwischen erworbenen Wissens zu belehren.“59 Das Problem beginne für ihn dann, wenn er diese privaten Bilder veröffentlichen müsse; 59 M. Walser: Über Deutschland reden. Ein Bericht. In ders.: Ansichten, Einsichten. Aufsätze zur Zeitgeschichte. Frankfurt am Main, S. 897. 37 dann sei es um ihre Unschuld schnell geschehen: „Ich habe nicht den Mut oder nicht die Fähigkeit, Arbeitsszenen aus Kohlenwaggons der Jahre 1940 bis 43 zu erzählen, weil sich hereindrängt, dass mit solchen Waggons auch Menschen in KZs transportiert worden sind.“60 Seine Kindheitserinnerungen zu vermitteln ist für Walser moralisch und erzählerisch höchst problematisch. Er müsste darüber als ein historisch belehrter Erzähler schreiben, was er jedoch für ein Vergehen an den Erinnerungen hält, die er mitteilen will. „Ich müsste also reden, wie man heute über diese Zeit redet. Also bliebe nichts übrig als ein heute Redender. Einer mehr, der über damals redet, als sei er damals schon der Heutige gewesen. Ein peinliches Vorgehen. Für mich.“61 Walser lehnt es ab, Bilder der Vergangenheit an heutigen Maßstäben zu messen, ja die Vergangenheit im Namen der Gegenwart zu instrumentalisieren: „Die meisten Darstellungen der Vergangenheit sind deshalb Auskünfte über die Gegenwart. Die Vergangenheit liefert den Stoff, in dem heute einer sich human bewährt.“62 Der interdisziplinäre Vergleich mit anderen Deutschlandreden zeigt uns wiederum Stärken und Schwächen dieser Argumentation. Ihre Demaskierung scheint gerechtfertigt im Falle derjenigen, die ihr damaliges Profil mit bequemer Nachträglichkeit zu glätten versuchen. Die Nachträglichkeit ist dennoch eine Schwäche in Walsers einseitigem Beurteilen des Antifaschismus: Er nimmt gar nicht diejenigen wahr, die zu Antifaschisten nicht erst nachträglich, also nach dem Krieg geworden sind, sondern es schon „damals“ waren. Walsers Text lässt kaum zu, dass man aufrichtig Schuld empfinden könnte, wohl noch stärker werden alle Opfer exkludiert.63 Im Sinne des Historismus weigert sich Walser, in das Vergangene das Gegenwärtige zu projizieren, doch in mancher Hinsicht streitet er dem Vergangenen die hermeneutische Möglichkeit ab, sich selbst im Moment zu verstehen, als es noch Gegenwart gewesen ist. Als würden die Deutschen erst nachträglich erfahren, dass sie sich am verbrecherischen Regime beteiligt haben. So paradox es in Anbetracht anderer Texte von Walser anmutet, ,Über Deutschland redenʻ argumentiert an der allgemein anerkannten These vorbei, von den Schrecken des Nationalsozialismus habe man durchaus wissen können, wenn man es habe wissen wollen. Walsers Rede über das getrennte Deutschland am Ende der 1980er Jahre ist vom Deutschland der 30er und 40er Jahre nicht wegzudenken. Die Brücke zwischen damals und heute konstruiert Walser im Gegensatz zu Grass nicht als Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe, eher als eine kontingente Verbindung. Die Strafe des getrennten Deutschlands sei 60 Ebenda, S. 897. 61 Ebenda. 62 Ebenda. 63 Vgl. J. Becker: „Gedächtnis verloren – Verstand verloren“. Die Zeit, 18.11.1988. 38 nicht für immer auferlegt, sondern nur bis zu dem Tage, an dem die Wiederkehr der unheilvollen Geschichte minimalisiert werde: „Strafe dient nicht der Sühne, sondern doch wohl der Resozialisierung. Fühlen wir uns nicht resozialisiert? In Ost- und Westdeutschland kein Anzeichen irgendeiner Rückfallmöglichkeit.“64 Gegen diejenigen, für die die Trennung Deutschlands unumgänglich ist, scheut Walser, dabei kein Blatt vor den Mund nehmend, nicht, moralische Argumentation ins Feld zu führen: „Wir nicken zu gar allem vor lauter Angst, sonst für Nazis gehalten zu werden. Und das Ausland tut so, als sei ein nicht mehr geteiltes Deutschland wieder eine Gefahr wie in der ersten Jahrhunderthälfte [...] Grotesk ist nur, dass im Inland, vor allem im westlichen Inland, dieser Vorwand inbrünstig nachgesprochen wird [...] Nur wenn die Gefahr bestünde, dass wir ins Hohenzollern- oder Hitlerdeutsche zurückfielen, wäre die Teilung gerechtfertigt, ja geradezu notwendig.“65 Trotz unüberhörbarer Kompromisslosigkeit scheint Walsers Rede dem Gebot der Vieldeutigkeit zu gehorchen. Es ist, als hätte jeder, der über Deutschland redet, es mit einem Problem zu tun, das keine Lösung hat. „Wenn sich das Gespräch um Deutschland dreht, weiß man aus Erfahrung, dass es ungut verlaufen wird [...] Sogar das Selbstgespräch über Deutschland ist peinlich, weil man ja nicht wirklich allein ist dabei, man reagiert auf Argumente, die einem die anderen aufgedrängt haben, die man, obwohl sie einem nicht genehm sind, nicht mehr los wird.“66 In dieselben Koordinate bettet Walser auch den „Historikerstreit“ ein; Habermas gebühre zwar das Verdienst, den Streit eröffnet zu haben, der jedoch nichts habe bringen können außer der Bestätigung, die „deutsche Frage“ dulde keine eindeutigen und ausschließlichen Lösungen: „je mehr sich einer als der einzig Wissende und vor allem als der einzig Gerechtfertigte aufführt, desto weniger kann ich mir seine Ansicht über unsere Geschichte zu eigen machen.“67 Walser inkliniert zwar zu einigen Historikern (etwa zu dem Althistoriker Ch. Meier), doch nicht weil sie für bestimmte Position wären, sondern weil sie über unerbittlich formulierte Gegenpositionen hinausgelangen. „Was da so polemisch gegeneinander wütete, ist mir als eigenes Innenleben bekannt. Habermas und Hillgruber haben meinungsgemäß bequem in mir Platz.“ Daher lautet das Fazit Walsers historischer Lektion wie folgt: „mir scheint, die deutsche Frage sei nicht von ‚rechts‘ oder von ‚links‘ aufzufassen.“68 Um Walsers programmatische Ambivalenz ist es in der Regel geschehen, sobald er auf eilfertige und schwachen Trost bringende Lösun- 64 M. Walser: Über Deutschland reden. Ein Bericht ..., S. 903. 65 Ebenda, S. 902f. 66 Ebenda, S. 899. 67 Ebenda, S. 904. 68 Ebenda, S. 904. 39 gen stößt, die den „Trennungsspalt“ um jeden Preis zumachen: „Geschichtsnation; Kulturnation; Sportnation.“ (Walser 1997:902) An Habermasʼ (an Sternberger angelehntem) Vorschlag des Verfassungspatriotismus lässt er kein gutes Haar, ja – wer ihm Opportunismus vorwerfen wollte, dem zitiert er lange Passagen aus seinem eigenen Text aus dem Jahre 1977, die von der Kontinuität seiner Einstellung zeugen. Und schließlich weist Walser den Vorwurf zurück, er selbst biete keine Lösung an, indem er auf Enzensbergers ,Katechismus zur deutschen Frageʻ (1966) zurückgreift, in dem die Paradoxie (und paradoxe Lösung) der deutschen Frage unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wurde: Der einzige Weg, der die künftige Wiedereinigung nicht ausschließe, bestehe darin, die Trennung zu akzeptieren; alles andere führe die Staaten nicht zueinander, sondern zementiere den trostlosen Zustand auf ewig: „das Notwendige scheint mit dem Unmöglichen identisch zu sein.“69 Abschließend zitiert Walser einige Verse des ostdeutschen Lyrikers Wulf Kirsten, um mit der westdeutschen literarischen Intelligenz abzurechnen. Bei Kirsten findet der in diesem Punkte recht pauschal vorgehende Walser eben das, was er nicht nur bei den westdeutschen Literaten, sondern auch bei der westdeutschen Gesellschaft en bloc vermisst. Walsers Ziel scheint darin zu liegen, in seinen selbstsicheren bundesrepublikanischen Mitbürgern das ihnen offensichtlich abhanden gekommene Gefühl ins Gedächtnis zu rufen, etwas vermissen zu können. An diesem Beispiel ist zu sehen: Den Ausweg aus der Sackgasse des deutschen Selbstverständnisses säumen weder Meinungen, noch Argumente, man habe weder nach links, noch nach rechts zu gehen. Falls man sich überhaupt auf etwas verlassen kann, dann aufs Gefühl: Also auf etwas Unbestimmtes, Unsicheres, Unbeweisbares, doch in Walsers Augen paradox Verbindliches, da auf kein Schema Überführendes. Dieses Gefühl ruft er am Ende seiner Rede herbei, obwohl er weiß, dass Gefühle keine zuverlässigen Ratgeber sind, weder in der Poesie, noch in der Geschichte.70 1.7 Deutschlandreden jenseits der Disziplinarität und Ideologie Nun zurück zum Zweck der vergleichenden Analyse: Ideologisch und disziplinär unterschiedliche Texte wurden hier in der Absicht nebeneinandergestellt, ihre gegenseitige Bedingtheit hervortreten zu lassen, die wohl versteckt geblieben wäre, wenn man sie primär innerhalb ihrer Disziplinen und diesseits der ideologischen Begriffe und Kategorien betrachtet hätte. 69 Ebenda, S. 908. 70 Siehe ebenda, S. 914–915. 40 Es zeigte sich, dass diese Texte miteinander auf mehreren Ebenen interagieren. Sie beziehen sich auf der thematischen Ebene aufeinander, reagieren – affirmativ oder negierend – auf einzelne Argumente. Eine derartige Komparation macht es möglich, nicht nur unterschiedliche semantische Bewegungen der Texte zu erfassen, sondern auch deren adressatenspezifische Ambitionen. Lübbes zwar provozierende, auf Pointen zielende, doch in ihrer Sicht stark geschlossene und andere Perspektiven ausschließende Textintention bildet einen Gegensatz zum harmonisierenden Gestus von Weizsäcker, der möglichst viele Perspektiven einbeziehen will. Der subjektive, auf alle Offizialitäten verzichtende sarkastische Ton von Grass findet seinen Gegensatz im objektiven, wissenschaftlich sachlichen Stil von Nolte, der sich ja eher defensiv gibt. Jenningers Vagheit und Uneindeutigkeit, die auf mangelhafte Trennung der eigentlichen und uneigentlichen Redepassagen zurückzuführen ist, steht im Kontrast zu Walsers gezielter Mehrdeutigkeit, die dem Druck des Eindeutigen standhalten will. Das Hauptanliegen von Walser scheint die Kultivierung der Gefühle „des Vermissens“ zu sein; er spricht den Westdeutschen das Recht ab, sich in die bequem schwarz-weißen Konstellationen und Strukturen einzuleben, in die die deutsche Frage im Kalten Krieg geraten ist. Darin bildet er wiederum eine Opposition zu Nolte, der vorhat, den Deutschen eben das verlorene Selbstbewusstsein zurückzugeben, das ihnen infolge des auferlegten nachkriegsdeutschen nationalen „Masochismus“ abhandengekommen sei. Zugleich läuft Walser größtenteils an der Intention Weizsäckers vorbei, dem ja primär am Herzen liegt, in seine Deutschlandrede auch die Opfer des Nationalsozialismus einzubeziehen, ohne dabei die Deutschen aus den Augen zu verlieren. Näher ist er schon der Ambition von Grass, die in der Nachkriegszeit verpassten Möglichkeiten neu zu durchdenken, ja rückgängig zu machen. Walser sowie Grass verfolgen in diesem Falle die Option des „anderen Deutschlands“. Berührungspunkte gibt es wohl überraschenderweise auch zwischen den Reden von Walser und Lübbe; beide Autoren suchen nach Gründen, warum man sich in Deutschland zunehmend mit dem Dritten Reich befasst. Weiterhin lassen sich auch jene Schritte aufeinander beziehen, die einzelne Autoren für das Erreichen der im Text formulierten Anliegen vorschlagen. Walser greift auf das inspirative Vorbild des Dichters Wulf Kirsten zurück, in dessen Werk das mehrheitlich verdrängte Gefühl räsoniert. Literatur ist hier das Vorbild, das uns nahelegen mag, welche Fähigkeiten uns „leider“ abhandengekommen sind. Da Nolte zu wissen glaubt, dass an den Defiziten der Deutschen andere schuldig sind, versucht er seine Landsleute von jedweden Schuldgefühlen freizusprechen. Grass wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass sich die Nachkriegsdeutschen „leider“ nicht deutlich genug gegen die Kontinuität zwischen Kriegs- und 41 Nachkriegsdeutschland gestemmt haben. Weizsäcker ist jedes Extrem fremd, stattdessen wählt er den goldenen Mittelweg, um in jedem Menschen das Bessere ansprechen zu können. Lübbe attackiert festgefahrene Interpretationen und schlägt Alternativen vor. Ein recht buntes Bild entsteht auch, wenn man sich die Sprache der einzelnen Beiträge darauf hin anschaut, wozu und wie sich die Autoren äußern und – noch wichtiger – wovon sie schweigen. Weizsäcker trachtet nach adäquaten Proportionen und Relationen; heilig sind ihm Relationen zwischen Mehrheit und Minderheit, in die Waagschale wirft er wohldosiert jedes Gramm von Schuld und Verdienst. Manches betraf alle, manches wiederum keinen, und dazwischen liegen Fälle, die einigen wenigen oder nicht vielen in Rechnung zu stellen sind. Sein Text hält sich an eine feste und möglichst gerecht vorgehende Struktur auch dort, wo es um das Erinnern geht. Dreimal erinnert Weizsäcker an die Kriegsopfer, zunächst allgemein, dann in Bezug auf die Deutschen, und diese Struktur wird zweimal wiederholt. Damit will ausgedrückt werden, der Erinnerung sei auch das wert, woran sich die Deutschen gern erinnern würden, doch ausschlaggebend für das Erinnern seien nicht nationale Präferenzen und Motivationen, sondern die universale Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung. So sehr Weizsäcker auch die Opfer anspricht, ist nicht auszuschließen, dass sein Text allzu schnell die Frage übergeht, ob die Versöhnung möglich sei, ja – ob er die Opfer darum bitten dürfe.71 Der die Nachkriegsdefizite mit Sarkasmus beschreibende Grass schweigt darüber, dass er als Moralist argumentiert, der nur insofern selbstsichere Urteile fällen kann, als er sich gegen das Dritte Reich absetzt. Anders gesagt, er verschweigt, dass seine Argumentation mit Hitler steht und fällt, also ohne Hitlers Negation nicht auskommt. Lübbe schweigt über die Opfer wie auch darüber, dass das „kommunikative Beschweigen“ bald zum absichtlichen Verschweigen mutieren kann.72 Nolte geht mit keinem Wort darauf ein, dass er manche Frage einfach nur deshalb stellt, weil er wissen will, ob man sie stellen kann, und Walser sagt nichts darüber, dass Erfahrung schlichtweg unübertragbar ist; die Erfahrung anderer Menschen (seien es Opfer, Schuldige, sich schuldig Fühlende, Antifaschisten) ist für Walser derart fremd, dass er sie in seine Reden gar nicht integriert. Unterschiedlich wird auch die Relation zwischen Innen und Außen bzw. zwischen subjektiven und objektiven Maßstäben gehandhabt. Grass betont innere Perspektiven, moralische Aspekte, subjektives Urteilen, geistige Prozesse. Lübbe akzentuiert eher äußere, überindividuelle Maß- 71 Vgl. E. Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München 2001, S. 238. 72 Vgl. A. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Bonn 2007, S. 102. 42 stäbe, Interessen des Ganzen, Systemaspekte, Sachlichkeit. Die Trennungslinie zwischen Grass und Lübbe hebt zugleich Weizsäckers Akzeptanz gegenüber Fragen der individuellen und kollektiven Schuldannahme einerseits von deren Verweigerung ab, die bei Nolte zwangsläufig eine verbissene Suche nach anderen und womöglich größeren (oder ursprünglichen) Schuldigen impliziert. Diese Linie kopiert die bekannte Zäsur zwischen Schuld und Schande (A. Assmann): Schuld ist eine moralische, im Gewissen verinnerlichte und eingebettete Kategorie; sie ist abzubüßen, indem man sie zugibt und sich ihr stellt. Schande kommt von außen und ist nicht vom Gewissen, sondern vom sozialen Umfeld bedingt, sie ist höchstens zu verstecken, zu verschweigen. Und nicht zuletzt ist eine unterschiedliche Einstellung zum Verbrechen des Dritten Reiches festzustellen. Werden diese in einigen Reden als etwas dem menschlichen Verstehen sich Entziehendes aufgefasst, versuchen andere Reden sie wieder der Hermeneutik zugänglich zu machen, indem man sie etwa durch etliche Vergleiche erklärbar, ja nachvollziehbar macht. Auf den ersten Blick stimmen diese Unterschiede mit der politischen Linie zwischen der linken und rechten bzw. der sozialdemokratischen und konservativen Politik überein. Die ausgewählte interdisziplinäre und nichtideologische Perspektive soll belegen, dass dieser Eindruck täuscht. Politisierung der Probleme birgt manche Risiken in sich; etwa wenn die Linken die deutsche Identität mit der geschichtlichen Schuld verbinden, laufen sie Gefahr, dass nun viele linke Moralisten auftauchen, die geflissentlich nach immer neuen Schuldigen suchen werden, um die schwer erkämpfte Identität nicht zu gefährden. Mancher linke Intellektuelle könnte dadurch den Blick von sich selbst ablenken, um sich zu exkulpieren. Dadurch würde er allerdings eine eher rechte Stellung einnehmen, also etwas, wogegen er sich ursprünglich abgrenzen wollte. Defizite in der Argumentation verlaufen jenseits der politischen Kategorien. Die gewählten Modellbeispiele zeigen, dass für die Perspektive der Opfer der rechtsorientierte H. Lübbe genauso wenig Verständnis aufbrachte, wie M. Walser, der in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre von seinen Sympathien für die DKP keinen Hehl gemacht hatte. Rechts und links macht in diesem Punkte keinen Unterschied aus. Für die Opfer setzt sich in bisher undenkbarem Maße nicht so sehr der selbstkritische, linke, genauer gesagt sozialdemokratische Intellektuelle Grass ein, sondern der Konservative R. von Weizsäcker, für dessen Parteigenossen (K. Adenauer oder H. Kohl) G. Grass nichts als Verachtung übrig hatte. Der Ansicht, dass an die Deutschen in den ersten Nachkriegsjahren wohl zu hohe moralische Ansprüche gestellt worden waren, begegnet man wiederum nicht nur bei Lübbe, sondern auch bei Walser. Der nachkriegsdeutsche Deutschlanddiskurs ist somit als Kombination aus Identischem und Differentem zu charakterisieren, eine Kombination, die der Mannigfaltigkeit nicht nur 43 der Zeit gehorcht, die sie betrifft, sondern auch der des Denkens und Verstehens von Menschen, die sie erlebt haben. Die angedeutete Komparation hat erwiesen, dass ideologische und politische Unterschiede zum Verständnis der Deutschlandreden weniger beitragen, als sie es versprechen. Sie geben keinen Aufschluss darüber, worin die Einstellungen verwandt und worin sie unterschiedlich waren, geschweige denn darüber, wie sie historisch einzuordnen sind. Auf deutliche Differenzen weisen sie nur bei den Fragen hin, die man seitens der Linken sowie der Rechten längst geklärt hat. Nur in solchen Fällen gilt tatsächlich, dass der linke Grass und der rechte Nolte nichts miteinander anfangen können; in vielen anderen Fällen gilt es aber keineswegs. In manchen Aspekten war Walser bereit, etwa mit Lübbe eine gemeinsame Sprache zu finden, in anderen wiederum mit Weizsäcker. Grass stand in manchem näher zu Walser, dann wieder zu Weizsäcker. Obwohl hier auf die Begriffe „Gegensatz“ und „Opposition“ zurückgegriffen wird, soll gezeigt werden, dass im Deutschlanddiskurs dichotomische Muster zwischen rechts und links genauso irreführend sind wie jegliche schwarzweiße Opposition zwischen Gut und Böse. Durch moralisierende Wertungen würde eine ideologische Interpretation sämtliche Meinungsverschiebungen, alternative Perspektiven und selbstkritische Korrekturen disqualifizieren. Anstatt des dichotomischen politisch-ideologischen Ansatzes wäre zu fragen, welche Ursachen und Folgen es hatte, dass ein Teil der deutschen Intellektuellen sich von der bipolaren Perspektive der Gesellschaft und Geschichte verabschiedet hat. Es ist nämlich kaum anzunehmen, dass diese Perspektive ihre Anziehungskraft erst nach 1989 eingebüßt hat, nachdem die geopolitischen Koordinaten der übersichtlichen Nachkriegswelt des Kalten Krieges obsolet geworden sind. Diese bipolaren Muster lösten sich bereits früher auf, und dieser Prozess schlug sich auch in den Deutschlandreden nieder. 45 2 Entweder-oder: Kontinuität der Schemata Die im ersten Kapitel formulierten Fragen erfordern bis auf einige in unlösbare Antinomien mündende Ausnahmen in der Tat eine zustimmende oder eine zurückweisende Antwort. Über diese Notwendigkeit hinaus, sie mit ja oder nein zu beantworten, legen sie jedoch noch einen weiteren reflexiven Schritt nahe, bei dem zu fragen wäre, wodurch eben der disjunktive Charakter dieser Fragen bedingt ist. Sucht man nach Gründen dafür, wieso einigen Intellektuellen allmählich manche das nachkriegsdeutsche Selbstverständnis dominierenden Begriffe und Schemata zu eng wurden, ist das Augenmerk darauf zu lenken, was die Wahl zwischen einem ausschließlichen Ja oder Nein bedingt. Intellektuell spannend wird die Sache erst, sobald man die Bedingungen der Antwort in die Reflexion miteinbezieht, also danach fragt, auf Grund welcher Vorentscheidungen es zum Problem werden kann, dass man sich zwischen dem einen und anderen entscheiden zu müssen glaubt. Der Weg zur Sprache, in der über das nachkriegsdeutsche Problem zu sprechen ist, kommt um diese Vorentscheidungen nicht herum, ja er führt hauptsächlich kreuz über die Fugen zwischen den disjunktiven Alternativen des Ja oder Nein. Gedankliche Strukturen sind nicht ewig, sie lösen sich spätestens, sobald auf die Wahl verzichtet wird, ja oder nein zu sagen. Um die inspirativsten Beiträge zur Nachkriegsdeutschheit analysieren zu können, die gerade dieser Spannung ihre Stärke verdanken, werden im Folgenden zunächst die Schlüsselthemen auf die jeweils gegensätzlichen, ja geradezu radikalen Lösungen zugespitzt. Danach werden bei jedem Thema einige mutige Versuche skizziert, den unfruchtbaren gedanklichen Dichotomien zu entkommen. Diese Versuche hatten für das nachkriegsdeutsche Denken eine befreiende Wirkung, entsprangen sie doch dem Bedürfnis, eigene Gedanken und Haltungen zu revidieren (einige Jahre nach dem Historikerstreit H.A. Winkler oder einige Jahre davor I. Geiss), den schwierigen Dialog mit den Opfern zu bemühen (M. Brozsat), zwischen den verfeindeten Lagern (im Historikerstreit) zu vermitteln (Ch. Meier), oder zwischen (totalitären) Extremen einen Weg zur bürgerlichen Gesellschaft zu suchen (O. Marquard). Die Diagnosen der nachkriegsdeutschen Entwicklung setzen eine gedankliche Kontinuität voraus. Nach 1945 bedienten sich deutsche Intellektuelle nach wie vor Begriffe und Kategorien, an deren Wirksamkeit selbst die nazistische Diktatur kaum etwas ändern konnte. Eine Kontinuität besteht auch darin, wie und wozu man sich ihrer bediente. Die Gewohnheit, alles auf die Frage „Entweder-oder“ hinauslaufen zu lassen, machte jedes begriffliche Feld zum System der sich ausschließenden Ge- 46 gensätze. Trotz nimmermüden Proklamationen der „Stunde Null“, die eine radikale Absage an bisherige in der Regel vom Nationalsozialismus kompromittierten Traditionen nahelegten, sind deutsche Intellektuelle nach 1945 in Bezug auf diese Gewohnheit nicht viel anders umgegangen als ihre Vorgänger. Auch ihnen hat die Suggestion stark zugesetzt, dass man ausschließlich einem Herrn dienen könne; dem Geist oder der Macht, gegebenenfalls der Kultur oder der Politik. Auch sie fanden Zuflucht, metaphorisch gesagt, entweder in Mutters oder in Vaters Händen (Muttersprache oder Vaterland), um sich entweder demonstrativ vom Deutschsein loszusagen, oder auf ihm nach wie vor verbissen zu bestehen, obwohl sie sich tragischen Konsequenzen des deutschen Sonderweges bewusst sein mussten. Nicht anders war es im Falle des Begriffspaares Freiheit und Einheit. Auch hier fiel die Wahl in der Regel auf das eine umso radikaler, als man sich dadurch von dem anderen distanzierte. Dabei begleitet dieses Paar den Deutschlanddiskurs mindestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, außerdem haftet ihm die Schuld an, dass es eben aufgrund seiner Ausschließlichkeit außerstande war, die Weimarer Republik vor der nazistischen Gefahr zu retten. Auf G. Grass’ im ersten Kapitel zitierten Worte anspielend ließe sich sagen, dass nach 1945 sich nicht nur manche „Filbingers und Globkes“ nicht verabschieden wollten, sondern auch diese unheilvollen Begriffsoppositionen. In diesem Sinne sind die Proklamierungen der „Stunde Null“ als unbegründet zurückzuweisen: Hatte die Intelligenz der Weimarer Republik recht naiv an die absolute Macht des Geistes geglaubt, der die Nazisten schon aufgrund seiner unpolitischen Kraft gängeln werde, dann sahen die Nachkriegsintellektuellen auf die Welt der politischen Macht aus einem genauso naiven archimedischen Punkt herab, der ihnen das vermeintliche Recht zu kritisieren gab, ohne dass man sich selbst in die Kritik involvieren müsste. Die Vorstellung einer absoluten Macht des Weimarer Geistes, dem die politische Macht nie das Wasser reichen könne, stellt in diesem Sinne das unglückliche Pendant des nachkriegsdeutschen geistigen Größenwahns dar, der nicht umhin konnte, der Welt der Politik und Macht selbstbewusst den Rücken zu kehren.73 In beiden Fällen wird ein Gegensatz von zwei unver- 73 J. Schröder schreibt, deutsche Intellektuelle hätten sich nach 1945 oft als Widerstandskämpfer zum Regime verstanden, ohne sich jedoch mit Praxis befasst zu haben. Sie hätten sich in der Rolle der Regimekritiker gefallen, die ihre Kritik von einer unanfechtbaren Warte aus formuliert hätten. Obwohl es erscheinen mag, dass diese unpolitische Strategie in den 1960er Jahren durch eine politische ersetzt worden ist, weist Schröder auf unumstrittene Kontinuitäten hin: „Auch das Modell der sechziger Jahre gründet noch auf der gleichen Geist-Macht-Antithetik und ist der gleichen einfachen Machttheorie verpflichtet wie das Modell der fünfziger Jahre. Auch die militante linke Intelligenz glaubte sich im Besitz eines archimedischen Theorie- und Aktionspunktes, mit dem einzigen Unterschied, dass sie ihn politisch definierte [...] Ihr Nein gegenüber den Herrschenden war genauso kompromisslos, 47 einbaren Welten postuliert, deren Eliten unwillig, und allem Anschein nach auch unfähig waren, über ihren eigenen Schatten zu springen. 2.1 Freiheit oder Einheit Diese wohl simplifizierende Schlussfolgerung soll mithilfe folgender Hypothese präzisiert werden,74 die die Disjunktion zwischen Freiheit und Einheit illustriert. In der deutschen Geschichte, schreibt J. Schröder, sei es immer wieder dazu gekommen, dass die militärische Niederlage die nationale Einheit der Deutschen zunichte gemacht, doch zugleich die Freiheiten erweitert habe, wenn man Freiheit im Sinne der Französischen Revolution auffasse. Jeder militärische Sieg allerdings habe die Deutschen der nationalen Einheit näher gebracht, was jedoch durch reaktionäre Reduktionen der Freiheit erkauft worden sei. Dieses Muster trat zunächst nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt (1806) zum Vorschein, als sich deutsche Länder infolge der französischen Verwaltung liberalisieren durften. Nachdem Napoleon einige Jahre später bezwungen worden war, konnten sich deutsche Gebiete zwar vom französischen Aggressor befreien, doch zugleich wurden dabei aufklärerische Ideale preisgegeben. Die Jahre der europäischen Restauration waren Jahre der Unfreiheit. Der nächste Sieg über Frankreich im Jahre 1871 hat zur Vereinigung Deutschlands geführt. Die erreichte Einheit ging indes mit einer Deliberalisierung einher, der Traum der Einheit glich, um eine zeittypische Formulierung zu zitieren, der „Unterwerfung des friedensliebenden deutschen Volkes der Dichter und Denker unter den preußischen Militarismus durch die Blut- und Eisenpolitik Bismarcks“.75 Das vereinte Deutschland schlug in den nächsten Jahren einen spezifischen Weg ein, der für die auf die Französische Revolution zurückgehende Auffassung der Freiheit nicht viel übrig hatte. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs mündete die Disjunktion zwischen Freiheit und Einheit in die sogenannten „Ideen von 1914“ ein, einer deutschen Antwort auf die Frage, warum man in Deutschland mit der westlichen Auffassung die moralische Konfrontationsstruktur genauso einfach wie in den fünfziger Jahren. Die negative und defensive Dialektik und Ästhetik ins Positive umpolend, sind die Rebellen von Adorno zu Marcuse übergelaufen.“ J. Schröder: „,Ohne Widerstand – keine Hoffnung‘ (Max Frisch). Literatur als Widerstand nach 1945“. In J. Wertheimer (Hg.): Von Poesie zur Politik. Zur Geschichte einer dubiosen Beziehung. Tübingen 1994, S. 173–193, hier S. 181–184. 74 Vgl. J. Schröder: Deutschland als Gedicht. Über berühmte und berüchtigte Deutschland-Gedichte aus fünf Jahrhunderten in fünfzehn Lektionen. Freiburg im Breisgau 2000, S. 270ff. 75 H. Preuß: Das deutsche Volk und die Politik. Jena 1915, S. 31. Zit. nach W. Lepenies: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. München – Wien 2006, S. 57. 48 der Freiheit nicht viel anzufangen habe. Im Vergleich zu der deutschen Freiheitsauffassung erschien die westliche als oberflächlich und seicht, dem Geiste und den Idealen der deutschen Nation also vollends inadäquat. Am Ende des ersten Weltkriegs hatte man in Deutschland die demütigenden Bedingungen des Friedensvertrags von Versailles zu akzeptieren, andererseits wurde eben in dieser ungünstigen Lage zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine republikanisch-demokratische Staatsform angestrebt; aus dieser Spannung heraus entstand die schwache und unsichere Weimarer Republik. Erst angesichts der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 waren die Deutschen bereit, auf ihre Visionen des wesensmäßig antiwestlichen Charakters von Deutschland zu verzichten und sich mehr und mehr den westlichen Werten der Demokratie und des Liberalismus zuzuwenden. Dieser „lange Weg nach Westen“ (H.A. Winkler) war allerdings wieder „nur“ in einer in zwei Staaten gespaltene Nation zurückzulegen. Die Regelmäßigkeit der Annahme, Freiheit nehme auf Kosten der Einheit zu und vice versa, war für viele nachkriegsdeutsche Intellektuelle ein Grund dazu, sie als eine gesetzmäßige zu betrachten. Auf die Sicherheit, die sie während des Kalten Krieges gewährte, wollte man in der Regel auch um und nach 1990 nicht verzichten. Das einheitliche Deutschland schien daher nach der Vereinigung zwangsläufig defizitär, also unfrei zu sein. Der Verdacht wurde laut, das vereinte Deutschland würde seine Großmachtgelüste reaktivieren, sei es, um seine mitteleuropäischen Ambitionen wiederzubeleben (das Reich der Mitte), oder um wieder mal irgendeiner Form seiner antiwestlichen Besonderheit zu frönen. Ein großes Deutschland, so befürchtete man, werde sich bei erster Gelegenheit der Verpflichtungen entledigen, die es als Bestandteil der westlichen Zivilisation auf sich genommen hätte, und dadurch würde es sein schwer erkämpftes moralisches Kredit eines Landes verlieren, das sich nach 1945 im absoluten Gegensatz zum NS-Deutschland zu profilieren suchte. Die mangelnde Bereitschaft insbesondere der linken deutschen Intellektuellen, sich mit dem vereinten Deutschland zu identifizieren, mag somit unter anderem daher gerührt haben, dass man sich Freiheit und Einheit nur als einander ausschließende Größen vorzustellen imstande war. Aus dem Rückblick betrachtet sind die ersten Ansätze zu dieser Einstellung bereits in den ersten Nachkriegsjahren auszumachen, was überraschend ist, bedenkt man, dass die ersten politischen und intellektuellen Aufforderungen nach 1945 sich zum Ziel gesetzt hatten, ein demokratisches und humanistisches Deutschland aufzubauen, worauf sich liberale wie auch sozialistisch-demokratische Kräfte beteiligen wollten.76 Bald wurde jedoch deutlich, dass Deutschland innen- und außenpolitisch ande- 76 Vgl. etwa: K. Sontheimer: So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik. München 1999, S. 13–33. 49 re Wege einschlagen wird, als in den nachkriegsdeutschen Plänen der Intellektuellen gefordert worden war. Obwohl das Nachkriegsdeutschland den verhängnisvollen Sonderweg der Kultivierung der Deutschheit eindeutig verlassen und sich nun dem Westen und seinen Werten zugewandt hat,77 waren die Intellektuellen selten bereit, diesen Kurs vorbehaltlos zu unterstützen. Der Westen stellte nämlich nicht nur den positiven Gegensatz zur in der NS-Zeit hypertrophierten Deutschheit dar, sondern bald auch etwas Uneigentliches, ja etwas primär von außenpolitischen Zusammenhängen der Nachkriegswelt Bedingtes. Der Westkurs schien nicht mehr zu genügen, er glich einem entlastenden Ausweichmanöver, das eine grundlegende Denazifizierung etwa durch Antikommunismus zu ersetzen drohte. Hinter den prowestlichen Tendenzen vermutete man darum einen restaurierten Kapitalismus, der am Hintergrund der ökonomisch erfolgreichen sozialen Marktwirtschaft durchschimmerte; Regierungstendenzen zur Remilitarisierung Deutschlands und Konsumsteigerung waren dessen offensichtliche Symptome. Je besser es den Deutschen ging, desto lauter wurden unter den Intellektuellen Befürchtungen, der Konsum wirke sich negativ auf die geistig-moralische Verfassung der Nation aus. Diese Moralisierung nahm zu, sobald Deutschland von den ungeschriebenen Gesetzten des Kalten Krieges zu profitieren begann. Immer größeres Unbehagen riefen die heuchlerischen Proklamationen der bundesdeutschen Regierung hervor, man habe nach wie vor das einheitliche Deutschland vor Augen. Denn es sah so aus, dass die Einheit vielmehr geopfert wurde zugunsten des Profits, das Deutschland durch das Einhalten der von den Siegermächten diktierten Spielregeln zugesichert schien. Von Freiheit konnte unter diesen Bedingungen keine Rede sein; als Intellektuelle hatte man zu Nachkriegsdeutschland und dessen politischer Repräsentation auf Distanz zu gehen; also zu einem unmoralischen (Westbindung als von seiner eigenen Vergangenheit entlastendes Alibi) und verlogenen Staat, dessen Politiker die Nation längst auf dem Altar des Kalten Krieges geopfert hätten. Obwohl nach dem 13. August 1961, als die Berliner Mauer gebaut worden war, dieser Einheitsrede de facto ihre Grundlage abhanden kam, waren die Träume vom einmal doch einheitlichen Deutschland längst nicht ausgeträumt. 77 Siehe die Regierungserklärung von 1949, in dem K. Adenauer die Westzugehörigkeit als den bundesrepublikanischen Konsens deklarierte: „Es besteht für uns kein Zweifel, daß wir nach unserer Herkunft und nach unserer Gesinnung zur westeuropäischen Welt gehören.“ Zit. nach K. Sontheimer: So war Deutschland nie ..., S. 20. 50 Bis dahin beanspruchte die politische Repräsentanz der Bundesrepublik bekanntlich das Alleinvertretungsrecht,78 machte der DDR das Recht abstreitig, als ein legitimer Staat der deutschen Nation zu existieren. Anderseits musste man in der BRD mit der Rolle eines ungewollten Kindes zurechtkommen, das nur provisorisch und dank der Nachkriegskonstellation auf die Welt gekommen sei. Wurde diese Vorläufigkeit 1961 zur Definitive, galt es die realen Möglichkeiten dieses Kindes neu zu überdenken. Spätestens jetzt wurde die deutsche Teilung als Tatsache akzeptiert, was sich unter anderem an einer neuen Einstellung zur DDR ablesen lässt. Die anfangs strikte Ablehnung wurde immer milder, immer mehr Intellektuellen und (insbesondere sozial-demokratischen) Politikern leuchtete ein, dass an der Teilung nicht zu rütteln sei, ja dass eben ihre Anerkennung paradoxerweise die einzige Chance darstelle, beide deutschen Staaten einander näher zu bringen. Dieser Argumentation, die den status quo anerkennt, um ihn künftig mal überwinden zu können, lag der Gedanke zugrunde, eine Demokratisierung und Liberalisierung der DDR stehe der künftigen Vereinigung weniger im Wege als die Ignoranz gegenüber diesem Staate. In dieser Konstellation erschien Adenauers prowestliche Politik immer fragwürdiger. Trotz gesamtdeutschen Proklamationen machte sie den Graben zwischen beiden deutschen Staaten tiefer, denn anstatt Verständigung zu bemühen, rief sie feindliches Abgrenzen hervor. Seit den 1960er Jahren wurde das Gebot, auf ein einheitliches Deutschland vorerst zu verzichten, mit der Idee der Freiheit verkettet, und zwar in der indirekten Proportionalität: je weniger die Westdeutschen auf der Einheit bestehen würden, desto freiheitlicher könne die DDR sein, und vice versa. Etwa K. Jaspers forderte bereits in den frühen 1960er Jahren79 die westdeutschen Intellektuellen auf, zu bedenken, wie bequem sie zu Freiheit und Wohlstand gekommen seien, während die Ostdeutschen die Last der Vergangenheit trügen. Wenn schon für Hitler vielmehr die Ostdeutschen büßen würden, hätten die Westdeutschen, durch die Nachkriegskonstellation begünstigt, sich zu der Verantwortung zumindest insofern zu bekennen, als sie von nun an den Osten akzeptieren würden.80 Dies mündete in die wohlbekannte neue sozialdemokratische Ostpolitik, die seit 1969 viele Früchte gebracht hat und mit dem Bundespräsidenten G. Heinemann und dem Bundeskanzler W. Brandt verbunden ist: 78 Vgl. F. Roth: Die Idee der Nation im politischen Diskurs. Die Bundesrepublik Deutschland zwischen neuer Ostpolitik und Wiedervereinigung (1969–1990). Baden Baden 1995, S. 56. 79 Vgl. H. Kiesel: „Die Intellektuellen und die deutsche Einheit“. Die politische Meinung, 36, 264, November 1991, S. 50. 80 Vgl. E. Wolfrum: Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Göttingen 2002, S. 132–133. 51 Staatsverträge mit Polen und der Sowjetunion aus dem Jahre 1970, mit der DDR zwei Jahre später, bis dahin undenkbare symbolische Versöhnungsund Demutsgesten (Brandt im Warschauer Ghetto). Insbesondere Brandt als Emigrant bereicherte die deutsche Politik um Haltungen, die einen großen Raum dem Anerkennen der eigenen Fehler zuweisen. Nach den Jahren, in denen die Eingliederung in den Westen Priorität gehabt hatte, wurden nun auch eigene Hypotheken gegenüber dem Osten wahrgenommen. Insgesamt für die neue Einstellung gilt, dass sich die deutsche geschichtliche Schuld eben darin manifestiert, dass man nun nicht mehr in einer Nation leben, also keine nationale Identität aufweisen dürfe. Die „neue Ostpolitik“ ist daher als eine nützliche und durchaus nachvollziehbare Reaktion zu verstehen, zumal sie nach einer langen Periode der konservativen Regierungen folgte. Andererseits hat es mit einigen ihrer intellektuellen Konsequenzen ihre Bewandtnis. Wird die Rede von der notwendigen deutschen Vereinigung als rechte Lebenslüge verhöhnt, dann geriet die damalige linke und sozialdemokratische Generation eben infolge ihrer neuen Politik in die Nähe einer anderen, genauso beharrlichen Lüge. Es ist kaum dagegen etwas einzuwenden, wenn die Anerkennung der Schuld eine Verbesserung der prinzipiell negativen Einstellung zum Osten nach sich zieht. Etwas anderes ist aber, wenn man das persönliche Bestehen auf der deutschen Teilung für einen Beweis dafür hält, dass man dadurch zugleich die geschichtliche Schuld abarbeitet. Hier wird die Teilung mit der Schuld kurzgeschlossen, und wer auf dieser Identifikation besteht, glaubt bereits dadurch die Schuld abzubüßen. Die politische Teilung wird somit zum Instrument, das über Erlösung oder Verdammnis entscheidet, kann somit leicht missbraucht werden: Zum höheren moralischen Kredit reicht aus, wenn man die Vereinigung ablehnt, also auf der notwendigen Teilung besteht. Wer jedoch die Teilung nicht für notwendig hält, diskreditiert sich moralisch. Der falsche Umweg läuft über die Anerkennung der Schuld, die hier als zwingende Konklusion fungiert: Wer auf der Teilung besteht, zeigt dadurch, dass er die Schuld anerkennt, ist also moralisch. Wer sich auch ein vereintes Deutschland vorstellen kann, weist, so wird suggeriert, die Schuld von sich, verdrängt sie. Zugleich wird in diesem Kalkül die indirekte Proportionalität zwischen Einheit und Freiheit potenziert, hier auf das deutsche West-Ost-Verhältnis angewendet: wer nur die Vereinigung im Sinne habe, beziehe sich inadäquat auf die deutsche Vergangenheit und spreche den Bürgern der DDR ihr Recht ab, eine freie Gesellschaft aufzubauen. Es ist also ausgeschlossen, dass man das vereinigte Deutschland und zugleich die Liberalisierung der DDR-Gesellschaft anstreben könnte. Genauso ausgeschlossen ist, dass man auf der Trennung bestehen, und zugleich den Bürgern der DDR ihre Liberalisierung abstreitig machen würde. Dies verhindert die ethische Konklusion, die suggeriert, nur wer die deutsche Teilung befür- 52 worte, könne moralisch handeln. Politische Fragen werden hier behandelt, als würde es sich um religiöse Fragen handeln.81 Die linke Lebenslüge besteht somit in der Verschränkung der politischen und religiösen Argumentation, die eine Instrumentalisierung der Schuld, Totalitarisierung der Moral und Teleologisierung der Politik nach sich zieht. 1989 ist mit der Berliner Mauer auch ein Teil dieser Argumentation hinfällig geworden. War man davon ausgegangen, dass man die geschichtliche Schuld via Bestehen auf dem getrennten Deutschland abarbeiten könne, ist diese Annahme im Augenblick der Wiedervereinigung fraglich geworden. Wodurch sei nun die Schuld abzubüßen, wenn sich über Nacht die verkörperte Strafe verflüchtigt habe? Einerseits gilt, dass die Voraussetzung, die Schuld könne politisch abgearbeitet werden, das Jahr 1990 überlebt hatte, sei es durch ein nimmermüdes Anzweifeln des Vereinigungsdiskurses, oder schon durchs Befürworten postnationaler, etwa konföderativer Lösungen der deutschen Frage (J. Habermas, G. Grass).82 Andererseits darf nicht verschwiegen werden, dass diese Argumentation einer gründlichen Reflexion unterworfen wurde: am 18. Dezember 1989 gab W. Brandt zum Unwillen vieler Sozialdemokraten bekannt: „Noch so große Schuld einer Nation kann nicht durch eine zeitlos verordnete Spaltung getilgt werden.“83 Diese Bemerkung, gemünzt vor allem auf Argumentationen von G. Grass und O. Lafontaine, zielte genau in die prekäre, da instrumentalisierte Verschränkung von Ethik, Religion und Politik. Die Schuld sei mit politischen Mitteln nicht abzuarbeiten, schon gar nicht mit einer aufoktroyierten nationalen Abstinenz. Einer ähnlich gründlichen, allerdings viel späteren Reflexion unterzog H.A. Winkler die vorläufigen Voraussetzungen seines Denkens, mitunter in kürzeren in den Zeitschriften Merkur84 und Der Spiegel85 publizierten Studien. Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Historikerstreites konfrontiert er sich nun weniger mit seinen damaligen Kontrahenten Nolte, 81 Siehe H. Kiesel: „Die Intellektuellen und die deutsche Einheit“ ..., S. 51. 82 „Doch der von Grass initiierte Diskurs bedenkt weder die veränderte politische und historische Situation, noch erkennt er als seine eigene Voraussetzung die Annahme einer vermeintlich stabilen Teilung der weltpolitischen Blöcke. Die machtgestützte Innerlichkeit der konservativen Revolution ist längst durch eine uneingestandene Gewißheit über die Stabilität des eigenen Systems ersetzt.“ R.G. Renner: „Konstanz und Variation deutscher intellektueller Diskurse“. In G. Fischer – D. Roberts (Hg.): Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur. Tübingen 2001, S. 17–30, hier S. 20. 83 Zit. nach A. Assmann – U. Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 65. 84 H.A. Winkler: „Postnationale Demokratie? Vom Selbstverständnis der Deutschen“. Merkur, 1997, Heft 575, S. 171–176. 85 H.A. Winkler: „Lesarten der Sühne“. Spiegel, 35, 24.8.1998; http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-7969480.html, heruntergeladen am 15.10.2013. 53 Hillgruber, Stürmer oder Hildebrand,86 als vielmehr mit sich selbst, um die Frage zu beantworten, warum sich die linksliberalen Intellektuellen so gut wie gar nicht mit den Voraussetzungen ihrer Argumente befassen wollten. Es befremdet ihn, mit welcher Selbstverständlichkeit er damals absolute Urteile über die Zukunft Deutschlands gefällt hatte, dabei den kausalen Nexus zwischen der Schuld der deutschen Nation in den Jahren 1933–1945 und der ewig andauernden deutschen Teilung herstellend. Diesen damals für selbstverständlich gehaltenen Nexus schließt Winkler nun aus dem Bereich der seriösen Geschichtswissenschaft aus, um ihn der säkularisierten Geschichtstheologie einzuschließen: „Die Folgerung aber, es werde nie wieder einen einheitlichen deutschen Staat geben, hatte mit Geschichtswissenschaft nichts, mit säkularisierter Geschichtstheologie einiges zu tun.“87 Die säkularisierte Geschichtstheologie laufe auf eine geschichtspolitische Instrumentalisierung hinaus: man glaubte die deutschen Verbrechen abzubüßen, indem man dem getrennten Nachfolgestaat zugestimmte habe. 1988 fügt er hinzu, „Aber einem erheblichen Teil der deutschen Linken ging es nicht um historische Kausalitäten, sondern um die Bewältigung einer nationalen Schuld“.88 Die Linke hätte somit keinen Grund, darüber zu spekulieren, ob zwischen der Gründung der beiden deutschen Staaten und der Ermordung der europäischen Juden ein Zusammenhang bestehe.89 In Anlehnung an die alte, hier bereits erwähnte Argumentation von Jaspers (westdeutsche Intellektuelle nur als verbale Opfer, während die wirkliche Last von den DDR-Bürgern zu tragen war) weist Winkler darauf hin, dass die These von der unumgänglichen Teilung Deutschlands sich wohl auch deshalb bei westdeutschen Intellektuellen solcher Beliebtheit erfreuen konnte, weil sie von der ungerechten Lastverteilung ablenkte. „War es wirklich so moralisch, wie es klang, wenn der Aufruf zum Verzicht auf Wiedervereinigung von der Seite kam, die innerdeutsch gesehen, als Siegerin aus der Nachkriegsgeschichte hervorgegangen war?“90 86 Vgl. H.A. Winkler: „Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen“. In „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987, S. 256–263. 87 H.A. Winkler: Postnationale Demokratie ..., S. 173. 88 H.A. Winkler: „Lesarten der Sühne“ ... 89 „Streng historisch betrachtet, hatte die Entstehung von zwei deutschen Staaten mit der Vernichtung der europäischen Juden zwar nichts zu tun. Deutschland wurde geteilt, weil sich die vier Alliierten über seine Zukunft nicht hatten verständigen können. Und wenn die Siegermächte kein neues Deutsches Reich mehr erstehen sehen wollten, lag das nicht an Hitlers „Endlösung der Judenfrage“, sondern an der Rolle, die Deutschland bei der Auslösung des Ersten und der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges gespielt hatte.“ Ebenda. 90 H.A. Winkler: Postnationale Demokratie? ..., S. 173–174. 54 Das nachvollziehbare antinationale Programm wurde zum Gebot, das nun allgemeinverbindlich sein sollte: eben darin sei Skepsis angesagt. „Die Deutschen hatten in den Jahren 1933–1945 ihren Nationalstaat zerstört. Aber rechtfertigte das schon die Folgerung, damit sei der Nationalstaat als solcher historisch widerlegt? Die Deutschen, vor allem diejenigen im Westen, mochten aufhören, sich als Nation zu fühlen. Aber durften sie deswegen erwarten, dass andere Völker dasselbe taten?“91 Winkler legt seinen Finger genau auf den wunden Punkt: Machte hier die Linke auf dem Weg, die Schulden der Vergangenheit abzuarbeiten, nicht dasselbe, was man – aus der deutschen Ideengeschichte sattsam bekannt – gemacht hat, wann immer man aus deutschen Schwächen, Nöten, Verspätungen oder Hypotheken im Handumdrehen eine Tugend gemacht, die man den anderen Nationen entweder für immer vorenthalten (deutscher Sonderweg), oder sie ihnen vorgeschrieben hat (Nachkriegslehre aus dem Scheitern des deutschen Sonderwegs)? Stellt das Gebot, universal die Einheit für obsolet zu erklären und alle anders Denkenden intellektuell und moralisch zu disqualifizieren, nicht etwa das linke Pendant zu dem berühmt berüchtigten deutschen Sonderweg dar? Diese Frage lässt Winkler unbeantwortet, doch er legt unmissverständlich die Existenz der Sonderwege nach 1945 nahe: „Dass es auch nach 1945 deutsche Sonderwege gegeben hat, wird uns erst allmählich bewusst.“92 Wenn es sie gegeben haben soll, worin bestand nun ihre Anziehungskraft? Wieso ist die Vorstellung vom deutschen Sonderweg nach 1945 nicht einfach untergegangen, wenn das Credo der deutschen Nachkriegsintellektuellen es untersagte, den Deutschen (ihrer Nation, ihrem Geist, ihren Werten) irgendwelche Privilegien zuzusprechen? Wie war es möglich, dass das Ablehnen der Sonderstellung ein neues Sonderstellungsgefühl nach sich zog? Wie konnte man die Lektion aus den Jahren 1933– 1945 in ihren Vorteil, die Not Deutschlands in Tugend ummünzen, die Deutschland wiederum im gewissen Sinne privilegierte? Eine Antwort auf diese Fragen scheint ohne folgenden historischen Exkurs undenkbar. 2.2 Variationen des deutschen Sonderwegs Über den deutschen Sonderweg lässt sich mindestens auf zweierlei Art sprechen. Entweder werden historische Fakten auf die Möglichkeit hin thematisiert, die deutsche Entwicklung für eine besondere, also sich grundsätzlich von der westlichen (insbesondere der englischen und französischen) abhebende zu halten. Oder wird diese deutsche Besonderheit 91 Ebenda, S. 174. 92 Ebenda. 55 bereits vorausgesetzt, um folglich auf-, oder aber abgewertet zu werden. Daher ist davor zu warnen, die Theorie des Sonderwegs mit dem Sonderweg als einer historischen Tatsache zu verwechseln.93 Im zweiten Falle ist nämlich die Theorie, oder besser die Konstruktion des Sonderweges eine politische Waffe. Sie macht es möglich, aufgrund der proklamierten Besonderheit sich gegen jeden abzugrenzen, der in der deutschen Entwicklung nichts Besonderes zu erblicken bereit ist, weder im positiven, noch im negativen Sinne. Wer bereits die Besonderheit für eine uneingeschränkte Nobilität hält, die Anspruch auf Ausschließlichkeit zu erheben gestattet, instrumentalisiert sie genauso wie derjenige, der allein durch die Annahme eines deutschen Sonderwegs zu erklären sucht, warum Deutschland auf Abwege geraten ist. Genauso abwegig kann indes der die nachkriegsdeutsche Entwicklung prägende Gedanke sein, Deutschland finde zurück zur Normalität, indem es einen zu dem einstigen Sonderweg gegensätzlichen Weg einschlägt; dies wäre ja nichts als der nächste Sonderweg, nunmehr mit einem umgekehrten Vorzeichen. Die Studien zum Sonderweg sprechen in der Regel davon, welch große Rolle für diese Theorie der Historismus gespielt habe. Ohne dessen Sinn für die jeweilige Eigentümlichkeit, ja Besonderheit der einzelnen Epochen oder Nationen wäre es kaum denkbar, von einem Geist der Nationen, Völker oder Epochen zu sprechen, ganz zu schweigen von den einzelnen Wegen, die die jeweiligen Nationen einzuschlagen hätten, um zu ihrer Bestimmung zu gelangen, oder aber sie zu verfehlen.94 Man könnte sogar die Wurzeln der Sonderwegtheorie bei J.G. Herder suchen, genauer gesagt bei dem recht verzerrten Herderbild, das der sogenannte romantische Nationalismus geprägt hat. Dieser identifizierte die Nation mit aktiver Tätigkeit der eigentümlichen Persönlichkeit. Im Sinne des romantischen Nationalismus lag der Idee der Humanität keine universale Vision des allgemein gültigen Gesetzes zugrunde, sondern unterschiedliche Möglichkeiten einzelner nationaler Geister, die sich ihrem unverwechselbaren Wesen entsprechend zu entwickeln hätten. Darum könne mitnichten die rational gegebene Einheit das Ziel der Menschheit sein, sondern die individuelle Persönlichkeit. Und dies sei nun auf die deutsche Nation und ihre Position unter den anderen Nationen übertragbar; jede von ihnen finde insofern zu ihrer Gestalt, als sie sich entsprechend ihrer Sendung zu entwickeln trachte.95 Hatten einige spätaufklärerische Denker 93 Siehe P. Kondylis: „Der deutsche Sonderweg und die deutschen Perspektiven“. In R. Zittelmann (Hg.): Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland. Frankfurt am Main – Berlin 1993, S. 24. 94 Vgl. etwa: K. Sontheimer: Von Deutschlands Republik. Politische Essays. Stuttgart 1991, S. 54ff. 95 Siehe E. Troeltsch: „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“. In ders.: Deutscher Geist und Westeuropa. Hg. H. Baron. Tübingen 1925, S. 14–15. 56 die Menschheit im kosmopolitischen Sinne aufgefasst, haben die nationalen Romantiker den Menschen der jeweiligen Nationen wesensmäßig zugeordnet: Es gebe keinen Weg zur Menschheit, der jenseits der Nation verlaufen könnte. Es wäre freilich fatal, alle hier angegebenen Folgen der sich nun nationalisierten romantischen Konzeption J.G. Herder anzulasten. So sehr er den Beitrag zur Menschheit einzelner Nationen darin sah, wie diese ihre eigenen Dispositionen zu entwickeln imstande sind, doch ging er nicht so weit, einige zu privilegieren und andere herabzusetzen. Sämtliche Versuche, Herders Schlussfolgerungen im Sinne der hierarchischen Über- oder Unterlegenheit der einzelnen Nationen und ihren Sendungen umzuformulieren, verfehlen Herders Intention vollends. Erst in Folge dieser Fehl- lektüre96 konnte der romantische Nationalismus über Herder hinaus zu der damals entstehenden Konzeption des asymmetrischen Historismus gelangen, der bereits unterstellt, die den Nationen eigenen Maßstäbe untersagen es, die Nationen auf eine gemeinsame Entwicklung zu verpflichten. Einzelne Nationen würden ihren eigenen Zweck vollenden, der über einen Wert an sich verfüge. Der deutsche Sonderweg ist somit einerseits einer dieser Wege, bei dem – andererseits – das Besondere nicht nur denkbar, sondern selbstverständlich, also durch historisches Sendungsbewusstsein legitimiert ist. Dies belegen einige Beispiele, in denen der besondere Wert der deutschen Entwicklung (des deutschen Geistes) sich bereits über die gewöhnliche Entwicklung anderer Nationen erhebt. Die ersten nennenswerten Versuche datieren aus der blutigen Schlussphase der Französischen Revolution, als sich einige konservative Intellektuelle deutlich von Frankreich, Revolution und Aufklärung mit dem Hinweis darauf distanzierten, deutsche Nation lasse sich von den Idealen der Aufklärung nicht blenden, weshalb sie im Gegensatz zu Frankreich gegen die revolutionäre Tyrannei gefeit sei. Der französische Weg sei einer der „falschen Aufklärung“,97 dem im Sinne der romantischen Aufklärungskritik Attribute wie seicht, steril, mechanisch, destruktiv etc. zugeschrieben werden. Diesem unheilvollen Einfluss werde man in Deutschland Paroli bieten können, wenn man auf historisch bewährte deutsche Werte wie Pflichtbewusstsein, An- 96 Dies betrifft bereits die „verzerrte“ Rezeption Herders im Sinne des konservativen Nationalismus (F. Gentz, J. Görres, A. Müller). Mehr dazu in M. Maurer: „Herderʼs Bedeutung für das deutsche Romantik-Syndrom“. In K. Ries (Hg.): Romantik und Revolution. Zum politischen Reformpotenzial einer unpolitischen Bewegung. Heidelberg 2011, S. 55–70, hier S. 67. 97 Vgl. J.G. Heinzmann: „Über die Wirkung falscher Aufklärung“ (1795). In J. Garber (Hg.): Kritik der Revolution. Theorien des deutschen Frühkonservatismus 1790–1810. Kronberg 1976, S. 121–128. Folgendem historischen Exkurs liegt die tschechisch geschriebene Arbeit des Verfassers zugrunde: A. Urválek u. A.: Dějiny německého a rakouského konzervativního myšlení. Olomouc 2009. 57 stand und Zuverlässigkeit zurückgreifen werde, die ja in Frankreich revolutionär geopfert worden seien. Das Besondere des deutschen Weges, soviel geht aus dieser frühkonservativen deutschen Aufklärungskritik hervor, besteht in der Überzeugung, der deutsche Weg sei umso wahrer, je mehr die Wege der anderen Nationen und ihrer Bevölkerung herabgesetzt werden. Die Deutschen, so J.G. Heinzmann, seien imstande gewesen, den Irrtum der Franzosen zu durchschauen, weil sie besser und wahrhafter seien als das französische Volk der Sophisten, Enthusiasten, Schwärmer und Rabulisten.98 Der unheilvolle Verlauf der Revolution in Frankreich habe die Fragwürdigkeit des französischen aufklärerisch-revolutionären Weges nur noch bestätigen können. Fazit: Nur die Deutschen seien dazu befugt, wahre Freiheit zu erlangen, nicht die Franzosen, deren Aufklärung nur den Kopf gebildet habe.99 Derart antiaufklärerische Pamphlete rechnen mit der Aufklärung und mit der Freiheit ab, um der bestimmten, im französischen Sinne deformierten Variante eine spezifisch deutsche, romantisch nationale Variante der Aufklärung entgegenzusetzen. Die wahre deutsche Aufklärung habe sich daher weniger an den allgemein menschlichen, denn als an den besonderen nationalen Anforderungen zu orientieren, die – eben der deutschen – Entwicklung zu entsprechen hätten. Diese Suche nach den dem deutschen Geiste wesensverwandten Formen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird erst viel später kulminieren, und zwar zu Beginn des 20. Jahrhunderts und vor allem des Ersten Weltkriegs im Zusammenhang mit den sogenannten „Ideen von 1914“, einer deutschen Antwort auf die französischen „Ideen von 1789“. Im 19. Jahrhundert wurde innerhalb der konservativ-völkischen Kreise eher die Tendenz spürbar, deutsche Eigentümlichkeit über Konstruktionen typischer nationaler Charaktere, Eigenschaften und Mentalitäten zu ermitteln. Dabei wurde auf die konservativantirevolutionäre Rhetorik aus der Zeit nach 1795 zurückgegriffen, die meist antiaufklärerisch, antidemokratisch und antiliberal argumentierte, und daher den deutschen Charakter gegen die westlichen Charaktere abzugrenzen erlaubte. Ein solcher deutscher konservativer Nationalismus gewann im Laufe des 19. Jahrhunderts an Intensität, und indem er immer hartnäckiger auf deutscher Besonderheit und Auserwähltheit beharrte, wurde er zunehmend aggressiver. Dabei fällt auf, dass die meisten programmatischen Versuche, das spezifische Wesen des Deutschseins wie auch das daraus abgeleitete Sendungsbewusstsein der deutschen Nation kaum auf nüchternen Beobachtungen der realen Möglichkeiten beruht haben, sondern vielmehr auf Wünschen, Sehnsüchten, ja verzerrten Selbstbildern, Unterstellungen und Selbstprojektionen. 98 Vgl. ebenda, S. 126. 99 Vgl. ebenda, S. 127. 58 Das konservative Nationaldenken kannte nur einen Weg, wie das Deutsche seiner Bestimmung gerecht werden könne: deutsch zu sein, was ja hieß, deutsch zu bleiben. Um zu sich selbst zu kommen, hätte der Deutsche nur noch zu bleiben, was es immer dann gewesen ist, wenn er nur deutsch war. Der Deutsche sei ja dementsprechend desto mehr Mensch, je mehr er der Deutsche werde, oder es bleibe. Daher kommen die Programme der deutschen Nationalisten (von den Romantikern über die völkisch-konservativen etwa P. de Lagarde oder J. Langbehn bis zu dem „deutschesten Engländer“ H.S. Chamberlain oder dem pränationalsozialistischen Mythenschöpfer A. Rosenberg)100 kaum um die Forderung herum, das Deutsche zu schützen. Der deutsche Weg kehre immer schon zu seinem Anfang zurück, mit dem man identisch zu sein habe, während das Nichtdeutsche insofern bedrohlich sei, als man sich dadurch anstecken könne, und sich seinem Wesen entfremde. All die oben genannten Autoren haben ihre „deutschen Schriften“ aus eben dieser Befürchtung heraus geschrieben, andere Nationen seien darauf aus, die Deutschen irrezuführen, ja ihnen die Erfüllung der deutschen Sendung streitig zu machen. Diese Befürchtung wurde um größer, je mehr sie darüber hinwegtäuschen sollte, dass andere Nationen im Vergleich zu der deutschen entwickelter, kolonialistisch mächtiger, religiös inniglicher, kompakter also moralisch homogener sind. Nach 1871 machten sich im deutschen Selbstverständnis unübersehbare deutsche militärische, wirtschaftliche und politische Erfolge zunehmend bemerkbar. Die Nation der Dichter und Denker, über lange Jahre mit bescheidenen machtpolitischen Ambitionen, ja in ihren intellektuellen Proklamationen dezidiert apolitisch eingestellt, öffnete sich immer mehr den machtpolitischen Konsequenzen dieses Denkens, obwohl sie sich selbst nach wie vor als die kulturelle Nation im Gegensatz zu den Wertvorstellungen der sogenannten westlichen Zivilisation verstanden hat. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs marschierte auf dem deutschen Sonderweg nicht nur die Nation der Dichter und Denker, sondern nun auch die Nation der Dichter und heroischer Soldaten. Der westlichen Welt der seichten Aufklärung, steriler Rationalität und pragmatischer Krämerei hat man das deutsche Ideal entgegengesetzt, in dem geistige Qualitäten der Dichter und Denker mit den Tugenden der heldenhaften Soldaten einhergingen. Deutsche Kultur wurde mit deutschem Militarismus vermählt, um dem zivilisatorischen Westen Paroli bieten zu können. Den ideologischen 100 Vgl. P. Lagarde: Schriften für das deutsche Volk, Band I. Deutsche Schriften. München 19373 (1878–1881); (Julius Langbehn): Rembrandt als Erzieher, von einem Deutschen. Weimar 193415 (1890); H.S. Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. München 194025 (1899); Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München 1930. 59 Grundriss des Ersten Weltkrieges bildete die feindliche Gegenüberstellung von zwei grundsätzlich gegensätzlichen kulturell-geistigen Prinzipien, die ihrerseits auf recht simplifizierenden und idealisierten Volkspersönlichkeiten und Charakteren beruhte. Die deutsche Nation stilisierte sich als Opfer des gesamteuropäischen Hasses,101 aus der Sicht der westlichen Nationen hatte man sich der deutschen Barbarei im Namen der europäischen Werte der zivilisierten Humanität entgegenzustellen,102 damit Europa vom aufklärerischen Weg der Ideen von 1789 nicht abkommen würde. Diesem könne, so der Westen, die mit dem preußischen Militarismus identifizierte deutsche Nation nichts anbieten. Freilich konnten die Deutschen diesem Weg nichts anbieten, sie haben längst ihren eigenen im Visier gehabt; den Vorwurf des Militarismus glaubte man in einen Vorteil ummünzen zu können, indem man die im deutschen Charakter sich vollziehende Einheit von Künstlern, Denkern und Soldaten für den Beweis dafür erklärt hat, die Deutschen seien kulturell, moralisch und intellektuell allen überlegen, die dem deutschen Militarismus eine bornierte Haltung unterstellen. Etwa T. Mann erblickte in „Gute Feldpost“103 in I. Kant den historisch ersten Moralisten des deutschen Soldatentums, ein Jahr später konnte W. Sombart nicht umhin, Militarismus als „Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung“104 aufzuwerten, Militarismus sei „Faust, Zarathustra und Beethoven-Partitur in den Schützengräben“.105 Den größten Raum nehmen solche Proklamationen in T. Manns Essay „Gedanken im Krie- ge“106 ein, wo zu erklären versucht wird, warum dem deutschen Geist der Krieg so sehr liege: Ob aber ein Volk wahrhaft kriegerisch ist, zeigt sich daran, ob es sich, wenn der Krieg Schicksal wird, verschönt oder verzerrt. Deutschlands ganze Tugend und Schönheit – wir sahen es jetzt – 101 Mehr zum Kulturkrieg gegen Deutschland vgl. E. Troeltsch: „Der Geist der deutschen Kultur“. In O. Hintze – F. Meinecke – H. Oncken – H. Schumacher (Hg.): Deutschland und der Weltkrieg. Leipzig – Berlin 1916, S. 53–89, insb. S. 53–60. Den Ursachen ging M. Scheler nach, in ders.: Die Ursachen des Deutschenhasses. Leipzig 1917. 102 Vgl. G.K. Chesterton: The Barbarism of Berlin. London 1914, eine Schrift, die es hinsichtlich des Chauvinismus mit den deutschen Pamphlets durchaus aufnehmen kann. Ich danke J. Stromšík für diesen Hinweis. 103 Vgl. T. Mann: „Gute Feldpost“ (1914). In ders.: Aufsätze, Reden, Essay, Band. 2 (1914–1918). Berlin 1983, S. 30–33. 104 Vgl. W. Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München 1915, S. 85. 105 Ebenda. 106 Manns Text „Gedanken im Kriege“ wurde in Die neue Rundschau am 25. November 1914 publiziert, zitiert wird aus: T. Mann: „Gedanken im Kriege“. In ders.: Aufsätze, Reden, Essays. Band 2 (1914–1918) ..., S. 11–29. 60 entfaltet sich erst im Kriege. Der Friede steht ihm nicht immer zu Gesicht – man konnte im Frieden zuweilen vergessen, wie schön es ist.107 Während andere Nationen und Kulturen ihre ästhetischen und moralischen Qualitäten lediglich in friedlichen Zeiten zu entfalten wüssten, da sie „bis ins Feinste, bis in die Kunst hinein die Tendenz zeigen, völlig die Gestalt der zivilen Gesittung anzunehmen“,108 mobilisiere die deutsche Nation im Krieg keine utilitaristisch-zivile, sondern ausschließlich künstlerisch-militaristische Werte. Manns Argumentation, die Künstlertum mit dem Soldatentum zusammenführt, verbindet diese zwei Bereiche mittels der Begriffe des Dienstes und der Organisation, die ja das „siegende kriegerische Prinzip von heute“ und zugleich „das erste Prinzip, das Wesen der Kunst“109 sei. Parallel zu dieser Linie wurden innerhalb der „Ideen von 1914“ noch andere Akzente gesetzt.110 Um mittels des Krieges den deutschen Sonderweg zu rechtfertigen, der ja als Ausweg aus der 1789 eingeschlagenen Sackgasse verstanden wurde, hat man die spezifisch deutsche Auffassung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herauszuarbeiten versucht. Diese will nichts mit der westlichen (im Sinne der Französischen Revolution verstandenen) Konzeption zu tun haben, vielmehr deutet sie in expliziter Anlehnung an Kant, Fichte und Hegel diese Parolen im konservativen Sinne um, indem an jeder von ihnen die Momente der Pflicht und der Bindung hervorgehoben werden. Diesbezüglich lassen sich freilich unterschiedliche Umdeutungen ausmachen. Etwa in der orthodox konservativen Version der „Ideen von 1914“ wird deutsche Freiheit als ein unumgänglicher Bestandteil des deutschen Sonderweges aufgefasst, dessen Sonderstatus eben aus der Negation der Ideen von 1789 hervorgehe. Die liberaleren Varianten der „Ideen von 1914“ gaben sich sachlicher, weniger ausschließlich. Während in der konservativen Variante das spezifisch Deutsche dadurch ausgemacht wird, dass es dem Einfluss des (dem deutschen Wesen fremden) politischen Liberalismus standzuhalten vermag, verzichtet die liberale Variante, durch Namen wie F. Meinecke, M. Weber oder E. Troeltsch repräsentiert, in der Regel auf jedwede deutsche Selbstgefälligkeit wohlwissend, dass sich in dem spezifisch Deutschen auch das 107 Ebenda, S. 23. 108 Ebenda, S. 22. 109 Ebenda, S. 14. 110 Als „Ideen von 1914“ bezeichnet man die mit dem proklamierten Ziel verfassten Texte, den Kriegskonflikt in breitere machtpolitische und weltgeschichtliche Zusammenhänge einzubetten. Meist handelte es sich um Versuche, dem Krieg nachträglich einen erwünschten Sinn zu verleihen, ja ihn in das längst fertige Welt- und Geschichtsbild einzufügen. Zu den bekanntesten Autoren gehörten J. Plenge, R. Kjellén, E. Troeltsch oder H.S. Chamberlain. 61 spezifisch deutsche Zurückbleiben und Verspätung äußern könne.111 Auf den Punkt gebracht, hier war man gewillt, die Ideen von 1914 als – zumindest partielle – Fortsetzung des Jahres 1848 zu verstehen, während die konservativen Versionen der Ideen von 1914 sich von dieser Tradition lossagten. Mit der Art der Anlehnung an Kant, Fichte oder Hegel hatte es bei den Definitionen der „echten“ deutschen Freiheit ihre Bewandtnis: die grundlegende Idee, der Mensch sei frei, wenn er aus freiem Entschluss seine Pflicht tue, hätte in der Tat aus allen drei abgeleitet werden können. Zu Fichte inklinierten am stärksten P. Natorp und W. Sombart, sowie die meisten Publizisten, die die Herausforderung des Jahres 1914 durch die Brille der Reden an die deutsche Nation112 Fichtes gelesen und somit die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft hervorgehoben haben. W. Sombart griff in seiner Schrift Händler und Helden113 auf Fichte immer dann zurück, wenn er sich von der angelsächsischen Tradition des Pragmatismus und Utilitarismus (T. Hobbes, H. Spencer und J.S. Mill) abzuheben suchte. Um eine analoge Auffassung der Freiheit zu vertreten, glaubte sich H.S. Chamberlain auf Kant (und Fichte, ja sogar auf J.S. Mill) berufen zu können. Dass der Deutsche aus vollem Herzen wolle, was er zu wollen habe, ließe sich wahrlich noch auf Kants deontologische Pflichtethik zurückführen. Indes was davon Chamberlain sich abzuleiten bemüht – „Deutschland ist die wahre Heimat wahrer Freiheit, ja deren einzige Hei- mat,“114 darum seien die Deutschen „dazu auserlesen, erst freie Persönlichkeiten zu werden und dann – als solche – das vollkommene Reich zu errichten“115 , ist mit Kant gar nicht in Verbindung zu setzen, und mit Fichte nur bedingt. Die offensichtliche Radikalität Chamberlains Auffassung tritt nicht zuletzt am Hintergrund der „Die deutsche Idee von der Freiheit“116 von E. Troeltsch hervor. Troeltsch spricht freilich auch von der deutschen Freiheit, er weigert sich jedoch, sie vom französischen (Rousseau) und englischen (Locke) Einfluss zu trennen, ohne den ja weder Kant, noch Fichte oder Hegel denkbar gewesen seien. Sobald das Beharren auf der deutschen Besonderheit in Hitlers Politik tragische Konturen gewonnen hatte, galt es nach dem Zweiten Weltkrieg, die Idee des Sonderweges umzupolen. Der Sonderweg wurde als- 111 In diesem Sinne wurden die Deutschen ans sachliche Handeln von M. Weber erinnert, in: M. Weber: „Deutschland unter den europäischen Weltmächten“. In ders.: Gesammelte politische Schriften. Tübingen 1988, S. 157–177. 112 J.G. Fichte: Reden an die deutsche Nation. Berlin 1808. 113 W. Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München 1915. 114 H.S. Chamberlain: Demokratie und Freiheit. München 1917, S. 16. 115 Ebenda, S. 28. 116 Vgl. E. Troeltsch: „Die deutsche Idee von der Freiheit“. In ders.: Deutsche Zukunft. Berlin 1916, S. 7–60. 62 bald zur retrospektiven Suche nach Meilensteinen eines verhängnisvollen Weges, der im Nazismus kulminiert hatte. Da statt des zu erwartenden Erlösers die Bühne von Hitler erobert worden war, war nun das positive Modell des besonderen Deutschseins durch ein Modell zu ersetzen, das das Negative des besonderen Deutschseins zu suchen hatte. Historismus trat zugunsten des Antihistorismus zurück, einzelne Epochen waren nun nicht mehr alle gleich zu Gott, sondern unterschiedlich nah zu Hitler.117 Hatte der Historismus auf einen universalen Maßstab verzichtet, wurde nun dieser Maßstab in Hitler zurückgefunden, dem negativen Höhepunkt der deutschen geistespolitischen Geschichte. Dieses tragische Ende wurde zum Schlüssel, der von nun an alle Phasen der deutschen Ideengeschichte öffnen sollte. Hatte die deutsche Besonderheit keinen Schatten des Undeutschen dulden können, setzte man nach 1945 an, als mit dem deutschen Sonderweg abzurechnen war, für unheilvoll deutsch, weil in Hitler kulminierend, viele Phänomene zu erklären, die weder ausschließlich deutsch, noch zwingend unheilvoll waren. Wo man für ausgeschlossen hielt, in Hitler einen Zufall zu erblicken, hatte man den kausalen Weg zu rekonstruieren, der zwangsläufig in Hitler seinen bisherigen Endpunkt gefunden hat. Damit wurde der Grundstein für neue Variationen des Sonderwegs gelegt, wurden sie schon in der westlichen oder östlichen Hälfte Deutschlands, oder sogar außerhalb Deutschlands formuliert. Das literarisch wohl berühmteste Beispiel stellt der im amerikanischen Exil verfasste Epilog zur deutschen Kultur- und Geistesgeschichte von T. Mann dar,118 deren tragischen Sonderweg Namen wie Luther, Nietzsche und Wagner säumen. Bereits vor dem Krieg kam zu ähnlichem Befund der französische Germanist E. Vermeil in seinem Buch Doctrinaires de la révolution allemande de 1918–1938.119 Eine nachträgliche Abrechnung beinhalten auch zwei für die Nachkriegszeit in beiden Teilen Deutschlands paradigmatische Texte Deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen (F. Meinecke) und Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte (A. Abusch).120 Weltanschaulich recht unterschiedlich, doch mit strukturellen Ähnlichkeiten wird hier die deutsche Entwicklung geschildert, die schrittweise von der erwünschten – in Meineckes Augen – westeuropäisch liberalen abgewichen sei. Die letzte große liberale Chance hätten die Deutschen 1848 verspielt, wonach sie in 117 Vgl. H. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert. Der Totalitarismus und seine Überwindung. Stuttgart – Weimar 2010, S. 338. 118 T. Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Berlin – Frankfurt am Main 1947. 119 E. de Vermeil: Doctrinaires de la révolution allemande de 1918–1938. Paris 1938. 120 F. Meinecke: Deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. Wiesbaden 1946; A. Abusch: Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte. Mexiko 1945. 63 Bismarcks Reich nur noch ihre Distanz zum Westen kultivierend auf Hitler zukamen. Nach 1945 gilt es laut Meinecke, diese Entwicklung einer radikalen Revision zu unterziehen, um Deutschland im europäischen Rahmen aus dem Geiste der Kultur und Religion zu erneuern. Die Diagnose des überzeugten Kommunisten Abusch fällt noch radikaler aus. Deutsche Geschichte gleiche einer Misere, an deren Anfang Luther stehe. Setzte für Meinecke der Verfall Deutschlands erst an, nachdem es seine Einheit gegen Liberalismus und Demokratie ausgespielt hatte, kann Abusch an der deutschen Geschichte keinen guten Faden finden, weil er sie als eine ununterbrochene Serie von Verraten identifiziert. Bereits seit den Bauernkriegen im 16. Jahrhundert seien die Fortschrittskräfte (Volk bzw. Proletariat) von der Bourgeoisie (samt der Sozialdemokratie) immer wieder verraten worden. Erst nach dem Krieg, der eine endgültige Niederlage des Hitlerimperialismus gebracht und somit den Fortschrittkräften den Weg geebnet habe, werde Deutschland die versäumte Revolution nachholen können. Die Idee des Sonderweges scheint somit insofern nicht verschwunden zu sein, als sie zunächst mal das unumgängliche negative Symbol darstellte. In dieser Form war sie unantastbar, jede Relativierung dieser Funktion hätte die fragile deutsche Zukunft bedroht.121 Die Intensität dieser Unantastbarkeit bekamen um 1980 drei angelsächsische Historiker D. Calleo, G. Elley und D. Blackbourn zu spüren, nachdem sie das Faktum der deutschen Verspätung analysiert und sich zu fragen getraut hatten, ob die Theorie des Sonderweges von wissenschaftlich bestätigten Fakten ausgehe. Ein gewisses Verständnis für diesen Zugang zu deutschen Geschichte haben T. Nipperdey, E. Nolte und K.D. Bracher aufgebracht,122 die Mehrheit der deutschen Intellektuellen zeigte sich indes empört. Etwa K. Sontheimer oder H.A. Winkler glaubten ihren Verdacht äußern zu müssen, solche Relativierungen würden einem unreflektierten deutschen Nationalismus den Weg ebnen, ja den rechten Revisionismus entfachen. Es ist hier nicht der Ort zu spekulieren, ob die angelsächsischen Interpretationen glaubwürdiger als die deutschen waren. Schwerer wiegt die Argumentation der deutschen Historiker nach 1980, als inkriminierte Texte auf Deutsch publiziert wurden. Aus ihr wird deutlich, dass die Texte an der ethisch-pädagogischen Konstruktion des negativen Vorbilds des Sonderweges gerüttelt hätten, wodurch sie die so darin gegründete zerbrechliche Identität nach 1945 angezweifelt hätten. Die angelsächsischen Historiker hätten die moralische Fundierung des nach 1945 eingeschlage- 121 Vgl. H.A. Winkler: „Der deutsche Sonderweg. Eine Nachlese“. Merkur, 1981, N. 8, S. 804. 122 Vgl. die Beiträge der Konferenz zum „deutschen Sonderweg“, (Hg.): Institut für Zeitgeschichte: Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität? München – Wien 1982. 64 nen Weges bedroht, also die Überzeugung in Frage gestellt, Nachkriegsdeutschland dürfe der Vergangenheit nicht ausweichen, wenn es zum zivilisierten Europa gehören wolle. Damit zurück zu Winklers selbstkritischem Text aus dem Jahre 1997, in dem von der Existenz der Sonderwege „auch nach 1945“ die Rede war. Deren linke Variante meldete sich unüberhörbar zum Wort, sobald die Gefahr aktuell wurde, es könne die moralisch privilegierte Stellung der Linken beim Konstruieren der deutschen Nachkriegsidentität bedroht werden. Und man scheint dazu allen Grund gehabt zu haben. Die Interpretationen der angelsächsischen Historiker stellten nämlich aus der Sicht der Rechten einen ersten Impuls dar, dem die Wiedervereinigung 1990 den letzten und zugleich den stärksten hinzugefügt habe:123 Man schickte sich gleich an, rechts-konservative Modelle zu revitalisieren – die bis dahin allenfalls den Lesern der konservativen Periodika (Criticón etc.) vertraut gewesen waren – in denen der Wille, sich moralisch mit nazistischer Vergangenheit auseinanderzusetzen, als Schwäche gebrandmarkt wird: Je mehr die Nachkriegsdeutschen die „reedukativen“ und „denationalisierenden“ Aufforderungen der Siegermächte akzeptieren und verinnerlichen würden, desto mehr würden sie sich ihrem Wesen entfremden. Da die Strategie der Siegermächte den Krieg via „Reeducation“ fortsetze, hätten die Deutschen dieses Konzept strikt abzulehnen, wenn sie ihre nationale Bestimmung nicht in weiteren (Kriegs)Niederlagen verlieren möchten. Der rechts-konservative Kampf gegen den nachkriegsdeutschen Sonderweg rief deutsche Ressentiments wach. Historisch betrachtet bedient er sich aus demselben rechten Arsenal, nach dem bereits im Augenblick der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg gegriffen worden ist. Anstatt die Niederlage zu akzeptieren, ihr die Stirn zu bieten, wurde jetzt wie damals die Nachkriegsordnung abgelehnt. War nach 1918 gegen deren Befürworter, allen voran die Kommunisten und Sozialdemokraten, die die deutsche Sache verraten und Interessen der Feinde vertreten hätten, der 123 Die Konturen des rechten Sonderwegs 1945–1990 waren bereits während des „Historikerstreits“ zu vernehmen. Zu den rechtsorientieren Texten nach 1990 bemerkt A. Schildt: „Anfang der neunziger Jahre gab es eine gewisse Konjunktur von geschichtsrevisionistischen Veröffentlichungen, die darauf abzielten, die gesamte deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Sonderweg zu erklären, der von einem in seiner nationalen Souveränität beschnittenen, zwar ökonomisch erstrangigen, aber zugleich politisch machtvergessenen Semistaat beschritten worden sei. Mit der „Berliner Republik“, so wurde daran anschließend gefordert, sollte nun das machtvergessene Bonner Zwischenspiel der Geschichte beendet werden, sollte sich Deutschland wieder seiner Großmachtverantwortung stellen [...] In der Rede von der „Berliner Republik“ schwingt häufig die Konnotation einer Rückkehr zu einstmaliger „Normalität“ mit [...]“ A. Schildt: Annäherungen an die Westdeutschen. Sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Göttingen 2011, S. 16. 65 Bürgerkrieg zu entfachen gewesen, wurde 1945 die Forderung der radikalen Wende in Haltung und Gesinnung von der konservativen Rechten als Diktat der Siegermächte geächtet. Die konservative Rechte weigerte sich bezüglich der Kriegsfolgen zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zu unterscheiden. Die Nachkriegsordnung glaubte sie mithilfe der Begriffe „Sieger“ und „Besiegte“ genügend beschreiben zu können, somit sah sie keinen Grund, von Nachkriegsdeutschland etwas anderes zu erwarten als eine möglichst rasche Rückkehr zu konsolidiertem, also „normalem“ Zustand. Daneben gestellt nimmt sich der linke Sonderweg nach 1945 recht berechtigt und verdienstvoll aus. Der Zweite Weltkrieg stellt darin mehr als nur einen gewöhnlichen Kriegskonflikt dar, nach dessen Ende sich beide verfeindeten Seiten die Hände reichen würden, um all das Unheilvolle gemeinsam vergessen und weiter nebeneinander leben zu können. Dies sei schon aufgrund der unüberwindbaren Asymmetrie zwischen den Tätern (Kollektiv der deutschen Nation) und den Opfern unmöglich. Die deutsche Niederlage sei genauso zweifellos wie die kaum denkbaren Schrecken, die im Namen der deutschen Nation verübt worden seien; daher seien alle ethisch-pädagogischen Konsequenzen berechtigt und zwingend, die daraus abzuleiten seien. Niederlage, Schuld, Wandlung: ohne Anerkennung dieser Punkte sei keine Debatte möglich. Eine Schwäche des linken Sonderwegs 1945–1990 besteht nicht darin, dass man diese Tatsachen verkennen oder verklären möchte, sondern eher darin, dass man verabsolutiert, also kontextunabhängig gemacht hatte. Die Bereitschaft, die Last der Vergangenheit zu tragen, wurde somit zu einer Vorgabe, von der unheilvollen Deutschheit gar nichts und unter keinen Umständen zu akzeptieren. Die Linke hat es untersagt, die nachkriegsdeutsche Identität mit jedweder Form der deutschen Ausschließlichkeit zu verbinden. Daraus ihre Bereitschaft abzuleiten, andere (nichtdeutsche) Ersatzidentitäten zu akzeptieren, wäre jedoch falsch, wie etwa aus der umstrittenen Einstellung zur westlichen Identität hervorgeht. Die Vorstellung, die Nachkriegsdeutschheit würde in der westlichen Identität aufgehen, bereitete der deutschen Linken eher Unbehagen, sosehr sie mit der Anforderung, die nachkriegsdeutsche Identität als Negation der ausschließlich aufgefassten deutschen Identität aufzubauen einher zu gehen schien. Die Rechte lehnte also die „von den Alliierten aufoktroyierten Ideen von 1945“ ab, weil sie undeutsch gewesen sein sollen, während die Linke wiederum alles verschmähte, was an allzu deutsche „Ideen von 1914“ erinnern würde. Im linken Lager, und eben dies machte die Situation erst spezifisch, gab es allerdings auch Bedenken, in wie weit Deutschland gar an „Ideen von 1789“ partizipieren sollte. Dies bringt beide spiegelbildverkehrten Positionen wiederum näher zueinander. Auf der Rechten wurde auf dem Sonder- 66 status bestanden, indem der Abnormalität des als fremdartig empfundenen Weges nach 1945 die lebensnotwendige Normalität des Sonderweges 1870–1945 entgegengestellt wurde. Die Linke wollte zwar von keinem Sonderstatus etwas hören, ihrer durchaus komplizierten, langwierigen sowie zwiespältigen Annäherung zum Westen scheinen allerdings auch gewisse Sonderansprüche anzuhaften. 2.3 Der lange Weg zum Westen als Schwundstufe des Sonderwegs? Nachkriegsdeutschland konnte nicht umhin, sich seine Entwicklung von anderen bestimmen zu lassen. Sieht man jetzt von der radikalen konservativen Rechten ab, war man sich darin einig, dass daran nicht zu rütteln sei, möchte man sich nicht aus dem zivilisierten Europa verabschieden. Diese Tatsachen wurden indes Schritt für Schritt uminterpretiert. Der ursprüngliche Nachteil wurde zum Vorteil, die Schwäche wurde zur Stärke, die Not zur Tugend verklärt. Die Schwäche des diskreditierten Deutschseins transformierte man in die Stärke des deutschen Kosmopolitismus, die Not der nationalistischen Hybris glaubte man durch die postnationalistische Tugend vergessen zu machen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Nachkriegsdeutschen waren nicht frei, sie haben den selbstverschuldeten Krieg verloren, gerieten also in eine verständliche und notwendige Abhängigkeit vom Willen der Siegermächte. Die einzige Möglichkeit, die Freiheit wieder zu erreichen, schloss die Anerkennung der Tatsache ein, die Verantwortung für den Krieg wie auch für den Holocaust tragen zu müssen. Um dem zivilisierten Europa irgendwann einmal angehören zu dürfen, hatte man die antiwestlichen Ressentiments zu überwinden, die ja stets zum festen Bestandteil des deutschen Sonderwegsbewusstseins gehört hatten. In diesem Sinne konnte der Westen für die Nachkriegsdeutschen einen Rettungsring darstellen, da sie ohne die sich mit sich selbst identifizierende Identitätsauffassung haben auskommen müssen. Dieser Schritt auf den Westen zu hätte bedeutet, sich von der Deutschheit loszusagen, die in sich selbst den höchsten Wert gehabt hatte. Er hätte eine Reflexion der Folgen erfordert, die der Welt die einst mangelhaft reflektierte Deutschheit gebracht hatte.124 Parallel zu dieser begrüßenswerten Konzeption stand der Begriff des Westens auch für die weniger erwünschten Konsequenzen der Nachkriegsordnung. Der Westen verkörperte hier die von den westdeutschen Intellektuellen immer nachdrücklicher abgelehnte Tendenz der Verwestlichung, die Pseudowerte anbiete und moralischen Verfall mit sich bringe. 124 Vgl. P. Sloterdijk: Versprechen auf Deutsch. Rede über das eigene Land. Frankfurt am Main 1990, S. 9. 67 In dieser moralisierenden Perspektive war der Westen damit identisch, was in der Bundesrepublik als die sogenannte restaurative Mentalität und dementsprechend als moralisch unzureichend, weil entlastend bezeichnet wurde: Er wurde somit mit der mangelnden Bereitschaft identifiziert, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Rhetorik, die an materiellen, ökonomischen und konsumorientierten Bedürfnissen der Nachkriegsdeutschen Anstoß nahm, war in einen größeren Rahmen eingebettet, in dem vier Punkte herausragten: Kritik von Nationalismus, Militarismus, Kapitalismus und Antikommunismus. Der Westen hatte für diese sogenannten Pseudowerte herhalten müssen, von denen die Bundesrepublik nie hätte profitieren können; dass in der Tat das Gegenteil der Fall war, legte man der prowestlichen Adenauerpolitik zur Last, die moralisch versagt, da sie nur pragmatisch die Konstellation des Kalten Krieges ausgenutzt habe. Das nachkriegsdeutsche Bild des Westens war unter den deutschen Intellektuellen stark polarisiert. Der Westen diente freilich als Vorbild; seine Vorbildrolle konnte er jedoch nur in Anspruch nehmen, falls seine Werte nicht sogleich als Pseudowerte herabgewürdigt wurden. Vereinfacht gesagt, zum guten, freilich idealisierten Westen bekannte man sich, um als Deutsche zu Europa gehören zu dürfen, während man – nach wie vor – in den falschen Westen, von dem man sich absetzen zu müssen glaubte, all das projizierte, wozu der Linksliberalismus prinzipiell eine ambivalente Haltung einnimmt. Immer mehr wurden etwa mit dem falschen Westen die Vereinigten Staaten identifiziert, zu denen ja nach dem Kriege viele (vor allem junge) Intellektuelle aufblickten; spätestens in den 1960er Jahren wurde klar, dass diese Begeisterung eine sehr kurze Episode, wenn nicht Ausnahme in der vorherrschenden Tradition des deutschen Antiamerikanismus gewesen ist.125 Was geht daraus hervor? Nicht mehr, als dass dieses doppelbödige Verhältnis der deutschen Intelligenz zum Westen einige Missverständnisse erklären kann. Diese können an einem Text von H.A. Winkler illustriert werden; dieser stellt zu seiner Überraschung fest, dass während des Historikerstreits sich eine postume Adenauer’sche Linke herausgebildet habe, die von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, eine dramatische Kehrtwende vollzog. Die Bundesrepublik galt nun nicht mehr, wie zur 125 Unmittelbar nach dem Krieg wurden die Vereinigten Staaten in Deutschland allgemein als das freilich recht idealisierte Ersatzvaterland wahrgenommen. Erst zur Zeit des Vietnamkrieges kehrten die lange latent gehaltenen antiamerikanischen Ressentiments zurück, die bis dahin nur in der linken wie auch rechten intellektuellen Kritik artikuliert worden waren. Siehe G. Schwan: Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945. Baden Baden 1999, S. 27–31. 68 Hoch-Zeit der Außerparlamentarischen Opposition von 1968, als zeitgemäße Neuauflage des Faschismus, sondern als Glücksfall der deutschen Geschichte. Die Westbindung, von der Linken im weitesten Sinn, von Kurt Schumacher über Gustav Heinemann bis zu Martin Niemöller, einst erbittert bekämpft, wurde jetzt nicht nur als Tatsache akzeptiert, sondern als kulturelle Errungenschaft der Linken gewürdigt.126 Was Winkler verwundert, hat eine einfache Erklärung. Die begrüßte Westbindung ist in den breiteren historischen Zusammenhang der linken Positionen einzubetten. Während des Historikerstreits bekannte sich die liberale Linke freilich zum Westen, doch sie tat es, um die rechts-konservativen Historiker daran zu hindern, ein die deutschen Schuldanteile relativierendes Bild der deutschen Geschichte durchzusetzen. Dies war jedoch keine Kehrtwendung, vielmehr eine konsequente Fortführung der eigenen Position, die sich zum Westen immer dann zu bekennen bereit war, als es galt, Abschied von der Selbstgefälligkeit der deutschen Sonderwege zu nehmen und diese Sackgasse des hypertrophierten Nationalismus zu verlassen. Aus dem Rückblick betrachtet oszillierte das Verhältnis der nachkriegsdeutschen Intelligenz zum Westen zwischen bedingter Akzeptanz und unkonsequenter Ablehnung. Weder war man bereit, dem Westen ein deutliches Nein, noch ein unbedingtes Ja zu sagen. Zwei uneindeutige Einstellungen scheinen einander bedingt zu haben. Während die erste das ambivalente Verhältnis zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Größe des Westens betrifft, schlägt sich in der zweiten die Eindeutigkeit in der durchaus ambivalenten Einstellung der Intellektuellen zur der Bundesrepublik nieder. Dass die Bundesrepublik Schritt für Schritt westliche Formen und Werte der liberalen Demokratie übernahm, verschärfte zusätzlich die intellektuelle Notwendigkeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was diese Republik zu sein habe, und was sie nie sein dürfe. In dem neu konstituierten öffentlichen Raum sah man sich unter anderem dem Problem ausgesetzt, welche Rolle der kritischen Intelligenz zukommen werde, die ja früher oder später zwangsläufig politisch unbequem werde, falls sie auf kritisches Denken nicht resignieren würde. Kritische Intelligenz ging zur Bundesrepublik überwiegend auf Distanz, heimisch konnte man sich als kritischer Intellektueller in der prowestlichen Bun- 126 In http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7969480.html, heruntergeladen am 15.10. 2013. Winkler spielt hier offensichtlich auf den Satz von Habermas an: „Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte.“ J. Habermas: „Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“. Die Zeit, 11. Juli 1986, zit. nach „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung ..., S. 75. 69 desrepublik der ersten Nachkriegsjahrzehnte kaum fühlen, habe sie doch offensichtlich ihre Bürger von der „Arbeit an der Vergangenheit“ abgehalten, ja sie von der Konstellation des Kalten Krieges profitieren lassen. 2.4 Kulturnation und Verfassungspatriotismus Die bisherige Skizze macht die Anziehungskraft des negativen Denkens offensichtlich. Auf den Bankrott des chauvinistischen Nationalismus reagierte man mit postnationalistischer Kur, die nazistische Politik der Stärke hat das schwache Denken auf den Plan gerufen, von der diskreditierten geistlosen Machtpolitik flüchtete man zum Glauben an die Macht der moralischen und geistigen Prinzipien, vom dezidiert politischen Engagement versteckte man sich in kulturellem, also ästhetischem Engagement. All das machte man mit derselben prinzipiellen Ausschließlichkeit, mit der man in etwa Freiheit und Einheit gegeneinander ausgespielt hat. Ihren Niederschlag fand diese Tendenz in einigen für den Deutschlanddiskurs typischen Konstruktionen. Dass unter ihnen die Idee der Kulturnation zu finden ist, hat eine einfache Erklärung: Sie stellte sowohl eine für die zivilisierte Welt akzeptable Antwort auf die nazistisch korrumpierte Staatsauffassung dar, als auch eine Medizin, mit deren Hilfe man die Teilung der deutschen Nation in zwei ideologisch gegensätzliche Staaten verschmerzen konnte. Sie stimmte mit dem intellektuellen Kurs überein, der spätestens seit den 1960er Jahren vom Nationalstaat zur Kulturnation wies. Die Idee der Kulturnation manifestierte somit die Überzeugung, die Deutschen hätten keine andere menschlich vertretbare Option, als die Teilung in zwei Staaten zu akzeptieren, und darum das sie Verbindende, nämlich die gemeinsame Sprache und Kultur zu fördern. Als geistige Väter der Idee der Kulturnation zählt man Herder, Lessing und Schiller, später wurde sie etwa von F. Meinecke oder T. Mann aufgegriffen. Wie auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sie von Anfang an einen kompensierenden Charakter. Anstatt der real abwesenden Einheit bot sie andere Möglichkeiten, wie das Gemeinschaftsgefühl zu realisieren wäre. Wo die Einheit ausgeschlossen war, wartete sie mit dem Ersatzprogramm der Menschheitsbildung127 auf.128 Diese Kompensation wäre freilich undenkbar ohne Idealisierung der Kultur wie auch der als kulturell apostrophierten deutschen Nation der Dichter und Den- 127 Vgl. Schillers Verse: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens: Bildet, ihr könnt es, dafür freyer zu Menschen euch aus.“ Zit. nach J. Schröder: Deutschland als Gedicht ..., S. 24. 128 „Das ist nicht des Deutschen Größe, Obzusiegen mit dem Schwert, In das Geisterreich zu dringen, Vorurtheile zu besiegen, ringen, Männlich mit dem Wahn zu kriegen, das ist seines Eifers werth.“ Ebenda. 70 ker. Außerdem schien in diesen Idealisierungen die geistige Sphäre der Kultur und Moral von der Politik unabhängig zu sein, ja ihr weit überlegen; für die moralische und kulturelle Größe hatte das politische Schicksal der jeweiligen Nation keine Aussagekraft, es sei denn eine ungerade. Eben dies zeigte sich als unheilvoll, denn es konnte auch kulturkritische Argumentationsmuster ins Leben rufen, in denen Kultur und Moralität der Nationen gegen deren politische Erfolge ausgespielt wurden (moralisch und kulturell entwickelte Nationen bräuchten nicht politisch erfolgreich zu sein, ja sie dürften es gar nicht sein; und politisch erfolgreiche Nationen seien in der Regel akulturell und unmoralisch). Dass die Idee der Kulturnation im 18. Jahrhundert weit davon entfernt war, dem Kulturimperialismus zu dienen, lag an der humanistischen Auffassung des Patriotismus, die, wie bei Herder, Lessing oder Schiller deutlich zu sehen ist, Patriotismus (Nationalismus) nicht dem Kosmopolitismus (Humanität) entgegensetzte. Die Kulturnation, wenn man es bildhaft ausdrückt, war bei Herder gegen männlichen Missbrauch insofern gefeit, als sie in das weibliche Prinzip der Menschheit eingebettet war.129 Doch dieser weibliche Schutz wurde im Laufe der Zeit immer weniger gefragt, die Idee der Kulturnation nahm Gestalten an, in der sie den Deutschen nicht nur Stärkung ihrer geistigen Kräfte in Aussicht stellte, sondern auch politische und militärische Überlegenheit. Diese unheilvolle Entwicklung lässt sich auch daran ablesen, dass historisch-theoretische Abhandlungen der Idee der Kulturnation sich meist auf ihre problematischen, doch bezüglich der ursprünglichen Intention uneigentlichen Implikationen konzentrieren (Kulturnation im Großdeutschen, bzw. völkischen Sinne).130 Im 20. Jahrhundert scheint die Idee der Kulturnation allenfalls als ein korrumpiertes Konzept von wissenschaftlichem Belang zu sein, dem darüber hinaus von Anfang an fragwürdige Hypothesen zugrunde gelegen hätten: Sprache und Kultur würden dem persönlichen Willen übergeordnet; die Nation werde nicht vom subjektiven Standpunkt der sich frei entscheidenden Individuen heraus definiert; für das Konstituieren der Nation sei deren Ursprung ausschlaggebend, auf die Zukunft komme es weniger an. Die Akzentuierung der Kultur, sosehr sie das verdienstvolle Bollwerk gegen den hypertrophierten Nationalismus zu sein scheint, bringt nichts, sobald sie strikt der Welt der Macht und Politik gegenübergestellt wird. So kann sie nämlich zur dezidiert apolitischen Haltung führen, die nicht 129 Vgl. J.G. Herder: An den Genius von Deutschland 1770, siehe J. Schröder: Deutschland als Gedicht ..., S. 111. 130 „Der Begriff Kulturnation verleitet dazu, in großdeutscher oder volksdeutscher Richtung mißverstanden zu werden. Daher ist zu hoffen, daß seine Konjunktur in Deutschland heute beendet ist.“ O. Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland (1770–1990). München 1996, S. 49. 71 nur politische Mittel prinzipiell meidet, sondern auch jede Kompromisssuche als nicht genug prinzipiell, ergo halbherzig politisiert ablehnt. Solche prinzipiell und grundsätzlich apolitische Haltung, die ihre Distanz zur Macht stets bewahrt, wurde in der deutschen Intellektuellengeschichte nicht selten als der einzige Weg hochgejubelt, der der Sendung des deutschen Geistes gerecht werde. Obwohl die Idee der Kulturnation in ihren Ursprüngen a-nationalistisch gewesen war, kulminierte sie nicht selten im Nationalismus par excellence, wie ihn etwa die schon erwähnten Ideen von 1914 repräsentieren. Für die nachkriegsdeutsche Renaissance der Idee der Kulturnation ergibt sich aus diesem kurzen Exkurs folgendes Fazit: Wer der Kultur zu viel aufbürden will, sollte die dialektischen Konsequenzen des apolitischen Denkens bedenken. Damit ist nicht nur das gemeint, was in den 1930er Jahren zum Tragen kam, als apolitisches Denken „zur Akklamation einer autoritären politischen Ordnung, die in der Entfaltung von Macht nach innen und außen, nicht aber in der Respektierung der unveräußerlichen Menschenrechte, von Gerechtigkeit und menschlicher Wür- de“131 willig war. Vielmehr das überspannte Moralisieren, die kompromisslose und hartnäckige Grundsätzlichkeit, in denen sich langjährige Tendenz der Deutschen manifestiert, Politik an unpolitischen Maßstäben zu messen und politische Probleme jenseits der Politik zu lösen, sprich via Kunst und Kultur.132 Die Idee der Kulturnation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde also mit der Folge revitalisiert, Politik in Kultur aufzulösen; dadurch, um zum problematischen Verhältnis zum Westen zurück zu kommen, ist Deutschland dem Westen indes um keinen Schritt näher gekommen. Was also auf den Westen hatte zulaufen wollen, mündete in hartnäckigem Bestehen auf einer deutschen Tradition, die in diesem Falle nicht unumstritten ist. Der deutschen Nachkriegsintelligenz scheinen eher eigene Sonderlösungen behagt zu haben als die einfache Anlehnung an den Westen und eine Übernahme von dessen Werten. Was rückblickend als ein zwar langwieriger, dennoch ununterbrochener „Weg zum Westen“ erscheinen mag, ist im Einzelnen nicht immer so glatt und bruchlos verlaufen. Wenn man die wichtigsten Identitätskonzepte der deutschen Nationalität seit den 1970er Jahren Revue passieren lässt, wird man doch allen attestieren müs- 131 K. Sontheimer: „Der Deutsche Geist – eine Tradition ohne Zukunft“. Merkur, 36, 1982, S. 237. 132 „Auch 1989 war der Rückzug auf die Kulturnation – in Fortsetzung deutscher Traditionen – der Verzicht auf Politik. Und die größte Illusion bestand in dem Glauben, mit dieser unpolitischen Religion der Konzessionslosigkeit der Welt imponieren zu können [...] Nach 1989 in Europa kein Spielverderber zu sein hieß für die Deutschen, politische Probleme im Feld der Politik zu lösen. Es hieß, nicht länger Kultur gegen Politik auszuspielen.“ W. Lepenies: Kultur und Politik ..., S. 417. 72 sen, dass sie in ihren Intentionen nicht antiwestlich waren. Patriotismus war nur unter den Bedingungen zulässig, wenn ihm die Idee der Kulturnation zugrunde lag, oder dieser die Bundesrepublik als „postnationale Demokratie unter anderen Nationalstaaten“ (K.D. Bracher) auffasste,133 oder sich mit dem Geist der Verfassung identifizierte (D. Sternberger, J. Habermas). Brachers postnationales Konzept, recht konsequent aus Folgen der Auflösung der Weimarer Republik herausgearbeitet,134 wurde diesbezüglich als historische Lehre formuliert, die problematische und in der Auflösung der Weimarer Republik zutage getretene Tradition der Deutschheit zugunsten der Integration in die transnationalen demokratischen Strukturen zurückzunehmen. Von ähnlichen Voraussetzungen ging auch das Konzept des Verfassungspatriotismus aus. Das Versagen der werteindifferenten Weimarer Republik angesichts der nazistischen Eliminierung der freiheitlich demokratischen Prinzipien sei demnach von der Bundesrepublik als Aufforderung aufzufassen, liberaldemokratische Werte den nationalistischen vorzuziehen. D. Sternberger135 formulierte dies bereits Ende der 1970er Jahre mit dem Ziel, den Staat ebenso wie den Geist der Verfassung vor deren Vereinnahmung im Namen der Nation zu schützen. Der freie Geist der Verfassung wird nach Sterneberger geradezu zum Vaterland, das Vaterland wird mit der freien, da im Einklang mit der Verfassung geführten Lebensweise ineins. Die Nation, zumal die deutsche, sei primär durch freie und demokratische Prinzipien zu vereinen, die in der Verfassung verankert seien. Populär wurde dieses Konzept jedoch erst, nachdem es von J. Habermas während des Historikerstreits im Jahre 1986 zur Geltung gebracht wurde. In Habermas’ Verständnis ersetze der Verfassungspatriotismus vollends das nationale Bewusstsein. Habermas nutzte das republikanisch universalistische Potenzial dieses Begriffes gegen alle, die die Bundesrepublik damit zu identifizieren trachteten, was ausschließlich ihrer Identität zu dienen habe, also vor allem mit der affirmativ unreflektierten deutschen Vergangenheit samt ihren nationalen Traditionen. Alle drei Varianten wollten, so sehr sie von den besonderen Bedingungen der deutschen Geschichte ausgehen, ausdrücklich als prowestliche Konzepte verstanden werden. Habermas glaubte sogar die „Öffnung der 133 Vgl. K.D. Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung – Struktur – Folgen des Nationalsozialismus. Köln 1976, S. 544. 134 Vgl. K.D. Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Machtverfall in der Demokratie. Stuttgart 1955. 135 Zum Begriff vgl. etwa: F. Roth: Die Idee der Nation im politischen Diskurs ..., S. 293–317. 73 Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens“136 seiner Generation gutschreiben zu können, um nochmals zu betonen: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfas- sungspatriotismus.“137 Zum Westen, so die paradoxe Botschaft, werde man nur dann gehören, wenn man auf dem spezifisch deutschen Modell des Verfassungspatriotismus bestehen werde. Dieser verfüge über eine exklusive Funktion, in der sich deutsche Ausschließlichkeit manifestiere; es sei derart fortgeschritten, dass sich der Westen an ihm sogar Beispiel nehmen, ja sich von inspirieren lasse könne. Dies klingt nicht überzeugend, da es offensichtlich als eine historisch bedingte Notlösung für eine einzige Nation entstanden war, die sich allenfalls qua Verfassung zu definieren wusste. Das Verhältnis zum Westen unterliegt in diesem Punkt der moralischen Konstruktion. Habermas’ Zitat setzt nämlich fort: Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz bilden können [...] wer die Deutschen zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen will, zerstört die einzig verlässliche Basis unserer Bindung an den Westen.138 Obwohl von „Bindung an den Westen“ die Rede ist, sind der Westen und seine Werte in diesem Statement zweitrangig. Erstrangig ist, ob man für die deutsche Nation eine ethisch-politische Lösung findet, in der sie sich für ihre Integration in die zivilisierte Welt des Westens nicht durch Resignation auf die letzten Spuren der deutschen unkonventionellen Besonderheit erkaufen müsste. Das ursprüngliche Defizit gegenüber dem Westen (erst nach Auschwitz leuchtete es den Deutschen endgültig ein) wird im Handumdrehen zum Vorteil gegenüber dem Westen. Die Deutschen könnten, denkt man in Habermas’ Spuren weiter, darauf bestehen, dass jedwedes Abweichen von dem eingeschlagenen Weg nicht nur die deutsche Rückkehr in den zivilisierten Westen zunichte machen, sondern auch die Grundlagen des Westen anzweifeln würde. Aus der Rolle eines nachholenden Schülers werden die Deutschen zum Lehrer, der nicht nur für die Wahrheit seiner eigenen Lehre, sondern auch für die der anderen verantwortlich zu sein glaubt. Wie gezeigt, haben postnationale Tendenzen qualitativ unterschiedliche Konzeptionen der Deutschheit herbeigeführt. Wurde diese etwa bei Bracher in die transnationalen demokratischen Strukturen integriert, hat die Praxis der Kulturnation und des Verfassungspatriotismus umstrittenere Konsequenzen nach sich gezogen. Unterschwellig scheint in ihnen die 136 J. Habermas: „Eine Art Schadensabwicklung“ ..., zit. nach: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung ..., S. 75. 137 Ebenda. 138 Ebenda, S. 75–76. 74 Sehnsucht nach der deutschen Besonderheit nachgewirkt zu haben, die sich zwar westlich gab, doch das Maß der Westlichkeit nur an der deutschen Besonderheit zu messen bereit war; eine Arroganz, die in der postnationalen Universalität der – für alle, die zum Westen gehören wollen, verbindlichen – Weisheit letzten Schluss erblickte. Der Westen hätte sich daran zu messen, was ihm sein einstiger Schüller nun aus der Lehrerposition heraus vorlegte. Um sich diese Konsequenzen zu vergegenwärtigen, sei abschließend noch zum letzten Mal auf den schon erwähnten Text H.A. Winklers hingewiesen. Winkler konstatiert, dass die Tendenz streng vom Nationalen zum Kosmopolitischen im Laufe der Jahre immer mehr Probleme traktiert habe, was in aller Deutlichkeit um 1990 zutage getreten sei. Man hätte sich massiv geweigert, das vereinte Deutschland zu akzeptieren, stattdessen hätte man intellektuell dubiose Doppelstaatvarianten vorgeschlagen, nicht zuletzt deshalb, weil man es nach wie vor gewohnt gewesen sei, Freiheit und Einheit gegeneinander auszuspielen (wie auch andere vermeintliche Opposita wie Macht versus Geist, Politik versus Kultur, Vaterland versus Muttersprache etc.). Wolle sich Deutschland sachlich und möglichst unvoreingenommen verstehen, komme es nicht darum herum, mit solchen Disjunktionen aufzuräumen, um folglich auch beide Formen der Ausschließlichkeit zu verabschieden: die eines postnationalen unter anderen Nationalstaaten sowie die eines souveränen Nationalstaates, der sich nur mit sich selbst zu identifizieren braucht. Deutschland, so Winkler, hätte dadurch die durchaus gewöhnliche und konventionelle Rolle eines klassischen demokratischen Nationalstaates unter anderen Staaten übernommen, die in transnationale Strukturen eingebunden seien. Deutsche Zusammengehörigkeit wäre somit weder das Ergebnis der Verzichts auf alles Deutsche, noch der unreflektierten Teilnahme an der Vergangenheit dieser Nation. Die Zusammengehörigkeit könne unmöglich keins von den Prinzipien in ihrer Ausschließlichkeit garantieren, sondern nur ihr Zusammenspiel, ja ihre Machtteilung.139 Die Identität gebe es für die Deutschen nur in dem Zusammenspiel des Partikularen mit dem Universalen, keineswegs in deren gegenseitigem Ausspielen. „Nationale Solidarität ist nicht die höchste Form von Solidarität, aber eine Solidaritätsstufe, die auch die Deutschen nicht überspringen können. Sie würden im Übrigen nur Misstrauen hervorrufen würden, wenn sie darauf beharrten, sie 139 Ähnlich auch A. Assmann: „Nach 1945 hatten die Deutschen die Lektion zu lernen, daß Nationalstaat und Diktatur kompatibel sind, was sie in kritische Distanz zu allen Formen des Nationalen gebracht hat. Nach 1989 mußten sie die neue Lektion lernen, daß sich Nationalstaat und Zivilgesellschaft nicht notwendig gegenseitig ausschließen oder beeinträchtigen.“ A. Asmann – U. Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit ..., S. 69. 75 könnten Europäer oder Weltbürger sein, ohne zugleich Deutsche zu sein.“140 Andernfalls könnte nämlich der langfristig verdrängte Nationalismus in neuen, bisher unbekannten Formen zurückkehren, auf die man – nicht nur – in Deutschland unvorbereitet wäre. Dann könnte sich die zögerliche und durchaus ambivalente Annäherung zum Westen rächen, zumal, so Winkler, der gegenüber dem Westen recht ressentimentlos zu sein scheint, die Deutschen immer noch vieles vom Westen lernen könnten. Die Nationzugehörigkeit, schreibt dieser Historiker, sei im Vergleich zu den westlichen Demokratien in Deutschland immer noch mehr „eine Frage der Abstammung und weniger eine des Willens [...] Auf dem Weg von der Abstammungs- zur Abstimmungsgemeinschaft, von der objektiv, zur subjektiv definierten Nation“,141 habe Deutschland noch eine recht lange Strecke zurückzulegen. Erst dann werde es tatsächlich im Westen angekommen sein. 140 H.A. Winkler, Postnationale Demokratie? ..., S. 175. 141 Ebenda, S. 176. 77 3 Niederlage und/oder Befreiung Am Ende des Zweiten Weltkriegs fanden sich die Deutschen in einer Lage, in der sie sich als besiegt wie auch als befreit fühlen konnten. De facto wurden sie von den Alliierten besiegt, aber zugleich befreit von der nazistischen Diktatur. Aus dem Rückblick betrachtet lässt sich wohl sagen, je kürzer die Schatten des Krieges wurden, desto mehr empfand man sich als Befreite.142 In beiden Rollen ist man freilich zwangsläufig in Widerspruch zu der eigenen Vergangenheit geraten. Freilich boten die Nachkriegsjahre viele Möglichkeiten, diesen Widerspruch zu relativieren und zu neutralisieren. Der erste Bundespräsident T. Heuss erinnerte am 12. September 1949 daran, dass weder Leute noch Nationen ihre Fähigkeit zu vergessen nicht missbrauchen, also ihre eigene Vergangenheit zu schnell und zu einfach vergessen sollten. Obwohl freilich die Erneuerung des deutschen ökonomischen Potentials angesagt sei, habe die Bundesrepublik, wolle sie sich in die westliche Welt integrieren, ihre nazistische Vergangenheit nicht nur zu verurteilen, sondern, ohne Hass und Rache, sich stets zu vergegenwärtigen, was die Deutschen an den Abgrund herangeführt hätte. Acht Tage später kam K. Adenauer in seiner Regierungserklärung zu einem anderen Fazit. Die Vergangenheit biete wohl manche Lehre, doch wichtiger sei die Gegenwart; Täter seien zu bestrafen, die von den Alliierten auferlegte Denazifizierung sei indes nicht immer nützlich, somit wäre zu überlegen, ob es nicht besser wäre, Vergangenes vergangen sein lassen. Anstatt mit der Vergangenheit abzurechnen, lässt Adenauer einen nüchternen und sachlichen Pragmatismus walten, der sogar eine gewisse Form der Amnestie in Aussicht stellt.143 Man sieht: Heuss verbindet Gegenwart und Zukunft fest mit der unheilvollen Vergangenheit, deren Verurteilung erst die Gegenwart möglich mache. Adenauer weigert sich, die Gegenwart derart zwingend von der Vergangenheit abhängig zu machen, da die Vergangenheit in seinen Augen von den Alliierten usurpiert worden sei. Man habe sich zwar, um 142 Vgl. Ch. Meier: Vierzig Jahre nach Auschwitz. Deutsche Geschichtserinnerung heute. München 1990, S. 64ff. Davon, dass man in den 1950er Jahren die Identität der Besiegten durch die Identität der Sieger ersetzt habe, spricht Meier auch andernorts: Vgl. Ch. Meier: Deutsche Einheit als Herausforderung. Welche Fundamente für welche Republik? München – Wien 1990, S. 65. 143 Ausführlich zu den politischen Nachkriegsreden siehe W. Benz: „Zum Umgang mit nationalsozialistischer Vergangenheit in der Bundesrepublik“. In J. Danyel (Hg.): Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten. Berlin 1995, S. 47ff. 78 leben zu können, über die Vergangenheit Klarheit zu verschaffen, doch wie man es mache, darin seien die Deutschen von niemandem zu gängeln. Adenauers Ziele sind nun Aufbau, Stabilität, Ordnung, Frieden und nicht zuletzt der Ruf der Nation. Während Heuss den Mut anspricht, ins eigene Gewissen zu blicken, hebt Adenauer eher die Nachsicht hervor, mit der man sich selbst, wie auch die anderen beurteilen mag. Während Heuss die Moral autonom auffasst, ist Adenauers Moral eine heteronome; Denazifizierung wird zu einem äußeren Akt der Unfreiheit, daher glaubt Adenauer deren Wirkung, ja Nützlichkeit für Deutschland gar in Frage stellen zu müssen. Anstatt sich dem „Was soll ich tun?“ zu stellen, schätzt man ab, wie ungerecht Deutschland behandelt wird. Adenauers Rezept führt letztendlich nicht zur Mündigkeit, eher mobilisiert sie Abwehrhaltung, Trotz und Schweigen. Der Gegensatz zwischen Heuss und Adenauer sei hier nicht so ausgestellt, um beide gegeneinander auf- und abzuwerten; ich habe nicht vor, den Moralisten Heuss, dem es fern lag, deutsche Schuld zu relativieren, gegenüber dem Pragmatiker Adenauer aufzuwerten, der die Defizite der Vergangenheit primär ökonomisch wiedergutzumachen suchte (vgl. seine Israelpolitik). Beide in diesem Sinne idealtypischen Haltungen hatten im Nachkriegsdeutschland ihre Begründung, beide waren indes nicht unproblematisch. Relevanz für die Reflexion der Deutschheit nach 1945 haben sie insofern, als sie die anfangs angedeutete Lage zwischen Niederlage und Befreiung ergänzen. Adenauers Haltung tendiert zu derjenigen der Niederlage. Wer die Niederlage als Befreiung verstand, fühlte sich eher von Heuss vertreten; später etwa von W. Brandt, der sich bekanntlich für den Kanzler des befreiten Deutschlands hielt.144 Zugleich ist evident, dass diese Linie sich zum Teil mit der ideologischen Trennungslinie zwischen den links-liberalen (Heuss) und den konservativen (Adenauer) Positionen abdeckt. Stichwortartig seien nun beide Positionen vorgestellt. Wer den 8. Mai 1945 als Niederlage empfindet, identifiziert sich mit der eigenen Nation, die nach der Niederlage primär zu konsolidieren und stabilisieren sei. Mit der Vergangenheit abzurechnen bringe nichts Gutes, allenfalls weitere Verunsicherung, die bis zum Hass gegenüber dem Deutschen führen könne; daher sei es zu überlegen, ob man die Vergangenheit lieber nicht auf sich beruhen lassen solle. Zu den Kriegsgewinnern stellt man sich ambivalent; der kommunistische Osten bleibt nach wie vor der erbittertste Feind, der Westen könnte unter Umständen zum Freund werden, wenn er seine Umerziehungsverfahren einstellen, oder zumindest mit mehr Sinn für Nuance betreiben würde. Innenpolitisch werden die Interessen der Mehrheit der Deutschen vertreten (Mitmacher), während antifaschisti- 144 W. Brandt: Erinnerungen. Berlin – Frankfurt am Main 1994, S. 186. 79 sche Minderheiten (Exilanten, Widerstandskämpfer, Deserteure, Kommunisten, Sozialdemokraten u.Ä.) eher exkludiert werden. Opfer des Nazismus einschließlich der Holocaustopfer bleiben vorläufig außen vor, gedacht wird ausschließlich derjenigen, die für die deutsche Nation gestorben sind. Wer den 8. Mai 1945 als Befreiung wahrnimmt, ist in der Regel eher bereit, zu bereuen. Zugehörigkeitsgefühle zur Nation können, so stark sie sind, unmenschliche Verbrechen nicht entschuldigen. Die wahren Verräter hätten nicht die Nation, vielmehr die Ideale der Menschheit verraten. Diesen Verrat hätten die Deutschen als Nation begangen, es würde ihnen also zustehen, sich, wenn nicht zur kollektiven Schuld, dann zumindest zur kollektiven Scham (Heuss) zu bekennen. Der individuelle Schuldanteil sei eine Sache des Gewissens von jedem Einzelnen, er sei jedoch unumstritten. Man stößt hier kaum auf nachsichtige, ja entlastende Schutznahme der Mehrheit, geschützt werden vielmehr die Widerstandswilligen (Kommunisten und Sozialdemokraten). Das Programm der denazifizierenden Umerziehung wird akzeptiert, wenn nicht gleich zum inneren Bestandteil des nachkriegsdeutschen moralischen Bekenntnisses gemacht. Beide Haltungen unvoreingenommen zu betrachten fällt recht schwer, zumal weitere Formulierungen herangezogen werden: auf der Seite der „Befreiten“ etwa die Aufforderungen, die Deutschen sollten sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Mehrheit nichts gegen die Unmenschlichkeiten unternommen, obwohl sie von ihnen gewusst habe (Heuss).145 Dagegen – auf der Seite der Besiegten – etwa wiederholte Hinweise darauf, dass die Vergangenheit nie restlos aufgearbeitet werden könne, und darum nicht aufgearbeitet werde müsse (Adenauer),146 oder ökonomisch motivierte Laufpässe von F.J. Strauß aus dem Jahr 1969: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nicht mehr hören zu wollen.“147 Dem ließe sich wiederum Heuss’ Erklärung aus dem Jahr 1960 entgegensetzen: „Was ich hier sage, das gefällt vielen Leuten nicht. Sie sagen: Schluß Schluß Schluß mit der Geschichte! Das ist uns nicht erlaubt – um unseretwillen nicht!“148 , oder – auf einer fundierten Ebene – die von A. Mitscherlich (und M. Mitscher- 145 Heuss am 30.11.1952 in Bergen-Belsen. Belege in: Ch. Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. München 2010, S. 66ff. 146 Adenauer hat dies während seines Staatsbesuchs in Israel im Mai 1966 gesagt. 147 Ch. Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns ..., S. 80. Vgl. auch Meiers ironisches Kommentar: „Offenbar sollte Arbeit immer noch frei machen.“ Ebenda. 148 Ch. Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns ..., S. 67– 68. 80 lich) festgestellte „Unfähigkeit zu trauern“,149 die ihre Wurzeln eben in der mangelnden Bereitschaft habe, an der Vergangenheit zu arbeiten. Das Problem dieser Opposition sehe ich darin, dass sie in manichäistischer Manier moralische Qualitäten nur einer, darin überlegenen Position zuschreibt. In politischer Begrifflichkeit ausgedrückt: Die liberale Linke weicht den Problemen nicht aus, erscheint also desto moralischer, je mehr die Rechte den Problemen den Rücken kehrt. Die moralisch vorbildhafte Position wird mit dem moralisch dubiosen Pragmatismus kontrastiert, der sich mit bequemen Lösungen begnügt. Anders, als dieses Schema suggeriert, geht die vorliegende Arbeit davon aus, in der politischen (Rechte versus Linke, Konservative versus Liberale), sowie wissenschaftlichen (hier insbesondere der historiographischen) Reflexion der Deutschheit nach 1945 lassen sich Wahrheit und Lüge, Gut und Böse nicht so einfach lokalisieren und zuschreiben, wie diejenigen annehmen, die sich in diesen Schemen heimisch gefühlt und von ihnen profitiert haben. Auch in diesem Punkt scheint sich das Entscheidende jenseits solcher schwarz-weißen Modelle abgespielt zu haben. Dies wird deutlich, sobald man die jeweils fragwürdigen Konsequenzen dieser Haltungen mit berücksichtigt. Die Identifikation mit der Rolle des Besiegten impliziert eine Loyalität nicht nur zur besiegten Nation, sondern auch zum Regime, was zumindest insofern problematisch ist, als sich darin ein harter, Änderungen eher abgeneigter Charakter manifestiert. Andererseits ist der Vorwurf nicht so einfach von der Hand zu weisen, dass sich in der Haltung der Befreiten wiederum ein eher unstabiler, den opportunistischen Schritten nicht abgeneigter Charakter manifestieren mag, der mit der Rolle des Befreiten automatisch die Opferrolle bean- sprucht.150 3.1 Geschichtspolitik als Bestandteil der Reflexionen der Deutschheit Das Beispiel der Geschichtspolitik der DDR zeigt, dass es naheliegt, mit der Rolle der Befreiten auch die Opferrolle zu kassieren. Östlich der Grenze definierte man sich als Erbe der antifaschistischen Tradition, das faschistische Erbe hatte man der Bundesrepublik zugeschrieben. Um das antifaschistische Erbe für sich in Anspruch nehmen zu können, erklärte man die DDR für einen sozialistischen Bauern- und Arbeiterstaat, die ja 149 A. Mitscherlich: „Die Unfähigkeit zu trauern – womit zusammenhängt: eine deutsche Art zu lieben“. In ders. Gesammelte Schriften IV. Sozialpsychologie 2. Hg. H. Haase. München 1983, S. 17–58. 150 Vgl. A. Assmann – U. Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 98f. 81 bekanntlich unter dem nazistischen Regime gelitten und folglich der deutschen Nation von dem kapitalistischen Faschismus abgeholfen hätten. Deren Nachfolgern in der DDR sei es somit erspart geblieben, sich mit der nazistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen, es sei denn, sie wollten die Bundesbürger daran mahnen, wie unzureichend sie sich ihrerseits mit dem Faschismus auseinandersetzen. Im Einklang mit der ostdeutschen Staatspropaganda hielt sich die DDR für befreit, während die BRD diese Befreiung nachzuholen hätte, was kaum machbar gewesen sei, habe die BRD doch beschlossen, Kapitalismus statt Sozialismus (oder Kommunismus) aufzubauen. Wer Faschismus für das letzte Stadium des Kapitalismus hielt, konnte nicht anders denken, wie sich in den 1960er Jahren auch in der BRD zeigen sollte.151 Blieb die DDR bis in die späten 1980er Jahre bei diesem alleserklärenden Modell des reflexionslosen aufoktroyierten Antifaschismus, spricht bezüglich der BRD die Fachliteratur von drei, bzw. vier unterschiedliche Phasen der sogenannten Geschichtskultur.152 Die Nachkriegsjahre werden entweder umfassender (1945–1957) als Epoche der Vergangenheitspolitik (A. Assmann) charakterisiert, oder aber wird dieser Abschnitt noch in zwei kürzere Phasen gegliedert, deren Schwelle das Jahr 1949 markiert (N. Frei, E. Wolfrum).153 In diesem Jahr sei die Phase der politischen Säuberung zu Ende gegangen, gefolgt habe die „Politik im Zeichen der Vergangenheit“, die bis etwa 1958 andauern würde. Danach sei die Epoche der Vergangenheitsbewältigung eingesetzt (Frei), die Assmann, um sie der Phase der Politik im Zeichen der Vergangenheit zu kontrastieren, als „Kritik der Vergangenheitsbewältigung“ bezeichnet. Am Ende der siebziger Jahre (Frei), bzw. gegen das Jahr 1985 (Assmann), beginne die nächste Phase, die sich durch ein höheres Maß an offizieller Kommemoration und deren Symbolik auszeichnet. Einzelne Erinnerungen, so Frei, hören auf, Dominanz anzustreben, und weichen der Erinnerungskultur. Assmann glaubt innerhalb dieser Phase zwei unterschiedliche Tendenzen ausmachen zu können, einerseits die Erinnerungspolitik im Zeichen der Vergangenheitsbewältigung, die in ihren Augen H. Kohl repräsentiert, und die Erinnerungspolitik im Zeichen der Vergangenheitsbewahrung, die sie mit R. von Weizsäcker verbindet. 151 Vgl. N. Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München 2009, S. 38–56. 152 In der Geschichtskultur bringt die Gesellschaft ihr historisches Bewusstsein zum Ausdruck. Siehe E. Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990. Darmstadt 1999, S. 21. 153 Die Klassifizierung der einzelnen Phasen erfolgt nach: A. Assmann – U. Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit ..., S. 143ff; N. Frei: 1945 und wir ..., S. 38–56; E. Wolfrum: Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Göttingen 2002, S. 104–138. 82 In der ersten Phase lag die deutsche Vergangenheit in den Händen der Alliierten; sie standen hinter den Nürnberger Prozessen, maßregelten das öffentliche Leben, brachten den Deutschen humanistische und demokratische Werte des Westens bei, konfrontierten sie mit dem Ausmaß der kollektiv begangenen Verbrechen. All dies wurde daher nicht selten als Druck von außen, ja als erzwungener Akt der Alliiertenwillkür empfunden. Heute kann man nicht mit Sicherheit sagen, ob dieser Eindruck dem realen Zustand entsprach,154 ob – um konkret zu sein – etwa die These der Kollektivschuld tatsächlich von den Alliierten formuliert, oder vielmehr von den Deutschen selber erfunden wurde, die dank ihr den Eindruck einer kollektiv zu Unrecht verurteilten Nation hervorrufen mochten.155 Sicher steht nur, dass all diese Maßnahmen neben erwünschten auch etliche unerwünschte Reaktionen nach sich zogen. Sie mobilisierten in den Deutschen nicht nur Gewissensregungen, sondern – und wohl noch mehr – Abwehrreaktionen: Widerstand, Trotz, Ressentiments gegenüber der Alliiertenpolitik. Als würden sie nicht genug all die Jahre geplagt und 1945 in einem absoluten Zusammenbruch aller Ideale beraubt, mussten die Deutschen jetzt noch von den Alliierten verurteilt, denazifiziert und umerzogen werden. Ihre untröstliche Lage führten die Deutschen meist darauf zurück, dass der Krieg verloren wurde. Daher die prekäre Implikation: Hätte man den Krieg gewonnen, dann hätte es zu keinen Prozessen und demütigenden Umerziehungsverfahren kommen müssen, ja man hätte auch keinen Grund gehabt, sich von Hitler zu distanzieren. Die ersten Nachkriegsjahre werden oft als Jahre der Derealisierung bezeichnet. Man distanzierte die real erlebten Schrecken des Krieges, indem man sie für sich behalten hat; einzelne Verantwortung und Schuldan- 154 Manche der Deutschen, so schreibt E. Wolfrum, waren einfach überrascht, als deutlich wurde, dass es am Hauptkriegsverbrecherprozess den Alliierten darum ging, „den Besiegten trotz allem einen fairen Prozess zu machen und in Deutschland rechtstaatliche Prinzipien wieder zur Geltung zu bringen [, so dass, A.U.] die ehemaligen NS-Größen vor Gericht ausführlich zu Wort kommen konnten, dass die Anklage sich die Mühe machte, ihnen die Vergehen, derer man sie beschuldigte, individuell nachzuweisen, und dass die Richter zu durchaus unterschiedlichen Urteilen gelangten, ja sogar zu drei Freisprüchen“. E. Wolfrum: „Bestrafen und erinnern – oder amnestieren und schweigen? Wandlungen im Bild des HolocaustTäters nach 1945“. Universitas 60, 2005, S. 802. 155 „Anfang der fünfziger Jahre, in der Konjunktur einer Vergangenheitspolitik [...] hatte sich die Kollektivschuldthese nämlich längst zu einem nützlichen Instrument entwickelt. Pointiert gesagt, bot sie aus bundesrepublikanischer Perspektive inzwischen so viele Vorteile, dass es schwer fällt, in den Adenauer-Deutschen nicht ihre Erfinder zu sehen. Denn mit dem Insistieren auf der Behauptung, von den Siegermächten in der Stunde der Niederlage kollektiv für schuldig erklärt worden zu sein, gebot man über einen trefflichen Vorwand, sich ungerecht behandelt zu fühlen – und die Frage nach der persönlichen Schuld beiseite zu schieben.“ N. Frei: 1945 und wir ..., S. 158–169. 83 teile wurden derealisiert und depersonalisiert, an andere Mächte (Schicksal, Verhängnis, Dämonisches), Gruppen oder Personen abgewälzt (Hitler und seine Clique, SS etc.). Diese Reaktionen wurden in der Forschung unterschiedlich bewertet. Die Autoren der Studie über die „Unfähigkeit zu trauern“ etwa erblicken darin eine freilich nachvollziehbare biologische Reaktion, bei der es in den folgenden Jahrzehnten (also den 1950er und 1960er Jahren) aber nicht hätte bleiben dürfen. Dass sich die Deutschen von Hitler derart schnell und schmerzlos losgesagt hätten, ohne für ihn getrauert zu haben, halten die Mitscherlichs zwar für einen biologischen Abwehr- und Selbsterhaltungsmechanismus, in dessen narzisstischer Artikulation sich jedoch psychische Unreife demonstriere, die (dies wollen sie als Schlüsselbotschaft verstanden wissen) bis in die 1960er Jahre nicht überwunden worden sei.156 Oder wurde dieser Prozess sozusagen jenseits von Gut und Böse situiert und als eine faktisch einzig reale (nicht utopische) Option interpretiert, wie die zusammengeschlagenen Deutschen in einigermaßen psychisch stabilisiertem Zustand die unmittelbare Nachkriegszeit überleben konnten, ohne absoluter Depression und Melancholie anheimzufallen. Die Frage der potenziellen Defizite dieser Haltung wurde dann entweder nicht gestellt (Lübbe), oder der nachkriegsdeutschen Literatur überantwortet, in der sich diese Defizite auf unterschiedliche Art manifestierten.157 Die distanzierende Derealisierung der Vergangenheit (um es mit den Mitscherlichs zu sagen) beinhaltet meist private und öffentliche Komponenten: man schwieg, man verdrängte, man erlag dem Selbstmitleid, Trotz oder Passivität. Auf der Ebene der öffentlichen Proklamationen hat man sich von der Vergangenheit entschieden distanziert, sie pauschal verurteilt und normativ abgelehnt. Das nazistische Regime wurde somit von der Mehrheit der deutschen Nation separiert. Der Wehrmachtssoldat wurde im Gegensatz zu den unmenschlichen SS-Einheiten idealisiert (diese Le- 156 „Unsere Überlegungen möchten zur Aufhellung des vielfältigen Motivationszusammenhangs zwischen Ereignissen unserer Nazivergangenheit und einem Mangel an sozialer Gestaltungskraft beitragen. Dementsprechend sieht unsere Hypothese die gegenwärtige politisch-gesellschaftliche Sterilität durch Verleugnung der Vergangenheit hervorgerufen. Die Abwehr kollektiv zu verantwortender Schuld – sei es die Schuld der Handlung oder die Schuld der Duldung – hat ihre Spuren im Charakter hinterlassen.“ A. Mitscherlich: „Die Unfähigkeit zu trauern – womit zusammenhängt: eine deutsche Art zu lieben“. In ders.: Gesammelte Schriften IV. Sozialpsychologie 2. Ed. H. Haase. München 1983, S. 27. 157 Eben die Nachkriegsliteratur machte deutlich, wodurch das Bestreben, zur Normalität überzugehen, erkauft wurde. Siehe H. Kiesel: „So ist unser Gedächtnis jetzt angefüllt mit Furchtbarem. Literaturgeschichtliche Anmerkung zum ,Historikerstreit‘ und zu der von Martin Broszat beklagten ,Beziehungslosigkeit zwischen Literatur und Geschichte bei der Verarbeitung der Nazizeit‘“. In K. Osterle – S. Schiele (Hg.): Historikerstreit und politische Bildung. Stuttgart 1989, S. 42–94. 84 gende konnte sich bis zu den Wehrmachtsausstellungen in den 1990er Jahren halten), die eindeutige Trennungslinie zwischen Schuldigen und Unschuldigen, Tätern und Opfern wurde relativiert, die Anklage der Kollektivschuld münzte man in den Ausweis der Kollektivunschuld um. Die Wirkung der „Viktimisierungsfalle“ (E. Wolfrum) steigerten nicht nur Tausende von deutschen Zivilisten, die der flächendecken Bombardierung der deutschen Städte zum Opfer gefallen sind, sondern auch heimkehrende Kriegsgefangene und Flüchtlinge (Heimatvertriebene) aus den okkupierten Ländern. Einen extrem fruchtbaren Boden haben diese Tendenzen nach 1949 vorgefunden, als beide deutschen Staaten entstanden sind. Die ursprünglich recht rigorose Denazifizierung (insbesondere in der amerikanischen Zone) verlor ihre Intensität, und in den Netzen der Justiz glitzerten kaum die „großen Fische“. Die Zahl der Strafen nahm ab, dafür nahmen die Unschuldserklärungen zu, konkrete Schuldbeweise sind allgemeinen Schuldtheorien gewichen, Solidarität mit den Tätern behielt die Oberhand, da man sich so gegenseitig exkulpieren konnte. „Schließlich verschmolzen Säuberung und Rehabilitation in einen und denselben Vorgang.“158 Das lag sowohl an unproduktiven Spruchkammern, zumal sich diese erstrangig auf weniger erhebliche Verstöße konzentrierten als auch an der ungenügenden, die positiven Unschuldsbeweise (Persilscheine) akzeptierenden Praxis, doch vor allem an der gesamten Verwandlung der Politik der Siegermächte um und nach 1949. In ihr schlug sich die immer stärkere Identifizierung der Bundesrepublik mit dem Westen nieder, was sie in der stark polarisierten Welt des Kalten Krieges zum wichtigen Partner und Verbündeten der westlichen Siegermächte gemacht hat. Die nun als einigermaßen erfolgreich befundene Umerziehung trat zurück zugunsten der Notwendigkeit, den Aufbau der bundesrepublikanischen Verwaltung, Wirtschaft und Justiz möglichst zu unterstützen.159 Die Praxis der Verbote und Strafen wurde durch Integrations- und Amnestiebestrebungen ersetzt. Die Amnestiegesetze aus den Jahren 1949 und 1954, die Phase der Säuberungen beendend, ermöglichten vielen nazistisch korrumpierten Persönlichkeiten ihre Reintegration in die Gesell- schaft.160 In diesem Sinne geht die Geburt der Bundesrepublik mit Amnestiebestrebungen einher; nach 1949 setzte ein Integrationsprozess ein, bei dem es nicht mehr so sehr darauf ankam, wer man vor 1945 gewesen 158 Ch. Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns ..., S. 53. 159 Vgl. T. Fischer – M.N. Lorenz (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2009, S. 18ff. 160 Das Gesetz aus dem Jahre 1949 hat fast 800 000 Deutsche freigesprochen. Siehe T. Fischer – M.N. Lorenz (Hgg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland ..., S. 92. 85 war und was man gemacht und gedacht hatte.161 Erst als einige Skandalfälle der sogenannten „ungebrochenen Kontinuitäten“ zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik publik wurden (H. Globke, T. Oberländer), trat zutage, welchen Preis die Bundesrepublik dafür zu bezahlen bereit war, dass sie sich innerlich stabilisiert und in die westlichen Strukturen integriert hatte. 3.2 Im Schatten des Kalten Krieges Aus dem Rückblick betrachtet wurden nach 1949 politisch Tendenzen umgesetzt, die bereits in den Jahren davor in den derealisierenden Entlastungsstrategien einzelner Deutscher greifbar gewesen waren. Vor die Wahl gestellt zwischen möglichst prosperierender Stabilität und dem schier unendlichen Abarbeiten der Schuld hat sich das Adenauer’sche Deutschland für das erstere entschieden, und zwar auch auf die Gefahr hin, den nächsten Generationen Schulden zu hinterlassen. In den 1950er Jahren gab es offensichtlich keinen Willen mehr, strafrechtliche Taten aus der Zeit des Nationalsozialismus aufzudecken. An Akzeptanz gewann eher das Zurückweisen der Schuld, solidarisch war man vielmehr mit den Tätern als mit den Opfern.162 In der Atmosphäre des Kalten Krieges durfte sogar mancher Deutsche dem Eindruck erlegen sein, an der prinzipiellen Richtigkeit seines Kampfes gegen den kommunistischen Erzfeind habe die bedingungslose Kapitulation Deutschlands nichts geändert. Diese extreme Interpretation des Nazismus als eines deutschen Beitrags zum antikommunistischen Europa war nur unter den Bedingungen der polarisierten Nachkriegswelt möglich, die manche Tatsachen grotesk verzerren oder umdrehen konnte. In unserer heutigen Perspektive, in der der Zweite Weltkrieg vom Holocaust überschattet wird, mutet sie geradezu unfassbar an.163 161 Vgl. Ch. Meier: Vierzig Jahre nach Auschwitz ..., S. 53. 162 Vgl. E. Wolfrum: „Bestrafen und erinnern – oder amnestieren und schweigen?“ ..., S. 798. 163 Dazu vgl. Adornos Kommentar aus dem Jahre 1959: „Unter jenen objektiven Konstellationen ist die vordringlichste vielleicht die Entwicklung der internationalen Politik. Sie scheint den Überfall, welchen der Hitler auf die Sowjetunion verübte, nachträglich zu rechtfertigen. Indem die westliche Welt als Einheit sich wesentlich durch die Abwehr der russischen Drohung bestimmt, sieht es so aus, als hätten die Sieger von 1945 das bewährte Bollwerk gegen den Bolschewismus nur aus Torheit zerstört, um es wenige Jahre danach wieder aufzubauen [...] Nur erbauliche Sonntagsredner könnten über die historische Fatalität hinweggleiten, dass in gewissem Sinne jene Konzeption, welche einst die Chamberlains und ihren Anhang dazu bewog, den Hitler als Büttel gegen den Osten zu tolerieren, den Untergang Hitlers überlebt hat.“ T.W. Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“. In 86 In den schwarz-weißen Schemen des Kalten Krieges, in denen man im Feinde seines eigenen Feindes zwingend einen Freund hatte, konnten sich die Nachkriegsdeutschen recht bequem vor den Schatten der Vergangenheit verstecken. Der Antikommunismus der 1950er Jahre bot ihnen zwei angenehme Optionen auf einmal. Sie konnten den Blick von der eigenen Vergangenheit bereits durch den Hinweis ablenken, dass sie jetzt als Antikommunisten auf der richtigen Seite stehen, und diesen Antikommunismus darüber hinaus als eine konsequente und daher moralisch unanfechtbare Fortsetzung des antikommunistischen Kampfes während des Krieges verstehen würden. In den Nachkriegsbedingungen stellte der Antikommunismus für viele Deutsche eine bequeme Option dar, die die eigene Haltung während des Krieges in ihren Augen insofern legitimieren konnte, als sie ihre – durch die heutige Konstellation nahegelegte – prinzipielle Richtigkeit bestätigte, ohne dass man sich die Frage nach der eigenen Verantwortung stellen müsste. Eine genauso stabilisierende Entlastungsfunktion übte der Antikommunismus aus, wenn es hieß, sich gegen die DDR abzugrenzen. Beide deutschen Staaten bestätigten sich die Richtigkeit des jeweils eingeschlagenen Kurses durch das gegenseitige Abgrenzen voneinander. Die ostdeutsche Propaganda hielt den ostdeutschen (kommunistischen) Antifaschismus für die einzig richtige Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, wie auch für die Begründung, warum sich die Ostdeutschen nicht mehr mit ihm auseinandersetzen müssten, da diese Aufgabe ausschließlich den Westdeutschen zustehe, die sich vom Nationalsozialismus nie prinzipiell distanziert hätten. Die Westdeutschen wiederum sahen in der DDRLegende eben den Beweis dafür, dass der Nationalsozialismus als totalitäre Diktatur in der DDR weiterlebt, und zwar in der Form der kommunistischen Totalität. Von der westdeutschen Seite her gesehen, würden, je intensiver die DDR Kommunismus aufbaute, ihre totalitären Züge desto mehr zeigen, dass sie aus der totalitären NS Vergangenheit nichts gelernt habe. Wie man sieht, beide deutschen Staaten wussten sich von der historischen Last loszusagen, indem sie diese jeweils dem anderen zugesprochen haben.164 Je mehr sie sich derart stabilisierten, desto stärker nahm deren Entfremdung innerhalb Deutschlands zu. Während die ostdeutsche Strategie Entlastung bot, indem sie Nazismus mit der in toto zurückzuweisenden Welt des Kapitalismus identifi- zierte,165 nutzte man in der Bundesrepublik insbesondere die antikommuders.: Gesammelte Schriften, Band 10, 2. Kulturkritik und Gesellschaft II. Frankfurt am Main 1977, S. 560–561. 164 Vgl. Ch. Meier: Das Verschwinden der Gegenwart. Über Geschichte und Politik. München – Wien 2001, S. 50ff. 165 In der DDR wurde der Faschismus nach der bekannten Dimitroff-These als eine offen terroristische Diktatur der reaktionärsten und am stärksten chauvinistischen 87 nistische Atmosphäre, indem man sich der in dieser Hinsicht willkommenen Totalitarismustheorie bediente, die ja bekanntlich Nazismus und Kommunismus als zwei die liberale Bürgergesellschaft unerbittlich bekämpfenden Varianten des Totalitarismus interpretiert. Die unumstrittene Anziehungskraft dieser gleichmäßig die linke (Kommunismus) wie auch rechte (Faschismus) totalitäre Gefahr befehdenden Theorie bestand in den 1950er Jahren darin, dass man sich dank ihr gleichzeitig vom Kommunismus und Nationalsozialismus, oder konkret von der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland distanzieren konnte. 3.3 Totalitarismus Laut H. Ottmann sind die den Wurzeln und Ursachen von Nazismus nachgehenden Theorien meist kaum fähig, ihren Gegenstand zu explizieren, ohne dabei bestimmten Schichten, Klassen, Parteien oder politischen Überzeugungen den Schwarzen Peter zuzuweisen. Diese Doppelstrategie führe dazu, dass der Schatten des Nationalsozialismus auch auf die Konkurrenten und Feinde des explizierenden Subjekts übergreife.166 Mittels gut gewählter Nazismustheorie könne man mit den Gegnern abrechnen und sich selbst entlasten. So hat man etwa bis 1990 in der Bundesrepublik den Tag der deutschen Einheit am 17.6. als Erinnerung an den blutig unterdrückten Aufstand im Jahre 1953 gefeiert, den man im Westen einerseits als Auflehnung gegen den kommunistischen Terror, andererseits – daraus schlussfolgernd – als Volksabstimmung für das einheitliche, ergo unkommunistische Deutschland verstanden hat. Den Wunsch der ostdeutschen Aufständischen nach Freiheit interpretierte man automatisch als den Wunsch, im einheitlichen Deutschland Kommunismus zu bekämpfen, was ja aus der Sicht der Totalitarismustheorie nur als zwingend erscheint, die Realität jedoch verklärt. Der Aufstand wird somit zum Beweis, dass die einzig richtige Arbeit an der Vergangenheit dem Kampf gegen beide totalitären Versuchungen gleiche. Als würden sich die tapferen Ostdeutschen, die ihr Trugbild endlich durchschaut haben, somit nicht nur des einheitlichen Deutschlands, sondern vor allem deren Westbrüder würdig erweisen können. Sobald sie jedoch in ihrem Kampf gegen Kommunismus nachlassen würden, und das zeigt die ideologische Grundlage dieser Geste, wäre es um das Interesse und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals aufgefasst. Ihr unumstrittener ideologischer Vorteil für einen den Kommunismus anstrebenden Staat bestand darin, jegliche Nähe zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus abzustreiten. Vgl. H. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert. Der Totalitarismus und seine Überwindung. Stuttgart – Weimar 2010, S. 328. 166 Ebenda, S. 327. 88 der Westdeutschen an ihren Ostbrüdern schnell geschehen.167 Dies gilt freilich nicht für die ganze Geschichte der Bundesrepublik, etwa in den 1960er Jahren waren die Ostdeutschen, trotz manchen Vorbehalten, für damals bestimmende Teile der bundesrepublikanischen Intelligenz desto interessanter, je hartnäckiger sie nicht Kommunismus, sondern Kapitalismus bekämpft haben. Die Totalitarismustheorie, deren Ursprung in den 1920er Jahren zu datieren ist,168 wurde in Deutschland in einigen Wellen heimisch. Die erste in den 1950er Jahren stand im Zeichen der Entlastungsstrategien dieser Jahre, die darauf aus waren, im Kampf gegen die Systemgegner mit den richtigen Verbündeten auf seiner Seite169 die Schatten der Vergangenheit zu tilgen. In den totalitaristischen Explikationen wurde die Unumgänglichkeit dieser Perspektive nahegelegt, wollte man das Spezifische der gemeinsamen Züge des Nationalsozialismus und Kommunismus ermit- teln.170 Zugleich wurde es dadurch für viele Deutsche in einer sozusagen alltäglichen Applikation möglich, sich von der unangenehmen Vergangenheit abzusetzen. Aus der methodologisch verdienstvollen Spannung zwischen totalitärer Verwandtschaft und zugleich ideologischer Feindschaft zwischen Nazismus und Kommunismus konnte somit eine prekäre Angelegenheit werden, sobald man diese Komponenten, anstatt sie im Gleichgewicht zu belassen, gegeneinander ausspielte. Dann hat man die jeweils eine Form durch die andere auf- oder abgewertet, ja man hat sie gegeneinander aufgerechnet, je nach Interesse. Diese Konsequenz wurde 167 Vgl. E. Wolfrum: „Die Suche nach dem ,Ende der Nachkriegszeit‘ Krieg und NSDiktatur in öffentlichen Geschichtsbildern der ,alten‘ Bundesrepublik Deutschland“. In Ch. Cornelißen – L. Klinkhammer – W. Schwentker (Hg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. Frankfurt am Main 2003, S. 187ff. 168 Siehe O. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens ..., S. 339. 169 Vgl. G. Wiegel: Die Zukunft der Vergangenheit. Konservativer Geschichtsdiskurs und kulturelle Hegemonie – vom Historikerstreit zur Walser – Bubis – Debatte. Marburg 2001, S. 37. 170 Meist geht man davon aus, dass die Totalitarismustheorie das Gemeinsame der beiden Totalitäten zu erfassen imstande ist: „die absolute Entgrenzung der Gewalt und ihre ebenso absolute Rechtfertigung; die Existenz politischer Feinde, die ohne Schuld, einzig aufgrund ihrer Rassen- oder Klassenzugehörigkeit, wie Schädlinge vernichtet werden dürfen; die Bereitschaft vieler Menschen, alles, und sei es das Entsetzlichste, im Dienst der neuen Zeit zu tun; die Ablösung des Rechtsbewußtseins durch die Initiation in die Zwecke der Geschichte – und in alldem der unbeirrbare Glaube an die revolutionäre Notwendigkeit, welcher der entfesselten Gewalt ihr erschreckend gutes Gewissen gibt.“ H. Maier: „Konzepte des Diktaturvergleichs: Totalitarismus und politische Religionen“. In ders. (Hg.): Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs. Referate und Diskussionsbeiträge der internationalen Arbeitstagung des Instituts für Philosophie der Universität München vom 26.–29. September 1994. Paderborn – München – Wien – Zürich 1996, S. 250. 89 indes erst viel später deutlich, obwohl sie spätestens seit dem Buch Der Faschismus in seiner Epoche (1963) von E. Nolte171 bekannt war. In den 1950er Jahren war die Totalitarismustheorie insbesondere als bequeme Entlastungspraxis gefragt, sofern man dank ihr die nazistische Unschuldserklärung bereits aufgrund des nun ausgestellten Antikommunismus bescheinigt bekommen zu müssen glaubte. Die Folge lag auf der Hand: „Im Zeichen des Antitotalitarismus bekämpfte man den Kommunismus umso entschiedener, als man sich damit zugleich vom eigenen totalitären Regime absetzen konnte [...].“172 Die unangenehme Frage, was man unter Hitler tatsächlich gemacht und wie man sich zu ihm gestellt hat, konnte durch die Totalitarismustheorie eliminiert werden; sie legte eine bequeme Version der Vergangenheit nahe, in der sich jeder Deutsche als Kämpfer gegen die rote Gefahr und zugleich als Opfer der nazistischen Totalität stilisieren konnte, der man kurzfristig unterlegen haben will. In der nachkriegsdeutschen Ideengeschichte stößt man nicht selten auf ausgeklügelte Kombinationen der Gebote und Verbote. Hinter ihnen stand nicht selten die Notwendigkeit, von eben den Fragen abzulenken, die die ideologische Fragwürdigkeit dieser Kombinationen offenbaren würden. Und viele von ihnen haben mit dem prekären, durch die Totalitarismustheorie nahegelegten Aufrechnen zu tun, wobei kaum zu übersehen ist, dass auch die Gegner dieser Theorie auf diese Figur nicht verzichten wollen. Deshalb findet man in der nachkriegsdeutschen Ideengeschichte Formulierungen wie „wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (Horkheimer),173 oder „wer vom Nazismus nicht sprechen will, muss vom Bolschewismus schweigen“174 (E. Nolte), oder noch in paraphrasierter Form „wer vom Nazismus sprechen will, sollte nicht vom Kommunismus sprechen“ (Habermas). Dieses Spiel aufnehmend ließe sich die antitotalitäre Atmosphäre der 50er Jahre auf den Satz bringen: „Wer vom Kommunismus spricht, muss nicht mehr vom Nazismus sprechen.“ In den 1950er Jahren hatte man in der Bundesrepublik vom Kommunismus (im antikommunistischen Sinne) gesprochen, um sich des eigenen antitotalitären Charakters zu vergewissern, der eine – wie auch immer fragwürdige – Distanzierung von der nazistischen Vergangenheit implizierte. 171 E. Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. München 1963. 172 Ch. Meier: Das Verschwinden der Gegenwart ..., S. 42. 173 Max Horkheimer: „Die Juden und Europa“. In ders.: Gesammelte Schriften, Band 4, Schriften 1939–1941. (Hg.): A. Schmidt. Frankfurt am Main 1988, S. 308. Oder auf derselben Seite: „Wer den Antisemitismus erklären will, muß den Nationalsozialismus meinen.“ 174 Nolte, E. Rückblick und Rechenschaft nach vier Jahrzehnten. Vom „Faschismus in seiner Epoche“ bis zur „Historischen Existenz“ [zit. 6.6.2017] [http://www.ernst nolte.de/rueckblick.html]: 90 In den 1960er Jahren trat die Totalitarismustheorie zurück, weil sie nicht mehr der neuen Ostpolitik der Bundesrepublik gerecht wurde. Statt der antikommunistisch polarisierten Konfrontation bemühte man sich nun um verständnisvolle Partizipation; die früher übliche negativ-konfrontative Einstellung zur DDR, aber auch zu anderen Ostblockländern, insbesondere zu Polen, wurde abgelegt. Infolgedessen zog sich für mindestens zwanzig Jahre die Totalitarismustheorie zurück. Einen neuen Versuch, sie wieder attraktiv zu machen, werden erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einige konservative Intellektuelle im Zusammenhang des Historikerstreits unternehmen. 3.4 1960er Jahre. Ein Wendepunkt? Wie nahm sich die Achse „Besiegte-Befreite“ in den 1960er Jahren aus, als man eine grundsätzliche Revision der bis dahin gültigen Vergangenheitsbewältigungspraxis einzufordern begann? Während in den 1950er Jahren mit Beschuldigungen gespart und eine kollektive Schuldzuweisung zurückgewiesen wurde, nahm in den 1960er Jahren der Kreis der Beschuldigten ständig zu, bis sich auf der Anklagebank die Bundesrepublik als solche gefunden hat. Zeigte man im vorigen Jahrzehnt keinen besonderen Willen, die Vergangenheit zu ermitteln, und übte man sich, falls man zu viel wusste, in diskretem Schweigen, so löste das sechste Jahrzehnt diese Diskretheit in einer Atmosphäre des Verdachts auf; jeder deutsche Soldat wurde der begangenen Verbrechen gegen die Menschheit verdächtigt, jeder Bundesbürger wurde dem Vorwurf ausgesetzt, dass ihm solche Verbrechen wohl noch heute denkbar vorkommen mögen. Diese recht schablonenhafte Schilderung ruft den Eindruck hervor, die 1960er Jahre würden einen Wendepunkt markieren. Für die Vorstellung der durchaus revolutionären Verwandlung lassen sich sehr wohl gute Gründe finden. Der damals heranwachsenden Generation mag mit der Bundesrepublik und ihren Manieren der Geduldsfaden gerissen sein, man war nun nicht mehr bereit, die bis dahin sanktionierte Heuchelei zu akzeptieren. Immer bedrohlicher erschien der Widerspruch zwischen der erfolgreichen und selbstzufriedenen Gesellschaft einerseits und deren unumstrittenen Schuldverstrickung andererseits. Die Jugendlichen nahmen Anstoß an verlogenen Verlautbarungen, die Deutschen hätten sich mit ihrer Vergangenheit bereits genügend auseinandergesetzt und nun solle man also damit aufhören, wobei klar zutage trat, dass eine gründliche Auseinandersetzung noch gar nicht begonnen hatte. So waren Stimmen zu vernehmen, die von offensichtlichen Defiziten der üblichen (und nur vermeintlich erfolgreichen) Aufarbeitung der Vergangenheit gesprochen 91 haben.175 Durch die im alten Stil vorgetragenen Erwiderungen der Politiker, dass es vielmehr darauf ankomme, die Nachkriegszeit endlich zu beenden,176 fühlten sich die kritischen Intellektuellen in ihrer Überzeugung von der Unumgänglichkeit einer radikalen Änderung nur noch bestätigt. Sie wollten nicht über den Widerspruch hinwegsehen, der aus den politischen Versicherungen, die Rechnung mit der Vergangenheit sei beglichen, wie auch der deutlich zu spürenden Überzeugung herauszuhören war, dass die nun immer häufigeren Prozesse mit den Kriegsverbrechern (in Ulm bereits 1958, in Frankfurt 1964–1965), wie auch weitere diesbezüglichen Initiativen177 trotz ihrer Nützlichkeit der deutschen Nation vielmehr auch schaden, weil sie den Ruf der Bundesrepublik ruinieren würden. Als bedrohlich wurde auch das von der ganzen Nation gepflegte Distanzieren vom Nationalsozialismus empfunden, infolge dessen die Schrecken der Vergangenheit ins kollektive Gedächtnis kaum integriert wurden: man habe sie beschwiegen, mit keinem konkreten Raum verbunden, sie seien unlokalisierbar, a-topisch178 gewesen. All dies schien sich jetzt zu ändern: es galt, eigene Schuldverstrickung nicht zurückzuweisen, sondern zu thematisieren. Es hieß auch, die Spannung gegenüber dem Osten abzubauen, so sehr dies einigen konservativen Staatsrepräsentanten auch missfallen ist. 175 Einer grundlegenden Revision unterzog die Praxis der Aufarbeitung der Vergangenheit 1959 T.W. Adorno: „Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, dass man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Strich ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen. Der Gestus, es solle alles vergessen und vergeben sein, der demjenigen anstünde, dem Unrecht widerfuhr, wird von den Parteigängern derer praktiziert, die es begingen [...] Im Vergessen des kaum Vergangenen klingt die Wut mit, dass man, was alle wissen, sich selbst ausreden muss, ehe man es den anderen ausreden kann.“ T.W. Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“. In ders.: Gesammelte Schriften, Band 10, 2. Kulturkritik und Gesellschaft II. Frankfurt am Main 1977, S. 555 und 558. 176 So habe sich 1965 mehrmals der Bundeskanzler L. Erhard geäußert. Mehr dazu siehe E. Wolfrum: „Die Suche nach dem ,Ende der Nachkriegszeit‘ Krieg und NSDiktatur in öffentlichen Geschichtsbildern der ,alten‘ Bundesrepublik Deutschland“ ..., insb. S. 184–186. 177 Der Ulmer „Einsatzgruppenprozess“ (1958), die Gründung der Ludwigsburger Zentralen Stelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen (1958), Eichmann-Prozess (1961), Frankfurter Prozesse, die Diskussion über die Verjährung, die in einigen Wellen bis zum Jahre 1979 fortdauerte. Mehr zu den Auswirkungen auf die Literatur siehe H. Kiesel: „,So ist unser Gedächtnis jetzt angefüllt mit Furchtbarem‘. Literaturgeschichtliche Anmerkung zum ,Historikerstreit‘ und zu der von Martin Broszat beklagten ,Beziehungslosigkeit zwischen Literatur und Geschichte bei der Verarbeitung der Nazizeit‘“. In K. Osterle – S. Schiele (Hg.): Historikerstreit und politische Bildung. Stuttgart 1989, insb. S: 58–63. 178 Vgl. E. Wolfrum: Geschichte als Waffe ..., S. 111. 92 Der gerechte Zorn der kritischen Intellektuellen der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mag berechtigt gewesen sein, man sollte jedoch zumindest eine Tatsache bedenken. Die kritische Reflexion der deutschen Vergangenheit, die unzählige Male die Reihen der Schuldiggesprochenen und Sich-schuldig-Fühlenden vermehrte, wurde am meisten von denjenigen in Gang gehalten, die, generationell gesagt, „selbst weder am Aufbau des NS-Regimes noch am Zweiten Weltkrieg aktiv beteiligt gewesen wa- ren“.179 Anders gesagt, diese kritische Reflexion wäre ohne den zeitlichen Abstand undenkbar gewesen, was ja zum Teil den erhobenen Vorwürfen ihre Spitze abbricht. Und sie war gleichzeitig durch den Abstand von dem Gegenstand der kritischen Reflexion bedingt. Diese Generation hat sich am Nazismus nur hypothetisch beteiligt, de facto konnte sie an ihm keine Verantwortung getragen haben. Und gerade diese Konstellation prädisponierte sie dazu, mit Schuldzuweisungen zu jonglieren, ohne sich selbst einzubeziehen. Kritische Reflexion der deutschen Vergangenheit mag sich in den 1960ern und insbesondere in deren zweiten Hälfte auch deswegen dermaßen breit durchgesetzt haben, dass es sich in vielen Fällen nicht um Selbstreflexion, sondern um Reflexion dessen handelte, was die anderen gemacht hatten; es ging vielmehr um die Anklage tua culpa, weniger um die Selbstanklage mea culpa.180 Es ist sogar nicht auszuschließen, dass diese Reflexion umso radikaler mit seinem Objekt abzurechnen pflegte, je weniger deren Subjekte dabei mit sich selbst zu tun hatten. Der mehrmals konstatierte Sprung in die Rolle der Opfer, die den Deutschen in dieser Hinsicht nicht zukam, die aber realisiert wurde, scheint damit einhergegangen zu sein; konnte auf der Anklagebank potentiell jeder deutsche Bürger landen, der 1933–1945 in Deutschland gelebt hat, dann kann sich der Ankläger mit der 1945 besiegten Nation nicht mehr identifiziert haben. Um diese Anklage erheben zu können, muss er sich von dieser Nation bereits distanziert haben. Das kompromisslose Abrechnen mit der unmenschlichen Gestalt der Vergangenheit war in der Regel eine Domäne derjenigen, die diese Nation, und somit auch die Vergangenheit dieser Nation nicht für ihre eigene gehalten haben. Diese Vergangenheit war nicht mehr ihre Vergangenheit. Mit Ch. Meier gesagt: „Wir wandten uns gründlich ab von dem, was die Deutschen zwischen 1933 und 1945 gewesen waren – mit der Folge, dass nicht wir es gewesen waren.“181 Der Wille, dunkle Seiten der Vergangenheit ans Licht zu fördern, entsprang nicht nur dem Wahrheitstrieb oder 179 E. Wolfrum: „Die Suche nach dem ,Ende der Nachkriegszeit‘ Krieg und NSDiktatur in öffentlichen Geschichtsbildern der ,alten‘ Bundesrepublik Deutschland“ ..., S. 193. 180 Siehe H. Kiesel: „,So ist unser Gedächtnis jetzt angefüllt mit Furchtbarem‘“ ..., S. 58. 181 Ch. Meier: Vierzig Jahre nach Auschwitz ..., S. 62. 93 dem wachgerüttelten historischen Bewusstsein, sondern oft auch der Sicherheit, die Anklage werde nicht bis zu dem reichen, der sie erhoben habe. Die Offenheit, das heikle und sehr wohl beschwiegene Thema der kritischen Öffentlichkeit zu unterbreiten, wurde durch die Distanz erkauft, in der die Generation der 1960er Jahre wohl unbewusst manifestierte, diese deutsche Vergangenheit sei nicht die ihrige. Als wäre die Bereitschaft anzuklagen mitunter vom Wunsch abgeleitet, sich nicht selbst ananzuklagen, ja nicht selbst angeklagt zu werden.182 Das legt ein paradoxes Fazit nahe: Die lauthals und mit zündendem Gerechtigkeitswillen entfachte Revolution der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die mit allen Halbheiten aufräumen und die Bundesrepublik auf wahren und transparenten moralisch-geistigen Fundamenten aufbauen wollte, knüpfte zum Teil selbst an Tendenzen an, die sie für obsolet erklärt hat. Haben ihre Protagonisten die entlastenden Mechanismen angeprangert, mit deren Hilfe sich die Nachkriegsdeutschen vor der Vergangenheit versteckt hatten, dann stellt ihre eigene Anklage der Vergangenheit (und letztendlich auch der bundesrepublikanischen Gegenwart, die sich bis jetzt mit ihrer Vergangenheit nicht auseinander gesetzt haben soll) eine Flucht vor alldem dar, was sie mit gerade dieser deutschen Vergangenheit und mit der in dieser Vergangenheit kompromittierten Deutschheit verbinden könnte.183 Scharfsinnigen Beobachtern ist in diesem Zusammenhang nicht entgangen, dass die an sich wohlverdiente Ar- 182 Also im Sinne der wohlbekannten Formulierung von O. Marquard, dernach man dem Tribunal am besten dadurch entkomme, indem man es selber (für die anderen) werde. Man werde zum Gewissen (der anderen), um kein Gewissen haben zu müssen. Vgl. etwa O. Marquard: „Skepsis als Philosophie der Endlichkeit“. In ders.: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien. Stuttgart 2004, S. 15. 183 Siehe die diesbezüglich sehr lehrreiche Podiumsdiskussion am Ende der Konferenz „Deutschlands Weg in die Diktatur“ (1983), zu der es nach Lübbes im ersten Kapitel analysierten Vortrag gekommen ist. Aus den Beiträgen lässt sich eine ähnliche Linie rekonstruieren: etwa H. Maier bemerkt, dass bereits die Praxis der Spruchkammern die Rechenschaft von anderen abgefordert habe. T. Nipperdey stellt bezüglich 1968 fest: „Aus dieser deutschen Selbstkritik hat sich dann [...] etwas Neues entwickelt, nämlich dass aus dieser Selbstkritik eine Waffe geworden ist, in der zwar nach Schuld gefragt wird, aber um Gottes Willen nicht nach der eigenen Schuld, sondern nach der Schuld der anderen, und auch nicht nach der Schuld der eigenen Gruppe, sondern nach der der anderen Gruppen. Ich kann darum Herrn Fetscher nicht verstehen, wenn er davon spricht, wie die junge Generation sich mit der ,eigenen‘ Vergangenheit auseinandersetze. Mit dieser Vergangenheit der Väter identifiziert sich niemand wirklich. Das ist gerade nicht die eigene Vergangenheit. Oder anders gesagt: Die Kritik an der Unfähigkeit zu trauern hat ja bekanntlich nicht mehr Fähigkeit zu trauern erzeugt, was eigentlich das Reale gewesen wäre, sondern was sie erzeugt hat, ist die Fähigkeit zur Anklage.“ Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude zu Berlin. Referate und Diskussionen. Ein Protokoll. (Hg.): M. Broszat u. A. Berlin 1983, S. 358–370. 94 beit an der deutschen Vergangenheit manchmal von unzureichend reflektierten Voraussetzungen und Motivationen bedingt ist. Es lohnt deshalb zu fragen, inwieweit diese Motivationen von Intellektuellen reflektiert wurden, die den Möglichkeiten der Nachkriegsdeutschheit seit den 1960er Jahren nachgegangen sind. 3.5 Deutsche Nachkriegsgeschichtswissenschaft Die Achse „Besiegte“ versus „Befreite“ behält ihre Aussagekraft, auch wenn man auf sie die geschichtswissenschaftlichen Reflexionsformen der Deutschheit nach 1945 projiziert. Bereits für die Ausgangsphase unmittelbar nach dem Krieg ist eine starke Ambivalenz charakteristisch. Einerseits glaubte man sich im Nachkriegsdeutschland aus der Geschichte geradezu heraus katapultiert: als würde es in der Geschichte für dieses Land keinen Platz mehr geben, und als wäre Deutschland von nun an geschichts- wie auch zukunftslos (finis Germaniae).184 Andererseits scheint dieser niederschmetternde Eindruck dadurch relativiert zu sein, dass im Jahre 1945 aus politischen Gründen lediglich 24 deutsche Geschichtsprofessoren ihre Lehrstühle verlassen mussten, ja dass von den insgesamt 130 vor und während des Krieges emigrierten Historikern bis 1965 nur 20 zurückgekehrt sind.185 Dementsprechend uneinig war man sich auch hinsichtlich der Frage, welche Rolle die Geschichtswissenschaft nach dem Kriege spielen sollte. So oft bei den Diskussionen das Wort Revision verwendet wurde, so unterschiedlich waren die Vorstellungen, was alles und in wie weit zu revidieren wäre. Einerseits gab es die bereits im vorigen Kapitel angedeutete Tendenz, deutsche Geschichte als eine revisionsbedürftige Reihenfolge der falschen und zwangsläufig in den Nationalsozialismus mündenden Ereigniskette hinzustellen. Außer den oben vorgestellten Versionen von Meinecke und Abusch begegnete man dieser Perspektive auch bei Emigranten und einigen ausländischen Historikern (A.J.P. Taylor). Forderte die marxistische Interpretation eine Revision der gesamten deutschen Geschichte, weil die fortschrittlichen Kräfte jederzeit von den reaktionären um den Sieg gebracht worden sein, wurde die Revisionsnotwendigkeit in den nicht marxistischen Theorien weniger absolut ausgelegt: Bei allem katastrophalen Potenzial fand man in der deutschen Geschichte manches, was auf Hoffnung schließen ließe. Somit erschöpfte sich die Geschichtswissenschaft etwa in Meineckes Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinne- 184 Siehe W. Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1945, S. 18. 185 Vgl. K. Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945. Göttingen 2005, S. 23. 95 rungen (1946)186 keineswegs darin, mit allem abzurechnen, was man, so ungefähr auch immer, mit Nazismus in einen Topf werfen könnte, sondern sie suchte nach einem grundlegenden Zusammenhang zwischen der nationalen Selbstkritik und deren Erziehungspotential. Die Revision dürfe nicht pauschal über alle deutschen Traditionen herfallen, sie müsse von der unumstrittenen deutschen humanistischen Kultur- und Bildungstradition Ausgang nehmen, die in Meineckes Augen auch die Barbarei des nazistischen Deutschseins überstanden hätten. Zu revidieren wäre allenfalls der deutsche Weg vom „Weltbürgertum“ zum „Nationalstaat“ in der Form, wie sie in Deutschland zum politischen Instrument187 des gegenaufklärerischen und militanten Nationalismus wurde, keineswegs aber die Ursprünge bei Herder, Lessing, Schiller und Goethe. Die Frage, inwieweit das Modell eines ästhetischen, im Sinne der Goethe’schen pädagogischen Provinzen agierenden Kosmopolitismus in der Nachkriegsordnung sinnvoll realisierbar wäre,188 ja ob man hier die Kultur nicht zu einfach von der Barbarei trennt und ihr deshalb zu viel aufbürdet,189 ließ Meinecke unbe- antwortet. Das für das erste Nachkriegsjahrzehnt dominierende geschichtswissenschaftliche Modell repräsentierte der Freiburger Historiker Gerhard Ritter, der sein Fach vor dem in seinen Augen schädlichen Einfluss der zeitbedingten Affekte und Leidenschaften zu schützen suchte. Sich beide Beispiele des Rückfalls der Geschichtswissenschaft in Unsachlichkeit vor Augen haltend (unter Hitler zum prodeutschen Nationalismus, nach Hitler zum etwa marxistisch fundierten negativen und gegen alles Deutsche gerichteten Antinationalismus) forderte er zur möglichst emotionslosen und sachlich nüchternen Geschichtswissenschaft auf. Darin folgte ihm die Zunftmehrheit in der Bundesrepublik praktisch vom Kriegsen- de190 bis zum Anfang der 1960er Jahre, als diese Strategie von der jungen Generation der Historiker um F. Fischer angegriffen wurde. Bis dahin hieß es, die Probleme der deutschen Geschichte aus dem Rahmen der europäischen Geschichte heraus zu verstehen, ohne dabei jeglichen antideutsch motivierten Kurzschlüssen, eilfertigen Summarisierungen, be- 186 F. Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. Wiesbaden 1946. 187 F. Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. München – Berlin 1911 (1908). 188 F. Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. Wiesbaden 1946, S. 160ff. 189 Zum Motiv der „zwei Seelen“, die Meinecke gegeneinanderstellt, siehe K. Große Kracht: Die zankende Zunft ..., S. 25–26. 190 1946 erschien Ritters Geschichte als Bildungsmacht. Ein Beitrag zur historisch-politischen Neubesinnung, 1948 folgten grundlegende Überlegungen zu nachkriegsdeutschen Geschichtswissenschaft Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens. 96 quemen Pauschalisieren oder beflissenen Kollektivisierungen zu erlie- gen.191 Ritter akzeptiert keine zwangsläufigen Ketten in der deutschen Geschichte. Weder von den verlorenen Bauernkriegen (Marxismus), noch von Luther, Nietzsche (T. Mann), oder Bismarck (Meinecke) her führe ein direkter Weg zu Hitler.192 Hitler habe so gut wie überall auftauchen können, so wie letztendlich Faschismus in Italien oder Bolschewismus in Russland erschienen seien. Sein Erfolg in Deutschland sei weniger einer geschichtlichen Gesetzlichkeit zuzuschreiben, vielmehr einem „Betriebsunfall“, der jedoch nicht von ungefähr gekommen sei. Die einzige Kausalität, die Ritter zulässt, ist der Nexus zwischen ökonomisch und national gedemütigten und äußerst verunsicherten Massen und deren totalitären Rückfälligkeit. Der Nationalsozialismus erscheint bei Ritter in einer vom Abendland her ausgehenden Variation der Totalitarismustheorie als eine breiter angelegte, unheilstiftende gesamteuropäische Tendenz, die dort, wo sie in totalitären Diktaturen Gestalt angenommen, wertvolle Werte der abendländischen Zivilisation zerstört habe.193 Bei aller angestrebten Unvoreingenommenheit scheint Ritters Erklärung zu stark auf die in seinen Augen unerwünschte Vermassung angewiesen zu sein, die seinem antitotalitären Ansatz eine fragwürdige Basis zur Verfügung stellt, zumal auch seine Rezeptur für die Nachkriegszeit an den Massen ansetzt; die Geschichtswissenschaft habe sich danach zu richten, dass man die deprimierten Massen mit national masochistischen Programmen einmal mehr destabilisieren würde, womit man letztendlich nur die Gefahr des massenhaften Rückfalls in die Totalität steigern würde. Die Partizipation an national destruierender Wirkung würde das nationale 191 „Viel dringlicher für die politische Erziehung unseres Volkes scheint mir jetzt die Einordnung des Geschehens in den Gesamtzusammenhang deutscher und europäisch-universaler Geschichte [...] Hüten wir uns also, unsere Selbstkritik vorschnell und einseitig vom Blickpunkt der allerjüngsten Erfahrungen her durchzuführen! [...] Vorschnelle Geschichtskonstruktionen, summarische Urteile, vage Kollektivbegriffe deutscher Vergangenheit nützen uns dabei gar nichts zu unserer Orientierung, sondern verleiten uns zu neuen Irrwegen.“ G. Ritter: Geschichte als Bildungsmacht. Ein Beitrag zur historisch-politischen Neubesinnung. Stuttgart 1946, S. 24, 26 und 52. 192 Für Ritter sei Bismarck kein Vorgänger Hitlers, vielmehr dessen Gegensatz gewesen. Vgl. K. Große Kracht: Die zankende Zunft ..., S. 27. 193 Wie A. Schildt anmerkt, konstruierte Ritter „eine elastische Apologie, die das altpreußische Wesen geradezu als Antipoden des neudeutschen Nationalismus“ darstelle. Ritters Hervorhebung des modernen Menschenmassentums hält Schildt für wenig originell, da somit „Hitlers Erfolg als keine Besonderheit der deutschen Entwicklung, sondern als Kennzeichen im Zeitalter des allgemeinen Kulturzerfalls, der Glaubenslosigkeit und der moralischen Nihilismus beschrieben werden konnte“. A. Schildt: Annäherungen an die Westdeutschen. Sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Göttingen 2011, S. 100. 97 Selbstbewusstsein dezimieren, wodurch die Geschichtswissenschaft ihre zentrale Aufgabe verfehlen würde. Daran ist deutlich zu sehen: den Kampf gegen die aufgeheiterten Affekte wollten Ritter und seine Anhänger primär als eine verdienstvolle Rückkehr zu den bewährten Traditionen des deutschen Historismus verstanden wissen, der historische Fakten aus ihrem Kontext zu verstehen sucht, anstatt sie aus einer diesem Kontext überlegenen Position zu kritisieren. Man kommt jedoch um die Frage nicht herum, ob es Ritter gelungen ist, diesen für das 19. Jahrhundert charakteristischen Zugang tatsächlich in der so lauthals proklamierten Zugeständnislosigkeit an die erhitzte Zeitatmosphäre zu erhalten. Seine Rückkehr zum Historismus dürfte nicht so unschuldig gewesen sein, wie sie sich in der Abwehr vor dem Einbruch der unkontrollierten Affekte in die Geschichtswissenschaft gab. Sie war zugleich auch Mittel, das nicht nur wissenschaftliche, sondern auch nationale Zwecke heiligte. Schreibt man der Geschichtswissenschaft voran, sie müsse der Nation ein „Segen, keine Verdammnis“194 sein, dann wird es nicht so einfach, das im Sinne des Historismus erfasste, „wie es tatsächlich war“ von der zum Zwecke der nationalen Rehabilitation verfassten historischen Apologetik zu un- terscheiden. 3.6 Fischer-Kontroverse Der national apologetische Charakter dieser vermeintlich wissenschaftlichen Praxis wurde von jungen Historikern um F. Fischer einer massiven Kritik unterzogen. In der Kontroverse Ritter versus Fischer sind nicht nur zwei durch unterschiedliche Erfahrungen geprägte Historikergenerationen aufeinandergeprallt (Ritters Erfahrungen aus dem Ersten standen Fischers Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg gegenüber), sondern auch zwei Einstellungen, die hier auf der Achse zwischen Besiegten und Befreiten beschrieben werden. In dem in mehreren Phasen geführten Streit ging es vereinfacht gesagt um das Ausmaß des deutschen Schuldanteils am Ersten Weltkrieg. In seinem Buch Griff nach der Weltmacht195 wies Fischer die These vom unabsichtlichen „Hineinschlittern“ Deutschlands in den Krieg durch seine These zurück, deutsche Auslandspolitik habe ihre hegemonialen Großmachtambitionen langfristig gehegt, also nicht erst 1914. Durch diesen nun schon konstitutiven Charakterzug der deutschen Kaiserspolitik sah Fischer nicht nur die eskalierende Situation im Jahre 1914 bedingt, sondern auch die Kriegs- und Zwischenkriegsjahre. Aus einer speziellen Fachkontroverse wurde somit ein Streit um bestim- 194 K. Große Kracht: Die zankende Zunft, S. 37. 195 F. Fischer: Griff nach der Weltmacht. Düsseldorf 1961. 98 mende Tendenzen der deutschen Geschichte, ja um deren Ziel und Sinn. Die Kontinuität zwischen Kaisertum und der Zwischenkriegszeit suchte wiederum eine logisch erklärbare Kette dort gültig zu machen, wo bis dahin von Brüchen, Kontingenzen und Betriebsunfällen die Rede gewesen war. In Frage gestellt wurden dadurch einige Narrationen, die den deutschen Schuldanteil am Zweiten Weltkrieg durch den Hinweis darauf zu relativieren suchen, Hitler hätte nie für die Deutschen zu einer derart herbeigesehnten Retterfigur werden können, wenn es Europa gelungen wäre, aus dem Ersten Weltkrieg gerechte Konsequenzen zu ziehen. Anstößige Reaktionen des Ritterflügels waren vorauszusehen, wollten sich die darin versammelten Historiker doch ihr kaum antastbares Erlebnis des Ersten Weltkrieges nicht abstreitig machen lassen. Fischers Versuch, Licht dort einzuführen, wo den Koryphäen alles klar war, brachte ihm den Vorwurf ein, er verdunkele das deutsche historische Bewusstsein. Wollte er den Deutschen mittels historisch bewährten Argumenten die Illusion nehmen, am Ersten Weltkrieg seien sie nicht mehr als alle anderen Nationen schuld gewesen, hielt man ihm vor, er habe aus den Deutschen die Hauptschuldigen beider Weltkriege gemacht. So undifferenziert diese Vorwürfe bezüglich Fischers Argumentation während der ersten beiden Wellen der Kontroverse auch waren,196 im Laufe der Jahre erlag Fischer oft der Versuchung, seine These erheblich zu radikalisieren, so dass man rückblickend der gegen sie vorgebrachten Kritik sogar recht geben könnte.197 Anstatt weitere Details zu schildern, sei jetzt die Bedeutung dieser Kontroverse für unsere Fragestellung erörtert. Unmissverständlich schlugen sich in ihr unterschiedliche Generationserfahrungen nieder. Das Erlebnis des Ersten Weltkrieges scheint die Sicht der Historiker insofern präformiert zu haben, als man bereit war, zugunsten der nationalen „Meistererzählung“ kritische Herangehensweisen hintanzusetzen. Der jüngeren Generation (Fischer war Jahrgang 1908) konnte ihr Kriegserlebnis der Jahre 1939–1945 kaum positive Stützmöglichkeiten vermitteln, allenfalls negative. Dies erklärt auch, warum sich im Laufe der Kontroverse das Gewicht immer stärker vom Ersten auf den Zweiten Weltkrieg verlagerte. 196 Fischer habe nicht von einer ausschließlichen Schuld, sondern von einer beträchtlichen historischen Verantwortung für den Ersten Weltkrieg gesprochen. Vgl. K.H. Jarausch: „Der nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der Fischer-Kontroverse“. In M. Sabrow – R. Jessen – K. Große Kracht (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945. München 2003, S. 20–21. 197 Auf dem internationalen Kongress der Historiker 1965 hat er schon darauf bestanden, dass es kein Dokument gebe, durch das man das Argument entkräften könne, der Wille zum Krieg sei im Juli 1914 ausschließlich auf deutscher Seite gewesen. In der Auflage seines wissenschaftlichen Bestsellers vom 1967 spricht er nicht mehr von erheblicher, sondern von entscheidender Verantwortung Deutschlands. 99 Als müsste die Schuldproblematik zunächst auf dem weiterliegenden Kriegskonflikt ausgehandelt werden, um erst dann die Rede auf den Nazismus zu bringen, von dem bis dahin geschwiegen wurde. Diese Akzentverschiebung erfolgte spätestens um 1965, sosehr einzuräumen ist, dass sich um sie vielmehr Fischers Schüler, seine Studenten und Doktoranden bemühten, als er selbst. Ritter erwies sich während der Kontroverse als typischer praeceptor Germaniae, für den die Wahrheit der geschichtlichen Narration von den nationalen Interessen nicht zu trennen ist; wohl auch deshalb fand er im Gegensatz zu Fischer starke Unterstützung der konservativen Politiker, für die es ja keine andere als nationale Wahrheit geben kann. In Fischer wurde er indes mit solch einer Form der Geschichtswissenschaft konfrontiert, die sich ausschließlich dem eigenen kritischen Urteil verantwortete. Die dem Geiste des Historismus verpflichtete und zur nationalen Geschichtspolitik tendierende Geschichtswissenschaft wurde zu Beginn der 1960er Jahre von der kritischen Geschichtswissenschaft herausgefordert, die ihrerseits zur universal aufgefassten nationalen Selbstkritik neigte. In ihrem Falle drohte kein Rückfall zu nationalen Dienstverpflichtungen, sehr wohl aber eine Vereinnahmung von ethischen Maßstäben: Die Wahrheiten solch kritischer Geschichtswissenschaft mussten vor der „gesinnungsethischen Perspektive“ bestehen. Auf der Achse Geschlagene versus Befreite lässt sich die Fischer-Kontroverse wie folgt darstellen. Für die „besiegten“ Historiker gelte es alles zu vermeiden, was der Nation schaden könnte; wer von den „Betriebsunfällen“ in der Vergangenheit historische Gesetzlichkeiten abzuleiten suche, verdunkele historisches Bewusstsein. Dadurch hindere er die Nation daran, die Vergangenheit so zu erfassen, wie sie sich abgespielt habe. Kurze Zugeständnisse seien zulässig, freilich nicht alles in der deutschen Geschichte sei makellos gewesen, doch Hinweise darauf würden keineswegs genügen, um die Nation einer derart masochistischen Kur auszusetzen. Wiederum „befreite“ Historiker haben keinen Grund, die deutsche Vergangenheit zu schonen, ihre Schattenseiten zu entschuldigen, stattdessen nehmen sie eine übergeordnete Position eines moralischen Arbiters in Anspruch, der universale Standpunkte der überzeitlichen Kritik anwendet. Beide Positionen befinden sich in einer zerbrechlichen Balance, die auszuhalten recht schwierig ist; auf der einen Seite hat man mit der Gefahr der entlastenden Relativierung durch die nationale Indienstnahme der Geschichtswissenschaft zu tun, auf der anderen mit der durch die ethische Indienstnahme der Geschichtswissenschaft bedingten Gefahr des hypertrophierten Moralisierens und des nationalen Masochismus. Was sich als nüchterne Sachlichkeit, wissenschaftliche Objektivität, nicht simplifizierende und nicht pauschalisierende Erfassung der Wirklichkeit gibt, kann auch als Alibi für historische Nationalpolitik dienen, die alle Ecken und 100 Kanten der Vergangenheit möglichst glätten will. Die Kritik solchen Bewusstseins wiederum, die sich universal gibt, kann zum hasserfüllten Abrechnen, zum rigorosen Moralisieren, zur zwingenden Negation des Deutschen werden. Um das bedrohliche Potential der das notwendige Gleichgewicht missachtenden Tendenzen weiß man nicht zuletzt dank einiger Teilnehmer dieser Kontroverse, denen dies Schritt für Schritt einleuchtete. Etwa räumt E. Geiss, damals Fischers Doktorand,198 im Rückblick ein,199 Fischers Konzeption habe, sosehr man sich dagegen auch sträubte, letztendlich doch zum starken Einbruch der rigorosen gesinnungsethischen Perspektive verholfen, wo man ohne jeden strukturellen Vergleich den deutschen Weg in Bausch und Bogen für den Holzweg erklärt habe.200 Auf der anderen Seite darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Worte, die Geiss als nachträgliche Selbstkritik formulierte, nicht selten gültig gemacht wurden, wann immer es an stichhaltigen Argumenten gefehlt hatte, sei es schon gegen Fischer, oder gegen all diejenigen, die für die Vergangenheit Verständnis aufgebracht und sich trotzdem das Recht zu kritisieren nicht haben nehmen lassen. Es können auch Projektionen geschichtlicher Reminiszenzen im Spiel gewesen sein, die in Fischers Argumenten das Echo der überheblichen Aufforderungen der Alliierten unmittelbar nach dem Krieg gehört haben wollen. Die schroffe Ablehnung Fischers wäre somit zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass er es sich anmaßte – aus der Position der Geschlagenen heraus formuliert –, sich mit der äußeren, nichtdeutschen Perspektive zu identifizieren, mit dem strafenden, umerziehenden, ewig unzufriedenen Blick der Anklage, des Richters, des Linken, der nicht nur seine Nation, sondern auch sein Fach verraten hat. Und nicht zuletzt mag sich in diesem Streit der deutsch-deutsche Antagonismus innerhalb der historischen Zunft ausgewirkt haben, der im Jahre 1958 auf dem Trierer Historikertag zu einem Eklat zwischen den westdeutschen und ostdeutschen Historikern geführt hat.201 Als Ritter hier von methodischen, gegen die ostdeutschen Historiker anzuwendenden Schritten gesprochen hatte, konnte er noch nicht ahnen, dass er sie bald gegen einen westdeutschen Historiker wird geltend machen müssen. Das methodische Heilmittel gegen die ostdeutschen Historiker stellte für ihn die Tradition des Historismus dar. Es ist daher nicht auszuschließen, dass Ritter in Fischer einen verkappten Nachfolger dieser verhassten ost- 198 Man hält ihm vor, er habe als zündender Verteidiger Fischers begonnen, um nach einer Phase der Selbstkritik zu dessen Verräter zu werden (während des Historikerstreits stellte er sich gegen Wehler und Habermas). 199 Siehe I. Geiss: „Zur Fischer-Kontroverse – 40 Jahre danach“ ..., S. 50. 200 Siehe ebenda, S. 51. 201 Zur Konkurrenz zwischen den ost- und westdeutschen Historikern siehe K. Große Kracht: Die zankende Zunft ..., S. 23–45. 101 deutschen Geschichtswissenschaft erblickte, der im Namen der antinationalistischen Anklage und radikalen Revisionsbedürftigkeit das verdienstvolle Erbe von Ranke und Droyssen ruiniert. 3.7 Historikerstreit Zwischen der Fischer-Kontroverse und dem Historikerstreit liegen mehr als 20 Jahre. Das genügt, um einiges umzugruppieren, aber es reicht nicht aus, um den Rahmen und Grundcharakter der Fragestellung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft grundsätzlich zu verändern. Der Streit wurde somit wiederum auf mehreren Fronten zugleich ausgetragen; im Mittelpunkt stand nicht nur die Interpretation der Geschichte, sondern auch die Zukunft der Bundesrepublik. Die Hegemonie der Geschichtsauslegung war im Spiel, so auch die Herrschaft über zentrale Begriffe, mit denen die Identität der Bundesrepublik zu bestimmen sei. Prägend sind auch die starke Polarisierung und emotionelle Zuspitzung des Streits geblieben. In ihn war kaum einzugreifen, ohne alsbald von einer der Parteien eingemeindet zu werden. Auch beim Historikerstreit hatte man es also mit einer ideologisch bedingten Auseinandersetzung zwischen „besiegten“ (E. Nolte, M. Stürmer, K. Hildebrand, A. Hillgruber, J. Fest, T. Nipperdey) und „befreiten“, linksliberalen kritischen Historikern und Intellektuellen (J. Habermas, H.-U. Wehler, H.-A. Winkler, H. Mommsen, W.J. Mommsen und viele andere) zu tun. Und auch hier driftete die Debatte alsbald auf das auch die vorigen Debatten bestimmende ideologische Niveau herunter, auf dem man nicht selten folgende Argumentationsmuster geltend zu machen pflegte: Argumente ad hominem, ritualisiertes Desavouieren und ideologisch bedingtes Pauschalisieren.202 Einiges ist dennoch anders geworden. Der Historikerstreit entfachte sich nicht aufgrund neuer Quellenentdeckungen, die grundlegend neue Thesen und Interpretationen nach sich ziehen würden. Er entstand, um es mit P. Schneider lapidar zu sagen, weil E. Nolte allgemein bekannte Fakten so lange zurechtgebogen habe, bis sie letztendlich seine lange erträumte These hätten stützen können.203 Im Gegensatz zur Fischer-Kontroverse haben sich am Historikerstreit nicht nur Historiker, sondern auch Philosophen, Soziologen, Politologen und Publizisten beteiligt (J. Habermas, 202 Mehr zu diesen die bundesrepublikanische Deutungskultur bestimmenden Tendenzen siehe S. Kailitz: „Die politische Deutungskultur der Bundesrepublik Deutschland im Spiegel des ,Historikerstreits‘“. In ders. (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Der „Historikerstreit“ und die deutsche Geschichtspolitik. Wiesbaden 2008, S. 14–37. 203 Vgl. P. Schneider: „Im Todeskreis der Schuld“. Die Zeit, 27.3.1987; http://www. zeit.de/1987/14/im-todeskreis-der-schuld, heruntergeladen am 13.3.2013. 102 K. Sontheimer, R. Löwenthal, R. Augstein und viele andere). Entscheidend für seinen Charakter waren jedoch die sich in den späten 1960er und folglich auch in den 1970er und 1980er Jahren abspielenden gesellschaftlich-politischen Änderungen, die für die Geschichtswissenschaft nicht ohne Auswirkung geblieben sind. Ohne deren Berücksichtigung würde der Historikerstreit für die Reflexion der Nachkriegsdeutschheit jegliche Aussagekraft verlieren, ja er wäre allenfalls als eine Entgleisung eines freilich anregenden, doch recht eigenwilligen und immer mehr isolierten E. Nolte abzuhandeln.204 Die Verwandlung der Geschichtswissenschaft hatte eben Fischer initiiert, der sie vom Ritter’schen historischen Paternalismus weg auf die zeitgeschichtliche Forschung hin geführt hatte, die sich vielmehr den sozialkritischen Impulsen öffnete. Diese Richtung korrespondierte mit der nun kritischen Atmosphäre in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, und hat demnach die Totalitarismustheorie zurückgedrängt, die sozialökonomische Aspekte kaum beachtete, und daher für die Analyse der kapitalistischen Grundlagen des Faschismus ungeeignet schien. Der Terminus Faschismus, wurde nun – anders als in Noltes noch weitgehend der antitotalitaristischen Perspektive verpflichteten Studie205 – immer mehr zum Symptom der Probleme, vor die jede kapitalistische Gesellschaft gestellt werde, sobald sie ihre Widersprüche nicht lösen könne. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre hat der Faschismus-Begriff seinen gegebenen und historisch lokalisierten Inhalt eingebüßt, um sich im Laufe der Studentenrevolte zum politischen Gespenst zu verwandeln, zum desa- 204 Aus vielen Reaktionen geht deutlich die Enttäuschung hervor, die vielen deutschen Historikern Noltes Texte gebracht hat, zumal denen, die aus Noltes älteren Texten manche Impulse geschöpft haben wollen. Vgl. etwa M. Broszat: „Wo sich die Geister scheiden“. In „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987, S. 191. Mit der Zeit haben die meisten, auch die tolerantesten von ihnen ihm den Rücken gekehrt. Ch. Meier, dem man wahrlich keine Voreingenommenheit unterstellen kann, versuchte es 1994 auf den Punkt zu bringen: Nolte „lässt sich nicht fassen. Ein Aal ist im Vergleich mit ihm ein Reibeisen [...] Aber all diese Talente nutzt er zunehmend zu sinistren Zwecken und so, daß die Grenzen zwischen Wissenschaft, Politik und Agitation bei ihm nicht mehr erkennbar sind [...] Er weiß, daß mehr als fünf Millionen Juden ermordet wurden. Er hat auch deutlich erklärt, daß er Auschwitz für einzigartig hält. Aber er tut alles, um diese Einsicht zu verwischen [...] In Diskussionen bekommt man von ihm auf jeden Einwand, jede Frage etwas erwidert. Oft genug, und gerade an den Schwachstellen seines „Argumentierens“, ist es aber keine Antwort, sondern eine assoziativ anknüpfende weitere Behauptung, fadenscheinig, aber doch so, daß der Eindruck entsteht, Frage oder Einwand seien erledigt. Es ist, als ob man mit einer Hydra zu kämpfen hätte.“ Ch. Meier: „Totales Verwirrspiel“. Die Zeit, 4.11.1994; http://www.zeit.de/1994/45/totalesverwirrspiel, herunterladen am 13.3.2013. 205 E. Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. München 1963. 103 vouierenden Etikett, das man jedem politischen Regime draufkleben konnte, das selbst den geringsten Verdacht erweckte, Freiheit zu be- schränken.206 Mit zunehmender Radikalisierung der Studentenbewegung wurde er immer inflationärer,207 somit ist ihm nach und nach jedwede Aussage- und Ermittlungskraft bezüglich der tieferen Faschismuswurzeln abhanden gekommen. Der deutschen Geschichtswissenschaft machten die Ansprüche der Studentenbewegung schwer zu schaffen.208 Nichtsdestoweniger hat sich gerade J. Habermas, der mutig genug war, den Studenten vorzuhalten, sie würden den kapitalistisch-faschistischen Teufel durch den linksfaschistischen Beelzebub austreiben wollen, darum verdient gemacht, dass die deutsche Geschichtswissenschaft die Richtung einschlug, für die Fischer und seine Studenten die Weichen gelegt hatten. Dieser Richtung lag die Überzeugung zugrunde, die Geschichtswissenschaft solle die gesellschaftlich stabilisierende hermeneutische Basis hinter sich lassen, um sich den sozialkritischen und emanzipatorischen Sozialwissenschaften anzuschließen. Auf die Neukonstituierung der Geschichtswissenschaft als kritischer Sozialwissenschaft pochten insbesondere die seit den 1970er Jahren an der Bielefelder Universität etablierten Historiker. Die darauf folgenden Umgruppierungen haben die personale Zusammensetzung beider Lager wie auch die Abfolge der Argumentation vorgezeichnet, wobei festzuhalten ist, dass an der Achse „Besiegte“ versus „Befreite“ diese Entwicklungen keine Änderung bewirkt haben. Während also die für die alte, nicht emanzipatorische Auffassung der Historiografie Plädierenden (J. Fest, T. Nipperdey) für Nolte, Stürmer und Hildebrand durchaus Verständnis aufbrachten, ohne freilich alle Konsequenzen zu teilen, konnten die Vertreter der sozialkritischen Historiografie nicht umhin, Nolte und die Seinen schroff zurückzuweisen, ja vor deren Schädlichkeit lauthals zu warnen. 206 Vgl. dazu die Selbstkritik eines einstigen 68ers, C. Leggewie: „Unsere Annäherung an den Nationalsozialismus war flüchtig; bei der Ursachenforschung retteten wir uns auffällig rasch in einen allgemeinen Faschismus-Begriff, der Kapitalismus und bürgerliche Herrschaft schlechthin – mal grobschlächtig in der Dimitroff-Variante (,höchstes Stadium‘), mal nach der subtileren Horkheimer-Sentenz ins Visier nahm.“ C. Leggewie: Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabriken der Wende. Berlin 1987, S. 219. 207 Darüber, dass in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren die Totalitarismustheorie tabuisiert, und wiederum der Faschismusbegriff inflationär verwendet wurde, spricht in seinem Kommentar zum Historikerstreit K.D. Bracher. Siehe K.D. Bracher: „Leserbrief an die ,Frankfurter Allgemeine Zeitung‘, 6. September 1986“. In „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung ..., S. 113. 208 Mehr dazu: K. Große Kracht: Die zankende Zunft ..., S. 69–75. 104 3.8 Gute Karten, klarer Sieg Die sozialkritische Geschichtswissenschaft (der „Befreiten) konnte sich während des Historikerstreits einiger Vorteile sicher sein. Es war zunächst das kritische Potential, gegenüber dessen Ansprüchen jede Geschichtswissenschaft bleich wirken musste, die sich der nationalpolitischen Apologetik verschrieben hatte. Man konnte auf die Sympathien der jüngeren Generationen bauen, die während der Studentenrevolte studiert hatten. Auf diese Karte mag Habermas gesetzt haben, als er die unumstrittene deutsche Schuldanteile relativierenden historischen Tendenzen seiner Gegner mit der Regierungspolitik der sogenannten geistigen und moralischen Wende in Verbindung, genauer ineinssetzte; diese Politik hätte demnach eine Identitätsfestigung der Bundesrepublik qua Normalisierung der Vergangenheitsbewältigung angestrebt.209 Infolgedessen wurden der Habermas-Fraktion automatisch moralische Punkte angerechnet, weil sie sich diesen normalisierenden Ambitionen entgegenzusetzen wagte. Eine weitere Trumpfkarte gewann sie, indem sie das Aufklärungserbe für sich in Anspruch nahm, was in dem Kampf um semantische Hegemonie stark ins Gewicht fiel, galt es doch in der Bundesrepublik als unumstritten, dass der Nationalsozialismus sich als eine klar gegenaufklärerische Tendenz durchgesetzt hatte. Seit der Fischer-Kontroverse wurde deutlich, welche Historiker das Erbe der Aufklärung gepflegt, indem sie an die Verantwortung der Historiker gegenüber der Gesellschaft und an den Mut zum kritischen Urteil appelliert haben. Angesichts des Aufklärungsprojekts, das die Bundesrepublik nie mehr verlassen wollte, mag der aufklärerische Mut wohl zu recht alles andere in seinen Schatten gestellt haben. Die der aufklärerischen Perspektive immanenten moralischen Gesichtspunkte führten jedoch dazu, dass in den Verdacht einer versteckten Nazismusverteidigung auch diejenigen Historiker gerieten, die den Nationalsozialismus primär in breitere historische Kontexte eingebettet zu erklären trachteten. Im Falle anderer historischer Epochen hätte wohl niemand daran Anstoß genommen, doch hier wurden die Fühler unvergleichbar früher ausgestreckt, sobald man selbst marginale Ansätze zu Relativierung, Normalisierung oder Nivellierung des Nationalsozialismus bemerkt hatte. Auch sämtliche antitotalitaristischen Ansätze wurden durch ideengeschichtliche Nachkriegserfahrungen benachteiligt. Man hatte in Erinnerung, wie man sich mittels der (Anti)Totalitarismustheorie von der nazistischen Vergangenheit durch den Hinweis auf den erfolgreichen antikommunistischen Kampf selbstentlastend distanzierte. Sobald die Bun- 209 Vgl. T. Fischer – M.N. Lorenz (Hgg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2007, S. 224–266. 105 desrepublik in den 1960er Jahren, den antikommunistischen Konsens hinter sich lassend, den Weg zu dem bis dahin distanzierten Osten zu suchen beschloss, wurde aus der Totalitarismustheorie ein Hindernis, das der Bundesrepublik unwohl bekomme. Dieser doppelte Vorwurf210 haftete der Totalitarismustheorie insofern an, als man Nolte allein durch den Hinweis auf den antitotalitären und sehr wohl intentionalistischen Charakter seiner Argumentation widerlegt zu haben glaubte. In dieser Konstellation entflammte 1986 der Historikerstreit. Den Sieger glaubte man recht bald bestimmen zu können, da Nolte seine Thesen auf recht dubiose Art formuliert hatte. Umständliche Peripetien kann ich beiseite lassen, die oftmals ausführlich geschilderten Details211 haben für die Reflexion der Nachkriegsdeutschheit keine nennenswerte Bedeutung. Schwerer könnte demgegenüber die Strategie beider Parteien wiegen, von Anfang den Eindruck zu erwecken, gerade sie wären von Anfang an benachteiligt gewesen. Nolte setzte bewusst auf die Rolle des im Voraus ungerecht Disqualifizierten, dem die linke „Diskurspolizei“ seine Teilnahme an den Römerberggesprächen abstreitig gemacht hatte, worauf er im Handumdrehen durch den Untertitel seines Textes aufmerksam machte.212 Wiederum Habermas beanspruchte die Rolle eines kritischen Intellektuellen, der einer äußerst bedrohlichen Allianz der regierungstreuen Historiker und Politiker gegenüber steht, die die schwer erkämpfte Identität der Bundesrepublik aufs Spiel setzen.213 Beide Seiten usurpierten 210 U. Ackermann bewertet die ungünstige Lage der Totalitarismustheorie in den 1960er Jahren wie folgt: „Auf politischer Ebene fand ein analoger Prozess statt: Das kommunistische System und seine realexistierenden Orte wurden im Rahmen der Entspannungspolitik gleichsam „enttotalisiert“. Leitlinie dafür war das bereits 1963 von dem sozialdemokratischen Ostpolitiker Egon Bahr entworfene Konzept des „Wandels durch Annäherung“. Noch Jahre später proklamierte beispielsweise Erhard Eppler, die Totalitarismustheorie hätte der Entspannungspolitik und dem Frieden im Wege gestanden.“ U. Ackermann: Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute. Stuttgart 2000, S. 136. 211 Etwa in: R.J. Evans: Im Schatten Hitlers? Historikerstreit und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1991; U. Herbert: „Der ,Historikerstreit‘ – Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte“. In M. Sabrow – R. Jessen – K. Große Kracht (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte ..., S. 94–113; K. Große Kracht: „Der Historikerstreit: Grabenkampf in der Geschichtskultur“. In ders.: Die zankende Zunft ..., S. 91–114. 212 „Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte.“ 213 „Die Auseinandersetzung stellte der von Lagermentalität geprägten Streitkultur kein Ruhmesblatt aus. Im intellektuellen Milieu dominierte die Meinung, die Linke habe Regierungshistoriker, die die deutsche Schuld relativieren wollten, in die Schranken gewiesen. Diese Diagnose stand im krassen Widerspruch zu der Befürchtung von linker Seite, die Rechte besetze zunehmend das Denken, die Themen und die einflussreichen Stellen.“ E. Jesse: „Historikerstreit und Patriotismus – Politische Kultur im Wandel“. In V. Kronenberg (Hg.): Zeitgeschichte, Wissenschaft 106 sich jeweils das Recht des letzten Wortes, ja des letzten Nachwortes, mit dem sie den Streit noch im letzten Moment für sich zu entscheiden, oder zumindest das Bild des Streites nachträglich zu beeinflussen hofften. Bedeutend scheint auch der Anteil der in beiden Lagern nicht implizit gewordenen Voraussetzungen zu sein; sosehr man sich als jeweils Benachteiligte empfand, einige Motive wird man wohl doch für sich behalten haben. Unsere Fragestellung lässt sich darauf zuspitzen, inwieweit die jeweilige Reflexion der Deutschheit von (unbewussten oder verschwiegenen) Intentionen getragen wurde. Von seiner ersten bedeutenden Arbeit Der Faschismus in seiner Epoche an bemühte sich Nolte darum, Faschismus aus der Fixierung auf deutsche Geschichte zu lösen, indem er seine Wurzeln und Manifestationen nicht nur im deutschen, sogenannten radikalen Faschismus des Nationalsozialismus analysierte, sondern sehr wohl auch im italienischen (dem „normalen“ Faschismus) und französischen (dem frühen Faschismus der Action Française). Damit brachte er indes eine potentiell gefährliche Strategie des gegenseitigen Aufrechnens ins Spiel, deren Fragwürdigkeit deutlich ist: Man setzt voraus, dass man Schuldanteilmengen und Verbrechensgrade via Vergleich deren geschichtlicher Variationen festlegen kann. Somit legt man unausgesprochen die Möglichkeit nahe, ein Verbrechen könne durch ein anderes Verbrechen relativiert oder gesteigert werden, das sich anderswo abgespielt und mehrere oder aber weniger Todesopfer gebracht habe.214 Diese Voraussetzung würde, in weltpolitische Zusammenhänge eingebettet, folgende Schlussfolgerungen zulassen: Gehe dem Nazismus etwas vergleichbar Schreckliches voraus, dann könne bereits dadurch Nazismus als Kopie oder Reaktion automatisch relativiert werden; habe die bolschewistische Schreckensherrschaft ähnliche, oder sogar noch höhere Zahl der Opfer auf dem Gewissen, sei Nazismus nicht der unvergleichbare Schrecken, für den man ihn halten wolle. Diese Schlussfolgerungen zeigen: Wenn man die Komparation für das einzige Mittel hält, um die Qualität (positive wie auch negative) der vergleichenden Phänomene festzulegen, dann stellt die historische Kontextualisierung keine legitime Erkenntnismethode dar, sondern allenfalls ein ideologisch leicht missbrauchbares Instrument. Diese implizite Tendenz kam aber erst in Noltes Texten aus den 1980er Jahren explizit zum Vorschein. Während er 1963 geschrieben hatte, dass „der Faschismus als Faschismus in seiner extremsten Form jene Untat begangen, der in der Weltgeschichte nichts verglichen werden und Politik. Der „Historikerstreit“ – 20 Jahre danach. Wiesbaden 2008, S. 109–122, hier S. 111. 214 Zu den entlastenden Strategien rechnet A. Assmann insbesondere das Aufrechnen, Ausblenden und Umfälschen. Siehe A. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Bonn 2007, S. 169–181. 107 kann, auch nicht der Terror Stalins gegen das eigene Volk und die eigene Partei“,215 gehen seine jüngeren Texte bereits von der Annahme aus, Bolschewismus habe für die Nazis wohl eine größere Bedrohung dargestellt, als man bis jetzt vorausgesetzt hätte.216 Und dann war es nur eine Frage der Zeit, zwischen der bolschewistischen Bedrohung und dem dagegen mobilisierenden Nazismus einen kausalen Nexus zu setzen. Dieser Schritt verwandelte grundlegend die Intention der Komparation Noltes; Bolschewismus und Faschismus wurden nicht deshalb nebeneinander gestellt, um ihre totalitären Züge besser ermitteln zu können, sondern, um von ihrer unbarmherzigen Feindschaft (die Nolte von Anfang an herausstellte) auf einen schlichtweg abwehr-reaktiven Nazismus zu schließen, und dadurch seine Schrecken relativieren zu können. Somit wurden durch diese Komparation die ursprünglichen Ambitionen der Totalitarismustheorie auf den Kopf gestellt. 3.9 Historikerstreit und die Reflexion der Deutschheit Entrüstete Reaktionen auf Noltes Thesen lassen darauf schließen, dass viel mehr im Spiel war als nur interne geschichtswissenschaftliche Angelegenheiten. In der Tat ging es um einen langfristigen ideologischen und in vielen Fällen auch persönlichen Streit um die geistige Vorherrschaft in der Bundesrepublik im Allgemeinen, und darum, wieviel Platz im deutschen Selbstverständnis der Deutschheit im Besonderen zuzumuten ist. Als Katalysator schwemmte dieser Streit langjährige Animositäten an die Oberfläche, die nun durch weitere Diskrepanzpunkte gesättigt wurden; darum auch die gewisse Stereotypie in den Argumentationsketten, die auf beiden Seiten festzustellen, und sogar darin zu sehen ist, dass man auf die einseitige These Noltes nicht selten reflexartig reagierte. Selbst die Kritiker Noltes waren in ihrer Argumentation nicht frei von Vorurteilen, negativen Projektionen, auch sie waren sich nicht immer über die Voraussetzungen ihrer Argumentation im Klaren. Denn aufgrund seiner Einseitigkeit lag es nahe, dass Noltes Text wiederum nur einseitige Reaktionen wird hervorrufen können. So etwa 215 E. Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. München 1963, S. 35. 216 Im sogenannten „Rückblick nach fünfunddreißig Jahren“, einem Vorwort zu der Ausgabe des Jahres 1999, schreibt Nolte, dass er zu Beginn der 1970er Jahre im D. Shubses Buch Lenin von Sinowjevs Plan gelesen hat, an die 10 Millionen Einwohner Sowjetrusslands auszurotten. „Angesichts dieses Satzes ging mir auf, dass ich allzu voreilig eine allzu klare Unterscheidung zwischen dem Terror Stalins und Auschwitz vorgenommen hatte.“ In den 1980er Jahren entdeckte er in der kommunistischen Literatur der 1920er Jahre alles, was man später dem Nationalsozialismus zuschreiben wird. In: E. Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. München 2000, S. XII-XIII. 108 das uneingeschränkte Verbot, Nationalsozialismus damit zu vergleichen, was ihm vorausgegangen war oder folgte. Den Grund dafür glaubte man in der Annahme zu erblicken, kontextuelle Vergleiche würden grundsätzlich auf gegenseitiges Hierarchisieren hinauslaufen, sie könnten also unter Umständen nationalsozialistische Schrecken relativieren. Da der Vergleich diesen Missbrauch nicht ausschließen könne, sei er als historische Methode diesbezüglich unakzeptabel. Gegen ein so streng formuliertes Vergleichverbot ist folgendes vorzubringen: Würde man das Verbot absolut verfügen, würde man die Nazismuserforschung auf eine Abfolge der methodisch abgesicherten Schritte verpflichten, die programmatisch jedes interpretatorische Risiko meiden würden. Dieses Risiko könnte dann willkürlich, also interessenbedingt festgelegt werden, um folglich alles Riskante im Voraus verbieten zu können. Dabei ist offensichtlich, dass laut dem Prinzip tertium comparationis Vergleiche nicht zwingend die Relativierung eines der verglichenen Phänomene bewirken, vielmehr ist erst auf der Grundlage der Komparation deren Besonderheit auszumachen. Komparation führt nur dann zur Apologetik oder Indifferenz, wenn sie als Identifizierung aufgefasst wird.217 Nur dann wäre das absolute Komparationsverbot nachvollziehbar, weil es nichtsagende Haltungen wie „irgendwie schuld sind halt alle“ oder entlastende Schlüsse wie „wir können nicht schuld sein, wir mussten uns wehren“ verhindern würde. Diese Konsequenzen wurden einigen Teilnehmern des Streits bereits während der Debatten deutlich. Zugleich ist nicht zu übersehen, wie bemüht sie waren, die Widerlegung der gegen Nolte erbrachten Argumente nicht als ein Plädoyer für Nolte vorzubringen; insofern zeigen etwa die Beiträge von Ch. Meier oder I. Geiss einen möglichen Ausweg aus der Sackgasse an, in der sich die Debatte verfangen hatte. Bereits im Oktober 1986 glaubte Meier seine Kollegen daran erinnern zu müssen, dass man die Verbrechen von Hitler und Stalin einfach vergleichen müsse, wolle man Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede nicht nur dieser totalitären Regime erfassen. Zurückzuweisen sei allenfalls die Art, wie Nolte die Frage des Vergleichs stelle, da damit „offenkundig neuen Relativierungsund Ablenkungsversuchen Vorschub geleistet wird“.218 Ein Jahr später lehnte I. Geiss die unhaltbare Konklusion Noltes ab, die aus zeitlicher Nachfolge politische Systeme auf Chronologie und sogar Kausalität ihrer Verbrechen schließe. Diese Argumentation, ob „von Nolte gewollt oder 217 „Vergleichen bedeutet nicht gleichsetzen. Jeder Vergleich setzt voraus, dass sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede vorhanden sind. Bei totaler Identität gäbe es nichts zu vergleichen.“ H. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens ..., S. 342. 218 Ch. Meier: „Eröffnungsrede zur 36. Versammlung deutscher Historiker in Trier, 8. Oktober 1986“. In „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung ..., S. 210. 109 nicht, läuft [...] tatsächlich auf eine Verrechnung der beiderseitigen System-Verbrechen hinaus und mündet so in eine deutsche Nationalapolo- gie“.219 Zugleich macht er jedoch den Einwand geltend, man dürfe aufgrund dieser unzulässig festgestellten Kausalität bei Nolte keineswegs den Vergleich dieser beiden verbrecherischen Systeme verbieten, da nicht auszuschließen sei, dass qua Vergleich die (zwar nicht unvergleichbaren, doch trotzdem kaum vorstellbaren) nazistischen Schrecken besser zu ermitteln wären, als wenn man apriori auf deren Singularität bestehen würde.220 Eine solche bedingte Kritik der Argumentation Noltes (später wird sie auch Winkler anstreben) scheint durchdachter zu sein, sofern sie auch unvorhergesehene Folgen einkalkuliert, durch die jene ursprünglich guten Absichten vereitelt werden könnten. Sie geht weder pauschalisierend (Vergleiche werden allgemein zugelassen), noch emotional-persönlich (Nolte wird nicht gebrandmarkt), sondern sachlich vor: sie kritisiert, ohne Nolte durch diese Kritik zur Rolle eines zum Schweigen Verurteilten und diskursiv Disqualifizierten zu verhelfen, von der er wiederum profitieren könnte. Dank dem Historikerstreit wurde noch eine meist nicht thematisierte Motivation aufgedeckt. Das gegen die Totalitarismustheorie zielende Komparationsverbot ging nicht nur auf den edlen Wunsch zurück, die Opfer des Nationalsozialismus zu schützen, sondern auch auf den weniger edlen, vielmehr ideologischen, nämlich Kommunismus vor jedem Vergleich mit dem Nationalsozialismus zu schützen. Hinter dem ausgestellten moralischen Grund versteckte sich noch der ideologische. Dabei machte man gegenüber den Verteidigern des nationalsozialistisch-kommunistischen Vergleichs gerade den Vorwurf geltend, dieses Vergleichsgebot sei primär durch ideologische und unmoralische Gründe motiviert, also durch den Antikommunismus und den Wunsch, Nazismus zu relativieren. Demnach blieb der Historikerstreit in dem Rahmen eingebettet, in dem man bereits in den 1960er Jahren mit Faschismus auf dem Umweg über Kapitalismuskritik abrechnete, während Kommunismus unantastbar war. Weit über die 1960er Jahre hinaus, genauer, bis zum Historikerstreit hatte die (Anti)Totalitarismustheorie in der Bundesrepublik intellektuell 219 I. Geiss: „Zum Historikerstreit“. In „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung ..., S. 375. 220 Vgl. die selbstkritische Bewertung H.A. Winklers: „Denn dass die Systeme Stalins, Pol Pots oder Idi Amins weniger menschenfeindlich, als menschenfreundlicher gewesen waren, wird im Ernst niemand behaupten wollen. Mit der Steigerung von menschenfeindlich ist kein Erkenntnisgewinn verbunden, und Schrecklichkeitsskalen für Menschheitsverbrechen können leicht in Zynismus umschlagen.“ H.A. Winkler: „Postnationale Demokratie? Vom Selbstverständnis der Deutschen“. Merkur, 1997, H. 575, S. 172. 110 wenig zu sagen, tonangebend waren ein starker „Anti-Antikommunismus, [...] Antiamerikanismus und eine kühle Sympathie zum Diktatursystem jenseits der Mauer“.221 Den Anhängern der (Anti)Totalitarismustheorie wurden ideologische Motive unterstellt, um die eigenen – moralisch unterfütterten – nicht aufkommen zu lassen; dieses ideologisch-moralische Argument diente als eine Variable, die man mit Kalkül einsetzen konnte, denn die „geistige Situation der Zeit“222 entwickelte sich in den 1970er Jahren in einer politisch konservativen und national normalisierenden Richtung. In dieser Konstellation stellte das intellektuelle Moralisieren ein wirksames Instrument dar: Jeden, der sich den Normalisierungstendenzen nicht genug widersetzte, konnte man als Konservativen oder Gegenaufklärer abstempeln, die „nicht für jene Traditionen einstehen, gegen die 1933 ein deutsches Regime eingetreten ist“.223 So wurden Anhänger der Totalitarismustheorie zu Nachfolgern aller, die 1933 das Volk der Dichter und Denker zum Volk der Richter und Henker korrumpiert hatten. Der Fall Nolte macht noch eines klar. Sosehr sich Noltes Argumentation seit den 1960er Jahren verwandelte, es bleibt nach wie vor zu bedenken, warum sie in den 1960er Jahren allenfalls Kritik, während in den 1980ern vielmehr Hysterie und moralische Anklagen hervorrief. In den 1960er Jahren dürfte an Nolte höchstens gestört haben, dass sein nazis- 221 F. Pohlmann: „Der deutsche ,Historikerstreit‘ im Wandel des Zeitgeistes. In V. Kronenberg (Hg.): Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik ..., S. 154–170, hier S. 165. 222 Grundlegendes zu dieser findet man in dem 1979 von J. Habermas initiierten und herausgebrachten Sammelband Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“ vor. Historiografische Beiträge sympathisieren mit der sozialkritischen Perspektive, weisen sowohl die antikapitalistische Faschismus-Theorie der 1960er Jahre, wie auch den geschichtswissenschaftlichen Revisionismus zurück, der langsam spürbar wurde. Dies mögen einige Zitate aus der Studie von Wehler illustrieren: „Im Vergleich mit diesen Strömungen der deutschen Zeitgeschichte hat die von der Neuen Linken in den vergangenen Jahren angeregte Faschismusdiskussion zwar einen bitteren Begriffskrieg ausgelöst, [...] der empirische Ertrag ist jedoch nicht erwähnenswert. Aus einem Kapitel der Bücher von Bracher, Broszat oder Nolte, aus einem Aufsatz von Hans Mommsen und Wolfgang Schieder lernt man mehr über den Nationalsozialismus als aus der zehnjährigen ,Faschismuskritik‘ ihrer Kontrahenten [...] Um ein neuartiges Phänomen handelt es sich bei dem rabiaten rechtskonservativen Nationalismus, der in der Propyläengeschichte der Deutschen des Erlangener Historikers Helmut Diwald zutage tritt, denn die Töne, die hier angeschlagen werden, waren bisher nur NPD-Ideologen oder nazifreundlichen Außenseitern wie David Hogan vorbehalten gewesen, aber von keinem Universitätshistoriker gebraucht worden. Offenbar ist es jetzt möglich, sich jenseits der Grenze zum politischen Rechtsradikalismus wohlzufühlen.“ H.U. Wehler: „Geschichtswissenschaft heute“. In J. Habermas (Hg.): Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“ ..., S. 731–732, 748. 223 H. Lübbe: „Aufklärung und Gegenaufklärung“. In M. Zöller (Hg.): Aufklärung heute. Bedingungen unserer Freiheit. Zürich 1980, S. 11–27. 111 tisch-kommunistischer Vergleich nicht genug antikapitalistisch ausfällt, während man an der implizit präsenten Nazismusrelativierung oder mangelnden Holocaustthematisierung224 keinen Anstoß genommen hatte. In den 1980er Jahren wurde Nazismus via Komparation bereits ausdrücklich relativiert. Die Kritik der Konklusionen Noltes, so berechtigt sie auch war, ließ indes keine als antifaschistische Motive gelten. Im Anschluss an den Historikerstreit wurden die Hinweise nicht seltener, ideologisch bedingtes Leugnen der Gemeinsamkeiten zwischen rechten und linken Diktaturen entschuldige unter dem Mantel des antifaschistischen Paradigmas der singulären nazistischen Schreckensherrschaft den „Stalin-Terror“225 und den realen Sozialismus. Allmählich stellte sich heraus, der Kampf gegen Nolte könne unter anderem auch durch den Wunsch, die „Verbrechen in der stalinistischen Sowjetunion nicht wahrzunehmen, zu verkleinern oder zu funktionalisieren“226 motiviert und mittels Dogma der Unvergleichbarkeit von Nazismus und Singularität von Holocaust geführt worden sein. Statt Argumente für oder gegen Nolte heraufzutragen, wurde es dringend nötig, jenseits der Ideologie über die Voraussetzungen der Vergleichsgebote und -verbote nachzudenken. Wer sich für seine Verbrechen einen Komplizen finde, sei noch lange nicht unschuldig. Verbiete man jemandes Verbrechen zu vergleichen, setze man sich dem Verdacht aus, dadurch ein Alibi für alle anderen Verbrechen zu schaffen. Verbrecherische Diktaturen würde verbrecherisch bleiben, es werde ihnen durch keinen Vergleich etwas von ihrer jeweils unvergleichbaren Unmenschlichkeit genommen: „Weder eine nationale, noch eine sozialistische Apologetik ist darauf zu stützen.“227 Oder von der anderen Seite her gesehen: Mittels Vergleiche oder historische Kontextualisierungen werde doch keineswegs die besondere Stellung von Holocaust in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil: die „Einordnung von Vertreibung und Ermordung der Juden in den Kontext der ethnischen Säuberungen und des Radikalnationalismus im 20. Jahrhundert insgesamt und in den Kontext der Entgrenzung politischer Macht in den totalitären Vernichtungsdiktaturen hat den Judenmord weder verkleinert noch kommensurabel 224 „Der Holocaust war uns sicher nicht gleichgültig, aber er war auch kein Thema an sich, sondern diente nur der Illustration unserer wesentlich antikapitalistischen Konklusion.“ C. Leggewie: Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabriken der Wende. Berlin 1987, S. 219. 225 Ebenda, S. 221. 226 U. Herbert: „Der ,Historikerstreit‘ – Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte“. In V. Kronenberg (Hg.): Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik ..., S. 101. 227 Vgl. K.D. Bracher: „Leserbrief an die ,Frankfurter Allgemeine Zeitung‘, 6. September 1986“. In „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung ..., S. 114. 112 gemacht, sondern seine spezifische Gestalt und Bedeutung erst profi- liert“.228 Eine vergleichbar große Gefahr des Holocaustmissbrauchs drohte nämlich, wenn man Auschwitz für eine unbedingt singuläre Erscheinung hielt, mittels deren man Haltungen rechtfertigte, die mit dem Holocaust in keinem direkten Zusammenhang stehen, es sei denn, sie schöpfen aus ihm ihr Alibi. Als eine „chronisch gewordene politische Instrumentalisierung des Holocaust“,229 die unzulässig alle „Nicht-Holocaust-Kriegsverbrechen“ relativiere, bezeichnete in den 1990er Jahren H.A. Winkler das Gebot des unbedingten Pazifismus, das in Deutschland immer dann geltend gemacht wurde, wenn eine deutsche Teilnahme an Kriegskonflikten zur Debatte stand. Holocaust diente dann als Alibi für einen Staat, der sich aufgrund seiner historischen Erfahrung das Recht anmaße, vor allen Kriegsverbrechen die Augen zu zumachen, da diese Verbrechen an das größte und einzig gültige Verbrechen nicht heranreichen würden. Auf sein Gespür konnte sich Winkler auch in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verlassen, als in Deutschland Furets Buch Le Passé d’une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle (1995)230 und die kollektive Monographie Das Schwarzbuch des Kommunismus – Unterdrückung, Verbrechen und Terror (1997)231 diskutiert, und erneut die Fragen nach der Zulässigkeit der Totalitarismustheorie aufgeworfen wurden. Obwohl manche deutschen Kritiker monierten, beide Bücher würden nichts Neues bringen, weil ihnen die in Deutschland wohl überwundene Totalitarismustheorie zugrundeliege,232 ruft der Gesamteindruck eher den Verdacht hervor, überwunden geworden sei hierzulande nichts, da ständig dieselben ideologischen Klischees und argumentativen Kurzschlüsse wiederholt würden. Zu einem in Deutschland prekären mag Furet sein Buch dadurch gemacht haben, dass er darin Nolte zugutehielt, er habe das Vergleichs- 228 U. Herbert: „Der ,Historikerstreit‘ – Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte“ ..., S. 102. 229 H.A. Winkler: Postnationale Demokratie? ..., S. 177. 230 Le Passé d’une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle. Paris, 1995. Deutsch als Das Ende einer Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996. 231 S. Courtois und andere (Hg.): Le Livre noir du communisme. Crimes, terreur, répression. Paris 1997. Das Schwarzbuch des Kommunismus – Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München 1998. 232 Furet fasste Kommunismus und Nationalsozialismus als zwei Komplizen im Konflikt auf (komplementäre Kontrahenten). Das Schwarzbuch (25 Millionen der Nazismusopfer versus 85 Millionen der Kommunismusopfer) rief in Deutschland sogleich eine intellektuelle Protestwelle hervor, da die Gefahr akut wurde, dass das Schwarzbuch des Kommunismus vielmehr als Weißbuch des Nazismus gelesen werden könnte. Zu der deutschen Rezeption mehr in: U. Ackermann: Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute. Stuttgart 2000, S. 208–235. 113 verbot gebrochen, das in Deutschland der Faschismuserforschung hinderlich gewesen sei. Dass Furet prompt hinzufügte, für zweifelhafte Schlüsse, die in die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen mündeten, könne er Nolte nur tadeln, hat seine Reputation bei den deutschen Kritikern nicht mehr retten können. Vielmehr scheint es, Noltes Schatten fiel auch über das Das Schwarzbuch des Kommunismus, in dem Noltes Name kein einziges mal erwähnt wurde. Trotzdem ging Nolte wie das sprichwörtliche Gespenst in der deutschen Rezeption dieser beiden Bücher um, bei der überwiegend alte Klischees revitalisiert (insbesondere die radikale Linke schlug die antikapitalistische Saite an) und Probleme personalisiert wurden.233 Um sich daran nicht zu beteiligen, musste man – wie etwa der erwähnte H.A. Winkler im Gegensatz zu vielen seiner Fachkollegen (z.B. H.U. Wehler) – imstande und bereit sein, seine einstigen Meinungen und Haltungen zu korrigieren, um (sosehr man dadurch für viele zum Renegat werden konnte) tatsächliche Motive von den nur ausgestellten zu unterscheiden. Erst ohne die abgelegte ideologische Brille konnte man sehen, dass hier nicht so sehr im Namen der Opfer gegen Furet (und Nolte), sondern vielmehr gegen die Reetablierung der Totalitarismustheorie Front gemacht wird, die ja bereits im Historikerstreit – auch mit Winklers Hilfe, der dies im nachhinein eingesehen hat – abgewehrt wurde.234 Das Bedürfnis, diese Theorie zu diskreditieren, war so stark, dass man der Kommunismuserforschung ein kaum widerlegbares moralische Argument gestellt hat: Kommunismuserforschung relativiere Auschwitz. Dies, so Winkler, sei zynisch und skandalös: „[...] ärgere Instrumentalisierung des Holocaust ist kaum denkbar. Der Judenmord als Argument gegen die Aufarbeitung von Verbrechen kommunistischer Regime.“235 Es wäre falsch zu behaupten, die zusammengestürzte Berliner Mauer habe all diese intellektuellen Gewohnheiten unter sich begraben. Die Abneigung zur (Anti)Totalitarismustheorie ist zwar nicht verschwunden, war aber nicht mehr vorherrschend. Das Ende der DDR brachte die westdeutsche liberale Linke um ihre ideale Projektionsfläche, an die man Hoffnung wie auch Unbehagen an dem Eigenen hatte projizieren können. Zugleich trat dadurch hervor, dass hinter der Mauer nichts anderes als ein wirkliches totalitäres Regime geherrscht hatte. Genauso falsch wäre indes 233 Beide Bücher wurden nicht selten als unseriöse Renegatentexte diffamiert. Furet war ein Exkommunist, Courtois ein Exmaoist. 234 „Die Habermas-Fraktion des Historikerstreits war – neben etlichem, worin sie recht hatte – der Versuch, die Wiederkehr der Totalitarismuskategorie zu verhindern: darin hatte sie unrecht, Francois Furet in Le passé d’une ilusion hat das richtig gesehen und kritisiert.“ O. Marquard: „Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung. 1945: Bemerkungen eines Philosophen“. In ders.: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien. Stuttgart 2004, S. 31. 235 In seinem Text in FAZ, 19.6.1998. Zitiert nach U. Ackermann: Sündenfall der Intellektuellen ..., S. 225. 114 zu behaupten, zu dieser Erkenntnis seien diese Intellektuellen allesamt erst nach 1989 gelangt; folgende Arbeit geht vielmehr davon aus, dass der ideologische Rahmen, in dem die Nachkriegsdeutschheit reflektiert wurde, viel früher zu zerbröckeln begann, und zwar gerade dank den Intellektuellen, die dessen (und somit ihre eigenen) Voraussetzungen und Grenzen zu reflektieren wagten. Dass dies ohne schmerzliche Selbstkorrektionen, Revisionen, Umwertungen kaum machbar war, und dass man sich dadurch bestenfalls Missverständnissen und Hohn, schlimmerenfalls Brandmarken und Disqualifizierungen ausgesetzt hat, liegt angesichts der prinzipiell dichotomischen Struktur des deutschen intellektuellen Betriebs auf der Hand. Dass jedoch diese mutigen Leistungen nicht vergeblich waren, belegt das Bekenntnis, das 1995 J. Habermas, auf den bundesrepublikanischen Weg zurückblickend, ablegte: liberale Haltung und demokratische Gesinnung könnten der „Geburtshilfe durch Antikommunismus oder Antifaschismus entbehren.“236 236 J. Habermas: „Die Bedeutung der Aufarbeitung der Geschichte der beiden Diktaturen für den Bestand der Demokratie in Deutschland und Europa“. In Materialien der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED Diktatur. In Deutschland. Hg. von deutschem Bundestag, IX. Baden Baden – Frankfurt am Main 1995, S. 690. Zit. nach E. Jesse: „Historikerstreit und Patriotismus – Politische Kultur im Wandel“. In V. Kronenberg (Hg.): Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik ..., S. 111. 115 4 Essentielle Deutschheit Die Nachkriegsreflexion setzte stets an der Deutschheit an, von der aus das Dritte Reich aufgebaut worden war. Hypertrophierte Deutschheit als Wert, der neben sich keinen anderen duldet; ein Superlativ, der an Kraft verliert, sobald er sich von der Deutschheit entfernt. Weil dieses Programm zu einem Fiasko für Deutschland und zum Memento für die Menschheit wurde, galt es nach 1945, sich nach anderen Formen der Deutschheit umzuschauen. Die deutsche Rechte fand sich nach 1945 nur schwer damit ab, dass man auf den Willen der Alliierten angewiesen war, so dass sie nach wie vor dem Modell der essentiellen Deutschheit anhing. Deren Kritik wies sie als einen das Deutsche schwächenden Akt zurück, in all den Wandlungsgeboten sah sie ein Diktat der Alliierten, die eine momentane Schwäche der Deutschen missbrauchen wollen. Die Selbstkritik hielt sie für unakzeptabel, Kollektivschuldzuweisungen wies sie als unbegründet zurück, die Schuldfrage sei eine Sache des eigenen Gewissens. Somit behagten ihr Modelle, die die nationalsozialistische Epoche als einen gesamteuropäischen Bürgerkrieg interpretierten, nach dessen Ende man alles zu vergessen und sich miteinander zu versöhnen habe. Daher konnte sie kaum das asymmetrische Bild der Täter und Opfer akzeptieren, zumal es in ihren Augen der unzulässigen Moralisierung und Politisierung diente. Wie in den vorigen Kapiteln gezeigt, war die Linke auch nicht bereit, die essentielle Auffassung der Deutschheit zu verabschieden. Die als absolute Negation des Deutschseins der Jahre 1933–1945 verstandene Deutschheit versah sie mit Attributen der Ausschließlichkeit, die freilich negativ bestimmt wurden. Sie zeichnete das Bild einer negativ privilegierten Nation, die auf alle Vorteile der Deutschheit zu verzichten bereit sei, mit Ausnahme derer, die ihr gerade durch diesen Verzicht zuzufallen haben. Versuche, dem Circulus vitiosus der Negation zu entkommen, wurden dort diagnostiziert, wo man eine Ausschließlichkeit durch ihren Gegenpart zu ersetzen sich geweigert hat. Dabei handelte es sich meist um selbstkorrigierende oder selbstrevidierende intellektuelle Leistungen, aus denen unter anderem herauszulesen ist, dass der Rahmen des ideologisch zusammengeschnürten Denkens etwa innerhalb der Geschichtswissenschaft eher den links liberal orientierten Denkern zu eng wurde. Anders gesagt: dem oft als Schwäche und Renegatentum desavouierten Mut zur Selbstkritik konnte man im nachkriegsdeutschen Denken vielmehr auf der liberalen Linken begegnen, wie an A.H. Winkler oder I. Geiss demonstriert wurde. Geiss fand zu diesem Mut zwischen der Fischer-Kontroverse und dem Historikerstreit, der um einiges ältere Winkler erst nach dem 116 Historikerstreit. Die linke Szene überall in Europa ist nicht arm an Beispielen der Exkommunikation, einer kompromisslosen Abrechnung mit denen, die „abgefallen“ sind, sowie an den meist verzweifelten Versuchen dieser „Renegaten“ um sachliche Polemik. Danach, und auch dies lässt sich etwa an Geiss gut studieren, kann man – wohlgemerkt in demokratischen Ländern – nur noch die Schultern zucken, gegebenfalls erneut zu zeigen versuchen, dass die Selbstkritik keineswegs einem Verrat, vielmehr einem intellektuellen Freiheitswillen entspreche.237 Auf der konservativen Rechten, bleiben wir bei den Historikern oder im politischen Feuilleton, ist diese Erscheinung rar. Das Renegatentum scheint eine Domäne der Linken zu sein,238 auf der Rechten ist man allenfalls bereit, die linken Renegaten willkommen zu heißen, sowenig man von ihnen auch erwartet.239 Daher muss nicht verwundern, dass sich in dem Historikerstreit auf der Rechten kein renommierter Denker bereitgefunden hat, E. Nolte, M. Stürmer und K. Hildebrand beizuspringen. Etwa eine Habermasrolle wollte auf der Rechten keiner spielen. H. Lübbe, G. Rohrmoser, H.P. Schwarz, B. Willms, H. Diwald: sie alle haben sich an dem Streit entweder gar nicht beteiligt, oder lancierten allenfalls kurze Kommentare pro domo.240 Andererseits ist die Absenz etwa von H. Lübbe doch überraschend, wenn man bedenkt, dass Lübbes berühmter Text aus dem Jahre 1983241 sehr wohl einen Prolog zum Historikerstreit darstellte, wie an Habermas’ Reaktion abzulesen ist.242 237 Vgl. Geiss’ Buch Der Hysterikerstreit – ein unpolemischer Essay, dessen Verfasser den Vorwurf eines unerträglichen Renegaten (H.-U. Wehler) zurückzuweisen sucht, indem er die Argumentation von Wehler, Habermas, Kocka, Janssen und vielen anderen auseinandernimmt. I. Geiss: Der Hysterikerstreit – ein unpolemischer Essay. Bonn – Berlin 1992. 238 Wohl nur das „intellektuelle salto mortale“ K.H. Jannsens (so hat die Wandlung eines ursprünglich orthodoxen Schülers von G. Ritter zu einem grenzenlosen Bewunderer von F. Fischer I. Geiss bezeichnet) könnte unter Umständen für einen Fall des rechten Renegatentums gehalten werden. Vgl. I. Geiss: „Zur FischerKontroverse – 40 Jahre danach“. In M. Sabrow – R. Jessen – K. Große Kracht: Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945. München 2003, S. 52. 239 Zu Beginn der 1990er Jahre meinte dazu A. Mohler, die linken Renegaten hätten mit Pathos Weisheiten verkündet, die den Lesern von Criticón bereits mehr als zwanzig Jahre lang vertraut seien. Siehe A. Mohler: „Botho Strauß. Trittbrettfahrer oder Winkelried?“. Criticón, 137, Mai/Juni 1993, S. 122. 240 Vgl. A. Mohler: „Das Ende des Historikerstreits“. Criticón, 122, November/Dezember 1990, S. 285–288. 241 Vgl. das erste Kapitel. 242 Habermas hat die apologetischen und die Vergangenheit entsorgenden Bestrebungen zunächst Lübbe, und erst ein Jahr später Nolte, Stürmer etc. attestiert. Vgl. J. Habermas: „Entsorgung der Vergangenheit“. In ders.: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt am Main 1985, S. 261–268. Dazu auch: Kiesel, Helmut: „,So ist unser Gedächtnis jetzt angefüllt mit Furchtbarem‘. Literaturgeschichtliche Anmerkungen zum Historikerstreit und zu der von Martin Broszat beklagten ,Beziehungslosig- 117 Auf der Rechten pflegt man sich vor allem unter und von ähnlich Denkenden in eigenen Meinungen zu bestätigen.243 Man verfügt hier über genug Intellektuelle, die sich als Propheten gefallen, die ihrer Zeit voraus sind; sie glauben ihre Meinungen nicht korrigieren zu müssen, denn die Zeit werde ihnen früher oder später recht geben müssen. Diese Rolle behagte insbesondere A. Mohler, sosehr man diesem Intellektuellen zugutehalten muss, aussagekräftig und mit zeitlichem Vorsprung grundsätzliche konservative Meinungen formuliert zu haben. Habe er, hält man sich an seine eigenen Aussagen, indes in den 1960er Jahren manche Gedanken geäußert, die viele in den 1980er Jahren nur übernommen hätten, ohne sich an Mohler als deren damaligen Schöpfer erinnert zu haben,244 dann mag er weniger der Zeit, als vielmehr den verschlafenen Konservativen vorausgewesen sein, zumal manche seiner brillanten Apercus nicht ohne Herabsetzen der anderen auskommen.245 4.1 Der nützliche Goldhagen Die Geschichte der Sackgassen des nachkriegsdeutschen Deutschseins, in denen man sich leicht verfängt, sobald man nur auf die hört, die einem immer nur recht geben, lässt sich auch von einem anderen Ende aus erzählen. Diese Geschichte könnte am großartigen Publikumserfolg, der in keit zwischen Literatur und Geschichte bei der Verarbeitung der Nazizeit‘“. In K. Oesterle – S. Schiele (Hg.): Historikerstreit und politische Bildung. Stuttgart 1989, S. 42–94. 243 Zur Kritik des Renegatentums vgl. J. Habermas: „Die Hypotheken der Adenauerschen Restauration“. In ders.: Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine politische Schriften VIII. Frankfurt am Main 1995, S. 96. 244 Vgl. C. Leggewie: Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabriken der Wende. Berlin 1987, S. 205. 1979 behauptet Mohler, die Hetzkampagne gegen H. Diwald und die unkritischen Lobsprüche an die Fernsehserie Holocaust (im deutschen Fernsehen wurde sie 1978 gezeigt) bringen ihn auf seine Thesen aus den 1960er Jahren zurück, die er allenfalls wiederholen könne, so genau habe er alles bereits damals gesehen. Vgl. A. Mohler: „Die Deutschen in der Mühle. Zum Stand der Vergangenheitsbewältigung nach ,Holocaust‘ und nach der Anti-Diwald Kampagne“. Criticón, 52, März 1979, S. 55. 245 Im Gespräch mit P. Müller kommt Mohler darauf zu sprechen, dass er Ideen, die er „schon Jahre vorher in die Welt gesetzt habe, wieder zu hören bekommen habe – leider immer irgendwie verbreit, breiig geworden, nicht mehr so präzise [...] Ich habe auch Begriffe gefunden. Ich habe den Nationalmasochismus erfunden. Dieser Begriff wird heute wie selbstverständlich verwendet [...] Ich habe immer das Pech, dass ich ein wenig zu früh bin.“ A. Mohler: Das Gespräch über Linke, Rechte und Langweiler. Dresden 2001, s. 111. Ähnlich eitel bewertet er auch die Postmoderne, die in seinen Augen nichts als eine weitere Renaissance des von ihm formulierten konservativen Weltbildes darstelle. Siehe A. Mohler: „Entsorgung der Postmoderne“. Criticón, 106, März/April 1988, S. 81. 118 Deutschland dem wissenschaftlich eher durchschnittlichen Buch Hitlers willige Vollstrecker246 von D.J. Goldhagen beschert wurde, ansetzen. Goldhagens Interpretation scheint den Gegensatz zu derjenigen von Nolte darzustellen, hat sie doch offensichtlich vor, deutsche Schuld nicht zu relativieren, vielmehr zu maximalisieren. Anstatt relativierende Kontexte heranzuziehen, wird von ihnen konsequent abgesehen; den kausalen Nexus zwischen den Verbrechen von Stalin und Hitler (Nolte) ersetzt Goldhagen durch eine Kausalität zwischen der essentiellen Deutschheit und dem Holocaust: In der deutschen Nation sei ein „eliminatorischer“ Antisemitismus tief verwurzelt gewesen, der unter den Nazis programmatisch zum Judenmord mobilisiert wurde.247 Der überraschend große Erfolg dieses Buches beim deutschen Publi- kum248 mag, so legt z.B. Ch. Meier nahe, dadurch erklärbar sein, dass in der deutschen Öffentlichkeit die von links ordinierte Therapie des „nationalen Masochismus“ soweit fortgeschritten sei, dass man praktisch alles akzeptiere, sogar die Theorie vom angeborenen deutschen Antisemitismus. Goldhagens Thesen würden darüber hinaus solcher Lektüre entgegenkommen, da sie die Identität zwischen Deutschsein und Antisemitisch-Sein zwar als eine angeborene, jedoch unter gewissen Bedingungen abzubauende definieren würden. Anders gesagt, indem sich die Deutschen mit Goldhagens Thesen identifizierten, mögen sie bewiesen haben, dass sie den angeborenen Antisemitismus losgeworden seien. Um es noch anders zu sagen, Goldhagen gewährte ihnen, dass sie sich durch den Akt des Absetzens von den damaligen Deutschen zugleich von deren Antisemitismus absetzen zu können glaubten. Seinen deutschen Anhängern kam Goldhagen somit doppelt entgegen: sich über die Vergangenheit Klarheit verschaffend wurden sie von ihr freigesprochen.249 Das Resultat ist indes alles andere als erfreulich. Die Deutschen des Jahres 1996 sind bereit, den Zusammenhang zwischen Deutschsein, Antisemitismus und Holocaust nur unter der Bedingung in Betracht zu ziehen, dass sie selbst von diesem Zusammenhang herausgenommen werden: „Je schlimmer diese Deut- 246 D.J. Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. München – Berlin 1996; engl. Hitlers Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust. New York 1996. 247 Vgl. ebenda, S.488. 248 Gemeint sind hier eher Reaktionen der „unprofessionellen“ Leser. Unter den Historikern war die Kritik an Goldhagens Thesen sehr stark. Vgl. etwa: das Pamphlet „Militanter deutscher Abwehrkonsens“ http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumen tritt/agr280s.htm. Ich danke J. Stromšík für diesen Hinweis. 249 Die Fachliteratur stimmt meist darin überein, dass Goldhagen den zeitgenössischen Deutschen eine kollektive Absolution geboten habe. Vgl. Ch. Meier: Das Verschwinden der Gegenwart. München – Wien 2001, S. 48ff; A. Assmann – U. Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 282. 119 schen vor 1945 da standen, umso weniger meinte man offenbar, mit ihnen zu tun zu haben.“250 In der deutschen Rezeption dieses Buches laufen zwei vermeintlich gegensätzliche Tendenzen zusammen: einerseits die antinationale und moralisch rigorose, von den Gegnern als „nationaler Masochismus“ bezeichnete. Diese schließt sich hier gerade nicht aus, sondern vielmehr zusammen mit derjenigen, die sich in dem Willen manifestiert, nur so viel vom Nationalsozialismus der Erinnerungsarbeit preiszugeben, damit das „verarbeitende“ Subjekt sich immer noch heraushalten kann. Goldhagen ist es gelungen, das „Attraktivste“ von beiden Tendenzen anzusprechen, wodurch etwas für die nachkriegsdeutsche Reflexion der Deutschheit Typisches zutage getreten ist: Was sich als Ausdruck der ideologischen Opposition zwischen rechten und linken Haltungen gibt, ist allenfalls eine Variation einer und derselben Sackgasse der Deutschheit. Von diesem Befund ist im Folgenden auszugehen: Zu verfolgen ist dabei, wie sich dieser synergetische Standpunkt erweiterte, um deutsche Diskussionen auf eine höhere Ebene zu bringen. Konturieren wir zunächst mal beide Positionen: Der Wille, die Gegenwart durch Vergangenheit nicht zu destabilisieren (Vergangenheitsabarbeitung ist willkommen, solange sie uns nicht schadet), stellt nichts als eine Variation des Willens dar, in der Gegenwart möglichst viele Spuren der unseligen Vergangenheit zu finden (bis zu der extremen Haltung Deutschsein gleich Antisemitisch-Sein), sofern diese Vergangenheit in beiden Fällen externalisiert wird. Im ersten Falle, auf den man hier nicht weiter einzugehen braucht, auf eine explizite, im zweiten auf eine implizite Art. Was also im zweiten Fall wie beispiellose nationale Selbstkatharsis aussieht, ist in der Tat eine Bußhaltung, bei der sich die Buße Übenden von allem, wofür sie es zu tun vorgeben, längst distanziert hatten. Weder das nazistische Deutschland, noch diejenigen, die in seinem Namen kämpften, stellen für sie ein in Frage kommendes Identifikationsobjekt dar; ihre Bußhaltung erinnert somit an die in den 1960er Jahren gängige Praxis, als man die Schulden der nazistischen Vergangenheit dadurch abzuarbeiten glaubte, dass man sich einfach von der faschistoiden Bundesrepublik mit der Begründung lossagte, sie setze doch das unheilvolle faschistische Erbe fort. Für den hier angestrebten synergetischen Blick gleicht sich somit manches vermeintlich gegeneinander Stehende in falschen Voraussetzungen. Ohne es bewerten zu wollen: der normativen Distanzierung vom Nationalsozialismus, mit der all die entlastenden Mechanismen der ersten Nachkriegsjahre einhergingen (Dämonisierung, Verhängnisgerede etc.), lagen wohl dieselben fragwürdigen Voraussetzungen zugrunde, die es dann innerhalb anderer ideologischer Koordinaten den Deutschen mög- 250 Ch. Meier: Das Verschwinden der Gegenwart ..., S. 48. 120 lich machten, die eigene nazistische Vergangenheit und die bedrohliche kommunistische Gegenwart in einen großen totalitären Sack zu werfen, und die Entscheidung über Wahrheit und Lüge dem Kalten Krieg zu überantworten. Zwanzig Jahre nach dem Kriegsende waren paradoxerweise prinzipiell ähnliche Voraussetzungen am Werk, als es hieß, alle doch so lange verschwiegenen und verdrängten Versagen der Jahre 1933–1945 ans Licht zu bringen, führte diese an sich verdienstvolle Geste doch selten dazu, die Haltungen der sich sehr wohl verschuldeten Eltern auf sich zu beziehen, um erst dann ihren tatsächlichen Charakter zu ermitteln. 4.2 Zwischen Grundsätzlichkeit und Zweckmäßigkeit Am Hintergrund dieser Linie können nun manche als grundsätzlich und prinzipiell deklarierten Einstellungen ihrer Zweckmäßigkeit überführt werden. Die selbstordinierte nationale Abstinenz hat den Schmerz der Entsagung um den Preis lindern können, dass sie in das Privilegium einer Nation transformiert wurde, für die ihre einstigen Sünden unentbehrlich seien (Sündenstolz). Dies steht mitnichten im Gegensatz, vielmehr in prinzipieller Ähnlichkeit zu dem trotzigen Zurückweisen der als Willkürakt der Alliierten empfundenen Schuldzuschreibungen, mit der Begründung, die Alliierten, so fast unisono die konservative Rechte, würden qua pädagogisch-moralisierender „Charakterwäsche“ ihr Siegerrecht nach wie vor geltend machen, obwohl der Krieg längst vorbei sei.251 Nun kann diese Komplementarität in ihren weiteren Schattierungen erfasst werden. Etwa die Transformation der zwangsläufigen deutschen Nachkriegsunmündigkeit in die linke Forderung, diese Unmündigkeit zumindest partiell – selbst nach der Wiedervereinigung252 – beizubehalten, 251 Regelmäßig trifft man dieses Argument in den Texten von B. Willms und A. Mohler an. Geradezu kanonisch wurden in diesem Kontext: Caspar von SchrenckNotzing: Charakterwäsche. Die Politik der amerikanischen Umerziehung in Deutschland. Frankfurt am Main – Berlin 1996 (1965), oder: H.J. Arndt: Die Besiegten von 1945. Berlin 1978. Die Nachkriegszeit steht in diesen Texten vollends unter der Last der deutschen Niederlage. Weitherhin vgl. Willms: Die deutsche Nation. Hohenheim 1982; ders.: Idealismus und Nation. Zur Rekonstruktion des politischen Selbstbewußtsein der Deutschen. Paderborn – München – Wien – Zürich 1986; A. Mohler: Vergangenheitsbewältigung. Von der Läuterung zur Manipulation. Stuttgart 1968; ders.: Was die Deutschen fürchten. Stuttgart 1968; ders.: Der Nasenring. Die Vergangenheitsbewältigung vor und nach dem Fall der Mauer. München 1991. 252 So schrieb 1990 Ch. Meier, man befürchte in Deutschland die Wiedervereinigung, weil man die ganze Nachkriegszeit lang gewohnt war, vor der Verantwortung in verbissene Negation oder in moralisierende und disqualifizierende Anklagen zu flüchten. Man sei es gewohnt gewesen, die eigene nationale Unmündigkeit auszuleben und gegen andere auszuspielen. Fazit: nur derjenige, der mit fortgesetzter politischer Unmündigkeit der Deutschen rechne, also mit ihrer Unfähigkeit, mit 121 um auf die freilich negativ formulierte Besonderheit nicht verzichten zu müssen, scheint bezüglich ihrer fragwürdigen Voraussetzungen komplementär zu der rechten Hysterie zu sein, das dezimierte Deutschland sei, da durch die Maßnahmen der Alliierten und allgegenwärtiges Moralisie- ren253 längst seines Selbstgefühls beraubt,254 leicht erpress- und missbrauchbar. Damit nicht genug: Die bewusste Akzeptanz der Alliiertenmacht und deren Regeln ist, insofern man von ihr nicht gleich privilegierte Ansprüche eines Sonderschülers abzuleiten sucht, komplementär zu der Nichtakzeptanz dessen, dass eine Verwandlung, sei sie auch von außen aufoktroyiert,255 nicht unbedingt als Diktat zu empfinden ist, sondern genauso gut als der erste Schritt zur neuen Identität. Der pädagogisch-moralisierend konditionierte Wille, in der Wunde Hitler herumzustochern,256 wäre nun komplementär zum auferlegten Hinwegsehen über diese. Das Reduzieren der deutschen Geschichte auf die zwölf Nazijahre,257 das für andere Epochen allenfalls die Rolle der präfaschistischen und postfaschistischen Vor- und Nachspiele übrig hat, mag komplementär sein zum lediglich umgepolten Reduzieren der nazistischen Schreckenstaten auf deren durch den europäischen Bürgerkrieg relativierten Charakter. einem großen Staat umzugehen, könne laut Meier zu dem Schluss kommen, ein deutscher Nationalstaat sei schädlich. Siehe Ch. Meier: Deutsche Einheit als Herausforderung. Welche Fundamente für welche Republik? München – Wien 1990, S. 49–50. 253 Zur kategorischen Wirkung des nationalen Imperativs auf der Rechten, zum Topos der babylonischen Gefangenschaft Deutschlands oder dessen geistigen Knechtschaft vgl. W. Weidenfeld: „Politische Kultur und deutsche Frage“. In ders. (Hg.): Politische Kultur und deutsche Frage. Materialien zum Staats- und Nationalbewusstsein in der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1989, S. 13–40, hier S. 26. 254 Vgl. B. Willms: Die Deutsche Nation ..., S. 131ff. 255 Für die Rechte ist charakteristisch das Zurückweisen dessen, was nicht deutschen Ursprungs ist: also der Regel, Interessen oder Wandlungs- (Umerziehungs)gebote. Vgl. B. Willms: „Die sieben Todsünden gegen die deutsche Identität“. Criticón, 78, Juli/August 1983. Später abgedruckt in: B. Willms: Identität und Widerstand. Reden aus dem deutschen Elend. Tübingen – Zürich – Paris 1986, S. 89–107. 256 Vgl. Willms Imperativ: „Wer die Schuld predigt [...] kämpfe nicht für die Identität, sondern gegen sie.“ B. Willms: Identität und Widerstand ..., S. 98. 257 Vgl. dazu die Bemerkung von K.H. Bohrer, der den linken Intellektuellen, den Resten des Bildungsbürgertums wie auch den sogenannten Funktionseliten bescheinigt, sie hätten das Langzeitgedächtnis dem Kurzzeitgedächtnis, das mit der Stunde Null 1945 ende, geopfert: „Was von der Zeit davor erinnert wird, wird nur erinnert als Vorphase zu dieser Stunde Null.“ Dieser linken „Auflösung der geschichtlichen Zeit“ zugunsten eines „moralisch fungierenden Isolierens“ stellt Bohrer die rechte zur Seite, die „zugunsten des therapeutisch fungierenden Vergessens“ die Reflexion dessen ausklammere, was der Stunde Null vorausgegangen sei. K.H. Bohrer: „Historische Trauer und politische Trauer“. In B. Liebsch – J. Rüsen (Hg.): Trauer und Geschichte. Köln – Weimar – Wien 2001, S. 126. 122 Weitere links-rechte Wahlverwandtschaften ergibt ein vergleichender Blick auf den Diskurs der Vergangenheitsbewältigung258 (evtl. Aufarbeitung der Vergangenheit). Rechts werden diesem Prozess folgende Koordinate zugewiesen: Unmittelbar nach dem Krieg habe man als Gemeinschaft der mehr oder weniger „Verstrickten“ und vom Krieg Dezimierten keinen Grund gehabt, miteinander abzurechnen (biologisch und gesellschaftlich unumgängliches Beschweigen). Darum sei es erst geschehen, als die Vergangenheit nun von denjenigen, die den Nazismus entweder gar nicht oder in niedrigem Alter erlebt hätten, ideologisch dazu instrumentalisiert worden sei, mit den älteren, nun zwingend „verstrickten“ Generationen abzurechnen. Obwohl die Vergangenheitsbewältigung mit zunehmenden Jahren ihre Berechtigung und einstige Unschuld verloren habe, habe sie an Intensität gewonnen. Schaut man indes, welchen Generationen und in welchem Ausmaß hier der Anteil am Missbrauch der Vergangenheitsbewältigung zugewiesen wird, tritt die Fragwürdigkeit der Voraussetzungen zutage, von denen hier ausgegangen wird. Etwa macht A. Mohler, einer der prominenten Vertreter solcher Interpretationen, keinen Unterschied zwischen der nach 1940 geborenen Generation der späteren 68er auf der einen und der als „skeptischen“ apostrophierten Generation der zwischen 1926–1930 Geborenen. Mohlers Thesen liegt also sein Zorn auf die 68er zugrunde, der aber unzulässigerweise auch auf die skeptische Generation ausgedehnt wird, bei der von anderen Voraussetzungen auszugehen ist. Sosehr sich aus dieser Generation einige zu dem von Mohler diagnostizierten Umgang tendierenden – als Gewissen der Nation auftretenden – Intellektuelle (Grass, Habermas, Wehler) rekrutierten und so wohl auch in einigen Fällen von einer Affinität dieser Generation zu den 68ern gesprochen werden kann, zu einem pauschalen Urteil gibt es meines Erachtens keinen Grund. Denn zu dieser Generation werden genauso gut auch manche im Laufe der Jahre – nicht nur gegenüber dem gegenseitigen Abrechnen – immer skeptischere Intellektuellen (O. Marquard, T. Nipperdey) gezählt, denen der Schatten der 68er mit deren Einseitigkeiten immer unangenehmer wurde (I. Geiss, Ch. Meier, K. Sontheimer, wohl auch M. Walser und H.M. Enzensberger). Für sie scheint in Mohlers Charakteristik kein Platz zu sein, was nicht nur deren Aussagekraft schmälert, sondern auch den 258 Vgl. Adornos Text aus dem Jahre 1959: T.W. Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“. In ders.: Gesammelte Schriften 10, 2. Kulturkritik und Gesellschaft II. Frankfurt am Main 1977, S. 555–572. Auf der Rechten sind alle Schriften und Essays Mohlers heranzuziehen, etwa: A. Mohler: Vergangenheitsbewältigung ...; ders.: „Die Deutschen in der Mühle“ ..., S. 55–59; es sei hinzugefügt, dass Mohler diesen Prozess in der Tat schon zu Beginn der 1960er Jahre analysiert hatte, freilich ohne den Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ benutzt zu haben. Vgl. A. Mohler: „Konservativ 1962“. Der Monat, 14, 163, April 1962, S. 23–29. 123 Verdacht hervorruft, ob Mohler selbst nicht viel mehr abrechnet, als ihm zusteht.259 Wohl mag er dabei davon ausgegangen sein, die oben genannten „Skeptiker“ hätten ihre Wende zur Skepsis erst viel später durchgemacht. Dem kann man indes entgegnen, dass bereits um das Jahr 1968 bei vielen der oben genannten Autoren eine verhältnismäßig starke Distanz zum Geist der Studentenbewegung zu verzeichnen wäre, so dass man ihnen die von Mohler diagnostizierten Defizite der 68er derart pauschal nicht anlasten könne. Linke Interpretationen des Prozesses der „Vergangenheitsbewältigung“ sind spiegelverkehrt angelegt, insofern sie dessen Absenz in den Nachkriegsjahren monieren, und die bahnbrechende Rolle der 1960er Jahre in den Vordergrund stellen: erst infolge der radikalen Änderung der gesellschaftlichen Atmosphäre zu Beginn der 1960er Jahre habe man das wahre Ausmaß der nazistischen Epoche wahrgenommen, deren verdrängten Schattenseiten ans Licht gebracht, und erst dadurch, der Opfer gedenkend, die Bundesrepublik auf moralisch unantastbare Grundlage gestellt und tatsächlich gegründet. Aus dem Rückblick erscheint mindestens der letzte Punkt fragwürdig: Die Generation der 68er, wie mittlerweile einige ihrer Repräsentanten (P. Schneider, C. Leggewie)260 beteuert haben, sei allenfalls sekundär an den (Holocaust-)Opfern interessiert gewesen, vielmehr habe sie selbst nach der Opferrolle geschielt: Um für sich die Rolle der Opfer in Anspruch zu nehmen, die die Last der nazistischen Vergangenheit tragen, habe sie den Staat, seine Institutionen und Verteidiger als faschistisch entlarvt. Brutal-repressive Polizeieingriffe gegen die demonstrierenden Studenten oder die mangelnde Bereitschaft, B. Ohnesorgs Tod adäquat zu ermitteln, haben freilich dieser suggestiven Identifikation der Studenten mit den Opfern Nahrung gegeben. Danach war an der Rollenverteilung zwischen (post)faschistischen Tätern und (post)antifaschistischen Opfern nicht mehr zu rütteln; dass sich durch diesen Akt tatsächliche Opfer des Hitlernazismus degradiert und herabgewürdigt fühlen konnten, hatte die Neue Linke offensichtlich in Kauf genom- men. 259 Vgl. A. Mohler: Was die Deutschen fürchten. Stuttgart 1968, S. 131–140. 260 Vgl. C. Leggewie: Der Geist steht rechts ..., S. 219. Interessant auch die Szene in Schneiders Rebellion und Wahn, in der ein Gespräch zwischen R. Dutschke und T. Fichter geschildert wird, bei dem auch die Frage gestellt wurde, wann man vom SDS aus endlich etwas über den Judenmord machen werde, „statt immer nur über Afrika und Vietnam. Nach einer Pause, nach langem Überlegen habe Dutschke geantwortet: Wenn wir das anfangen, verlieren wir unsere ganze Kraft. Eine solche Kampagne ist von unserer Generation nicht zu verkraften, aus dieser Geschichte kommen wir nicht mehr heraus. Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen. Wir müssen erst einmal etwas Positives gegen diese Vergangenheit setzen.“ P. Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68. Köln 2008, S. 68. 124 Beide Schemata stehen spiegelverkehrt zueinander: Der Verfallsgeschichte von einer unmittelbar nach dem Krieg einzig möglichen Haltung, die in den 1960ern von einer zunehmend ideologisch instrumentalisierten Praxis ersetzt wird, wird hier in spiegelverkehrter Komplementarität die Aufstiegsgeschichte gegenüber gestellt, in der die unselige Entlastungspraxis des restaurierenden Beschweigens erst in den 1960er Jahren der erwünschten gnadenlosen Kritik gewichen ist, die im Namen der Opfer zu agieren vorgab. Als ein verdienstvoller Schritt auf die Opfer zu ist dieser Anspruch dann ab den 1970er Jahren zum selbstverständlichen Bestandteil der deutschen Selbstreflexion innerhalb der Holocaustforschung geworden, deren moralische Unanfechtbarkeit kaum in Frage gestellt werden darf, obwohl nicht immer ganz deutlich ist, ob sie noch den tatsächlichen Opfern dient, oder eher den selbsternannten. Das letzte Beispiel setzt an der im Namen der Aufklärung betriebenen Entlarvung der Entlastungsstrategien an: Dabei wurde Schritt für Schritt demaskiert, wie man alles Böse auf den Dämon Hitler, auf die Generäle, auf das Verhängnis, auf die SS-Einheiten verschob, um dann in den 1990er Jahren auch den letzten Entlastungsanker abzureißen, als die großen Wehrmachtausstellungen mit der vermeintlichen Unschuld der Wehrmacht aufgeräumt haben. Das aufklärende Licht sollte die Vergangenheit unverzerrt zeigen, auch auf die Gefahr hin, dass dabei die schrecklichsten Verbrechen Deutschlands zutage treten würden. Der schwache Punkt dieser Argumentation, wegen dem sie sich selbst außerhalb des Projekts der Aufklärung stellt, betrifft den automatisch erhobenen Anspruch, die soeben entlarvten Tatsachen all den Generationen der Deutschen anlasten zu dürfen, die von solcher Entlarvung nichts erwarten.261 Doch die Gegenseite schoss auch weit über das Ziel hinaus, indem sie ihre Attacke nicht nur gegen die aufklärerische Mechanik der Vergangenheitsbewältigung, die in ihrer einseitigen Radikalität mit der Aufklärung wenig zu tun habe, führte,262 sondern, was unberechtigt war, gegen die Aufklä- 261 Es ist nicht schwierig, diese und jene (SS oder Wehrmacht) zu Verbrechern zu erklären, um sie zu verurteilen. Die Grenzen dieser pauschalisierenden Geste treten indes hervor, sobald genau festzulegen ist, ab wann dieser oder jener als Verbrecher zu bezeichnen ist. Bedenkt man diese Grenzen, sieht man im anderen Lichte die recht peinlich moralisierende Kritik, der einige um 1927 Geborenen ausgesetzt werden, die ja am Kriegsende in Situationen geraten sind, die vielfach ihre pubertären oder leicht nachpubertären psychischen Möglichkeiten übertrafen. Diejenigen, die im jungen Alter als Erwachsene zu agieren hatten, sollten einfach nicht von denen kritisiert werden, die, so wie nicht wenige 68er, sich über viele Jahre ihre jugendliche Unreife zu verlängern suchten. 262 Mohler zitiert zustimmend aus M. Wolffsohns Buch Ewige Schuld? 40 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen (München 1988): „Dass die Deutschen, besonders die nach 1945 geborenen, heute auf diese politische Mechanik nationalkollektiver Schuldzuweisung immer ärgerlicher reagieren und morgen noch ärgerli- 125 rung als solche. Man hat die Aufklärung als eine unnütze, unheilvolle „inadäquate“ Tendenz angegriffen, die für den Umgang mit der Vergangenheit unbrauchbar sei. Allgemein ist an den angegeben Beispielen deutlich zu sehen, wie man sich an die jeweils ausschließliche Lösung klammerte, ohne zu bedenken, dass die Absetzung von der Gegenseite womöglich nicht ausreicht, um das Problematische der eigenen Position zu beheben. Was man sieht, sind Dichotomien, die einer relativierenden Reflexion eigener Voraussetzungen kaum zugänglich sind und folgende Trugschlüsse nahelegen: Als könnte man nur zwischen der nationalen Abstinenz und der nationalen Maßlosigkeit wählen. Als könnte man sich nicht dem Einfluss der anderen öffnen, ohne dadurch sich selbst zu verlieren. Als könnte man denjenigen, die uns helfen wollen, nur entweder blind folgen, oder sie strengst zurückweisen. Als müsste, wer einmal Böses getan hat, es für immer bleiben et vice versa. Nimmt man zur Kenntnis, dass diese Optionen sich keineswegs ausschließen, vielmehr zwei Seiten derselben Münze darstellen, hat man einen Blick auf die Deutschheitsdebatten gewonnen, der dem Spannungsverhältnis zwischen den jeweiligen Polen sehr wohl gerecht wird und über sie hinausweist: Nämlich zwischen der Bereitschaft, die Verantwortung zu übernehmen, und dem Gebot, sie ungeachtet der eigenen Überzeugung zu übernehmen; zwischen dem ausnahmslosen Willen, Deutschland zu normalisieren, und dem folgenreichen Beharren auf dessen unnormalem Ausnahmecharakter; zwischen der Reue übenden Bereitwilligkeit, im Namen der Opfer seine eigenen Leiden vergessen zu machen, und der unverschämten Aufwertung eben dieser Leiden auf Kosten der Opfer. Wohl jede Phase der nachkriegsdeutschen Geschichte hat ihre für wahr gehaltenen Ideen ausgestellt, deren Bedingtheit man nicht sehen wollte. So wurde etwa lange geglaubt, das beste Heilmittel gegen den Faschismus sei der wirksame Antifaschismus; andere meinten wiederum, der Faschismus werde vom Antikommunismus aus der Welt geschafft; noch andere wollten ihn dadurch bekämpfen, dass sie die kapitalistische Bundesrepublik ablehnten und den Erfolg dieser Kur dann nach Maßgabe der eigenen antikapitalistischen Radikalität bestimmten. All diesen „Wahrheiten“ scheint die Maßlosigkeit der an die gesellschaftliche Realität gerichteten Ansprüche gemeinsam zu sein, in deren Lichte manches Verbesserungs-, also Reformwürdige schlicht als Zurückzuweisendes, Unrecher reagieren könnten, ist nicht unverständlich [...] Dieser politische Biologismus ordnet Menschen aufgrund ihrer geburtsbedingten nationalen und religiösen Herkunft, nicht aufgrund ihrer Eigenschaften oder Verhaltensweisen, den Mächten des Lichtes oder den Mächten des Dunkels zu – ein für allemal. Er ist damit radikal gegen die Tradition der Aufklärung gerichtet, die für den Einzelmenschen die Fesseln der Geburt sprengen wollte.“ A. Mohler: Der Nasenring ..., S. 197. 126 parierbares, revolutionär Abzuschaffendes erscheint. Auch mangelt es ihnen offensichtlich an Bereitschaft zu überlegen, ob man den noch so wichtigen antifaschistischen Kampf nicht besser aus der Position der Bürger bestreiten sollte, die den in der nicht unerheblich demokratisierten Bundesrepublik erreichten Stand der zivilisierten Bürgerlichkeit kaum einer Diktatur opfern würden, sollte sie ihnen selbst das (rote, oder braune) Paradies auf Erden in Aussicht stellen.263 Zu all diesen „Wahrheiten“ gehören auch dubiose argumentative Praktiken, in denen man im Besitz einer Qualität meist erst dann zu sein glaubt, nachdem man sie den anderen abstreitig gemacht hat. Um konkret zu sein: Man glaubt kein Faschist zu sein, sofern sich die anderen weniger antifaschistisch geben, als man es selbst tut; der vergleichsmäßig mildere Antifaschismus der Anderen gibt einem sogar das Recht, diese für potentielle Faschisten zu halten. Als hätte man immer nur zwei Möglichkeiten, wobei die Identifikation mit einer von ihnen jeweils nach Maßgabe der Negation der anderen festgelegt wird. Bereits aus den vorherigen Kapiteln sollte klar sein, wie problematisch jeder Versuch ist, etwas durch dessen Gegensatz zu bekämpfen: So kommt man auch hier nicht umhin, zu konstatieren, dass es garantiert eins gibt, was gegen das Böse kaum hilft, ja es vielmehr stärkt, und zwar die gute Absicht. Gegen Faschismus nützt nichts so wenig wie eine gute antifaschistische, antikommunistische, ja sogar kommunistische Absicht; den Hass zum Fremden (zu anderen Nationen, Rassen, Nationen, Kulturen) überwindet man nicht, wenn man guten Willens das Eigene zu hassen beginnt; vom Antisemitismus wird selbst die erhöhte Philosemitismusdosis kaum abhelfen; der politischen Macht ist nicht mit unpolitischem Geist beizukommen, der Stärke mit der Schwäche und der Selbstliebe mit Selbsthass. Da diese Struktur den politischen wie geschichtswissenschaftlichen Debatten über die Nachkriegsdeutschheit gemeinsam ist, ist nun zu verfolgen, auf welche Art sie auch deren literarischen Reflexionen mitbestimmte und insbesondere inwieweit und mit welchen Konsequenzen man darin die illusorischen, in den Sackgassen der Deutschheit sich verfangenden Lösungen reflektierte. In einer dieser Sackgassen scheint nun auch die geschichtswissenschaftliche Tendenz geendet zu haben, die eine möglichst sachliche Erforschung und Erklärung des Nationalsozialismus anstrebte, ja gerade in der emotionslosen Versachlichung eine genuin wissenschaftliche Anforderung erblickte. Das Abstrahieren von moralischen Gesichtspunkten, an dessen methodologischen Leitfaden man den Nationalsozialismus erforschen wollte, mag zugleich eine Falle dargestellt haben: Sobald empörte Stimmen von links reagiert haben, erklärte man sich 263 Dazu vgl. die Argumentation von O. Marquard, ders.: „Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung“. In ders.: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien. Stuttgart 2004, S. 29–34. 127 zum Sündenbock des massiven Drucks von links, der dem erforderlichen Versachlichen des Blicks auf den Nationalsozialismus im Wege stehe. Die Heftigkeit, mit der auf einzelne Versuche, den moralisierenden Gesichtspunkt auszuschalten (am häufigsten nennt man diesbezüglich die provokative Geschichte der Deutschen264 von H. Diwald und die recht umstrittenen Aufforderungen R. Hofstätters, die prinzipiell unrealisierbare Vergangenheitsbewältigung doch lieber durch eine allgemeine Amnestie zu ersetzen),265 reagiert wird, wird auf der Rechten als Beweis dafür verstanden, die Linke werde alles tun, um den moralisierenden, gesinnungsethischen, also politisch korrekten Charakter der deutschen (Zeit)Geschichtswissenschaft unantastbar zu bewahren. Um den Blick wiedermal auf feinere Nuancen einzustellen, ist geltend zu machen, dass der Wille, den Nationalsozialismus sachlich zu objektivieren (im Sinne der axiologischen Neutralisierung) nicht nur bei den erklärt rechten Intellektuellen (A. Mohler, B. Willms) zu finden war, sondern in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nicht weniger die Sicht der Mehrheit der deutschen Historiker prägte. Um es nochmal hervorzuheben: Man spürte im Allgemeinen die Notwendigkeit, den Blick auf den Nationalsozialismus zu entemotionalisieren. Zugleich war man sich mehrheitlich – stärker als es bei den rechten Historikern der Fall war – der Gefahr bewusst, dass diese objektivierende Methode dazu verleiten könnte, affektiv das zu verstehen, was man bei den nationalsozialistischen Schrecken wohl besser nicht verstehen soll- te.266 In diesem Spannungsverhältnis hatte man sich der Erforschung des Nationalsozialismus anzunehmen: der Spannung zwischen den Grauen der begangenen Verbrechen und der alltäglichen Banalität des Lebens in einer Diktatur, an die sich früher oder später mancher gewöhnt. 4.3 Historisierung des Nationalsozialismus Der Begriff „Historisierung des Nationalsozialismus“ stammt von M. Broszat, eine unglückliche Wortprägung, wie sich bald zeigen sollte. Denn dessen ungeachtet, dass Broszat damit eben die oben angedeutete prekäre 264 H. Diwald: Geschichte der Deutschen. Frankfurt am Main – Berlin – Wien 1978. 265 B. Willms ... Die deutsche Nation ..., S. 133–136; Zur Reflexion der Passagen zu den eventuellen Vorteilen der allgemeinen Amnestie, wie sie von R. Hofstätter dargelegt wurden (ders.: „Bewältigte Vergangenheit?“. Die Zeit, 14.6.1963) siehe A. Mohler: Die Vergangenheitsbewältigung ..., S. 83–98; oder ders.: Was die Deutschen fürchten? ..., S. 186–192. Die Anti-Diwald Kampagne kommentiert Mohler in: Der Nasenring ..., S. 191–195, vgl. ders. : „Die Deutschen in der Mühle“ ..., S. 55–59. 266 Vgl. insb.: Ch. Kleßmann: „Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung“. In M. Sabrow – R. Jessen – K. Große Kracht (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte ..., S. 252. 128 Balance ausdrücken wollte,267 geriet dieser Begriff spätestens während des Historikerstreits in ideologisch belastete Debatten, in denen man zunächst mal klarstellen musste, dass, den Nationalsozialismus historisieren zu wollen, doch nicht bedeute, dessen Schrecken relativieren zu wollen. M. Broszat hätte wohl damals nichts weniger gewünscht, als sein gewagtes und leicht missbrauchbares Konzept in grobkörnige Debatten des Historikerstreits eingebunden zu sehen, denn die Art, wie er lange vor diesem Streit die Frage „Was heißt den Nationalsozialismus zu historisieren?“ beantwortet hatte, zeigt, wie selektiv und zweckmäßig sein Text im darauf folgenden Historikerstreit gehandhabt wurde. Broszat hatte darunter eine Chance verstanden, mittels einer Sprache, in der der Sprecher – sich selbst entlastend – andere nicht belasten müsste, zugleich mit Stereotypen und Pauschalisierungen268 aufzuräumen. Angestrebt wurde somit ein zeitgemäßer Ausweg aus der nicht nur in Broszats Augen unproduktiven Praxis der Vergangenheitsbewältigung, die bis in die 1980er Jahre hinein nach wie vor stark pädagogisch ritualisierten und deklamatorischen Pflichtlektionen der antifaschistischen Moral ähnelte, ohne auf den distanzierenden Gestus verzichten zu können, der die historische Epoche des Nationalsozialismus behandelt, als würde sie gar nicht zur deutschen Geschichte gehören.269 Broszat geht von folgenden Prämissen aus: die Gräueltaten des Nationalsozialismus, die unumstritten seien, dürften uns nicht daran hindern, ihn möglichst verstehen zu wollen. Diese Epoche sei historisch lebhaft, genauso auch ihre moralischen Implikationen. Brozsats Wunsch, das historische Bewusstsein des Nationalsozialismus zu historisieren, umkreist 267 M. Broszat: „Der Historiker in der Spannung zwischen Verstehen und Bewerten der Hitler-Zeit“. In ders.: Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. München 1988, S. 208–215; ders.: „Was heißt Historisierung des Nationalsozialismus?“. Historische Zeitschrift, 247, 1988. Zitiert wird aus dem Text, in dem Broszat, dazu von der Historischen Zeitschrift aufgefordert, nach dem Historikerstreit seine These analysiert, die er im Mai 1985 in Merkur publiziert hat. 268 Broszats Plädoyer geht davon aus, dass das Gesamtbild der NS Zeit „merkwürdig wesenlos geblieben ist, oft mehr Schwarz-Weiß-Konstruktion aus der Perspektive als genetisch entfaltete multidimensionale Geschichte, bevölkert weniger mit plastischen, psychologisch stimmigen Figuren, als mit Typen und Stereotypen aus dem politikwissenschaftlichen Begriffs-Vokabular, präsentiert mehr in der Form eines moralisch-didaktischen Kommentars als in der eines historischen Begriffs [...]“. M. Broszat: „Was heißt Historisierung des Nationalsozialismus?“. Historische Zeitschrift, 247, 1988, S. 5. 269 Die Deutschen, so Broszat, aber auch etwa Ch. Meier, hätten es sich angewöhnt, die deutsche Geschichte vor 1945 darzustellen, als würde es sich um die Geschichte einer fremden Nation handeln, die man nicht in der ersten, sondern vielmehr in der dritten Person verfassen könne. Vgl. M. Broszat – S. Friedländer: „Um die ,Historisierung des Nationalsozialismus‘. Ein Briefwechsel“. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 36, 2. April 1988, S. 339 – 372, hier S. 350. 129 das der Geschichtswissenschaft immanente Verständnisproblem, das nicht verschwindet, wenn man den Nationalsozialismus verurteilt. Darum greift Broszat auf die Tradition des „kritischen Verstehens“ zurück, die er jedoch vom in seinen Augen einseitig affirmativen romantischen Historismus trennt,270 sofern sie ihm den alternativen und in sich ambivalenten Begriff der historischen Einsicht bietet. Dieser Zugang mag die Spannung zwischen der kritischen Distanz von seinem historischen Gegenstand und dem unkritischen Willen, ihn zu verstehen, besser auffangen, weil in ihm – vereinfacht gesagt – der analytisch-aufklärerische Ansatz und der eher emphatisch verstehende romantische zueinanderfinden. Die Attraktivität dieses Konzepts liegt auf der Hand: Der historisierte Nationalsozialismus wird zu einer historischen Epoche, von deren Erforschung man sich nicht mehr durch eine „Moralisierung, die häufig Zuflucht nimmt zu einer Pauschalisierung und Vergröberung der historischen Vorgänge der NS-Zeit“ wird erkaufen müssen.271 Indes gilt: Dazu, dass sein Konzept nicht immer in diesem Sinne verstanden wurde, mag auch Broszat selbst beigetragen haben,272 sosehr er potentielle Missverständnisse und Instrumentalisierungen zu minimalisieren suchte.273 Wohl noch problematischer scheint es, und auch darin wurde Broszat von S. Friedländer aufmerksam gemacht, die Grenze zu markieren, jenseits derer man den Willen zu verstehen und zu analysieren nicht so einfach versöhnt, wie im Falle der unumstrittenen nationalsozialistischen Verbrechen.274 Eine inkonsequente Reflexion dieser Grenzfälle könnte, wie Friedländer bemerkte, damit zusammenhängen, dass Broszats Offenheit gegenüber den von der jüdischen Seite vorgebrachten Gegenargumenten, so sehr sich viele deutsche Historiker der 1980er Jahre diesbezüglich an Broszat ein Beispiel nehmen konnten, indes nicht unbegrenzt war. Dass das Historisierungspostulat eine gewisse methodische Voreingenommenheit in Kauf nimmt, kam eben in der Diskussion mit S. Friedländer zum Vorschein, in der der im Geiste der Hitlerjugend sozialisierte Broszat (Jahrgang 1926) mit der Perspektive eines Holocaustüberlebenden konfrontiert wurde.275 Obwohl er selbst davon nichts wissen wollte, 270 Broszat nimmt sein Konzept des historisch-kritischen Verständnisses eindeutig aus der Tradition des romantischen Historismus heraus, die sich mit seinem Gegenstand einfühlend identifiziere. Vgl. M. Broszat: „Was heißt Historisierung des Nationalsozialismus?“. Historische Zeitschrift, 247, 1988, S. 2. 271 Vgl. ebenda. 272 Vgl. M. Broszat – S. Friedländer: „Um die ,Historisierung des Nationalsozialismus‘“ ..., S. 344–345. 273 Vgl. ebenda, S. 339–340. 274 Vgl. ebenda, S. 345–346. 275 2003 wurde eine scharfe Debatte über Broszats Mitgliedschaft in der NSDAP geführt. Der Frage, in wie fern das Historisierungspostulat ein Projekt darstellen 130 projizierte er in die Opposition zwischen dem deutschen und jüdischen Blick auf die NS-Zeit bewertende Attribute: Sowenig er nur den dominanten Blick der deutschen Historiker auf die Geschichte dieser Epoche gelten lassen wollte,276 wurde von ihm doch der jüdische Blick benachteiligt. Er erklärte zwar, die Geschichte der NS-Zeit könne nicht längst allein von deutschen Historikern bestimmt werden, da „jeglicher exklusive Anspruch auf deutsche Geschichtsdeutung in Bezug auf diese Periode verspielt wurde“,277 konnte aber selber nicht umhin, diesen Anspruch wiederum zu erheben: Während er in der historischen Befangenheit der deutschen Sicht keinen Nachteil, sondern vielmehr einen Vorteil sah,278 sei die Befangenheit und Voreingenommenheit der jüdischen Perspektive, so glaubte er, durch keine Reflexion abzubauen. Die deutsche Perspektive wird also apriori bevorzugt, da angenommen wird, ihre historische Befangenheit könne reflexiv überwunden werden.279 Aus Broszats Argumentation spricht die Besorgnis, das ihm am Herzen liegende streng methodologisch gezeichnete Bild des Nationalsozialismus könnte in Konfrontation mit anderen, unwissenschaftlichen, wie er selber sag mythischen Bildern Schaden nehmen. Broszats Bewertung dieser Bilder ist widersprüchlich. Einerseits behauptet er, manche dieser literarischen, mythischen Bilder der NS-Erfahrung vermitteln „auf ihre eigene, nicht wissenschaftliche Weise Einsichten [...], die im besten Sinne intelligent sind und sich deshalb durchaus vereinbaren lassen auch mit dem zunehmenden Bedürfnis nach besserem wissenschaftlichen Begreifen dieser Vergangenheit“.280 Andererseits aber kommt er nicht umhin, in diesen mythischen Bildern eine Tradition der schwarzweißen Erinnerungen der Opfer und ihrer Nachkommen zu erblikonnte, mit dessen Hilfe diese Generation mit ihrem Schuldanteil fertig werden wollte, geht E. Syring nach, ders.: „Der Historikerstreit und die Frage der Historisierung des Nationalsozialismus“. In S. Kailitz (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Der Historikerstreit und die deutsche Geschichtspolitik. Wiesbaden 2008, S. 120–132. 276 Siehe M. Broszat – S. Friedländer: „Um die ,Historisierung des Nationalsozialismus‘“ ..., S. 343. 277 Ebenda, S. 342. 278 „Hätte ich nicht dieser HJ-Generation angehört und ihre spezifischen Erfahrungen gemacht, wäre es für mich nach 1945 wahrscheinlich nicht ein solches Bedürfnis gewesen, mich so kritisch und, wie wir damals empfanden, zugleich mit ,heiliger Nüchternheit‘ mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen.“ Ebenda, S. 361. 279 Vgl. die recht vorsichtig formulierte Bemerkung von S. Friedländer: „Die jüngsten Debatten sind von einer großen Mehrheit derjenigen Historiker geführt worden, die auf deutscher Seite mindestens zur HJ-Generation gehören [...] Ich vermag mich gut in solche schwierigen Lagen einzufühlen, aber würden Sie mir nicht zustimmen, dass dieser deutsche Hintergrund bei der Darstellung der NS-Zeit ebenso viele Probleme bereitet wie in anderer Weise jener der Opfer?“ Ebenda, S. 347. 280 Ebenda, S. 343. 131 cken, die, ihrerseits moralisierend, wissenschaftlich unhaltbare Konstruktionen bilden.281 Den mangelnden Respekt zum unwissenschaftlichen (mythischliterarischen) und nicht-deutschen Bild des Nationalsozialismus glaubte Broszat mit seinen objektivierenden Argumenten zu übertreffen. Andere als wissenschaftliche Gesichtspunkte konnten in seinen Augen einer historischen Erkenntnis kaum zuträglich sein. Dies ruft eine ganze Reihe von Fragen auf den Plan: Sind die von dessen Opfern (auch wenn sie ihn überlebt haben) entworfenen Bilder des Nationalsozialismus tatsächlich derart vorgefasst, dass sie die Erkenntnis dieser Zeit verzerren können? Ist dem mythischen Charakter (bereits die Bezeichnung mythisch als Gegensatz zu wissenschaftlich ist bedenklich) dieser Bilder anzulasten, er reduziere auf eine unzulässige Weise diese Epoche auf den Holocaust? Ist es legitim, diese nachträgliche Reduktion mit dem Hinweis darauf zu widerlegen, man resigniere dadurch auf historische Proportionen und Zusammenhänge? Ist nicht genauso oder wohl noch mehr unberechtigt, wenn man den Holocaust auf seine Bedeutung für die Erkenntnis der deutschen Geschichte reduziert, und dem Gedächtnis der Opfer einen gleichwertigen Anteil am historischen Bild des Nationalsozialismus abspricht? Überführt sich Broszat nicht selbst der falschen Projektion, wenn er der jüdischen Sicht unterstellt, sie wäre in sich geschlossen? Wird er selbst den an die Wissenschaft gestellten Ansprüchen gerecht, wenn er die „mythischen“ Bilder nur gelten lässt, sofern sie über das Leiden anderer, wohlgemerkt nicht jüdischer Opfer hinwegsehen?282 Und schließlich, gelangt hier die um ein proportionales und zeitgemäß historisiertes Bild des Nationalsozialismus bemühte Geschichtswissenschaft nicht schon jenseits der Grenze, an der verdienstvolle wissenschaftliche Intentionen in Missachten einer Gruppe der Opfer umschlagen? 281 Vgl. ebenda, S. 346. 282 „Es ist evident: Der Stellenwert von Auschwitz im ursprünglichen geschichtlichen Handlungskontext ist ein extrem anderer als seine Bedeutung in der nachträglichen historischen Sicht. Auch der deutsche Historiker wird akzeptieren, dass Auschwitz wegen seines singulären Bedeutungsgehaltes nachträglich als Zentralereignis der Hitler-Zeit fungiert. Er kann aber als Wissenschaftler nicht so ohne weiteres akzeptieren, dass es nachträglich auch zum Angelpunkt des gesamten faktischen historischen Geschehens der NS-Zeit gemacht, dass diese ganze Geschichte in den Schatten von Auschwitz gestellt, ja Auschwitz sogar zu dem alleinigen Maßstab der geschichtlichen Perzeption dieser Zeit gemacht wird [...] Das würde nicht nur diejenigen nicht nationalsozialistischen Traditionsbestände, die in die NS-Zeit hineinreichten und infolge ihrer Indienstnahme in gewisser Weise selbst Opfer des Nationalsozialismus wurden, noch nachträglich gänzlich unter diese usurpierte Herrschaft zwingen. Es würde vor allem auch der unermesslich großen Zahl der nichtdeutschen und nicht-jüdischen Opfer, die andere Erinnerungsmonumente haben, nicht gerecht.“ Ebenda, S. 353. 132 Broszats Besorgnis, die kraftvolle Stimme der Opfer (inklusive derer, die in ihrem Namen sprechen) könne aufgrund ihrer appellativen Wirkung den deutschen geschichtswissenschaftlichen Diskurs des Nationalsozialismus von Grund auf verändern, ist derart massiv, dass man fragen will, was müsste passieren, damit er der Opferperspektive einen ihrer Kraft adäquaten Status zuerkennen würde? Denn wer sonst, wenn nicht die Juden, sollte das Recht haben, das Bild dieser Zeit (mit)zu zeich- nen?283 Ich glaube, einen der Gründe für Broszats zweifelhaft anmutenden Schritte sollte man in der Zerbrechlichkeit dieses zu leicht missbrauchbaren Themas suchen; sobald die Opfer einen größeren Anteil an der Bildproduktion der Vergangenheit gewinnen würden, würde das Selbstbewusstsein der deutschen Moralisten in die Höhe schießen (wodurch man wiederum den deutschen Nationalisten neue Munition liefern würde), die sich geradezu als Sprecher der Opfer fühlen würden. Einem so starken moralischen Druck würde Broszats Programm nicht standhalten können. Dieser Hinweis auf die damaligen prekären Umstände scheint in meinen Augen sehr wohl die scharfe und zum Teil überhebliche Kritik einzuschränken, die Broszat vorhalten würde, er habe sich aus moralisch zweifelhaften und – aus heutiger Sicht – unakzeptablen Gründen geweigert, den Holocaust für einen gleichwertigen Bestandteil der NS-Forschung zu halten. Als moralisches Versagen erscheint es erst für uns heute zwingend, die wir ja bereits zwanzig Jahre lang gewohnt sind, die nationalsozialistischen Jahre durch die Brille des Holocaust zu betrachten, während die Zeit, in der dieses Programm formuliert wurde, noch von anderen Voraussetzungen geprägt wurde. Einen tieferen Blick in die Kräfteverteilung der 1980er Jahre gibt Broszat in der Studie „Holocaust und die Geschichtswissenschaft“.284 Hier widerlegt er zunächst mit einigen Beispielen den Vorwurf, die Erforschung des Nationalsozialismus klammere die „Endlösung der Judenfrage“ aus, um zu konzedieren, sie werde „ganz überwiegend nur im Kontexte allgemeiner Darstellungen über die Geschichte des Dritten Reiches“ behan- delt,285 und dementsprechend kurz und oberflächlich. Danach kommt er auf gewisse Begleiterscheinungen zu sprechen, um zu illustrieren, wie zäh speziell in Deutschland die historische Schilderung dieser Epoche vorankommt: In der Regel analysiere man das Thema eher aus größerer Dis- 283 „Die Ermordeten sollen noch um das einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis.“ T.W. Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ ..., S. 557–558. Dazu siehe auch: A. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Bonn 2007, S. 106. 284 M. Broszat: „Holocaust und die Geschichtswissenschaft“. In ders.: „Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte“. München 1988, S. 102–118. 285 Ebenda, S. 116. 133 tanz, auch die Sprache komme dem Thema kaum nach, und man – und darin ist man schon am Punkt – sei gewohnt, die Geschichte der deutschen Aktion in den Mittelpunkt des zeithistorischen Blicks zu stellen, keineswegs also die Geschichte des jüdischen Handelns, Erlebens und Wahrnehmens. Darum falle das Bild der Opfer sehr typisiert, ja schematisiert aus: Man erzähle keine Holocaustgeschichte, man analysiere vielmehr die Geschichte der Endlösung. Zum Schluss nimmt Broszat, diese Entwicklung überschauend, eine auf die Zukunft hin orientierte Position ein: Er habe nicht vor, sich den Änderungen entgegenzustemmen, ja er wünsche sich, dieses Thema, das zuweilen einem erratischen Monolith des unvorstellbaren, ja metahistorischen Verbrechens ähnele, möge sich in einen Stoff verwandeln, in dem die „menschliche Erfahrungs- und Verhaltensgeschichte der Opfer nacherlebbar wird“.286 Broszat steht in der Tat an einem zeitgeschichtswissenschaftlichen Wendepunkt: Er blickt zurück auf die Phase, in der man insbesondere nach Erklärungen suchte, wie eine derart kulturelle Nation wie die deutsche den Holocaust überhaupt hatte zulassen können, sowie auf die Epoche, in der man den Nationalsozialismus auf die Fragen der Machtübernahme und der Kriegsführung reduzierte, ja auch der theoretisierende Zugang der 1960er Jahre scheint bereits überholt . Anders gesagt, auf der Linie, die vom Erklären, übers Beschreiben bis zum Erzählen des Holocaust geht,287 steht Broszat an der Schwelle zwischen Beschreiben und Erzählen. Er will nicht mehr nur beschreiben, doch er weigert sich, nur noch zu erzählen, und noch mehr, erzählen zu lassen. Es bringt nichts, daran Anstoß zu nehmen, dass er Hemmungen hatte, diesen Schritt zu vollziehen, denn, wie man heute weiß, zum Paradigmenwechsel ist es diesbezüglich erst am Ende der 1980er Jahre gekommen.288 Fruchtbarer scheint es zu fragen, warum diese Hemmungen derart ausgeprägt waren. Welche der für uns heute unwichtigen Tatsachen hatte er zu berücksichtigen? Hätte er sich uneingeschränkt der Opferperspektive geöffnet samt den daraus sich ergebenden Ansprüchen, dann hätte man ihm wohl nicht nur vorwerfen können, er sei jemand, der seine Nation und folglich auch sich selbst verrate, sondern auch, dass er sich in die Opferrolle stilisiere und schiele nach deren Vorteilen, um sich zu entlasten, und nicht zuletzt, er tue das, worauf er als Deutscher gar kein Recht habe. 286 Ebenda, S. 118. 287 Vgl. den Diskussionsbeitrag von N. Frei in ders.: – Ch. Browning (Hgg.): Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität. Göttingen 2013, S. 199–203. 288 U. Herbert: „Der ,Historikerstreit‘ – Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte“. In V. Kronenberg (Hg.): Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der Historikerstreit – 20 Jahre danach. Wiesbaden 2008, S. 92–108, hier S. 100. 134 Broszats Beispiel ist für unser Thema insofern lehrreich, als es demonstriert, wie tiefprägend für gewisse Generationen der deutschen Intellektuellen Denk-, und Mentalitätsgewohnheiten sind, die sich auch bei höchstem Maß der Reflexion zu Worte melden, also nicht verschwinden, nur weil man sie reflektiert hat. So etwa die wohl allzu sensible Empfindlichkeit aufs Moralisieren in jeder Form, die zwar nicht gleich, wie auf der Rechten, Erpressungsverdacht hervorruft, aber dennoch eben zu mangelnder Sensibilisierungsbereitschaft für die Interessen der anderen führen mag. Jeder entgegenkommende Schritt auf den anderen zu wird alsbald im Eigeninteresse auf seine schädlichen Folgen hin abgeprüft, und dann womöglich nicht gemacht. Es sei indes betont, dass es, ohne dass ich die Kanten seines Konzepts glätten möchte, genauso leicht ist, sich über Broszats Konzept zu erheben, wie es schwer ist, ihm sein Recht auf eine skeptische Haltung abstreitig zu machen: Auf eine Haltung, die ihn bezüglich der optimistischen Visionen der sich damals anbahnenden Erinnerungskultur eher skeptisch einstimmte, etwa mit der Begründung, der Mensch sei nicht so leicht zu ändern. 4.4 Vom Nutzen und Nachteil der „Erinnerungskultur“ In ihrer literaturhistorischen Arbeit mit dem Titel Vergangenwart289 nimmt sich M. Herrmann vor, narrative Strategien zu analysieren, die in der deutschen Literatur der 1990er Jahre zur Geltung kommen, sobald darin von einer heutigen Perspektive aus über die während der NS-Zeit verbrachte Kindheit geschrieben wird. Das Verhältnis zwischen literarischen Texten und anderen Diskursen versteht sie als eine Art Zusammenspiel; Literatur beteilige sich maßgeblich an der „Generierung von Einstellungen, Diskursen, Ideologien, Werten, Denk- und Wahrnehmungs- mustern“;290 darum seien in der neuesten deutschen Literatur „formal wie auch inhaltlich deutliche Referenzen und Parallelen zum vergangenheitspolitischen Diskurs“291 auszumachen. In Anlehnung an die vom M. Halbwachs und A. Nünning aufgestellte Hypothese, die besagt, zwischen dem Reflexionsstand innerhalb und außerhalb der Literatur seien Parallelitäten zu ziehen, schlussfolgert Herrmann, in der Literatur könne etwa derselbe 289 M. Herrmann: Vergangenwart. Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren. Würzburg 2010. 290 M. Gymnich – A. Nünning (Hg.): „Funktionsgeschichtliche Ansätze: Terminologische Grundlagen und Funktionsbestimmungen von Literatur“. In dies.: Funktionen von Literatur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen. Trier 2005, S. 14; zit. nach M. Herrmann: Vergangenwart ..., S. 19. 291 M. Herrmann: Vergangenwart ..., S. 19. 135 Reflexionsstand vorausgesetzt werden, der im politischen oder geschichtswissenschaftlichen Diskurs erreicht werde. Diese auf der Annahme einer historisch graduellen Steigerung des Reflexionstandes beruhende Vorstellung hätte weitreichende Konsequenzen für den Maßstab, an dem man literarische Texte mit dieser Problematik messen würde. Es ist offensichtlich, dass in den 1990er Jahren bezüglich der deutschen „Arbeit an der Vergangenheit“ wohl das Maximum des Möglichen erreicht wurde, scheinen doch alle vorangehenden Phasen tatsächlich in der nun erreichten letzten Phase (ob wir sie allgemeiner als Erinnerungskultur, oder als Vergangenheitsbewahrung bezeichnen, ist egal) aufgehoben zu sein. Die Empathie der Deutschen gegenüber den Opfern kann nicht größer sein, man wirft sich die Vergangenheit gegenseitig nicht mehr vor, sondern bewahrt und kultiviert sie. Die Erforschung der NSZeit läuft nicht mehr darauf hinaus, den Holocaust und dessen Opfer zu marginalisieren, zu degradieren, stattdessen wird ihnen im kollektiven Gedächtnis der entsprechende Raum zuteil. „Die Übernahme einer Opferperspektive durch die Täter oder Sieger ist ein absolutes Novum in der Geschichte“, schreibt A. Assmann, eine der emphatischsten Diagnostikerinnen dieser Phase, um fortzusetzen: „Auf der Basis dieses ethischen Imperativs ist seit den 1990er Jahren eine neue Politik der Reue entstan- den.“292 Dieser Fortschritt, so der oft konstatierte Befund der neueren Fachliteratur, wachse vielschichtig in die Wissenschaft und in die (nicht nur deutsche) Belletristik hinein; seitdem wachse international ein beträchtlicher interdisziplinärer Forschungszweig, „der als eine selbstreflexive Dimension die staatlichen und gesellschaftlichen Erinnerungsaktivitäten beobachtet und kritisch begleitet.“293 Deutsche Literatur scheine daran zu partizipieren, insofern sie zunehmend alle Defizite und Hemmungen abbaue, sich von der Betroffenheitskultur wie auch von sämtlichen moralischen Überheblichkeiten (bequemes Abrechnen, moralische Rigorosität) befreie, an denen ihre zentralen Texte lange gelitten hätten. In den 1990er Jahren werde sie somit zum integralen Bestandteil einer erinnerungskulturell avancierten Kultur, die davon ausgeht, dass Nationen (und ihre Literaturen) alle (historischen) Geschichten erhören sollten, da ein relevantes Verständnis nur am Horizont des sogenannten transnationalen Horizonts der Gedächtniskulturen möglich sei, die prinzipiell einem uneingeschränkten Dialog offen seien.294 292 A. Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013, S. 208, 209. 293 Ebenda, S. 209. 294 Zu den Möglichkeiten, oder eher zur proklamierten Notwendigkeit der transnational verankerten dialogischen Erinnerung vgl. insbesondere die für solche Erinne- 136 Dieser Befund ist sicher höchst erfreulich, ja er könnte sogar ein erwünschtes Schlusswort zum langen und dornigen Weg der nachkriegsdeutschen Deutschheit darstellen;295 eine konsolidierte deutsche Gesellschaft ohne unbezahlte moralische Hypotheken, die nichts geheim hält, nichts verdrängt und aufs Ungewisse hinausschiebt, ja in der es sogar keine gesellschaftliche Gruppe mehr gibt, die ihr Geheimnis mit in ihr Grab nehmen muss; die beispiellos (Berlin als der beliebteste touristische Ort für alle jüdische Generationen) und manchmal sogar geschmackvoll (Stolpersteine) das Erbe der Vergangenheit bewahrt; die Probleme nicht beschweigt, sondern höchst demokratisch kommuniziert. Und – damit parallel – eine junge deutsche Literatur, deren Figuren (bezeichnenderweise sind es weniger Söhne und Töchter als Enkel und Enkelinnen) zu den während der NS-Zeit Lebenden nicht mehr – so wie ihre um eine Generation älteren Vorgänger – überheblich auf Distanz gehen, um deren Versagen während der NS-Zeit moral-pädagogisch umzusetzen, oder moral-ideologisch auszubeuten. Anstatt abzurechnen rekonstruiert diese Literatur verständnisvoll die bis jetzt unerzählten Geschichten, und sucht dabei nach neuen Erinnerungsformen.296 Damit nicht genug, auch die rungsformen recht intervenierende Publikation von A. Assmann Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. 295 So versteht die Erinnerungskultur A. Assmann: „Mit dem neuen Wort [Erinnerungskultur, A.U.] kam auch eine neue Einstellung in die Welt, die das bislang gültige Verhältnis zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit grundsätzlich verändert hat [...] Es handelt sich dabei um eine Verschiebung im Kanon unserer unbefragten Selbstverständlichkeiten, die als solche selbst nicht thematisiert werden, weil sie Teil unseres Weltbildes sind [...] Mit der neuen Erinnerungskultur haben sich die traditionellen Formen des Erinnerns radikal verschoben. Zum ersten mal sind es nicht mehr nur die eigenen Opfer der Kriege, derer heroisch gedacht und die trauernd beklagt werden, sondern auch die Opfer der eigenen Verbrechen, die in die Verantwortung der Staaten und nachwachsenden Generationen mit einbezogen werden. Diese selbstkritische Erinnerung ist eine historisch völlig neue Entwicklung.“ Ebenda, S. 10–11. 296 Dieser Kontrast mag überzeugend aussehen. Dass er indes nur aufgrund pauschalisierender Bewertung der Vaterbücher möglich ist, legt J. Vogt in seiner Analyse der Bücher Suchbild. Über meinen Vater, 1980; Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater, 1979; Mitteilung an den Adel, 1979)dar, nach der er zu folgendem Fazit kommt: „Die Väterbücher setzen mit der Marginalisierung von Auschwitz die Linie der Nachkriegsliteratur fort, sie sind selbst Teil der Verdrängung – und einer anderen, die sagt: sie zeigen uns diese Marginalisierung in einer Weise, die es (besonders im Horizont gegenwärtigen Wissens) möglich macht, jene Verdrängung zu reflektieren und zu hinterfragen, und stehen insofern eher bei epischen Projekten des paradoxen Eingedenkens [...] Dieses paradoxe Eingedenken spürt Auschwitz, oder besser: Spuren davon, eben nicht im thematischen Zentrum, sondern an den Rändern der Texte, in den Subtexten, in Metonymien und Chiffren, in literarischen Verfahren auf.“ J. Vogt: „Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt. Ein Rückblick auf die sogenannten Väterbücher“. In S. Braese u.A. (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt am Main – New York 1998, S. 397–398. 137 Germanistik scheint ihre einstige auf das Eigene verengte Perspektive zu verlassen, und sucht sich immer mehr in transnationale Rahmen einzubinden. Sie schärft und entwickelt ihr Sensorium, um auch für alle Fremd-, Grenz- oder Peripherieaspekte offen zu sein, ja indem sie sich bewusst dem Dialog mit der jüdisch-deutschen Literatur aussetzt,297 nimmt sie sich einer verdienstvollen Arbeit an, zu der man in solcher Intensität bis dahin nicht bereit war. Nichts davon soll hier in Frage gestellt werden. All diese Befunde stützen sich sehr wohl auf materiell fundierte Forschung, und dass es verdienstvoll ist, etwa die deutsche Literaturgeschichtsschreibung auf die langfristig ostrakisierten, verschwiegenen oder anders verdrängten Methoden, Sichtweisen, Gruppen oder Autoren hin zu öffnen, bedarf keiner Diskussion. In den 1990er Jahren kam es in der Tat in unterschiedlichen Bereichen zu vielen grundsätzlichen Änderungen: Europa wurde politisch-gesellschaftlich umgruppiert; die Geisteswissenschaften tendieren immer stärker zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen; allmählich und unabwendbar stirbt die Generation aus, die über eigene Erinnerungen an die NS-Jahre verfügt; daher das oft proklamierte Bestreben, das kulturelle Gedächtnis dieser Zeit adäquat zu formieren, ja die Einstellung zur Vergangenheit ethisch zu verwandeln u.A.).298 Trotzdem scheint mir wichtig zu bedenken, ob man die Möglichkeit, die nachkriegsdeutschen Reflexionen der Deutschheit in deren diversen Spannungen zu erfassen nicht dadurch verspielt, dass man die 1990er Jahre primär als den Wende- oder sogar den Schlusspunkt einer ihr Telos erreichten Entwicklung auffasst. Eine Retrospektion, die von dem Punkt ausgeht, in dem – scherzhaft hegelianisch gesagt – der Geist der Erinnerungskultur rückblickend sich als der ganze Prozess und zugleich dessen Ziel erkennt, vermag meist nur die Beschränktheit der früheren Bewusstseinsformen zu erblicken, also – 297 Vgl. etwa: N.O. Eke – H. Steinecke: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin 2006, und insbesondere : S.L. Gilman – H. Steinecke: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Berlin 2002. 298 Diese findet (oder besser, postuliert) Assmann in der „Macht der Ohnmächtigen im Rahmen einer neuen Politik der Menschenrechte, die in einer globalen Arena Aufmerksamkeit, Anerkennung und Empathie für das ihnen widerfahrene Unrecht und ihre Geschichten finden. Diese ethische Wende macht das Neue an der neuen Erinnerungskultur aus und ermöglicht es grundsätzlich, das beharrliche Vergessen der Täter zu unterwandern und Konkurrenzen und Kollisionen der Gruppengedächtnisse in dialogische Formen der gemeinsamen Teilhabe und Verantwortung zu verwandeln. Diese Erinnerungen enden längst nicht mehr an den Grenzen der Nationen, sondern verschränken sich auf einer transnationalen und globalen Ebene [...] Ebenso wichtig ist es, das emotionale Spektrum des nationalen Gedächtnisses zu erweitern und vermehrt auch positive Bezugspunkte zur Vergangenheit ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken. Aus der Verengung des Täter- und Opfergedächtnisses führt zudem eine Pluralisierung der Perspektiven.“ A. Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur ..., S. 48. 138 um zu der Literatur nach 1945 zurückzukommen, sie konzentriert sich vorrangig darauf, warum der jeweilige Text dieses Ziel noch nicht, oder bereits schon erreicht hat. Eine solche Retrospektion kommt nicht umhin, einzelne Schritte primär darauf hin zu messen, wie nah oder weit vom Ziel sie entfernt sind. Dies ist unschwer durch einige Beispiele zu belegen. Ihre sonst wohldurchdachte Konzeption zwingt M. Herrmann dazu, einige Autoren qualitativ abzuwerten. Dies betrifft etwa M. Walser, den seine Themabearbeitung zu einer überwindungsreifen Minderheit deklassiert, an deren Hintergrund umso besser die zeitgemäßere Bearbeitung einiger jüngeren oder diesbezüglich progressiveren AutorInnen konturiert werden kann, auf deren Affirmation die Konzeption von Herrmann besteht.299 Ein anderes Beispiel: P. Sloterdijk kann im Jahre 2008 nicht umhin, beim Blick auf Deutschland Zufriedenheit zu empfinden.300 Deutschland sammele nun die Früchte der erfolgreichen Nachkriegsmetanoia, da heute der einstige deutsche Größenwahn der Tugend gewichen sei, das auserwählte Land der politischen Unauffälligkeit zu sein. Erhitzte Deutschlanddebatten, die in den 1990er Jahren kulminierten, seien allenfalls für Symptome des heute bereits erschöpften Prozesses zu halten,301 der missverständlich 299 „Walser und seine Generationsgenossen vertreten damit in der Literatur nach 1990 bereits eine Minderheit [...] Dass die Zugehörigkeit zur ersten Generation aber nicht zwangsläufig zu einem nostalgischen Erinnerungskonzept (Eigler) führt wie bei Walser, zeigt der Blick auf Dieter Fortes Werk.“ M. Herrmann: Vergangenwart ..., S. 179. „Seit Walser ist schon der Versuch selten geworden, Vergangenheit überhaupt unter Ausblendung der Gegenwart zu erzählen; das untersuchte Sample mag in dieser Hinsicht als repräsentativ für das gesamte Korpus gelten. Die wenigsten Erzählmodelle kommen ohne Gegenwartsbezug aus, wird sind im Zeitalter der Nachträglichkeit angekommen – in der Vergangenwart.“ Ebenda, S. 264. 300 In dem älteren Text Sloterdijks, Versprechen auf Deutsch. Rede über das eigene Land (Frankfurt 1990), scheint diese Geste aus naheliegenden Gründen nicht derart ausgeprägt zu sein, wie es in Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945 (Frankfurt am Main 2008) der Fall ist. 301 Sloterdijk, der auf die Nachkriegsgeschichte zurückblickt, lässt sich wahrlich durch nichts aus der Ruhe bringen. Für die Exzesse der 68er (denen er als Jahrgang 1947 angehörte) hat er nur Ironie und Spott übrig: Nach der erstickenden Atmosphäre der 1950er Jahre habe das Pendel rasch heftig nach der anderen Seite ausgeschlagen, schnell seien „Hybridformen des Hasses gegen das Eigene auf[geblüht]; auch hier haben empörte Nachgeborene ihr Interesse an schneller Überlegenheit über die Komplikationen in den Lebensgeschichten der Älteren ausgelebt; auch hier kamen wie aus der anderen Seite des Rheins scheinpolitische Meisterdenker obenauf, die den Unterschied zwischen dem totalitären Staat der Vergangenheit und dem demokratischen der Gegenwart als zu vernachlässigende Größe behandelten – so dass man allenthalben Wiedergänger der NS-Zeit erkennen wollte, wo nur ungeübte Demokraten beim Lernen ihrer Rollen zu beobachten waren.“ P. Sloterdijk: Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Frankfurt am Main 2008, S. 38–39. Sehr treffend auch im Gespräch mit M. 139 zur Normalisierung Deutschlands führe.302 Sie würden signalisieren, dass der nachkriegsdeutsche Ausnahmefall durch normale patriotische Verhältnisse ersetzt werde. Herrmann und Sloterdijk lassen sich vom retrospektiven Blick zu idealtypisch ähnlichen, freilich spiegelverkehrten Schlussfolgerungen verführen, wie aus der Bewertung von M. Walser deutlich hervorgeht. Während Herrmann nur Defizite geltend macht, um die er von den jüngeren AutorInnen überholt wird, sieht Sloterdijk wiederum nur das, was Walser allen anderen voraus hat. Dies geschah, weil er sich etwas früher als andere – für viele sogar viel zu früh, unanständig früh – die Freiheit genommen hatte, überhaupt die Möglichkeit einer Normalisierung in Aussicht zu stellen [...] Und es geschah noch einmal, als er kurz vor der Jahrtausendwende das noch unklügere Wagnis einging, eine intimistische, literarisch obertonreiche Sonntagsrede an die deutsche Nation zu halten, um ihr zu signalisieren, sie sei [...] reif genug, um zu gewissen veräußerlichten pseudo-metanoetischen Ritualen auf Distanz gehen zu können [...] Zehn Jahre nach der Rede in der Paulskirche wissen wir, dass Walser auch in dieser Affaire zu früh recht hatte, und das Publikum von damals, das nach der Rede lange einmütig stehend applaudierte, wusste es in situ ebenso.303 Noch zwei andere Beispiele. In dem ersten wird die Art, wie im jeweiligen literarischen Text jüdische Figuren abgebildet werden, zum absoluten Maßstab. A. Feinberg nahm sich 1988 vor, zu zeigen, wie im deutschen Nachkriegsdrama das Jüdische dargestellt wird.304 In ihren überaus bahnbrechenden und manche vergessene Namen wiederentdeckenden305 Analysen verstellt ihr hie und da die gewählte Perspektive den Blick aufs Wesentliche. Einem Autor, der jüdische Figuren nicht genügend in den Matussek: „Wir haben von 1967 bis zur Baader-Meinhof-Krise 1977 Volksfront gespielt und tapfer Hitlers Aufstieg verhindert. Doch immerhin, man hatte ein Drehbuch, auch wenn es um ein halbes Jahrhundert verrutscht war.“ M. Matussek: Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können. Frankfurt am Main 2006, S. 204. 302 [...] lange Serie der landesüblichen Skandalisierungen, die von Botho Strauß’ Anschwellender Bocksgesang und Hans Magnus Enzensbergers Aussichten auf den Bürgerkrieg, beide von 1993, über Martin Walsers Paulskirchenrede im Herbst 1998 bis zu Günter Grass’ öffentlichen Waffen-SS-Geständnissen im Jahr 2006 reicht, müsse sich aus sachimmanenten Gründen demnächst erschöpfen.“ P. Sloterdijk: Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen ..., S. 53. 303 Ebenda, S. 55–56. 304 A. Feinberg: Wiedergutmachung im Programm. Jüdisches Schicksal im deutschen Nachkriegsdrama. Köln 1988. 305 E. Sylvanus: Korczak und Kinder. Reinbek 1957; Th. Ch. Harlan: Ich selbst und kein Engel – Chronik aus dem Warschauer Ghetto. Berlin 1958. 140 Vordergrund gestellt hat, kann sie in der Regel kein anderes künstlerisch innovatives Potenzial zuerkennen. Bei der Analyse der Ermittlung von P. Weiss306 kann sie aufgrund der von ihr bei Weiss festgestellten „Fixierung auf die Vernichtungsmaschinerie“ nicht umhin, übereilt zu schlussfolgern, dadurch würden die Juden „in eine Nebenrolle gedrängt“,307 ohne zu bemerken, welch weitreichende Innovation Weiss’ Stück beinhaltete: das Infragestellen der festgefahrenen Rollenverteilung auf böse deutsche Verbrecher und gute jüdische Opfer. Erst dieser waghalsige Schritt, den sich Weiss als jüdischer Autor freilich zumuten konnte, machte aus diesem Oratorium ein für die deutsche Literatur bahnbrechendes Spiel; für Feinberg konnte dieser Schritt indes aufgrund der gewählten Perspektive allenfalls provokativ, ergo sekundär sein.308 Das letzte Beispiel ist relativ jung. Im Jahre 2013 kam A. Assmann auf eine drei Jahre ältere historische Abhandlung von Ch. Meier309 zu sprechen, um sie eindeutig als eine Verteidigung des Vergessens zu klassifizieren. Meier zeigt in der Tat in einem umfassenden historischen Exkurs, dass es nach den Kriegen üblicher und in Bezug auf die Zukunft auch pragmatischer sei, wenn beide verfeindeten Seiten all das im Krieg Begangene vergessen würden. Dabei jedoch, und dies gibt Assmann zunächst mal zu, vergisst Meier keineswegs, „Auschwitz“ für eine historische Ausnahme von dieser Regel zu erklären, was allerdings in der Rezeption kaum berücksichtigt werde: Die meisten Leser hätten es leider, so Assmann, als „willkommenes, wissenschaftlich autorisiertes StandardArgument gegen die deutsche Erinnerungskultur weitergereicht“.310 In den darauf folgenden Passagen ihrer Studie scheint indes Assmann paradoxerweise zu bestätigen, dass sie sich von dieser falsch lesenden Mehrheit weniger unterscheidet, als sie vorgibt. Aus Meiers Buch greift sie nämlich nur die Passagen auf, in denen Meier die entlastende deutsche Nachkriegspraxis des Beschweigens und Verdrängens behandelt. Dadurch ruft sie den Eindruck hervor, Meier beschreibe diese Praxis, um sie auch für die deutschen Verhältnisse zu empfehlen. Die nachfolgenden Kapiteln, in denen Meier davon schreibt, wie seit dem Ende der 1950er Jahre die Gedanken an den Holocaust im öffentlichen Bewusstsein virulent wurden, glaubt Assmann unerwähnt lassen zu dürfen, wie auch die Bekenntnis von Meier, das Ende der 1950er Jahre stelle für ihn einen ungemein 306 P. Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt am Main 1965. 307 A. Feinberg: Wiedergutmachung im Programm ..., S. 35. 308 Genaueres zu Weiss, vgl. J. Vogt: Erinnerung ist unsere Aufgabe. Über Literatur, Moral und Politik 1945–1990. Opladen 1991, S. 9–27 a 56–70. 309 Ch. Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. München 2010. 310 A. Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur ..., S. 182. 141 wichtigen Wendepunkt dar.311 Meiers Name kommt in ihrem Text später nur noch einmal vor, um alle zu repräsentieren, denen die Maximen der Erinnerungskultur offenbar nicht passen.312 Was Assmann macht, hat mit absichtlicher Desinterpretation zu tun. Warum sie es tut, darüber kann allenfalls spekuliert werden: so ist auch folgende Überlegung eine Spekulation. Ausschlaggebend für die Lektüre Assmanns dürfte Meiers immerhin nachsichtige Diagnose der ersten Nachkriegsjahre gewesen sein (Assmann betont mit kritischem Blick stattdessen deren restaurativen Charakter). Diese Diskretion fußt auf mehrmals geäußerten Bedenken Meiers, ob man damals überhaupt etwas anderes habe machen können, als zu schweigen (und zu arbeiten), ja ob man im damaligen Zustand solch eine Moralkur gar bestanden hätte, denn es sei im Allgemeinen wohl besser, einige Verbrechen „so lange zu beschweigen [...], bis man aus ihrem unmittelbaren Schatten heraus ist“.313 Durch solch ein Plädoyer für das (Be)Schweigen wird sich Meier in Assmanns Augen als ein Heideggernachfolger geoutet haben (dem Schweigen näher war als jenes „unauthentische Gerede“), während sie darauf besteht, Schweigen sei immerzu ein latentes Verschweigen dessen, was im Idealfall hätte öffentlich werden müssen. Meiers dezidiert a-moralischer, respektive sich des moralischen Urteils entziehender Blick auf die Nachkriegsjahre veranlasst Assmann dazu, ihm die Fähigkeit abzusprechen, in aller Breite den epochalen Wendepunkt zu erkennen, in dem diese Nachkriegsgeschichte in den 1990er Jahren zu Ende gegangen sei.314 Indem sie die 311 „Allein, Krieg und Kriegsverbrechen wurden je länger je mehr überragt vom Mord an den europäischen Juden, von Auschwitz, wie man zunächst sagte, bevor sich Holocaust und Shoa danebenschoben [...] In der Geschichte von Erinnern – Verdrängen – Vergessen stellt Auschwitz etwas völlig Neues dar [...] Mit der Zeit war zu erfahren, dass diese Erinnerung unabweisbar ist. Und es griff die Überzeugung Platz, es sei zumindest in diesem Fall nicht das Vergessen, sondern die Erinnerung, die vor Wiederholung schütze.“ Ch. Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns ..., S. 69, 72 und 73. 312 Assmann postuliert zunächst, europäische „Dialogfähigkeit steht und fällt mit dem Wissen um den eigenen Anteil an den Traumata der Anderen“. Folglich nennt sie einige Beispiele, die man als Deutsche immer wieder zu erinnern habe, um Meier letztendlich denen zuzuschlagen, die es verweigern. „Warum, so könnte man im Sinne Christian Meiers zurückfragen, sollte man an all das erinnern? Wäre es nicht besser, all das Leid endlich auf sich beruhen und damit zur Ruhe kommen lassen?“ A. Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur ..., S. 199. 313 Ch. Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns ..., S. 68. 314 Dafür lässt sich in Meiers Text indes kein Beweis finden, macht er doch an seiner affirmativen Haltung zu der in den 1990er Jahren forcierten Entwicklung keinen Hehl: „Das Erstaunliche an diesem langgestreckten Prozess der Erinnerungsarbeit war, dass sie [...] spätestens seit den neunziger Jahren den Deutschen als Vorzug angerechnet wird. Sie erntet Bewunderung und dient gelegentlich auch als Vorbild [...] Und sie stellt wohl wirklich eine beachtliche Leistung dar.“ Ebenda, S. 76. 142 moralische Unvereinbarkeit der 1950er und 1960er Jahre betont, erhebt sie den ausschließlichen Anspruch der Generation der 68er, adäquat die Zäsur der frühen 60er Jahre zu setzen, zu deren Tendenzen die 1990er Jahre nur noch einen Kulminationspunkt darstellen. Um die Schlüssellrolle an der Grundsteinlegung der Erinnerungskultur315 der an sich dennoch recht umstrittenen Generation der 68er316 zuschreiben zu können, muss Meier schlichtweg zum Schweigen gebracht werden. Er wird somit zum Opfer der Perspektive, die auf geschichtsphilosophische (Un)Art das Ideal der Erinnerungskultur hypostasiert. Aus einem geschichtsphilosophischen Blickwinkel kann – so bei Herrmann – denselben Autoren entweder intellektuell indolente Verspätung attestiert werden, denen von anderen (Sloterdijk) wiederum die geradezu prophetische Gabe bescheinigt wird, ihrer Zeit voraus zu sein. Feinberg lässt sich durch sie rückblickend dermaßen blenden, dass ihr Wesentliches entgeht, Assmann wird von ihr wiederum dazu verleitet, Wesentliches lieber zu verschweigen. Meine Einwände beruhen auf der Annahme, dass eine bewertende Absolutsetzung der als qualitativ neuen erklärten, da im Zeichen zu sich gekommenen Erinnerungskultur stehenden 1990er Jahre, einzelne literarische Reflexionen der Deutschheit in Strukturen und Kontexte einbettet, in denen diese verzerrt erscheinen. Sie werden nur noch darauf hin geordnet, wie sie auf das Ziel hinsteuern, das, darf man den diesbezüglich geeichten Fachmännern Glauben schenken, seit den 1990er Jahren erinnerungskulturell in Sichtweite geraten ist. Im Übrigen, um wieder den literaturgeschichtlichen Blick zu aktivieren, erinnern die obigen Formulierungen doch zu stark an die bei einem anderen Wendepunkt proklamierten Thesen, nämlich die der „Stunde Null“ im Jahre 1945; auch damals wurden die eigene Rolle und die eigenen Möglichkeiten in dem beträchtlich idealisierten Prozess, den man in dem Augenblick der Stunde Null beginnen ließ, überbewertet, und alles, was aus der gleichsam nicht existierenden Vorzeit (vor dieser Stunde) in die Gegenwart hineinreichte, wurde unterbewertet.317 315 Auch deshalb reagiert sie mit Widerwillen auf die Kritik von U. Jureit und Ch. Schneider, die hinter den Aktivitäten der 68er oft eine falsche Umarmung der Opfer entlarven. Vgl. A. Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur ..., S. 61–67. 316 Vgl. ebenda, S. 51–56. 317 Zur Ambivalenz der „Stunde Null“ vgl. J. Schröder (Hg.): Die Stunde Null in der deutschen Literatur. Stuttgart 1995. Die Bedeutung dieses Begriffs für die Autoren der Gruppe 47 erfasst F. Trommler (zitiert nach Braese) wie folgt: „Diese wirkliche innere Umkehr setzt notwendig voraus, dass das, was geschehen ist, auch anerkannt wird [...] Erst solches Anerkennen hätte [...] die Rede vom Nullpunkt legitimiert; indem sie ausblieb, sei er endgültig versäumt worden. Stattdessen habe ein Nullpunkt-Denken, das die historischen Prämissen noch mehr zur Seite schob [...] 143 Nun könnte man zu Recht einwenden, manche Schlussfolgerungen der ersten drei Kapitel würden doch damit übereinstimmen, was A. Assmann fordert. Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass die bisher analysierten Versuche, den ideologischen Schablonen zu entkommen, an Beispielen rekonstruiert wurden, in denen offen bisher uneingestandene Voraussetzungen der jeweiligen Position explizit wurden. Gemessen wurden diese eher daran, was für diese Intellektuellen in ihrem zeitlichen Kontext problematisch gewesen sein muss, weniger an dem, was aus unserer heutigen Sicht als überwunden, also unproblematisch erscheint. Darum suchen folgende Kapitel mitzuberücksichtigen, dass den kurz vor der nazistischen Machtübernahme (M. Walser, H.M. Enzensberger, G. Grass), oder während des Krieges geborenen (P. Schneider, B. Strauß) Literaten just am meisten das zugesetzt haben dürfte, was wir rückblickend für längst überholt halten. Sie mussten damit klarkommen, wodurch sie in den Kriegs- und Nachkriegsjahren geprägt worden waren, ja sie mussten erst bestehen gegenüber dem Druck all der Gruppen, Meinungen, Mentalitäten, Mustern und Ideologien. Wo es ihnen gelungen ist, ihnen widerstehend auch mal zu entkommen, ist es wohl nicht umsonst gewesen. Dem Preis, den sie da in Kauf nahmen, dürfte in ihren Entscheidungen ein viel größeres Gewicht zugefallen sein, als man denkt, wenn man die bei diesem schwierigen Prozess nicht seltenen Fehlgriffe oder schwer nachvollziehbare Schritte dieser Literaten als Effekt der Versagung, absichtlicher Weigerung, Unfähigkeit oder Verspätung bezeichnet. 4.5 Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus Die dreizehn Jahre, in denen das Programm des nazistischen Antisemitismus tragisch vollendet wurde, sollten durch die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unwiderruflich beendet werden. Das philosemitische Programm, das stattdessen im Raum stand, wurde in den Nachkriegsjahren nicht nur für die einzig akzeptable Option, sondern auch für den Ausdruck eines fremden Willens gehalten, wurde er doch wie viele andere Maßgaben und Richtlinien auch von den Alliierten erzwungen. Darum haben sich die Nachkriegsdeutschen diesem Programm eher angepasst, als dass sie sich mit ihm innerlich identifiziert hätten. Dies heißt zugleich: Antisemitismus wurde zum Tabu, wodurch es problemlos seinen Tod überleben konnte. Viele, schreibt F. Stern, haben sich am Ende der vierzials prekäre literarische Selbsthilfe [...] fungiert.“ F. Trommler: „Der zögernde Nachwuchs. Entwicklungsprobleme der Nachkriegsliteratur in Ost und West“. In T. Koebner (Hg.): Tendenzen der deutschen Literatur seit 1945. Stuttgart 1971, S. 69. Zit. Nach: S. Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. München 2010, S. 13. 144 ger Jahre damit problemlos abgefunden, dass philosemitische und antisemitische Meinungen nebeneinander, „ja übereinander im Bewusstsein existieren. Sie konnten sich je nach Ort, Gesprächspartner, bewusster oder unbewusster Nützlichkeit ablösen oder verbinden“.318 Der Profit, den man sich davon versprach, war evident: Indem man nun nicht mehr Antisemit war, gehörte man zum neuen, anderen Deutschland, von dem ja zunehmend die Rede war. Indem man sich ostentativ dem ehemaligen Opfer zugesellte, hoffte man, dessen jetzige Vorteile mitgenießen zu können. Indem man betonte, Juden seien auch Menschen, meinte man selbst zum Humanisten zu werden. Indem man sich in das religiöse Büßergewand hüllte, glaubte man, die braune Weste weißgewaschen zu haben.319 Der öffentlich proklamierte Philosemitismus hatte durch Beflissenheit und Eifer all das wettzumachen, woran es im Inneren der Einzelnen mangelte. Letztendlich führte er zur ritualisierten Adoration der Juden als makellosen Menschen, die im „philosemitischen politischen Stil“320 ihre programmatische Gestalt gefunden hat. Auf den dialektischen Umschlag dieser philosemitischen Praxis wies recht bald T.W. Adorno hin, dem bereits 1957 nicht entgangen ist, wie zwecklos und falsch propagandistisch es sei, ausschließlich große und vorbildhafte Taten der Juden hervorzuheben.321 Er erblickte darin eine durch gute Absichten motivierte Fortsetzung des Antisemitismus, sofern wiederum eine religiös unterschiedliche Gruppe abgesondert werde. Der zur Schau gestellte Philosemitismus, der ja jede Kritik des Jüdischen versage, gründe laut Adorno auf der falschen Annahme, Antisemitismus „habe etwas Wesentliches mit den Juden zu tun und könne durch konkrete Erfahrungen mit Juden bekämpft werden.“322 Dementgegen meinte er, im Antisemitismus manifestiere sich der Unwille, sich über die wahren Motive seines eigenen Handelns Rechenschaft abzulegen. In die deutsche Nachkriegsliteratur hat der philosemitische Imperativ als Verbot Eingang gefunden, negative jüdische Figuren darzustellen und solche Stücke zu bevorzugen, in denen jüdische Vorbildsfiguren vorkommen. So einfach man Lessings Nathan dem Weisem zujubeln konnte, umso schwieriger war es, ein der Vorlage entsprechendes Identifikationspoten- 318 F. Stern: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg. Gerlingen 1991, S. 345. 319 Ebenda, S. 347. 320 Ebenda, S. 351. 321 Vgl. T.W. Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ ..., S. 569– 571. 322 Vgl. Ebenda, S. 571. 145 tial etwa Shakespeares Shylock abzugewinnen.323 Im Drama wie auch in der Prosa etablierte sich somit eine Praxis, die Juden nicht als victum, sondern als sacrificium darzustellen: Wie N.O. Eke schreibt, „aus dem realen Menschen mit seinen Fehlern und Schwächen wird das Phantasma des reinen Opfers und als solches das Objekt eines sinnstiftenden Einge- denkens.“324 Die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur kennt mindestens zwei Fälle, wo sich das philosemitische Programm auf die Rezeption literarischer Texte ausgewirkt hat. In beiden wurde gegen die philosemitische Maxime verstoßen, „mach dir kein Bildnis von einem bösen Juden“. Im ersten geht es um den zum großen Teil autobiographischen Roman Die Nacht des jüdischen Autors Edgar Hilsenrath, in dem der brutale Lebenskampf innerhalb des transnistrienischen Ghettos Mogilev Podolski geschildert wird, wohin die in Rumänien lebenden Juden deportiert wurden. In dem zweiten schildert R.W. Fassbinder im Drama Der Müll, die Stadt und der Tod325 die korrumpierende Seite des Kapitalismus am Beispiel eines Frankfurter „Reichen Juden“, der von seiner Position zu profitieren weiß. Indem Hilsenrath den unbarmherzigen Ghettokampf ums Überleben beschreibt, ohne dabei die bedauernswerte Rolle der jüdischen Helfershelfer (nicht nur in den jüdischen Räten) auszuklammern, gerät er in Deutschland in eine ähnlich prekäre Rolle wie Fassbinder zehn Jahre danach: Beiden wird Sprechverbot erteilt.326 323 Vgl. die der nachkriegsdeutschen Aufführungspraxis von Lessing und Shakespeare gewidmete Überblickstudie von A. Feinberg, die festhält, in den ersten Nachkriegsaufführungen des Kaufmanns von Venedig (unter der Regie von E. Piscator in Düsseldorf 1957 und in Berlin 1963) sei Shylock als Opfer dargestellt worden; diesen Konsens habe erst P. Zadek mit seinem teuflischen Shylock gebrochen. A. Feinberg: „Vom bösen Nathan und edlen Shylock. Überlegungen zur Konstruktion jüdischer Bühnenfiguren in Deutschland nach 1945“. In K.M. Bogdal u.A. (Hg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart – Weimar 2007, S. 263–282. 324 N.O. Eke: „,Es ist alles wahr, was man hört.‘ Die Shoah im Spiegelraum des westdeutschen Nachkriegstheaters“. In R. Vogel-Klein (Hg.): Die ersten Stimmen. Deutschsprachige Texte zur Shoah 1945–1963. Würzburg 2010, S. 176. 325 Ich zitiere aus der Ausgabe: R.W. Fassbinder im Verlag der Autoren: Die bitteren Tränen der Petra von Kant. Der Müll, die Stadt und der Tod. Frankfurt am Main 1980. 326 Detailliert werden die Peripetien von U. Hien geschildert. Dies.: „Schreiben gegen den Philosemitismus. Edgar Hilsenrath und die Rezeption von Nacht in Westdeutschland“. In S. Braese u.A. (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt am Main – New York 1998, S. 229–243. Zu Fassbinder vgl. insb. J. Bodek: „Ein Geflecht aus Schuld und Rache? Die Kontroversen um Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod“. In S. Braese u.A. (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust ..., S. 351–384; oder: ders.: Die Fassbinder-Kontroversen. Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Frankfurt am Main 1991. 146 Hilsenrath wie auch Fassbinder haben somit dieselbe Konsequenz des philosemitischen Diktats zu spüren bekommen: Eine negative, respektive ambivalente Schilderung der Juden ruft in Deutschland die Anklage hervor, die einem nichtjüdischen Autor (Fassbinder) in der Regel eine antisemitische Haltung, und einem jüdischen Autor Selbsthass attes- tiert.327 Genauso unlösbar wird es freilich auch, wenn man jüdische Figuren ausnahmslos im positiven Lichte erscheinen lässt. Macht dies ein jüdischer Autor, dann zuckt man darüber die Schultern und lässt es unbeachtet, einem nichtjüdischen hält man vor, er könne nicht umhin, dem philosemitischen Programm blind zu folgen, wodurch er jedoch bei allem philosemitischen Willen just dem Antisemitismus vorarbeite.328 Eben dieser Gefahr sind beide Autoren bei den genannten Werken entgangen, Fassbinder programmatisch und kalkuliert,329 Hilsenrath eher, weil er sich von seinem Trauma hatte freischreiben wollen. Diese Differenz schlägt sich auch in der jeweils unterschiedlich künstlerischen Realisierung nieder. Fassbinders Stück, als ein Nebenprodukt des Drehbuchs zum Roman Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond330 von G. Zwerenz entstanden (der im Übrigen davon handelt, dass ein jüdischer Rachedämon nach Deutschland mit der Absicht zurückkehrt, das schlechte Gewissen der Deutschen auszubeuten) geht von der Annahme aus, sei der Jude einst dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallen, werde er heute zum Opfer seiner politischen Tabuisierung. Da unter allen Umständen unantastbar, könne der Jude von denen missbraucht werden, die die Tabuisierung von Antisemitismus auszunutzen wissen. Auf den Punkt gebracht: das einstige Opfer der Nazis wird nun zum Opfer der Kapitalisten. Die Rollenver- 327 Siehe A. Feinberg: Wiedergutmachung im Programm ..., S. 55. 328 Wie A. Feinberg feststellt, funktioniert diese Mechanik auch, sobald ein antisemitisches Werk entgegegen Proteste aufgeführt wird. „Wird das Stück – ungeachtet aller Proteste – aufgeführt, triumphieren die Antisemiten; und wird es dann nicht aufgeführt, dann triumphieren sie auch, denn dann können sie sagen: Da sieht man mal wieder, welche Macht die Juden haben!“ Ebenda, S. 63. 329 Im Nachwort vom 28.3.1976 schreibt Fassbinder: „Die Stadt lässt die vermeintlich notwendige Dreckarbeit von einem, und das ist besonders infam, tabuisierten Juden tun, und die Juden sind seit 1945 in Deutschland tabuisiert, was am Ende zurückschlagen muss, den Tabus, darüber sind sich wohl alle einig, führen dazu, dass das Tabuisierte, Dunkle, Geheimnissvolle Angst macht und endlich Gegner findet. Anders und vielleicht genauer gesagt, die, die sich gegen ein Aufreißen dieser Vorgänge wehren, sind die wahren Antisemiten, sind die, deren Motive man genauer untersuchen sollte; die, wann hat es das zuletzt gegeben, gegen den Autor eines Stückes mit Sätzen zu argumentieren, die er – um sie kritisierbar und transparent zu machen – für seine Figuren erfunden hat [...] Gerade einige hysterische Töne in der Diskussion um dieses Stück bestärken mich in der Angst vor einem neuen Antisemitismus, aus der heraus ich dieses Stück geschrieben habe.“ R.W. Fassbinder im Verlag der Autoren: Die bitteren Tränen der Petra von Kant ..., S. 108–109. 330 G. Zwerenz: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond. Frankfurt am Main 1972. 147 teilung bleibt also konstant: der Jude ist ein Opfer der Nazis und der Kapitalisten, die beide Täter sind. Die Figur des reichen Juden, deren dramatischer Charakter im Kreuzfeuer der Kritik stand, wollte Fassbinder als eine verstanden wissen, die „letztlich nur Dinge ausführt, die „von anderen zwar konzipiert wurden, aber deren Verwirklichung man konsequent einem überlässt, der durch die Tabuisierung unangreifbar scheint“.331 Das reale Vorbild stellte ihm das Frankfurter Westend zur Verfü- gung,332 während den geistesgeschichtlichen Hintergrund das 19. Jahrhundert lieferte, als „den Juden allein Geldgeschäfte erlaubt waren, und diese Geldgeschäfte, oft die einzige Möglichkeit der Juden zu überleben, zuletzt wieder nur denen Argumente lieferten, die sie quasi zu dieser Tätigkeit gezwungen hatten und die ihre eigentlichen Gegner waren“.333 Fassbinder, so ließe sich wohl die Intention des Stückes rekonstruieren, wollte dem „reichen Juden“ nichts anlasten, sonst hätte er sich den Antisemitismusvorwurf verdient, ging er doch davon aus, der Jude sei das Opfer des Kapitalismus; er wollte und konnte ihn aber nicht ausnahmslos verteidigen, weil er dadurch selbst dem Paradox der philosemitischen Dialektik zum Opfer gefallen wäre (je philosemitischer man sich gibt, desto antisemitischer sind letztendlich die Folgen). Ausschlaggebend für das Spiel scheint somit die Balance zu sein, die es zu erhalten gilt zwischen der falschen Anklage und dem absoluten Freispruch dieser jüdischen Figur. Dass Fassbinder dies in diesem Stück nicht konsequent durchgehalten hat, liegt wohl auch daran, dass das provokative Potenzial des dramatischen Einfalls der künstlerischen Verarbeitung, also die Wirkung der faktischen Realisierung überordnete. Er bestand einfach darauf, dass man ein Thema auch mit anfechtbaren Methoden und sozusagen ohne Absicherung bearbeiten dürfe.334 Als Interpret ist man nicht verpflichtet, darin dem Autor zu folgen, sofern einem der Blick auf die gesamte künstlerische Realisierung selbst durch die skandalöseste Vorlage nicht verstellt werden darf. Der Instrumentalisierung des Philosemitismus, die Fassbinder aufs Korn nahm, scheint sich die Figur des „reichen Juden“ gar nicht entgegenzusetzen, ja sie profitiert von ihr vielmehr, nutzt sie zu ihren Gunsten aus. Aus ihrer einstigen Unschuld strickt sie ein Alibi, um, so N.O. Eke, „das deutsche 331 R.W. Fassbinder im Verlag der Autoren: Die bitteren Tränen der Petra von Kant ..., S. 108. 332 Siehe: J. Bodek: „Ein Geflecht aus Schuld und Rache? ..., S. 354–358. 333 R.W. Fassbinder im Verlag der Autoren: Die bitteren Tränen der Petra von Kant ..., S. 108. 334 Siehe ders.: Die Anarchie der Phantasie. Gespräche und Interwievs. Frankfurt am Main 1985, S. 82. 148 Schuldgefühl zynisch auszubeuten“.335 Von einem Opfer des Kapitalismus wurde diese Figur letztendlich zu dessen zynischem Komplizen. Die provokative Absicht darzustellen, wie Philosemitismus zuungunsten der Opfer missbraucht werden kann, scheint die erwünschte Balance nicht erreicht zu haben, konnte doch Fassbinder bei deren Umsetzung nicht umhin, die Figur letztendlich zu verteidigen, die den Missbrauch des Philosemitismus nochmals zu ihren Gunsten zu missbrauchen sucht. Hilsenraths Roman Nacht,336 in dem es, vereinfacht gesagt, zu viele böse Juden und zu wenige (rumänische) Nazis gibt, weicht ebenfalls die strikte Trennung in Täter und Opfer auf, ohne jedoch den Juden ihr Opferrecht ab-, und die Nazis von ihrer Schuld freizusprechen. Hier kommen die nazistischen Schrecken fast ohne jegliche physische Anwesenheit der Nazis aus. Dass die tatsächlichen Täter im Roman weniger zu sehen sind, soll jedoch nicht den unbelehrbaren Nachkriegsantisemiten ihr Argument bestätigen, der Holocaust sei ein Produkt der Juden, die von ihm nun profitieren, sondern ist just auf die Widerlegung dieses Kurzschlusses angelegt. Hilsenrath lässt den unumstrittenen Opferstatus der Juden gelten, ja er unterstreicht ihn noch, indem er zeigt, dass sie im Ghetto ihrer menschlichen Würde beraubt werden, ohne dass dies auf Taten konkreter Nazis zurückzuführen wäre. Zu dieser doppelten Degradierung kommt noch eine dritte hinzu, zu deren Opfer der Autor selbst wird, den das nachkriegsdeutsche philosemitische Programm daran hindert, diese seine Geschichte öffentlich zu machen. Somit wird ihm in der Bundesrepublik selbst das Kleinste abstreitig gemacht, was die überlebenden Juden von den Nachkriegsdeutschen verlangen können. Dies zeigt: Dem philosemitischen Programm können in der Tat auch diejenigen zum Opfer fallen, denen es zuvörderst hatte dienen sollen. Hilsenrath lässt sich durch diesen ersten Misserfolg nicht zurückschrecken, und meldet sich ein paar Jahre später mit dem Roman Der Nazi & der Friseur337 zum Wort, in dem er schon programmatisch mit den Einseitigkeiten des Philosemitismus ins Gericht geht. Hier sind die Identitäten des deutschen Verbrechers und dessen jüdischen Opfers bereits so durchlöchert, dass sie einander durchdringen, und letztendlich auch austauschbar werden. Dieser Roman wird in Deutschland nach – bereits obligatorischen – fast zehn Jahren des Ablehnens, Abwartens und Zögerns seitens der Verlagshäuser dann doch im Jahre 1977 herausgegeben; nach dessen Erfolg schenkt die deutsche Kritik 335 N.O. Eke: „Im deutschen Zauberwald. Spiegel- und Kippfiguren des Antisemitismus in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur“. In K.M. Bogdal u.A. (Hg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart – Weimar 2007, S. 243–262, hier S. 244. 336 E. Hilsenrath: Nacht. München 1964. 337 E. Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur. Köln 1977. 149 nun auch dem in der zweiten Auflage 1978 erschienenen Roman Nacht die Aufmerksamkeit, die er bereits in den 1960er Jahren verdient hätte.338 Zwischen den genannten Versuchen von Hilsenrath, einen Keil in die philosemitisch-antisemantischen Schablonen zu treiben, dürfte es innerhalb der deutschen Literatur zu Verwandlungen und Verschiebungen gekommen sein, in deren Folge man am Ende der 1970er Jahre einem ambivalenten Bild der Juden zugänglicher wurde, als es noch in der ersten Hälfte der 1960er Jahre der Fall war. Fassbinders Beispiel zeigt freilich, dass dieser Wille nicht unbeschränkt war, und dass es nach wie vor ausschlaggebend war, wie, und sehr wohl auch von wem diese Enttabuisierung durchgeführt wird. Allgemein wird zu Recht davon gesprochen, dass am Ende der 1970er Jahre eine pauschale „Schonungszeit“ zu Ende ging, die meist versagt, wenn sie als verkappter Antisemitismus agiert hatte, und nur dann von Nutzen gewesen war, wenn sie die Dialektik des philosemitischen Programms reflektiert hatte: Je mehr man die Juden auf das Gute fixiert, desto unfreier werden sie, sofern sie kaum das sein können, was sie sein wollen, also normale Menschen. Die fremdbestimmte Idealisierung beraubt der Freiheit zu sein, worauf man als Mensch Recht hat, ist somit diskriminierend. Erst diese Erkenntnis macht frei von falscher Pietät, von einseitiger Idealisierung der Opfer, Bestialisierung der Täter, Monumentalisierung des Holocaust; zugleich markiert sie den Ausweg aus der Sackgasse des deutschen philosemitischen Programms. Angesichts des unglücklichen Parts von Fassbinder drängt sich dennoch die Frage auf, welche Rolle in diesem Prozess deutsche nichtjüdische Autoren gar spielen konnten und durften? Die unumgängliche Reflexion des verklärten philosemitischen Programms wurde nämlich primär von jüdischen Autoren vorangetrieben, die höchst innovativ – vor und nach Hilsenrath – problematisierten, wodurch aus ihrer Sicht dieses Thema degradiert, verzerrt und künstlerisch nivelliert worden war. Wohingegen die Geschichte der nichtjüdischen Reflexions- und Enttabuisierungsansätze einer unglücklichen Erzählung ähnelt, bei der man hin und her pendelt zwischen Angst, Schweigen, Desinteresse und einem übermäßigen Willen, stellvertretend für andere zu sprechen. Die Versuche um Enttabuisierung aus der frühen Nachkriegszeit standen unter dem Vorzeichen des Schweigens: sie wurden von der Öffentlichkeit entweder gar nicht wahrgenommen (Remarques Der Funke Leben, 1952),339 oder dieser Öffentlichkeit seitens der Autoren vorenthalten und erst später aufgelegt (Bölls Erzählung Todesursache Hakennase, die nicht 1948, sondern erst 1983 erschienen ist).340 Vom stellvertretenden Sprechen zeugt 338 Vgl. U. Hien: „Schreiben gegen den Philosemitismus“ ..., S. 233–240. 339 E.M. Remarque: Der Funke Leben. Köln 1952. 340 Zur Rezeption dieser Texte detailliert: J. Bach: Erinnerungsspuren an den Holocaust in der deutschen Nachkriegsliteratur. Wroclaw – Dresden 2007, S. 288–329. 150 der 1995 erschienene und begeistert aufgenommene Roman B. Wilkomirskis Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948,341 dessen Schilderung des jüdischen Schicksals im KZ für authentisch gehalten wurde, bis herausgefunden wurde, dass Wilkomirski sein Judentum vortäuschte. Im Drama war es nicht viel anders. Auch da, wo man später, etwa unter dem Einfluss des Sechstagekrieges eine Enttabuisierung anstrebte, gab meist die Provokation den Ausschlag. Die Chance, dem Thema eine erwünschte Leichtigkeit zu verleihen, wurde nicht selten dadurch verspielt, dass man (inklusive der Regisseure)342 zu offensichtlich seinen Ressentiments gegenüber dem philosemitischen Programm freien Lauf ließ.343 So wie die misslungene künstlerische Realisierung, für die der Autor mitverantwortlich ist, nicht durch gesellschaftlich verdienstvolle oder gar provokative Intention zu rechtfertigen ist, sollte man wiederum den nichtjüdischen deutschen Autoren nicht vorhalten, ihre Versuche, das festgefahrene philosemitische Programm aufzuweichen, hätten die erwünschte Wirkung verfehlt. Dies scheint über weite Strecken der Nachkriegsliteratur voll in moralischer Kompetenz der jüdischen Autoren gelegen zu haben, die Holocaust überlebt hatten, wie P. Weiss, G. Tabori, E. Hilsenrath, T. Borowski,344 später R. Klüger, die – meist jeder auf eige- 341 B. Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt am Main 1995. 342 Vgl. etwa die als Groteske in einem Nachtclub aufgefasste Aufführung von P. Weiss’ Ermittlung (1980, Regie Schulte-Michels), Lessings Nathan der Weise (Heyme, 1982), die zur Solidarität mit den Palästinensern gegen die israelischen Aggressoren auffordert, oder das recht umstrittene Drama Bruder Eichmann von H. Kipphardt (1983), in dem Parallelen zwischen A. Eichmann und A. Sharon gezogen werden. Vgl. A. Feinberg: Wiedergutmachung im Programm ..., S. 57–61. 343 Siehe R. Klüger: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 2009, S. 27. 344 T. Borowskis kurz nach dem Krieg verfassten Geschichten sind auf deutsch als Steinerne Welt bereits 1964 erschienen. Sie sind thematisch und bezüglich ihrer kritischen Einstellung zum philosemitischen Programm der Nacht von Hilsenrath oder dem Drama Kannibalen (1968) von G. Tabori zur Seite zu stellen. Des unumstritten innovativen Potentials von Borowskis Geschichten war sich insbesondere R. Baumgart bewusst, der auch deren Herausgabe bei Piper mitinitiiert hatte. Seine Charakteristik der Texte Borowskis aus dem Jahre 1965 lässt an Prägnanz nichts zu wünschen übrig: „Helden, die ja an individuelle Würde, an Wahlfreiheit, immer noch erinnern, treten nicht auf. Was in Auschwitz fast ausgelöscht war: Mitleid, Tragik des einzelnen Geschicks, das Aug in Aug von Mörder und Opfer – das will Borowski dem Lager auch nachträglich nicht aufstilisieren. Ratlos, faktisch wie ein Protokoll, nennt er nur das, was gewesen ist [...] Statt mit Pathos bequem zu stilisieren, mit Haß für die Mörder, Gloriole für die Opfer, läßt er über und hinter ihren Köpfen das System erscheinen, das diese Lager eingerichtet hat [...] Um Auschwitz gewachsen zu sein, haben sich die Grenzen der Literatur erweitern müssen, erweitern auch durch Verzicht, denn der Erzähler hat sich moralisch, als einer, der es besser weiß, offenbar ausgelöscht und auch ästhetisch die Macht über seine Geschichte verloren: sie läuft wie von selbst, rein faktisch, ungegängelt von Ab- 151 ne Faust, doch alle jenseits des auch für sie geltenden philosemitischen Programms – einen adäquaten Zugang zu diesem traumatischen Thema suchten, der nicht immer den Leseerwartungen entsprach. Dadurch, und zwar erst dadurch wurden auch den nichtjüdischen deutschen Autoren neue Darstellungs- und Reflexionsmöglichkeiten eröffnet. Zweifellos haben sie somit einen Ausweg aus der Sackgasse des philosemitischen Programms aufgezeigt, zumal auch ihrem Schreiben die Schuldfrage im Wege stand, nämlich als Schuldgefühle der Überlebenden denjenigen gegenüber, die Holocaust nicht überlebt hatten. Ihre nichtjüdischen Kollegen hatten nicht nur das Recht, sondern sehr wohl auch die Pflicht, ihnen dabei beizupflichten. Nur in diesem Sinne werden in dieser Arbeit deutsche Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an den Maximen der heutigen Erinnerungskultur gemessen, um feststellen zu können, in wie fern sie, so hatte es R. Klüger eingefordert, „eine Anteilnahme [...] am jüdischen Schicksal nach der Shoah“345 nicht verweigerten. 4.6 Schatten der Gruppe 47 Hieran stellten sich den Nachkriegsliteraten jedoch mehrmals ihre eigenen Schatten in den Weg. In der Frühphase, als die Weichen von H.W. Richter und A. Andersch (zunächst in der Zeitschrift Der Ruf, danach mit den Aktivitäten um die Gruppe 47) gelegt wurden, wuchsen die Schatten in etwa so schnell, wie sich die Autoren auf ihre eigene Kriegserfahrung beriefen, ohne jedoch die Verantwortung für ihre Taten voll zu übernehmen; stattdessen flüchteten sie zum „Pathos des existentiellen Bruches, das die eigene Gegenwart als tabula rasa und als absoluten Neuanfang präsentierte“.346 Die Annahme, alles, was an die Vergangenheit erinnere (korrumpierte Sprache, die Größen der Weimarer Literatur, Exilanten, innere Emigranten), sei qua Missachtung schlichtweg überwindbar, ist zwar nachvollziehbar, doch in hohem Maße stilisiert, unreal347 und illusosichten.“ Seine Studie „Unmenschlichkeit beschreiben“, aus der hier zitiert wird, hat er zunächst in Merkur im Jahre 1965 veröffentlicht. Zit. nach: R. Baumgart: Deutsche Literatur der Gegenwart. München Wien 1994, S. 75–76. 345 M. Hofmann: „Die Shoa in der Literatur der Bundesrepublik“. In N.O. Eke – H. Steinecke (Hg.): Shoah in der deutschsprachigen Literatur ..., S. 80. 346 G. Butzer: Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München 1998, S. 51. 347 H. Vormweg hält sie für schlichtweg absurd, die Stunde Null sei „nur die Stunde äußersten physischen und ideologischen Elends, die Stunde der Unfähigkeit zu kritischem Denken, die Stunde der Anfälligkeit für die geringsten Tröstungen. Es konnten sich in ihr weder eine neue Gesellschaft noch eine neue Literatur konstituieren.“ H. Vormweg: „Deutsche Literatur 1945–1960: Keine Stunde Null“. In M. 152 risch.348 In ihr manifestierte sich der Wille dieser Intellektuellen, das Nachkriegsvakuum auf die antifaschistische und antikapitalistische Zukunft hin zu verlassen. Aus den programmatischen Texten der Zeitschrift Der Ruf geht hervor, dass dieser Kurs nicht unbedingt auf die Versöhnung des Ostens mit dem Westen im Geiste des sozialdemokratischen Humanismus angelegt war, wie schulbuchmäßig geglaubt wird. Etwa in der 15. Nummer hielt H.W. Richter zunächst den Emigranten ihren stagnierenden Stil, unschöpferischen Realismus und Eskapismus vor, um von ihnen dann die junge Generation abzuheben; deren Kriegserfahrung349 stellte er weit über die leere und verlogene Welt „tiefsinniger Phrasen“, die man wohl an den Universitäten gesammelt habe. Diese Erfahrung sei der jungen Generation zum Glück erspart geblieben, so dass nun der Erneuerung der Gesellschaft nichts mehr im Wege stehe, ja wohl auch der „literarischen Revolution“, die jedenfalls nicht aus den restaurierten Universitätssälen, aus der geistig ermüdeten bürgerlichen Welt, sondern aus der schöpferischen Kraft des durch den Krieg geschulten Proletariats350 hervorgehen würde. Diesem Programm entsprachen auch die literarischen Texte. Ihre Stimme fand in ihnen die Kriegserfahrung der Menschen, die die Kriegsund Nachkriegsleiden erlitten und meist von jemandem wussten, der dafür verantwortlich gemacht werden sollte. Es ist sicher kein Zufall, dass am l. Juni 1947 in Der Ruf just die Passagen aus Borcherts Drama Draußen vor der Tür351 abgedruckt wurden, in denen sich der Hauptprotagonist Beckmann in der Opferrolle gefällt, deren Klagen, Anklagen und Anschuldigungen keiner mehr hören will, obwohl aus diesem Drama auch die Durzak (Hg.): Deutsche Gegenwartsliteratur. Ausgangspositionen und aktuelle Entwicklungen. Stuttgart 1981, S. 17. 348 Vgl. etwa die scharfsinnigen Beobachtungen von U. Widmer: „Zwölf Jahre Klischeesprache scheinen schwer auf den jungen Journalisten zu lasten. Sie können sich von den vernebelten Begriffen, die das Dritte Reich geschaffen hat, nicht lösen [...] Eine Gefahr besteht in der Betrachtung dieser Sprache: man legt moralische Maßstäbe an sie, spielt vor einzelnen Wörtern den Staatsanwalt. Aber man kann nicht einzelne Wörter aufspießen und glauben, mit ihnen allen Nazi-Einfluss auf die Sprache ausmerzen zu können. ,Der Ruf‘ zeigt, dass 1945 die Sprache in weit größerem Maß angegriffen war.“ U. Widmer: 1945 oder die „neue Sprache“. Studien zur Prosa der „Jungen Generation“. Düsseldorf 1966, S 198–199. 349 Bereits in der ersten Nummer (15.8.1946) wurde der neue Geist der jungen Generation als einer bezeichnet, der im ganzen Europa Zuspruch findet; das Gesetz dieser gesamteuropäischen Jugend stelle die europäische Einheit dar, ihr Instrument sei der sozialistische Humanismus, zum Ziel habe sie die soziale Gerechtigkeit. Vgl. A. Andersch: „Das junge Europa formt sein Gesicht“. Der Ruf, N. 1, 15.8.1946, S. 1–2. 350 Alle Zitate: H.W. Richter: „Literatur in Interregnum“. Der Ruf, N. 15, 15.3.1947, S. 10–11. 351 W. Borchert: Draußen vor der Tür. Hamburg 1947. 153 Szene hätte ausgewählt werden können, wo Beckmann bewusst gemacht wird, auch er könne wiederum von seinen Opfern zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Konstruktion, in der die verratene und geopferte Jugend die Älteren vergeblich zur Verantwortung zieht, weil diese von der Vergangenheit nichts mehr wissen wollen, stimmte offensichtlich mit den Präferenzen der allmählich sich in der Gruppe 47 formierten Generation. Bevorzugt wurden etwa Bölls einfache Soldaten, die auch trotz des Krieges ihr menschliches Gesicht bewahrten, zumal ihnen nazistische Offiziere gegenüber gestellt wurden. Im Übrigen, die Befunde der berühmten Studie über die „Unfähigkeit zu trauern“, in denen von falschen Projektionen und der Derealisierung der Wirklichkeit die Rede war, galten wohl nicht nur für das Publikum, das etwa Zuckmayers Drama Des Teufels General352 so begeistert aufnahm, weil es sich durch General Harras von seinem Mitläufertum freigesprochen fühlen konnte. Sie galten auch für die Literaten, die diesbezüglich keine Ausnahme bilden.353 Der von ihnen emphatisch erhobene Anspruch, gerade sie seien dazu verpflichtet, stellvertretend für die sich dem verweigernde Gesellschaft die Trauerarbeit zu leisten und Buße zu üben, wäre nur dann berechtigt, wenn sie zugleich ihrerseits die Verantwortung übernehmen würden. Just dies hielten sie aber für unnötig, da man sie, so Andersch, im Gegensatz zu den älteren Generationen für Hitler nicht verantwortlich machen könne.354 Die Identifizierung mit der Rolle der passiv erleidenden, unschuldigen Deutschen ging damit einher, wie wenig man diesen Intellektuellen in den Nachkriegsjahren Gehör schenkte. In herrschenden politischen Verhältnissen glaubte diese intellektuelle Generation keine andere Position wahrnehmen zu können, als die Rolle der radikalen Opposition. Darum strebte sie den Status der möglichst unabhängigen, unparteiischen, auf die macht-politische Praxis resignierenden Intellektuellen an (Mannheims freischwebende Intelligenz), als solche sie jedoch zwangsläufig den Graben zwischen Geist und Macht, Kunst und Politik vertiefte. In einer treffenden Metapher von J. Schröder ausgedrückt,355 diese Generation habe nach dem Krieg unter dem Zeichen des radikal zornigen Orests begon- 352 C. Zuckmayer: Des Teufels General. Stockholm 1946. 353 Vgl. J. Vogt: Erinnerung ist unsere Aufgabe ..., S. 9–27. 354 Was recht fragwürdig anmutet, wenn man bedenkt, dass Andersch am Kriegsende 31, Richter sogar 33 Jahre alt war. 355 J. Schröder: „Das deutschsprachige Drama im Theater der Nachkriegszeit“. In D. James – S. Ranawake (Hg.): Patterns of change. German drama and the European tradition. New York – Bern – Frankfurt am Main – Paris 1990, S. 285–295; J. Schröder: „Hamlet als Heimkehrer. Zum deutschen Nachkriegsdrama“. In B. Allemann (Hg.): Literatur und Germanistik als Machtübernahme. Bonn 1983, S. 143– 159. 154 nen, wie man ihm zu der Zeit in Sartres Drama Die Fliegen356 habe begegnen können, indes bald seien die bösen mächtigen Onkels zurückgekehrt, so dass sich die Literaten resigniert in ihre künstliche Welt zurückzogen, um den traurigen Part von Hamlet zu übernehmen, eines „verhinderten Orests“ (E. Bloch). Von den 1960er Jahren an begannen jedoch einige Repräsentanten der zweiten Generation der Gruppe 47 manches zu überdenken. Den die frühe Nachkriegszeit dominierenden Schatten des „soldatischen Narra- tivs“357 wie auch den der unproduktiven „Geist-Macht Opposition“ suchten zumindest diejenigen zu überspringen, die von der aller politischen Realität überlegenen Hoheitsposition nun herunterseilten, um am festen Boden der politischen Realität anzukommen. Sie kamen mit konkreten Vorschlägen, die auf politische Wirkung angelegt waren, teilweise standen sie sogar den Politikern bei; den radikalen Bruch der „Stunde Null“ ersetzten einige von ihnen durch das Aufdecken der Zusammenhänge zwischen dem Dritten Reich und der Gegenwart, die Selbstverteidigung der passiv erleidenden einfachen Soldaten ist nicht selten dem anklagenden Gestus gewichen, der im Namen der Opfer gegen alle gerichtet wurde, die sich mit der Vergangenheit nicht befassen wollen. Diese im Vergleich zu der frühen Praxis der Gruppe 47 zweifellos verdienstvollen Änderungen haben jedoch einen weiteren Schatten entstehen lassen, sofern die zum Teil massive Anklage nicht selten umso erbittlicher den anderen galt, je weniger der Anklagende mitgemeint war. Diesen Schatten zu überspringen, hieß die anderen anzuklagen, ohne sich selbst dabei freizusprechen. Dies gelang sehr wohl M. Walser im Drama Der schwarze Schwan,358 dessen Hamlet’scher Held, so sehr er sich noch an der Opposition GeistMacht abarbeitet, seine Anklage der Vater- und Onkelgeneration nicht in die radikale Abrechnung mit dem nazistischen Vater münden lässt, sondern in den verzweifelten Selbstmord, durch den der Sohn, seinerseits unsicher, ob er in Vaters Situation wirklich anders reagiert hätte, sich Vaters Schuld annimmt. Weniger scheint es in Hochhuths Stellvertreter359 gelungen zu sein, wo der Papst, der „große Vater“, für sein Schweigen zu jüdischen Deportationen mit einer effektvoll konzipierten moralischen Hinrichtung bestraft wird. Dass die Arbeit an der Vergangenheit sich im Laufe des Stückes immer mehr von Deutschland nach Italien verlagert, dass hier allzu plakativ die moralisch handelnden Geistfiguren von den unmoralisch-politischen abgehoben werden (der Papst erscheint als der 356 J.P. Sartre: Les Mouches. Paris 1947. In Frankreich 1943 uraufgeführt, in Deutschland 1947. 357 Ächtler, Norbert: Generation in Kesseln. Das soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960, Göttingen 2013. 358 M. Walser: Der schwarze Schwan. Frankfurt am Main 1964. 359 R. Hochhuth: Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel. Reinbek 1963. 155 politisch korrumpierteste) und dass in den Auschwitzszenen das Böse einer fast dämonisch grauenvollen Figur aufgebürdet wird (Doktor alias Mengele), zeigt eher darauf, dass Hochhuth die eigene Schuld in die Papstfigur projiziert hat,360 von mangelnder Reflexion der unseligen Opposition Geist-Macht ganz zu schweigen. An dem moralisch-abrechnenden Duktus eines Hochhuths vorbei suchte sich P. Weiss in Die Ermittlung361 an das Thema Auschwitz heranzuschreiben. Dieses Oratoriumspiel kontrastiert die Perspektive der Opfer mit derjenigen der angeklagten Verbrecher, um den kaum artikulierbaren Erinnerungsschmerz mit dem kalt-sachlichen, juristischen Jargon zusammenzuführen, in dem sich die Angeklagten das Leben im KZ vergegenwärtigen. Somit entgeht Weiss jeder Personifizierung der an Unmenschlichkeit kaum übertreffbaren Verbrechen, das allgegenwärtige Böse wird nicht im Voraus zugewiesen, vielmehr dispergiert es in den Raum zwischen unerhörten Massenverbrechen und der als Alltagsroutine empfundenen Arbeit. Die Kunst, das gerade in seiner Banalität grauenvolle Böse darzustellen, gegen das selbst die Opfer nicht immun waren, lässt den Schatten der zweiten Generation der Nachkriegsautoren weit hinter sich liegen. Wiederum anders war es bei den um einige Jahre jüngeren Autoren, die zirka in derselben Zeit wie Walser, Hochhuth und Weiss nach Spuren des Faschismus im ländlichen oder kleinbürgerlichen Mikroklima der bundesrepublikanischen Gesellschaft gesucht haben. In den Fußstapfen von Ö. von Horváth und M.L. Fleißer nahmen sich Autoren wie M. Sperr, F.X. Kroetz oder R.W. Fassbinder aller Opfer der gesellschaftlichen Repression an, also der Homosexuellen, psychisch Kranken, Behinderten, wie auch anders depravierten Outsidern. Und just die Machtlosigkeit dieser Opfer, die vom Kollektiv gehetzt werden, das, ohne es zu ahnen, für den Leser zum unumstrittenen Nachfolger der nazistischen Verbrecher wird, stellt in diesen Dramen oft den Schatten dar, den die Autoren selten zu überspringen vermochten. Sobald sie nämlich sich selbst mit den verfolgten Outsidern identifizierten, die ja zum Nachbild aller von Nazis Verfolgten wurden, konnten sie sich recht bequem von den dunklen Seiten der kollektiven Handlung abheben. „Im Rückblick kommt der Verdacht auf,“ hält J. Schröder zu Sperrs Jagdszenen aus Nie- derbayern362 fest, „der Autor habe nicht nur die Aggressionslüste der Dorfgemeinschaft angeprangert, sondern das Stück auch benutzt, um 360 Siehe das Kapitel „Das dramatische Jahrzehnt der Bundesrepublik“ (J. Schröder) in Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 1994. 361 P. Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt am Main 1965. 362 M. Sperr: Jagdszenen aus Niederbayern. Frankfurt am Main 1966. 156 eigene Aggressionen abzuführen, mit dem Dorf gegen die Opfer und gegen das Dorf im Namen der Opfer.“363 Erwähnte Beispiele sollen demonstrieren, dass den Nachkriegsliteraten ihre Prägung nicht selten zusetzte, sofern vor ihnen – einen Schatten gerade überspringend – stets neue erschienen. Dass sie sich (wie stellvertretend auch immer) der Naziopfer annahmen, heißt noch nicht, dass sie sich automatisch ihrer eigenen Vergangenheit mit allen Ecken und Kanten aussetzten. Der Raum, in dem frei über die Möglichkeiten der nachkriegsdeutschen Deutschheit nachgedacht werden konnte, war nicht gegeben, vielmehr musste er erst Schritt für Schritt erkämpft werden. In etwa so, diese Parallele sei wohl erlaubt, wie sich die jüdischen Autoren ihren freien Raum erkämpften, in dem man dem Druck der jüdischen Holocauststereotype und -klischees standhalten konnte. Diese Analogie, die eine gewisse Arbeitskooperation nahelegt, muss nicht unbedingt als opferherabwürdigend bezeichnet werden: das für viele jüdische Autoren unerwünschte Klischee „böser Deutsche versus guter Jude“, respektive „deutscher Täter versus jüdisches Opfer“ war sehr wohl nur ihrerseits in Frage zu stellen. Der kaum zu überschätzende Verdienst dieser Autoren besteht darin, dass sie trotz allem den Mut fanden, das Bild des Juden als eines unantastbaren sacrificium zu relativieren. Denn erst dadurch konnte der gordische Knoten des nachkriegsdeutschen Philosemitismus durchgehauen werden. Die in Frage zu stellenden Stereotypen auf der nichtjüdischen Seite der deutschen Literatur hießen freilich anders: Zunächst mal das Stereotyp des soldatischen Narrativs „böser deutscher Nazi oder guter deutscher Soldat“. In den 1960er Jahren suchte man es zu überwinden, doch daraus wurde das neue Stereotyp „guter Befürworter der Opfer oder böser bundesrepublikanischer (Post)Faschist“, das nichts als eine Variation des Stereotyps „deutscher Philosemit versus deutscher Antisemit“ war. Und in den letzten Jahren kämpft man gegen das Stereotyp, „Deutsche als Täter oder Deutsche als Opfer“. Heutzutage mag die Deutschen nichts mehr daran hindern, frei auch über die Opfer zu sprechen, die der Krieg auch ihnen gebracht hat, freilich unter der Bedingung, dass sie durch den Hinweis auf das unumstrittene Leiden der Deutschen nicht das Leiden anderer Nationen aufrechnend herabsetzen wollen. Die Überwindung der Stereotype in den nachkriegsdeutschen Reflexionen der Deutschheit steht und fällt mit der Bereitschaft, in diese Reflexion vorbehaltlos auch die Gesichtspunkte der anderen Seiten einzulassen. Das heißt nichts mehr und nicht weniger, als dass die nachkriegsdeutschen Intellektuellen auf keinen Fall jüdische Gesichtspunkte auf leichte Schulter nehmen dürfen. Es heißt aber zugleich, dass man sie in 363 W. Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 1994, S 491. 157 dieser Reflexion kaum am Maßstabe des unermesslichen und unvergleichbaren jüdischen Leidens messen soll, in dessen Licht niemand bestehen kann, es sei denn, er hätte es selbst durchlitten. 159 5 Die Suche nach einem passenden Zugang Es bringt nichts, eine Methode für unakzeptabel zu erklären, ohne eine bessere vorzuschlagen. Es gilt nun zu bestimmen, worauf einzelne Beiträge zum Thema zu beziehen sind, und warum der vorgeschlagene Zugang für einen angemesseneren gehalten wird. Die hier zu analysierenden Literaten, also G. Grass, M. Walser, H.M. Enzensberger, B. Strauß und P. Schneider stellen eine Art Einheit in der Vielheit dar. Der nicht allzu große Altersunterschied zwischen dem ältesten, Walser (1927), und dem jüngsten, Strauß (1944), legt eine mögliche Verwandtschaft nahe.364 Diese manifestiert sich auch darin, wie oft man den Schaffensprozess dieser Autoren als einen unstabilen, ja in sich widersprüchlichen bezeichnet: man redet dann etwa von der „intellektuellen Reptilität“ (Enzensberger), vom linken Revisionismus (Schneider), von zweifelhaften nationalistischen, ja antisemitischen Tönen (bei Walser schon lange, bei Grass seit Kurzem),365 oder von einer Zuwendung zum rechts-gegenaufklärerischen Gedankengut (B. Strauß). Sie alle hatten nicht nur erlebt, was es bedeutet, die Nachkriegsliteratur zu repräsentieren, sondern auch – mit zunehmendem Alter immer intensiver – wie jemandem zumute ist, der zur Gruppe der Gleichgesinnten und der moralisch übelfreien nicht mehr gehören darf. Alle bekamen die Macht der Wächter der politicial correctness zu spüren, die ihren Zeigefinger erheben, sobald man unkorrekt wird. Dennoch bilden sie keine homogene Gruppe, lassen sich bei ihnen doch viele Differenzen festhalten, die manchmal sogar wie Oppositionalität anmuten.366 Etwa Walser und Grass werden geradezu für Antipoden im „Gewissen der Nation“367 gehalten, deren Wege sich spätestens nach 364 Der Unterschied von siebzehn Jahren macht fast einen Generationsunterschied aus, da eine Generation zirka 25 Jahre beträgt. 365 Zuletzt im Zusammenhang mit dem Gedicht „Was gesagt werden muss“. Zunächst in Süddeutsche Zeitung, 4.4.2012. Zu den Reaktionen vgl. H. Detering – P. Ohrgaard (Hg.): Was gesagt wurde. Eine Dokumentation über Günter Grassʼ „Was gesagt werden muss“ und die deutsche Debatte. Göttingen 2013. 366 Von der Stärke der generationsbedingten Verwandtschaft der an sich unterschiedlichen Autoren G. Grass und M. Walser hat eine Journalistin des Wochenblatts Die Zeit einiges zu spüren bekommen. Nach kurzer Zeit wurde aus diesen oft als Antipoden bezeichneten Intellektuellen ein Duo, dessen Kompaktheit die Journalistin kaum zu zerlegen wusste. Vgl. „Wer ein Jahr jünger ist, hat keine Ahnung“. Die Zeit, 14.6.2007. Spuren einer ähnlichen generationsbedingten Intimität waren auch in allen Verlautbarungen Walsers nach dem Tod von G. Grass auszumachen. 367 H. Peitsch: „,Antipoden‘ im ,Gewissen der Nation‘? Günter Grassʼ und Martin Walsers ,deutsche Fragen‘“. In H. Scheuer (Hg.): Dichter und ihre Nation. Frankfurt am Main 1993, S. 459–505. 160 1965 getrennt hätten.368 Die Trennungslinien sind noch anders zu ziehen: Man kann sich kaum ein heterogeneres Spektrum vorstellen als das, in dem Ende der 1960er Jahre der sozialdemokratische Grass und der öffentlich mit der KPD sympathisierende Walser nebeneinanderstehen, denen dann Enzensberger, Schneider oder Strauß zur Seite gestellt werden, aus deren Sicht all diese Parteien überflüssig seien, sofern es darum gehe, das ganze System zu revolutionieren. Da ließ dann insbesondere Grass an der Deutlichkeit seiner Distanzierung von den jungen Revolutionären (namentlich Enzensberger und Schneider) nichts zu wünschen übrig, als er, die Wahlniederlage der SPD nur schwer vertragend, den Jungen vorhielt, ihnen gelänge eher „ein hymnisch langes Heldenepos auf Fidel Castro und die Zuckerrohrinsel, als dass ihnen einfiele, mit einem schlichten Plädoyer für Willy Brandt der Lüge im eigenen Land die Beine zu verkür- zen“.369 Den Protagonisten der „angelesenen Revolution“ bescheinigte er antidemokratische Tendenzen und Scharlatanentum,370 für ihre intellektuelle Überheblichkeit, die an Che Guevara alle Reformversuche zu messen pflegte, die östlich der deutschen Grenze unternommen wurden, hatte er nichts übrig;371 deren Verachtung des in seinen Augen verdienstvollen Prager Frühlings brachte ihn zur waghalsigen Analogie, die die radikalen Linken als „brillante Schüler von J Goebbels“372 bloßstellte. Doch auch 368 Vgl. B. Lermen: „Die deutsche Einheit im Spiegel der Gegenwartsliteratur“. In G. Langguth (Hg.): Die Intellektuellen und die nationale Frage. Frankfurt am Main – New York 1996, S. 185. 369 G. Grass: „Rede über das Selbstverständliche“ (9.10.1965). In ders.: Essays und Reden 1955–1979 (Göttinger Ausgabe, Band 11). Göttingen 2007, S. 158. 370 G. Grass: „Die angelesene Revolution“ (19.6.1968). In ders.: Essays und Reden 1955–1979 ..., S. 339. 371 Wie Grass von den Revolutionären wahrgenommen wurde, kann man etwa in Schneiders Geschichte Lenz lesen. Grass versteckt sich hier hinter der Figur des einstigen Mäzenen von Lenz. Ihm gegenüber will Lenz alle vorgebrachten Argumente widerlegen (sie kamen ihm allesamt bekannt vor, als wären sie schon irgendwo publiziert worden), zugleich hört er zu, und nickt häufiger, als ihm lieb wäre. Vgl. P. Schneider: Lenz. Berlin 2007 (1973), S. 31–32. Nicht ohne Bedeutung auch der Eindruck, den Grass trotz allem auf den voll im Taumel der Revolution aufgehenden Schneider macht, so wie sich dieser dazu in Wahn und Rebellion bekennt. „Bei der großen Schlußdemonstration nach dem Vietnamkongreß habe ich Günter Grass noch einmal gesehen. Er stand in einer dunkelbrauen Schifferjacke in der S-Bahn Unterführung in der Windscheidstraße und schaute mit vorgerecktem Unterkiefer in die erleuchteten Gesichter der Vorbeiziehenden [...] Wer ihn kannte, konnte sich denken, dass er uns, die damals Zwanzig- und Fünfundzwanzigjährigen, auf einem ähnlichen Irrweg sah, auf dem er und seine HJ-Kameraden gewesen waren, als sie sechzehn oder siebzehn waren. Unsere Wege hatten sich getrennt, aber ich konnte mir einen Rest von Respekt für sein Stehen dort in der Unterführung nicht verkneifen.“ P. Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68. Köln 2008, S. 258–259. 372 G. Grass: „Die Prager Lektion“. In ders.: Essays und Reden 1955–1979 ..., S. 356. 161 der Leim der Guevara-maoistischen Anfälligkeit in diesem Block kann nicht über die offensichtlichen Differenzen hinwegtäuschen, die insbesondere an den unterschiedlichen Konsequenzen abzulesen sind, die Enzensberger, Schneider und Strauß aus den Jahren der Revolte für sich gezogen haben.373 Dissens und starke Polaritäten herrschen auch unter den Interpreten. Literaturkritiker wie auch Literaturhistoriker bilden darin zwei geradezu antagonistische Lager der Verteidiger und der Kritiker. Recht bald wird beim Lesen der Sekundärliteratur deutlich, zu welcher Partei der jeweilige Interpret gehört: Ob er mit Bogdal, Lorenz, Köhler u.Ä. mit Walser eher abrechnet, oder ihn mit Kiesel oder Borchmeyer gegen die Kritik in Schutz nimmt; ähnlich polarisiert ist es bei Grass, dem man mit Neuhaus, Ohrgaard, Zimmermann mit Nachsicht, oder mit Unbarmherzigkeit wie König oder Briegleb begegnen kann.374 Bei Enzensberger und Strauß erübrigt sich der Hinweis fast, so sehr polarisieren diese Autoren die Öffentlichkeit. Neben der ideologischen Determinierung scheint sich in der Polarisierung auch der Druck der jeweils dominierenden Konzepte niedergeschlagen zu haben, dem diese Autoren ihren Freiheitsraum abzugewinnen suchten. Dies kann etwa am Beispiel der Novelle Im Krebsgang von G. Grass375 illustriert werden: Sie kann und wird entweder als ein 373 Vgl. Enzensbergers Statements gegenüber B. Strauß: „Gott, das ist ein talentierter Mann. Aber seine Präokkupationen sind nicht die meinen. Ich finde es indezent, sich so als tragische Figur darzustellen. Über das Tragische richtig zu sprechen ist schwer, weil das sehr leicht zu Selbststilisierung führt, zur Selbstheroisierung, zum Kitsch [...] Mit diesem Autor verbindet mich so gut wie nichts. Ich brauche keine Hohepriester.“ Zit. nach: H.M. Enzensberger: Zu große Fragen. Interwievs und Gespräche 2005–1970. Frankfurt am Main 2007, S. 119 und 123. 374 Zum Beispiel: K.M. Bogdal: „Nach Gott haben wir nichts Wichtigeres mehr gehabt als die Öffentlichkeit. Selbstinszenierungen eines deutschen Schriftstellers“. In H.L. Arnold (Hg.): Martin Walser, Edition Text und Kritik. München 2000, S. 19– 43; M.N. Lorenz: Auschwitz drängt uns auf einen Fleck. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart – Weimar 2005; K. Köhler: Alles in Butter. Wie Walter Kempowski, Bernhard Schlink und Martin Walser den Zivilisationsbruch unter den Teppich kehren. Würzburg 2009; D. Borchmeyer: Martin Walser und die Öffentlichkeit. Von einem neuerdings erhobenen unvornehmen Ton im Umgang mit einem Schriftsteller. Frankfurt am Main 2001; D. Borchmeyer – H. Kiesel (Hg.): Der Ernstfall. Martin Walsers „Tod eines Kritikers“. Hamburg 2003; V. Neuhaus: Günter Grass. Schriftsteller – Künstler – Zeitgenosse. Eine Biographie. Göttingen 2012; P. Ohrgaard: Günter Grass. Ein deutscher Schriftsteller wird besichtigt. München 2002; H. Zimmermann: Günter Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses. Göttingen 2006; Ch. König: Häme als literarisches Verfahren. Günter Grass, Walter Jens und die Mühlen des Erinnerns. Göttingen 2008; K. Briegleb: Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“. Berlin 2003. 375 G. Grass: Im Krebsgang. Göttingen 2002. C. Gansel attestiert Grass’ Spätwerk, insbesondere der Novelle Im Krebsgang, dieser Autor schließe sich an „das hege- 162 mutiger Versuch geschätzt, die viele Jahre lang wichtige literarische Praxis zu überwinden, die eben neben den jüdischen Opfern keine anderen geduldet hatte. Aber genauso kann man sie als einen heuchlerischen Versuch zurückweisen, darauf hinweisend, dass dieses Tabu lange vor Grass bereits andere dermaßen in Frage gestellt, ja gebrochen hätten,376 dass es nun kein zu brechendes Tabu mehr darstelle, vielmehr zum Trend werde. Grass wäre somit kein mutiger Tabubrecher, der sich einer verdrängten Geschichte annehme, um sie der sie missbrauchenden Rechten zu entreißen, sondern vielmehr jemand, der sich dafür bejubeln lässt, dass er offene Türen einrennt. Ein denkbarer methodischer Zugang würde darin bestehen, die angedeutete Vielheit in der Einheit mittels chronologisch traditioneller Zäsuren zu strukturieren, also der Jahre 1945, 1968, 1990 und 2000, respektive der dazwischenliegenden Zeitabschnitte, also der 1950er, 1960er, 1980er und 1990er Jahre. Übereinstimmungen und Differenzen wären somit an dem jeweiligen Verständnis dieser Jahre und Jahresabschnitte ablesbar. Allgemein würde man dann wohl zum Schluss kommen, Grass, Walser und Enzensberger hätten im Einklang mit der Mehrheit der Gruppe 47 die „bleiernen“ 1950er Jahre der Restauration der Vorkriegs-Verhältnisse, Strukturen und -Mentalitäten verachtet. Zu Beginn der 1960er Jahre, so könnte man fortsetzen, haben Grass und Walser im Zuge der allgemeinen Politisierung die bis dahin dominierende Haltung der Gruppe in Frage gestellt, die Politik außen vor zu lassen. Je mehr Grass und Walser den literarischen Elfenbeinturm verließen, desto weniger waren sie bereit, die Anforderung der literarischen Kritik von der politischen Kritik, also von der Politik samt deren Instrumente und Repräsentanten zu trennen: Von moniale Kollektivgedächtnis an, er reitet gewissermaßen auf dem Zeitgeist und bestätigt ihn“. C. Gansel: „Zwischen Störung und Affirmation? Zur Rhetorik der Erinnerung im Werk von Günter Grass“. Zeitschrift für deutsche Philologie, Sonderheft 2012, Deutschsprachige Literatur(en) seit 1989, S. 192. M. Braun analysiert die mediale Kampagne des Steidl Verlages, um gerade in ihr die Ursache dafür zu finden, dass es den Eindruck hervorzurufen gelang, Grass haben einen Besitzanspruch auf die deutsche Opfergeschichte reklamiert, „an der sich die nachgeborene Generation zu messen hatte“. Darum das minimale Interesse der Kritik an T. Dürkers’ Himmelskörper (Berlin 2003). M. Braun: „Die Medien, die Erinnerung, das Tabu: Im Krebsgang und Beim Häuten der Zwiebel von Günter Grass“. In ders. (Hg.): Tabu und Tabubruch in Literatur und Film. Würzburg 2007, S. 120. 376 Dazu vgl. die Debatte um W.G. Sebalds Thesen, die deutsche Nachkriegsliteratur hätte das Leiden der deutschen Bevölkerung ausgeklammert. In den Reaktionen wurde die These teilweise entschärft (solche Literatur habe es durchaus gegeben), doch insofern für gültig erklärt, als darauf hingewiesen wurde, dass diese nicht zum Bestandteil der breit rezipierten und literaturgeschichtlich akzeptierten Literatur gehöre. Das Leiden der deutschen Bevölkerung habe somit keineswegs jenseits des Interesses der Autoren, vielmehr nur der Leser gestanden. Vgl. dazu: W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. München 1999. 163 diesem Sprung über den Schatten der Nachkriegsliteratur war schon genug die Rede. Da beiden deutlich wurde, wie überlebt die undialektische Spannung zwischen Geist und Macht sei, wollten sie der Bundesrepublik auch als ihre Bürger nützlich sein.377 Insbesondere Grass’ „Loblieder auf Willy“378 resignierten vollends auf den konfrontativen Idealismus der freischwebenden Intelligenz, die sich darin der praktischen Verantwortung zu entziehen pflegte, und darum wenig Verständnis für die Relativismen des Lebens hatte. Durch das Maß der praxistisch orientierten Bereitschaft hob sich Grass von seinen politisch eher unterkühlten literarischen Kollegen ab, für die – in diesem Punkt Walser inklusive – die Wahl der SPD allenfalls das kleinere Übel darstellte. Umso immuner blieb er in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gegenüber den Verführungen der Studentenbewegung, dessen Repräsentanten und Sympathisanten (P. Schneider, mit Vorbehalten H.M. Enzensberger) dem undialektischen Verhältnis zwischen Geist und Macht anheimfielen, um die defensive Strategie der Gruppe 47 durch eine genauso offensive Strategie ersetzen zu können. Walser war beileibe nicht so immun wie Grass, andererseits scheinen mir seine Vorbehalte so stark zu sein, als dass ich ihn als einen Sympathisanten der Studentenbewegung bezeichnen könnte. Indem Grass’ essayistische Texte die Möglichkeiten der Deutschheit von Auschwitz abhängig machen, drücken sie explizit eine Tendenz aus, die sich in seinem Werk bereits seit Ende der 1950er Jahre artikuliert. Grass will sein Schaffen aus der Abneigung gegen das allgemeine Exkulpationsbedürfnis der 1950er Jahre verstanden wissen.379 Im Umbruchjahr 377 Diese publizistische Aktivität steigerte Grass erst in der Kampagne 1965, im Jahre 1961 veröffentlichte er nur den kurzen Text „Wir schreiben in der Bundesrepublik“, für Walsers Sammelband Alternative – brauchen wir eine neue Regierung? (1961) verfasste er den Text „Wer wird dieses Bändchen kaufen?“, in dem er gegen Adenauer mobilisiert und den Bürgern Mut zuspricht, SPD zu wählen. Walser veröffentlichte bereits 1960 in Weyhrauchs Sammelband Ich lebe in der Bundesrepublik seine „Skizze zu einem Vorwurf“, in der mit den unpraktischen Intellektuellen abrechnete, die nicht organisiert werden wollen, billige Moralismen von sich geben, und stets nein sagen, ohne etwas ändern zu wollen. Vgl. M. Walser: Ansichten, Einsichten. Aufsätze zur Zeitgeschichte. Werke in zwölf Bänden, Band 11. Frankfurt am Main 1997, S. 21–24. 378 G. Grass: „Loblied auf Willy“. In ders.: Essays und Reden 1955–1979 ..., S. 99–110. 379 Als er mit Abstand einiger Jahre auf die Konstellation zurückblickte, aus der heraus Die Blechtrommel entstanden ist, hat er angeführt: „Mich hat natürlich diese Art geärgert, den Nationalsozialismus und seine Ursachen zu dämonisieren. Immer dann, wenn von der bedingungslosen Kapitulation hätte die Rede sein müssen, wurde von einer Katastrophe gesprochen, von einem ,Schicksalschlag‘ – um nur ein Beispiel zu nennen – oder von 1933, ,als es in Deutschland dunkel wurde‘, als ,finstere Mächte‘, ich weiß nicht aus welchen Löchern, hervorstiegen, und ,die deutsche Seele vergewaltigten‘; das habe ich für einen ziemlich verlogenen Unsinn 164 1990 glaubte Grass an dieser Grundkonstellation nichts ändern zu müssen, sofern sie in seinen Augen die Gelegenheit bot, die seit langem gehegte (Not)Lösung der Kulturnation zur Tugend der gesamtdeutschen Konföderation umzuwandeln; dadurch zugleich den Deutschlandtraum zu verwirklichen, in dem man zwischen Ost und West, Sozialismus und Kapitalismus vermitteln könnte,380 der ja kurz nach dem Krieg nicht nur in Der Ruf, sondern auch in Kantorowicz’ Zeitschrift Ost und West381 geträumt wurde. Für diesen Traum hatte um 1990 Walser lange kein Verständnis mehr, spätestens seit 1979 wagte er die Gespenster abzutasten,382 die hinterm Zaun des sicheren linksliberalen Konformismus standen. Darum auch war die eventuelle Wiedervereinigung für ihn im Gegensatz zu Grass kein Gespenst mehr. Auch Enzensberger hatte bereits lange vor 1990 seinen einstigen Radikalismus hinter sich gelassen, um mit der Bundesrepublik zumindest insofern seinen Frieden zu schließen, als er ihre Entwicklung akzeptierte, was zumindest eine partielle Korrektur seiner früheren Einstellungen einschloss. Für Schneider stellt das Jahr 1990 den Kulminationspunkt einer sich allmählich anbahnenden Reise durch sein eigenes Nationalgefühl dar,383 die ihn zu manchen Revisionen gebracht hat: Immer mehr wurden ihm, dem einstigen radikalen Linken, alle verhasst, die unermüdlich und auf Prinzipientreue pochend vor gefährlicher Größe des wiedervereinigten Deutschlands warnen würden, ohne die gedankliche Freiheit zuzulassen, die man nun angesichts der veränderten Situation gewonnen habe. Die Reise im Jahre 1990 zeigte ihm vor allem eines: Es gebe keinen Grund zu glauben, man werde besser und klüger, wenn man sich links stelle. Ähnlich ist es bei Strauß: Einige die linke Hegemonie angreifenden Passagen seines berühmt-berüchtigten Anschwellenden Bocks- gesangs384 aus dem Jahre 1993 reichen aus, um sich davon einen Begriff machen zu können, dass für Strauß das Jahr 1990 nichts anderes darstellte, als einen weiteren seiner vielen verbissenen Versuche, den Schatten der Nachkriegsintelligenz zu überspringen. gehalten.“ E. Rudolph: Protokoll zur Person. Autoren über sich und ihr Werk. München 1971, S. 66. 380 B. Lermen: „Die deutsche Einheit im Spiegel der Gegenwartsliteratur“. In G. Langguth (Hg.): Die Intellektuellen und die nationale Frage ..., S. 174. 381 Die literarische Zeitschrift Ost und West gab A. Kantorowicz (1899–1979) vom Juni 1947 heraus. Vgl. dazu die fünfbändige Ausgabe: A. Kantorowicz – B. Baern: Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit. Bodenheim 1985. 382 M. Walser: „Händedruck mit Gespenstern“, zum ersten Mal abgedruckt in J. Habermas: Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“. Frankfurt am Main 1979. 383 P. Schneider: Extreme Mittellage. Eine Reise durch das deutsche Nationalgefühl. Hamburg 1992. 384 B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“. Der Spiegel, 8.2.1993. 165 Daraus geht zweierlei hervor. Erstens: Das Jahr 1990 stellte für keinen von ihnen eine besondere Zäsur dar, sofern die Verwandlungen entweder lange davor ansetzten (Strauß, Walser, Enzensberger), oder in diesem Jahr kulminierten (Schneider), explizit wurden, oder gar nicht eingetreten sind (Grass). Und damit hängt zusammen, zweitens: Nach 2000 scheint Grass wieder in die Gruppe intergrierbar, weil er in einem Aspekt die abweichende Grundeinstellung seiner Position überdacht hat, der die schier unendliche Nachkriegszeitprolongation betrifft. Die Nachkriegszeit hat nämlich in seinen Begriffen das Jahr 1990 überstanden, über 2000 scheint sie jedoch kaum hinausgekommen zu sein. Um den Vergleich hervorzuheben: Walser und Enzensberger hatten sich bereits in den 1970er und 1980er Jahren längst nicht mehr aus den Nachkriegsgesetzlichkeiten heraus definiert, sofern sie die von den verhängnisvollen Jahren 1933–1945 abgeleiteten Verbote und Gebote nicht blind übernommen, sondern kritisch reflektiert haben. Strauß suchte dem verbindlichen Druck dieser Gesetzlichkeiten schon vom Jahr 1968 an zu entkommen, Schneider leuchtete spätestens 1990 ein, weitere Prolongation der unreflektierten Grundsätzlichkeit der Nachkriegsjahre sei fehl am Platze. Und Grass? Denkt man bei der Lektüre seiner Texte selbst der frühen 1990er Jahre, ihn würde nach wie vor am tiefsten verletzen, wenn die Nachkriegszeit zu Ende ginge, sei doch das Einhalten ihrer Gebote und Verbote die einzige Möglichkeit, Deutschlands Gesicht zu wahren, schwindet dieser Eindruck um 2000 nach und nach. Grass ist zwar nach wie vor kaum bereit, den demokratischen Sozialismus zu opfern,385 weiter erhebt er den Zeigefinger, um zu dozieren, die rechtsextremistische Welle 1992 enthülle, welch ein Fehler es gewesen sei, Deutschland so unbedacht zu vereinigen.386 Trotzdem ist nur schwer von der Hand zu weisen, dass sich Grass’ Texte nach 2000387 zu den Maximen der Nachkriegszeit anders als bisher stellen. Als würden sie nicht mehr die Befürchtung artikulieren wollen, diese Zeit dürfe nie zu Ende gehen, sondern vielmehr die Hoffnung, sie nun tatsächlich enden zu lassen. Dies soll nicht bedeuten, Grass hätte sich vollkommen von seiner Prägung losgesagt, vielmehr hatten sich ihre Ausformungen verändert. Die Prägung blieb dieselbe, Grass hatte 385 1992 ist Grass aus der SPD ausgetreten, um gegen ihre Asylpolitik zu protestieren. 386 In „Rede vom Verlust“ (21.11.1992) prangert er den Verfall der politischen Kultur im vereinigten Deutschland an, seinen Kritikern hält er entgegen, sie sollten bedenken, „in welch neuerliche Barbarei uns Deutsche ihr Eisenbahnerlatein geführt hat [...] Doch keine politisch gestaltende Kraft ist erkennbar, die willens oder fähig wäre, dem wiederholten Verbrechen Einhalt zu gebieten.“. G. Grass: „Rede vom Verlust“. In ders.: Essays und Reden, 1980–2007. Göttingen 2007, S. 369–370. 387 Eine Zäsur könnte seine Rede „Ich erinnere mich“ (2.10.2000) darstellen, wo eben zum ersten mal die Frage in den Vordergrund rückt, wie ungenügend an die Leiden der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg erinnert wird. G. Grass: Essays und Reden 1980–2007 ..., S. 581. 166 jedoch andere Konsequenzen aus ihr gezogen, die ihn wiederum näher zu den anderen der hier analysierten Autoren bringen. 5.1 Generation Was bringt dieser Befund, wenn nach einem passenden methodologischen Zugang zu diesem Segment der Autoren gesucht wird, der deren Mannigfaltigkeit in der Einheit gerecht würde? Er legt zunächst mal nahe, die für diese Autoren prägenden Spannungen und Zwänge führten bei ihnen, je nach Art deren schöpferischer Umformung, zu unverwechselbar individuellen, jedoch idealtypisch vergleichbaren Konfigurationen, die zwar nicht zeitdeckend (synoptisch), doch mit zunehmendem Alter immer häufiger aufgetreten sind. Indes, wer in der individuellen Verarbeitung und Umformung einer generationell vergleichbaren Prägung, (man wächst auf, ohne der bestimmenden Rolle des Nationalsozialismus zu entkommen) nach Ähnlichkeiten und Analogien sucht, sollte nicht vergessen, nicht nur die in diesen Konfigurationen sich manifestierenden Zwänge, sondern auch Ansprüche dieses Generationsprofils selbst zu reflektieren. Der in der heutigen Literaturwissenschaft bis auf einige Ausnahmen388 eher gemiedene Generationsbegriff389 könnte unter gewissen Bedingun- gen390 zum geeigneten Instrument für die Analyse der Deutschheitsrefle- 388 Einen methodologisch ambitionierten Versuch, den Begriff der Generation zu rehabilitieren, unternimmt in Deutschland insbesondere das Göttinger Kollegium „Generationengeschichte“, in dessen Reihe „Göttinger Studien zur Generationsforschung“ die meisten für das Thema relevanten Beiträge erschienen sind. 389 Eine historisch-problematische Skizze zu den einzelnen Versuchen, diesen Begriff literaturwissenschaftlich zu etablieren, liefert G. Lauer. Insbesondere die Interpretation der Generationsromane, eines seit den 1990er Jahren recht populären Genres, zeigt ihm kein erfreuliches Bild: „Generation wird in solchen Argumentationsmustern als sozialpsychologischer Mechanismus aufgefasst, der kaum sozialwissenschaftlichen Daten nutzt, sondern diskursiven Argumentationsroutinen der Kulturkritik verpflichtet ist, die auch in der Literaturwissenschaft verwendet werden [...] Überblickt man den gegenwärtigen Gebrauch des Generationskonzepts in den Literaturwissenschaften, so findet man einen Flickenteppich vor. Generation wird zwar sporadisch in der Literaturwissenschaft verwendet, das aber ohne systematischen Anspruch.“ G. Lauer: „Einführung“. In ders. (Hg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung. Göttingen 2010, S. 9 und 15. 390 W. Emmerich: „Generationen – Archive – Diskurse. Wege zum Verständnis der deutschen Gegenwartsliteratur“. In F. Cambi (Hg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg 2008, S. 15–30; A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, insb. das Kap. „Verkörperte Geschichte – zur Dynamik der Generationen“, S. 31–69; R. Winter: Generation als Strategie. Zwei Autorengruppen im literarischen Feld der 1920er Jahre. Göttingen 2012; D. Moses: „Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie“. Neue Sammlung, Vierteljahrschrift für Erziehung und Gesellschaft, 40, 1. März 2000, 167 xion werden, scheint er doch der naheliegenden Hypothese standhalten zu können, die idealtypisch vergleichbaren Konfigurationen seien in starkem Maße als die individuell verarbeitete Generationsprägung zu beschreiben, die freilich über weite Strecken unsichtbar, von stärkeren Impulsen meist ideologischer Art überschattet geblieben seien. Warum ist der Generationsbegriff problematisch und umstritten, so dass er in dieser Arbeit nur bedingt verwendet werden kann? Über Generationen wird sehr pauschalisierend und klischeehaft gesprochen. Sie werden meist als geschlossene Einheiten betrachtet, die sich via Abgrenzung von der jeweils vorher-, und nachhergehenden Generation formieren; der Generationsbegriff wird daher vor allem als ein Differenzbegriff verwendet. In den letzten Jahren sind indes einige Versuche zu verzeichnen, die Grenzen zwischen den einzelnen Generationen durchlässiger aufzufassen, indem zwischengenerationelle Beziehungen betont werden. Diese an sich verdienstvolle Tendenz läuft auf einen substanzlosen und offenen Generationsbegriff hinaus, der als ein Relationsbegriff391 besser geeignet sei, nicht nur Diskontinuitäten innerhalb der Generationen, sondern auch intergenerationelle Zusammenhänge und Übergänge zu erfassen;392 so auch den relevanten Zusammenhang zwischen der Generation der 68er (der streng genommen nur B. Strauß und P. Schneider zugehören) und der älteren, am Ende der 1920er Jahre geborenen Generation (M. Walser, G. Grass, H.M. Enzensberger), der mit dem geschlossenen Differenzbegriff mitnichten erschöpfend erfasst wird. Um nur das schillerndste Beispiel zu nehmen: Trotz seinem Geburtsjahr (1929) wird Enzensberger viel häufiger als 68er bezeichnet, obwohl die Generation der 68er in der Regel erst nach 1940 auf die Welt kam. Andererseits, so sehr er zu recht für einen der führenden Köpfe der Bewegung des Jahres 1968 gehalten wird, der weit über das Jahr 1968 hinaus, ja wohl bis zum heutigen Tage an seiner prinzipiell affirmativen Einstellung zu dieser Bewegung nichts ändern will, greift er, wenn er seine Bedenken doch noch geltend machen will, dankbar auf den Generationsbegriff zurück, um darauf hinzuweisen, dass er im Jahre 1968 generationsbedingt viel mehr Erfahrung mit dem Leben im S. 234–263; G. Lauer (Hg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung. Göttingen 2010; K. Gerland – B. Möckel – D. Ristau (Hgg.): Generation und Erwartung. Konstruktionen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Göttingen 2013. 391 Der Weg von dem Differenz- zum Relationsbegriff der Generation wurde in Anlehnung an E. Cassirer von U. Daniel erschlossen: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt am Main 2001, S. 330–344. 392 Siehe F. Maubach: „,Die Generation, auf die wir gewartet haben‘ – 45er, 68er und die Träume von einer ,wahren‘ Demokratie. Ein Beitrag zur Beziehungsgeschichte politischer Generationen“. In K. Gerland – B. Möckel – D. Ristau (Hg.): Generation und Erwartung ..., S. 199–221. 168 totalitären Regime gehabt, weshalb er damals Überblick und klaren Kopf behalten habe. So wäre genauer zu beschreiben, wann, warum und worin die Generation der in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Geborenen der Generation der um 1940 Geborenen näher kam, und wann, warum und wie sie sich eventuell von ihr ablöste und vice versa. Im vorab dazu zwei Bemerkungen: In der Einschätzung der 1950er Jahre werden sich die „Jüngeren“ von den „Älteren“ wohl nicht derart strikt unterschieden haben, wie zum Beispiel H. Bude behauptet,393 sosehr es auch in vielen Fällen zutreffen mag; solche Zuschreibungen scheinen wenig mitzureflektieren, dass diese Einstellungen im Laufe der Jahre oft revidiert, in den Sog der nachträglichen Selbststilisierungen und Selbstpositionierungen geraten sind (Enzensberger). Auch die Korrektur der schulmäßig tradierten Vorstellung ist fällig, die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe 47 hätten auf dem Widerstreit zwischen der Gründergeneration der Gruppe (Geborene etwa um 1910) und der Generation des Jahres 1968 (Geborene um 1940) beruht, dem in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre diese Gruppe zum Opfer gefallen sei. Außer den inter- und intragenerationellen Übergängen werden darin zwei Tatsachen ausgeklammert: Erstens, gestritten wurde innerhalb aller Generationen, und zweitens, die Gruppe 47 schloss alle drei politischen Schlüsselgenerationen des 20. Jahrhunderts ein,394 also die Generation der um das Jahr 1910 Geborenen (H.W. Richter, A. Andersch, G. Eich), folglich die Generation der in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Geborenen (G. Grass, M. Walser, H.M. Enzensberger, S. Lenz) und die Generation des Jahres 1968 (Jahrgang 1940 und jüngere) (F. Ch. Delius, P. Handke).395 393 „Was sich für die 68er Kriegskinder als dunkle und enge Zeit von politischer Restauration und persönlichem Erfahrungshunger darstellt, ist für die Flakhelfer, die als letzte Helden des Führers das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt haben, eine helle und offene Zeit der Geschichtsunterbrechung und des Neuanfangs gewesen.“ H. Bude: „Die 50er Jahre im Spiegel der Flakhelfer- und der 68er-Generation“. In J. Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 145–158, hier S. 150. 394 Dies in Anlehnung an U. Herbert, der zu diesen drei politischen Generationen folgende Kohorten zählte: die sog. Kriegsjugendgeneration (1900–1910), die Generation der 1925–1935 Geborenen, die als die Generation 45, Flakhelfergeneration, Generation der Hitlerjugend u.Ä bezeichnet wird, und schließlich die Generation des Jahres 1968. Vgl. U. Herbert: „Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert“. In J. Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert ..., S. 95–114. 395 Vgl. D. Geppert: „Hans Werner Richter, Die Gruppe 47 und ,1968‘“. In F.W. Kersting – J. Reulecke – H.U. Thamer (Hg.): Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975. Stuttgart 2010, S. 175–187. 169 5.2 „Das Problem der Generationen“ K. Mannheims Im Folgenden soll angedeutet werden, in wie weit der Erfassung der oben konstatierten Vielheit in der Einheit das Generationskonzept von K. Mannheim Rechnung trägt. In seiner bekannten Studie396 schlug Mannheim vor, zwischen der Generationslagerung, dem Generationszusammenhang und der Generationseinheit zu unterscheiden. Die Generationslagerung „schaltet also primär eine große Zahl der möglichen Arten und Weisen des Erlebens, Denkens und Fühlens überhaupt aus und beschränkt den Spielraum des sich Auswirkens der Individualität auf bestimmte umgrenzte Möglichkeiten“.397 Diese Möglichkeiten seien potenziell gegeben, sie kämen zur Geltung, würden verdrängt, oder aber sie kämen zur Auswirkung „in andere sozial wirkende Kräfte eingebettet, modifiziert [...]“.398 Damit die Generationslagerung soziologisch relevant, und also vom Generationszusammenhang gesprochen werden könne, bedürfe es eines gemeinsamen historisch-sozialen Lebensraums, in dem an gemeinsamen Erlebnisgehalten zu partizipieren möglich sei. Ausschlaggebend sei es folglich, in welcher Lebensphase es zu dieser Partizipation komme: „Die ersten Eindrücke haben die Tendenz, sich als natürliches Weltbild festzusetzen. Infolgedessen orientiert sich jede spätere Erfahrung an dieser Gruppe von Erlebnissen, mag sie als Bestätigung und Sättigung dieser ersten Erfahrungsschicht, oder aber als deren Negation und Antithese empfunden werden.“399 Die ersten Eindrücke seien dermaßen dominant, dass sich an ihrer prägenden Bedeutung selbst dann nichts ändern würde, wenn der ganze „darauffolgende Ablauf des Lebens nichts anderes sein sollte, als ein Negieren und Abbauen des in der Jugend rezipierten natürlichen Weltbildes“.400 Den Unterschied zwischen der Generationslagerung, dem Generationszusammenhang und der Generationseinheit illustriert Mannheim daran, dass sich um 1800 innerhalb einer Generation die romantische, im Laufe der Zeit immer konservativer werdende Jugend, und ihr gegenüber die rational liberale Jugend profilierte. Weil beide Gruppen nur zwei polare Formen der „geistigen und sozialen Auseinandersetzung mit demselben, sie alle betreffenden historisch-aktuellen Schicksal“401 repräsentierten, sprich dieselben Erlebnisse unterschiedlich verarbeiteten, würden sie zwei Generationseinheiten innerhalb ein und desselben Generationszu- 396 K. Mannheim: „Das Problem der Generationen“ (1928). In ders.: Aufsätze zur Wissenssoziologie. Darmstadt – Neuwied 1964, S. 509–565. 397 Ebenda, S. 528. 398 Ebenda, S. 542. 399 Ebenda, S. 536–537. 400 Ebenda, S. 537. 401 Ebenda, S. 542. 170 sammenhangs darstellen. Mannheims Schlussfolgerung, „im Rahmen desselben Generationszusammenhangs können sich also mehrere, polar sich bekämpfende Generationseinheiten bilden“,402 scheint dasselbe Problem zu thematisieren, dem sich derjenige stellt, der vorhat, die Freiheit der einzelnen individuellen Profile in einem auf deren Verwandtheit beruhenden Zusammenhang zu erfassen, ohne sie an ihn preiszugeben. Mannheims Konzeption macht es möglich, die Generationen recht breit zu fassen, ohne dem Einfluss des biologischen Determinismus verfallen zu müssen. Naturalistische Theorien würden sich laut Mannheim eben darin täuschen, dass sie die generationelle Zusammengehörigkeit restlos von biologischen Strukturen her verstehen und ableiten würden,403 deshalb distanziere er sich vom Determinismus, der „biologisch-vitale Phänomene stets mit entsprechenden, durch gesellschaftlich-geistige Mächte geformten Erscheinungen“404 vermenge. Darum wäre es auch naiv, hinter den hier analysierten Texten ausnahmslos den sie determinierenden Einfluss der Generationserfahrungen zu suchen. Stattdessen sind folgende Fragen zu stellen: wie schlugen sich in den Texten und deren Strategien gewisse Generationsettiketierungen, die Anforderungen der jeweiligen Generationsrolle, und die Generationsbewertungen nieder? In wie fern und worin machte sich der Druck des Generationszusammenhangs bemerkbar? Welchen Generationserwartungen wurden die Autoren ausgesetzt, wie kamen sie mit ihnen zurecht? Wozu und wie nutzen sie selbst das Generationspotenzial, wie sah solche Generations(selbst)thematisierung aus?405 Wie positionierten sie sich gegenüber dem Denken, das von Generationsabfolgen ausgeht? Es lassen sich bereits jetzt einige durch den Generationsbegriff nahegelegten Hypothesen aufstellen. Was G. Grass in der ersten Hälfte der 1960er Jahre dazu gebracht hat, früher und konsequenter als viele seiner Kollegen von den Oppositionen Geist – Macht, Literatur – Politik abzulassen, mag eine Form seiner Verarbeitung der Generationsprägung gewesen sein, die sich in einer anderen Ausprägung in dem Willen äußerte, sich den politischen Radikalismus der Studentenbewegung vom Leibe zu halten. Damit man es ohne bewertende Untertöne hinstellt: sein Bedürfnis, Auschwitz politisch auch dann abarbeiten zu müssen, als es nicht mehr konsensuell war (nach 1990), mag auf die Verarbeitung derselben generationellen Präformation hinweisen, die (nach 2000) in den Versuch münde- 402 Ebenda, S. 547. 403 Vgl. Ebenda, S. 527. 404 Ebenda, S. 553. 405 Generation als analytische Kategorie und Generation als eine Formel, mit der das jeweilige Subjekt seine Generationszugehörigkeit thematisiert, sind zwei unterschiedliche Kategorien. Siehe U. Jureit: Generationenforschung. Göttingen 2006, S. 9. 171 te, seinen lange nicht explizit artikulierten persönlichen Makel doch noch öffentlich zu bekennen. Es ist jetzt nicht zu schildern, zu welchen Hypothesen die Reflexion der generationellen Spannung auch bei anderen Literaten führen könnte, stattdessen ist in aller Kürze der Blick auf andere Intellektuelle dieser Generation zu lenken, von denen in den vorherigen Kapiteln die Rede war. Beim Historiker M. Broszat, der seinen Weg jenseits dem deklamativen und pädagogisch ritualisierten Faschismus einerseits, und der den Nazismus dämonisierenden Praxis andererseits suchte, mag sich diese Spannung darin bemerkbar gemacht haben, dass er den Spagat auszubalancieren suchte zwischen dem kritischen Abstand zum wissenschaftlichen Objekt und dem unkritischen Willen, es sich es um jeden Preis verständlich zu machen. Dieses Unterfangen zog die Folge nach sich, dass er kaum bereit war, sich dem Blick der anderen auszusetzen und wohl auch hypersensibel auf jedes Moralisieren reagierte. Ähnliche Symptome lassen sich auch bei I. Geiss, K. Sontheimer, O. Marquard oder bei dem einige Jahre jüngeren H.A. Winkler festhalten. I. Geiss setzte sich von seinem Lehrer F. Fischer ab, den er zu Beginn der 1960er Jahre mit absoluter Hingabe verteidigt hatte, sobald ihm eingeleuchtet hat, dass Fischers Texte jener gesinnungsästhetischen Rigorosität den Weg bahnen, unter deren Zeichen die radikalisierten Studenten und deren politischen Nachfolger ihren totalitären Kampf im Namen der Diktatur führen wollten. K. Sontheimer oder O. Marquard waren zunächst solidarisch mit den Prinzipien der Studentenbewegung, doch bald galt es für sie zumindest die Reste des demokratischen Potentials rettend zu schonen, die von der Studentenbewegung bis jetzt nicht zerstört worden waren. H.A. Winkler (1938), einige Jahre jünger als seine älteren Kollegen, vollzog diesen Schritt später; erst in den 1990er Jahren wurde ihm deutlich, dass sein Engagement während des Historikerstreits an der Seite von Habermas durch die Teilnahme an ideologisch bedingten Prinzipien erkauft war, deren Zweckmäßigkeit er lange nicht wahrhaben wollte. Die Reihe dieser Beispiele macht deutlich: Der Generationszusammenhang determiniert nicht, sondern eröffnet naheliegende Möglichkeiten. Ein den intergenerationellen Wechselbeziehungen offener Generationsbegriff schließt sowohl ein, dass ein Angehöriger der älteren Generation vorläufig (und freilich mit immer stärkerem Vorbehalt) am Programm der jüngeren Generation partizipieren kann (Enzensberger, Sontheimer, Geiss, Marquard), als auch den Fall, dass ein der jüngeren Generation Zugehöriger daran – freilich mit entsprechendem Zeitabstand – partizipieren kann, wie die Älteren ihre einstige Partizipation am Programm der Jüngeren verarbeiteten (Winkler und um es vorwegzunehmen, auch Schneider oder Strauß). Es ist bezeichnend, dass, sobald diese Dispositionen manifest wurden, sie unabhängig von der Zeit ähnliche Reaktionen der Kritik hervor- 172 riefen: moralischen Anstoß, Desavouierung, Disqualifizierung, intellektuelle Exkommunizierung. Zwischen der Empörung, die nach Grass’ Bekenntnis des Jahres 2006 folgte, und der verächtlichen Kritik, der Geiss’ in den 1980er und Sontheimer in den 1970er Jahren ausgesetzt wurden, ist allenfalls ein quantitativer, doch kein qualitativer Unterschied zu sehen. Alle diese Fälle zeugen von einer mutigen intellektuellen Leistung, sich damit auseinanderzusetzen, wodurch diese Generationen in den Kriegsaber auch Nachkriegsjahren geprägt wurden. So wie Grass in seinen Werken die Konturen seiner Jugendschatten umriss, ohne sie (bis zum Jahre 2006) explizit beim Namen zu nennen, zeichnen sich viele intellektuelle Leistungen von Broszat, Geiss, Sontheimer oder Marquard durch das Bestreben aus, die generationelle Prägung produktiv zu verarbeiten. Ihre durch Nazismus geprägte, ideologisch kompromittierte, politisch missbrauchte, oder nur dumme und verblendete Jugend hat sie nicht nur limitiert, sondern, falls diese Erfahrung verarbeitet wurde, auch immunisiert gegen diverse Varianten dessen, was diese Generation schon einmal durchgemacht hatte, also gegen antidemokratische Totalitätsversuchungen und alleserklärende Lösungen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: ich habe nicht vor, eben diese Generation zu privilegieren, etwa auf Kosten der Generation der Studentenbewegung. Im Gegenteil, ich denke, dass eben dank dieser Sicht einmal mehr das Profil der Autoren der jüngeren Generation gezeichnet werden kann, die trotz ihrer fehlenden totalitären Vorerfahrung mit ihrer generationellen Prägung so umzugehen wussten, wie es etwa Winklers Fall andeutet. 5.3 Skeptische Generation Die Fachliteratur ist sich darüber im Klaren: Die Generation der zwischen 1926–1930 Geborenen ist kaum auf einen Begriff zu bringen. Deren innere Heterogenität wird nicht nur die Fülle der geläufigen Bezeichnungen (Hitlerjugend, Aufbaugeneration, suchende Generation, verratene Generation, Die 45er, skeptische Generation406 ), sondern bereits bloße Auflistung einiger ihrer Vertreter (J. Habermas, T. Nipperdey, R. Dahrendorf, J. Fest) belegt, deren Unterschiedlichkeit jeden Versuch, sie unter ein Dach zu bringen, Lügen straft.407 In den ersten Nachkriegsjahren wurde sie oft dem Verdacht ausgesetzt, sie sei zu tief nazistisch indoktriniert gewesen, als dass sie diese Prägung kaum irgendwann hätte überwinden 406 Vgl. D. Moses: „Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie“ ..., S. 235. 407 Vgl. Ebenda, S. 258. 173 können.408 Obwohl bald klar wurde, dass gerade von dieser Generation solche Nostalgie kaum zu erwarten ist, scheint dieser Verdacht nach wie vor unterschwellig zu wirken, wie nicht zuletzt 2006 oder 2012 evident wurde, als manche Kritiker in Grass’ Autobiographie und dem Gedicht „Was gesagt werden muss“ überdeutliche Spuren und Spätfolgen dieser Indoktrinierung erblickten. Angesichts der politisch-gesellschaftlichen Umstände, in denen diese Generation aufwuchs, muss die Schwierigkeit, diese Generation unbefangen zu definieren, nicht überraschen. Der Blick auf sie wurde oft vom Blick auf ihr moralisches Profil verstellt. Bis heute muss sich diese Generation darauf fassen, mit moralischen Vorwürfen traktiert zu werden. Selbst der kleinste Fehlgriff mobilisiert die tiefsitzenden Invektiven, just diese Generation habe den Löwenanteil an der „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich) gehabt, gerade ihr habe das „kommunikative Beschweigen“ (Lübbe) der Vergangenheit behagt, sie sei nicht genug antifaschistisch gewesen, darum hätte sie nicht bestanden.409 Neben dieser Kritik, die, so die scharfsinnige Bemerkung von D. Moses, implizit voraussetze, „dass in den späten vierziger und in den fünfziger Jahren eine wirkliche politische Antwort auf den Nationalsozialismus nur eine antifaschistische Jugendrebellion gegen die Nazigeneration hätte sein können“410 , und da diese ausgeblieben sei, unterstelle man den 45ern, sie hätten „überhaupt keine Antwort gehabt“,411 findet man auch Versuche vor, diese Generation im Gegenteil (nur) als eine erfolgreiche Antwort auf den Nazismus zu definieren. Sie habe sich fähig erwiesen, den Nazismus produktiv zu verarbeiten, aus negativen Impulsen positive Konsequenzen zu ziehen. So ging etwa H. Schelsky vor, der die von ihm so genannte „skeptische Generation“ mittels der Antwort der damals Jugendlichen auf den Nazismus bestimmte,412 und sie darum von zwei ihr vorausgegangenen Generationen abhob: der Generation der Jugendbewegung und der Generation der politischen Jugend. Setzte sich die Generation der Jugendbewegung von der Gründerwelt „der Geschäfte und Beamtenkarrieren mit ihrer vorgetäuschten Moral, ihrer spießigen Verlogenheit im Privaten“413 ab, indem sie zur Reinheit der Natur flüchtete, ja indem sie Lagerfeuer 408 H.U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte (Bundesrepublik und DDR). München 2008, S. 187. 409 Vgl. A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis ..., S. 41. 410 D. Moses: „Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie“, S. 245. 411 Ebenda, S. 245. 412 H. Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend. Düsseldorf 1960 (1957). 413 Ebenda, S. 59. 174 und Volkstanz „an die Stelle von Tanzstunde, Kino und Kneipenwesen“414 gesetzt habe, dann suchte die Generation der politischen Jugend ihrer Unsicherheit in den Ideologien, in großen Taten, im kollektivistischen Aktivismus und politisch-sozialen Planungsforderungen entgegenzutreten. Wenn man die Definition des 1912 geborenen H. Schelsky beiseitelässt, und sich den selbstbeschreibenden Definitionen zuwendet, gilt es zweierlei festzuhalten. Der 1927 geborene Grass konstatiert, sie wären „zu jung, als dass sie Nazis hätten sein können, doch alt genug, um vom System mitgeprägt worden zu sein, das 1933–1945 zunächst Staunen und dann Schrecken hervorrief“.415 Nicht unschuldig, aber ohne eine direkte Verantwortung will Grass seine Generation verstanden wissen, doch beides sei nicht ihr Verdienst, sondern allenfalls ein glücklicher Zufall gewe- sen.416 Der ebenfalls 1927 geborene Ch. von Krockow hebt noch einen anderen Aspekt hervor, indem er diese Generation für alt genug erklärt, um „den Krieg, die Macht und den Fall des Dritten Reiches bewußt mitzuerleben; sie war jung genug, um neu anzufangen“.417 Dieser „ohne Verdienst unbelasteten“418 , teilweise kompromittierten Generation, um zurück zu Schelskys Definition der „skeptischen Generation“ zu kommen, wurde im Krieg die Lektion erteilt, „dass politische und gesellschaftliche Bestrebungen grundsätzlich anders ablaufen, als die noch so leidenschaftlich und hingebend geglaubten Ordnungs- und Gestaltungvorstellungen es vorher vorspiegelten.“419 Diese Erfahrungen hätten ihre Bereitschaft erschüttert, sich mit politischen Systemen zu identifizieren, ja insgesamt ihren Willen vernichtet, den ideologischen und politischen Ereignissen einen Sinn zuzuschreiben. Da sie nach dem Krieg vor die Aufgabe gestellt wurde, „diese persönliche und private Welt des Alltags, vom Materiellen her angefangen, selbst stabilisieren und sichern zu müssen,“420 hätte sie sich 414 Ebenda, S. 60–61. 415 So hat sich Grass auf seiner Israel-Reise 1967 geäußert, nachdem er jene Legende wiederholt hatte, an die ihn seine Kritiker im Jahre 2006 erinnern werden,. „Im Jahre 1927 wurde ich in Danzig geboren. Als Vierzehnjähriger war ich ein Hitlerjunge; als Sechzehnjähriger wurde ich Soldat, und mit siebzehn Jahren war ich ein amerikanischer Kriegsgefangener“. G. Grass: „Rede von der Gewöhnung“. In ders.: Essays und Reden 1955–1979 ..., S. 231. 416 Vgl. dazu das recht interessante Spiel mit der Hypothese, er wäre zehn Jahre früher geboren, das Grass in Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus inszeniert. G. Grass: „Die Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus“. In ders.: Werkausgabe in zehn Bänden, Band 6. Darmstadt 1987, S. 153–155. 417 Graf Christian von Krockow: „Das Missverhältnis der Erfahrungen – Versuch zu einem Dialog“. In C. Richter (Hg.): Die überflüssige Generation. Jugend zwischen Apathie und Aggression. Königstein 1979, S. 205. 418 Er bezeichnet sich ausdrücklich als „ohne Verdienst unbelastet“. Vgl. G. Grass: „Rede von der Gewöhnung“ ..., S. 231. 419 H. Schelsky: Die skeptische Generation ..., S. 84. 420 Ebenda, S. 86. 175 eben den Werten zugewendet, für die die vorausgehenden Generationen wenig übrig hätten: Familie, Bildung, Arbeit, Alltäglichkeit. Dieser dezidierte „Konkretismus“ sei als eine durchaus reife, erwachsene und sich der Lage entsprechend anpassende Reaktion dieser Jugendlichen gewesen, auf den Bankrott der Ideale, denen sich die früheren Generationen verschrieben hätten. Also der Ideale des Rousseau’schen Romantismus des Reinen und Wahrhaftigen, wie der des totalitären Idealismus der kollektivistischpolitischen Planung. In einem Vorgriff prophezeite Schelsky dieser Generation, sie werde angepasster und wirklichkeitsnäher, darum kaum noch anfällig für revolutionären Idealismus, der sich um die Realisierbarkeit seiner Ziele und Pläne nicht schere; je skeptischer, desto unpathetischer; je illusionsloser, desto toleranter, „wenn man die Voraussetzung und Hinnahme eigener und fremder Schwächen als Toleranz bezeichnen will“.421 Schelskys Definitionsversuch war ein affirmativer. Geschützt werden sollte diese Generation einerseits vor allen, die deren Mangel an Idealismus monierten, andererseits war sie von der Anschuldigung freizusprechen, sie wäre gegenüber der neuen Republik indifferent und allenfalls an ihr eigenes Profit bedacht. So konnte auch den damaligen Kommentatoren nicht entgehen, dass Schelskys selbstrettender „Sprung in das Projekt der Bundesrepublik“422 nur um den Preis einiger Verdrängungen möglich gewesen sei.423 Darum musste sich Schelskys Konzeption den Vorwurf der affirmativen Haltung zum Eskapismus und Opportunismus gefallen lassen, die proklamierte Skepsis glaubte man als Vorwand für Konformismus und Karrierismus dieser Generation entlarven zu müssen.424 Hinter dem Antiidealismus sah man allenfalls den Pragmatismus, hinter dem Antiutopismus das Kalküldenken,425 hinter der politischen Illusionsabsti- 421 Ebenda, S. 488. 422 Diese Metapher verwendet in Anlehnung an U. Diederichs F.W. Kersten: F.W. Kersten: „Helmut Schelskys ,Skeptische Generation‘ von 1957“. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 50, 2002, S. 465–497, hier S. 487. 423 E. Topitsch kam in seiner Rezension Schelskys zum Schluss, „hinter Konformismus und Wirtschaftswundertätigkeit lauert wohl doch eine tiefe Lebensverlegenheit, und um die unbewältigten und unverarbeiteten Erlebnisse des letzten Vierteljahrhunderts dürfte sich ein Verdrängungsprozess in beinahe psychoanalytisch exaktem Sinne abspielen“. E. Topitsch: „Helmut Schelskys Soziologie der deutschen Jugend: Die Skeptische Generation“. Salzburger Nachrichten, 21.6.1958, zit. nach F.W. Kersting: „Helmut Schelskys ,Skeptische Generation‘ von 1957“ ..., S. 486. 424 Karrierismus ist eine der Zuschreibungen, die dieser Generation von der Generation der 68er adressiert wurde. 425 Schelsky glorifizierte die Tatsache, dass die skeptische Jugend im Gegensatz zu ihren Vorgängern die technische Moderne zurückweise, und habe sich nicht viel darum gekümmert, dass die von ihm gebilligte „Funktionstüchtigkeit“ viele pragmatische, konformistische und opportunistische Aspekte beinhaltet und den Idealismus durch Indifferenz ersetzt habe. Vgl. etwa: K. Heinrich: Versuch über die 176 nenz hausbackenen Konservativismus, hinter der Anspruchsbescheidenheit politische Indifferenz und Lethargie. Schelskys Zuschreibungen sind sicher nicht zu glorifizieren, ihre Aussagekraft andererseits bereits durch das Argument zu bestreiten, Schelsky habe durch sie Identitätsarbeit in eigener Sache betrieben,426 wäre wohl unbedacht. Die Bereitschaft der Skeptiker, eine moderne industrielle Gesellschaft zu akzeptieren, wird Schelsky derart imponiert haben, dass er über manche Einseitigkeiten des skeptischen Programms hinwegsah, um in der proklamierten skeptischen Nüchternheit den erhofften ersten Schritt zur Normalität festzuhalten, der die unselige Phase der deutschen Sonderwege beenden kann. Deshalb halte ich Schelskys Konzept mitnichten für den universellen Maßstab, sondern allenfalls für einen der Pole der kulturellen Spannung, zwischen denen nach dem Raum für die literarische Reflexion der Deutschheit gesucht wird. Da diese Generation von Anfang an zwischen den Schatten ihrer eigenen Vergangenheit und Zukunftszusagen situiert war, ja sie die Defizite ihres Ursprungs in produktive Arbeit umzusetzen suchte, könnte man sie sehr wohl gerade aus der Spannung heraus verstehen, die zwischen dem idealisierten Programm Schelskys einerseits und der gegen Schelskys Programm formulierten Kritik andererseits herrschte, die von den „Antiskeptikern“ auf diese Generation en bloc übertragen wurde. Der Blick darauf, wie unreflektiert die Fachliteratur die Skepsiszuschreibungen intragenerationell handhabt, und wie sie die transgenerationellen Übergänge blockiert, anstatt sie reflektierend nachzuzeichnen, gibt Grund zu einigen kritischen Bemerkungen. Die erste soll illustrieren, in welchem Maße die Skepsiszuschreibungen die transgenerationellen Verhältnisse in der Gruppe 47 beeinflusst hatten. H.W. Richter (1908), spiritus rector dieser Gruppe, hatten bekanntlich in der ersten Phase der Studentenrevolte die jungen Studenten sehr wohl behagt,427 weil sie ihn an seinen eigenen kommunistischen Enthusiasmus aus der Zeit vor 1933 erinnert haben mögen. Seine spätere Abwendung von den Studenten ist hier nicht so interessant wie die – dies begleitende – Abwendung von manchen „seiner“ Autoren, eben den 1927–1929 Geborenen, die zu dieser Zeit noch an der Revolte mit kleineren oder größeren Vorbehalten partizipierten. Sie waren Richter gerade deshalb ein Dorn im Auge, weil sie sich in seinen Augen zu typischen Skeptikern verwandelten, genauer, sie sind von der skeptischen Generationsprägung eingeholt worden. Also: Er hat sie mit – für seine Begriffe – typischen Zuschreibungen der skeptiSchwierigkeit nein zu sagen (1962). Paraphrasiert nach H. Bude: Deutsche Karrieren ..., S. 41–57. 426 F.W. Kersting: „Helmut Schelskys ,Skeptische Generation‘ von 1957“ ..., S. 481. 427 Dies belegt D. Geppert: In ders.: „Hans Werner Richter, Die Gruppe 47 und ,1968‘“ ..., S. 183. 177 schen Generation versehen, um sich von ihnen abzusetzen. Dass M. Walser, H.M. Enzensberger oder R. Lettau bereit waren, an der Studentenrevolte kräftig zu partizipieren, wies er zurück, indem er dahinter Fahrlässigkeit, Leichtsinn und Opportunismus entdeckte. In den Jahren 1969–1971 griff er somit auf das Argument zurück, das ursprünglich, also in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, gegen die „selbstrettende“ Funktion von Schelskys Buch geltend gemacht worden war, um „seine Autoren“ geradezu zu lebenslanger Skepsislastigkeit zu verdammen. Sie gehörten für ihn zu „[...] einer stets angepassten Generation, wendig, gelenkig, ohne festen Halt“ 428 , sie hätten nichts gekonnt, als sich anzupassen, im Kriege hätten sie sich angepasst, nach 1945 hätten sie sich dem Ideal des Demokraten, des liberalen Schriftstellers und politischen Pragmatikers angepasst, und nun, nach weiteren zwanzig Jahren folge die vorläufig letzte Anpassung, diesmal einer „pseudorevolutionären Jugend. Idea: Lenin usw.“.429 Dass sich der einstige Kommunist von seinen Kollegen, die diese Ideale auf eine wohl noch radikalere Weise anstreben, mit Skepsiszuschreibungen distanziert, zeigt, dass in dem nachkriegsdeutschen Intellektuellenbetrieb das skeptische Programm eine nicht unbedeutende Rolle (wohl vielmehr in absetzender als in affirmativer Verwendung) bereits lange davor gespielt hatte, als sich diese Generation dessen bewusst wurde. Die zweite Bemerkung: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Generation viel zu selten als eine vollwertige verstanden wird. Als wäre sie nicht eigenständig genug, und müsste an anderen Größen gemessen und von den ihr uneigentlichen Blickwinkeln heraus beleuchtet werden. Folgende Beispiele mögen illustrieren, dass dies aus unterschiedlichen Gründen motiviert werden kann. A. Assmann430 hält dieser Generation431 zugute, dass sie Deutschland geistig fit gemacht hat. Diese Generation, die sich um die „intellektuelle Neugründung der Re- publik“432 verdient habe, würde von der Generation der 68er um deren Früchte gebracht, die ihrerseits weniger zu den Skeptikern, als vielmehr zu jüdischen Emigranten der Frankfurter Schule oder radikalen „GegenDenkern wie Marx und Engels, Freud und Benjamin, Foucault und Lacan“433 inkliniert hätte. Zurecht weist Assmann auf das vergleichsmä- 428 Geppert zitiert aus den nicht publizierten Tagebüchern von Richter, angegebene Zitate stammen aus den Jahren 1969–1971. Siehe ebenda. 429 Ebenda. 430 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis ..., S. 58–67. 431 Sie wählt freilich andere Repräsentanten dieser Generation: W. Iser (1926), D. Henrich (1927), H. Stierlin (1926), N. Luhmann (1927), R. Dahrendorf (1929) und J. Habermas (1929). 432 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis ..., S. 37. 433 Ebenda, S. 37. 178 ßig434 unzureichend erforschte Verhältnis zwischen den 68ern (um 1940 Geborenen) und den 45ern (um 1930 Geborenen) hin, was sie durch ihre Theorie der drei Negationen wettzumachen sucht. Die 68er hätten auf die Abstinenz vom politischen Pathos ihrer Vorgänger mit einer pathetischen Politisierung geantwortet. Im Gegensatz zu den frühzeitig Erwachsenen und anpassungsfähigen Skeptikern hätten sie die fast pubertäre Unreife verkörpert, die die Eigenschaften der nonkonformen Jugend beanspruche. Auf das von den Skeptikern getragene Milieu des „kommunikativen Beschweigens“, in dem man den eigenen und fremden Schwächen mit Toleranz begegnet und moralische Stichworte wie Schuld und Scham den Politikern überlassen habe, hätten die 68er mit demonstrativem Zorn reagiert, der im Bruch mit den Vätern kulminierte und deren Beschweigen anpran- gerte.435 Assmanns klar strukturierte Interpretation beinhaltet indes einige umstrittene Konklusionen. Die Gegenüberstellung beider Generationen scheint hier erst infolge und dank der axiologischen Verallgemeinerung möglich zu sein, der eine sehr umstrittene Bewertung der Verdienste beider Generationen zugrunde liegt. Grass, Walser, Enzensberger oder Habermas können nicht so pauschal als „kommunikative Beschweiger“ bezeichnet werden, so sehr einige von ihnen ihr Schweigen erst im höheren Alter gebrochen haben. Im Übrigen, in dem skizzierten Schema ist die Rede davon, dass die 68er mit ihren schweigenden Vätern gebrochen hätten, die ja kaum, wohl nur in Grenzfällen, um 1930 geboren sein kön- nen436 , nichtsdestotrotz wird das „kommunikative Beschweigen“ insbesondere den Skeptikern angelastet. Zu recht behauptet Assmann, die Generation der 68er sei ohne die 45er nicht zu verstehen, sehr genau ist auch ihre Bemerkung, die 45er und 68er seien in einer „unterirdischen Abstoßungs- und Anziehungsdynamik miteinander verbunden,“437 doch gleich danach scheint dies widerlegt zu werden, indem ein schwarz-weißes Schema der Generationsabfolge konstruiert wird, in dem nicht eine Mischung von Abstoßung und Anziehung, sondern ausschließlich die Abstoßung waltet.438 434 Das Verhältnis zwischen den 68ern und den 33ern (um 1910 Geborenen) hält Assmann zu Recht für wiederum übermäßig erforscht. 435 Vgl. A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis ..., S. 42–44. 436 Also nur in extremen Fällen, wenn etwa ein fast noch gymnasialer Student um 1966 mit seinem Vater bricht, der diesen mit 18 gezeugt hatte. Mehrheitlich handelte es sich um andere Kohorten, also um die zwischen 1940–1948 geborenen Studenten und deren zwischen 1905–1920 geborenen Väter. 437 Ebenda, S. 37. 438 „Ebenso wie der politisierten Jugend von 33 eine entpolitisierte skeptische Jugend von 45 folgte, folgte der entpolitisierten skeptischen Jugend von 45 die politisierte Jugend der 68er.“ Ebenda, S. 43. 179 Die intergenerationelle Dynamik zwischen beiden Generationen lässt Assmann nur bedingt gelten, und zwar dann, wenn sie die in ihren Augen wahren intellektuellen „Gründer“ aus der Generation der 45er gegenüber den „skeptischen“ 45ern abheben, oder wenn sie eben mithilfe dieser herausragenden 45er das Profil der 68er verbessern und das gemeinsame Werk dieses intergenerationellen Bündnisses aufwerten will. Nur für diese Fälle und aus diesem Grunde scheint sie einräumen zu wollen, dass sich „beide Generationen in ihren Zielen und Projekten auch miteinander verbündeten“.439 Darum hebt sie hervor, dass die politische Revolte der späten 1960er Jahre von „eminenten 45ern vorbereitet und mitgetragen“440 wurde (sie nennt Enzensberger, Walser und Grass), was auch für die Schaffung der Erinnerungskultur an Nationalsozialismus und Holocaust gelte (Weizsäckers Rede vom „8. Mai 1985“ oder Habermas’ und Meiers Beiträge zum Historikerstreit ein Jahr später).441 Zu welchen Konsequenzen eine solche Konstruktion zwingt, sieht man etwa an dem ungenauen Gebrauch des Wortes „politische Revolte“ der späten 60er Jahre, den sie mit den Namen Enzensberger, Walser, Grass verbindet. Wohl vermengt sie darin eher den Prozess, der bereits am Ende der 1950er Jahre begonnen hat (man spricht nicht von ungefähr über die langen 1960er Jahre), an dem sich Grass bewusst beteiligt hatte, mit der politischen Revolte der späten 1960er Jahre, von der sich Grass unmissverständlich distanzierte.442 Für diejenigen 45er, die den Prozess der späten 1960er Jahre in ihren Augen nicht explizit unterstützten, also die Bezeichnung „die Moralischen“, bzw. die „Politischen“443 nicht beanspruchen dürfen, bleiben Assmann, wiederum auf ihr Abstoßungsschema zurückgreifend, nur noch die zu den Zielen der 68er konträr laufenden „Skeptischen“ („die sich den Forderungen der Moral, des Ernstes, der Entscheidung radikal verschlossen und auf Unbestimmtheit und Mehr- 439 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis ..., S. 46. 440 Ebenda. 441 Siehe ebenda. 442 Assmann scheint hier den Unterschied zwischen der Reformbewegung, die sich bereits am Ende der 1950er geregt hatte, und der Studentenbewegung der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zu verwischen. Erst um 1967, schreibt etwa H. Rudolph, habe der Reformgedanke in ein Revolutionspostulat umgeschlagen, „das Engagement für mehr Politik in eine mehr oder minder totale Politisierung – die mit der Verweigerung gegenüber der möglichen politischen Praxis einhergeht –, die Forderung nach mehr Demokratie in eine Demokratisierungsideologie, welche Idee und Praxis der repräsentativen Demokratie ad absurdum führt.“. H. Rudolph: „Eine Zeit vergessener Anfange: Die sechziger Jahre“. In W. Weidenfeld (Hg.): Politische Kultur und deutsche Frage. Materialien zum Staats- und Nationalbewusstsein in der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1989, S. 69–70. 443 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis ..., S. 65. 180 deutigkeit [...] bzw. auf systemischen Relativismus setzten [... ] und die Nationalen“444 übrig. Während A. Assmann das Bündnis zwischen diesen Generationen nur gelten lassen will, sofern sie die Mitarbeit am Prozess der intellektuellen Erneuerung der Bundesrepublik zum exklusiven Kriterium erklärt, und somit alle umstrittenen Fälle zwangsläufig über einen Leisten der Abstoßungsdynamik schlägt, stellt S. Weigel445 die Generation der 45er von vorne herein als eine dezidiert hegemoniale Tendenzen vorweisende Generation vor. Diese Generation habe „für sich einen Hegemonialanspruch auf das wahre Bild der Geschichte“446 gestellt, da sie das Recht usurpiert habe, über die Geschichte auf einzig verbindliche Art zu sprechen. Um dies zu belegen, analysiert Weigel die Korrespondenz zwischen M. Broszat und S. Friedländer. Broszats Unwillen, andere als deutsche und wissenschaftliche Porträts des Nationalsozialismus zuzulassen, führt sie zu recht auf seine eigenen Generationserfahrungen zurück. Doch anstatt diese differenziert etwa als eine Erfahrung der „ohne Verdienst Unbelasteten“ (Grass) zu klassifizieren, spricht sie recht einseitig von privilegierter Position „eines gleichsam unschuldigen Wissens [...] jenseits politischer Verantwortung, jenseits einer möglichen Täterposition“.447 Dies erklärt, warum diese Generation für Weigel fragwürdig ist: Um nach dem Krieg die Rolle der politischen und kulturellen Elite beanspruchen zu können, hätte sich diese Generation „außerhalb des Schulddiskurses“448 situiert, indem sie ihre „Abkunft von der vorausgegangenen Nazizeit“449 negiert hätte. Das Ambivalente an Broszats Argumentation glaubt Weigel, es mit seiner Generationserfahrung kurzzuschließend, auf die heuchlerich-exkulpierende Generationscharakteristik zu reduzieren, die sie Broszat unreflektiert zuschreibt, und gegen ihn ausspielt, als wäre er ein Repräsentant der Generation der 33er, dessen bewusste Verantwortung außer Frage steht. Um mit ihm abzurechnen, unterstellt sie ihm die Charakteristiken der um einiges älteren Generation. Dass diese Überlappung der Generationen in ihrem Text kein Ausrutscher, vielmehr ein Bestandteil der Textstrategie ist, belegt die Abschlusspassage, in der Weigel ihr Augenmerk auf die von A. Andersch und H.W. Richter formulierte Programmatik der Zeitschrift Der Ruf lenkt, in deren Mittelpunkt Begriffe wie „Wiedergeburt, Erneuerung und radikaler Neubau, Hingabe und Haltung, das religiöse Erlebnis des Krieges und das 444 A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis ..., S. 61–62. 445 S. Weigel: „Die Generation als symbolische Form. Zum genealogischen Diskurs im Gedächtnis nach 1945“. Figurationen.gender.literatur, 1, 1999, S. 158–173. 446 Ebenda, S. 159. 447 S. Weigel: „Die Generation als symbolische Form ..., S. 169. 448 Ebenda, S. 170. 449 Ebenda. 181 Erlebnis der Freiheit“450 stehen. Sie stellt fest, dass dadurch diese Autoren „alle Differenzen der historischen Herkunft und die gegensätzlichsten Orte in der jüngst vergangenen Katastrophe offensiv aus dem Wege ge- räumt“451 hätten. Dies sei ihnen nur deshalb gelungen, weil sie als „heroisches soldatisches Kollektiv sich aus der historischen Verantwortung des Nazismus“452 herausgelöst hätten. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn Weigel dieses selbstentlastende Denken nicht sogleich der Generation zugeschrieben hätte, deren Hegemonialanspruch nach 1945 ihr solches Unbehagen bereitet. Denn keines der angeführten Zitate stammt von einem 45er, es wird ausschließlich A. Andersch zitiert, der 1914 geboren ist. Weigel unterstellt somit also, mit diesen durch deren geistigen Führer Andersch und Richter proklamierten Prinzipien hätten sich auch die Repräsentanten der zweiten Generation der Gruppe 47, also eben die 45er vorbehaltlos identifiziert. Demgegenüber meine ich, diese unreflektierte Übernahme dieser Prinzipien des später so bezeichneten „soldatischen Narrativs“ stellte für die 45er eben den Schatten dar, den, sosehr sie mit ihm verkoppelt waren, sie zu überspringen suchten. Anders gesagt: Weder bestreite ich, die Generation der 45er hätte, „jenseits ihrer erklärten Absicht, auch erkennbar teil an den kollektiven Entlastungswünschen und Schuldprojektionen“,453 noch stelle ich in Abrede, Grass, Walser oder Enzensberger wären „Verdrängungskünstler“.454 Dennoch glaube ich, sie seien imstande gewesen, diesen Umstand im Gegensatz zu der ersten Generation der Gruppe 47 (Andersch, Richter, in gewissem Sinne auch Böll) zu reflektieren, und zu verarbeiten. Nur in diesem Sinne ist es unumgänglich, zwischen diesen Generationen scharf zu unterscheiden. Worauf lässt sich aus diesen Beispielen schließen? Vor allem auf die Notwendigkeit, die intergenerationellen Übergänge vor den zweckmäßig konstruierten Großgenerationen zu schonen. Dass etwa Enzensberger, Walser oder Marquard und viele andere im Jahre 1968 in ihrer verspäteten Pubertät manches nachzuholen suchten, was ihnen in ihren Jugendjahren versagt geblieben ist, und darin zwangsläufig dem Habitus der 68er nah gekommen sind, ist naheliegend, jedoch dieser Prozess kann nur erfasst werden, wenn man ihm von den intergenerationellen weichen Übergängen her begegnet: Also weder von der undifferenzierten großen Kriegsgenera- 450 Ebenda, S. 172. 451 Ebenda. 452 Ebenda. 453 J. Vogt: Erinnerung ist unsere Aufgabe. Über Literatur, Moral und Politik 1945– 1990. Opladen 1991, S. 13. 454 „Zwar weiß man jetzt,“ zitiert H. Zimmermann den Standpunkt von E. Fuhr aus dem Jahre 2006, „dass da jahrzehntelang einer trommelte, der um die eigene Angreifbarkeit wusste und als politischer Moralist auch ein Verdrängungskünstler gewesen ist [...]“ H. Zimmermann: Günter Grass unter den Deutschen ..., S. 657. 182 tion (1910–1930) der sich Exkulpierenden, noch von der exklusiven Erneuerungsgeneration der Moralisch-Politischen (1925–1950) her. Die hier bemühte Perspektive macht den Blick auch für die Übergangsfälle und -phasen frei, wo die 45er (etwa trotz Schelskys Definition) den politischen Aktivitäten nicht mehr entsagten, recht ideologisch und dafür kaum anpassungsfähig wurden, ja wo ihre Immunität gegenüber den Versuchungen des kollektivistischen Aktivismus offensichtlich schwächelte. Den von Assmann und Weigel letztendlich konstruierten Großgenerationen liegen unbegründete Hierarchien der Exklusivität zugrunde, sofern man nicht umhinkann, innerhalb der 45er die Privilegierten von den Unprivilegierten zu unterscheiden (Assmann), oder von der Position der moralisch privilegierten Generation der 68er aus mit der großen Kriegsgeneration en bloc abzurechnen. Solche die Übergänge nur bedingt beachtenden Konzepte455 nehmen unbegründet an, der Generationswechsel folge einem Schema, in dem auf die politische Generation eine unpolitische, auf die beschweigende eine verbalisierende, auf die mordende eine reuende, auf die unmoralische eine moralische folgen müsse. 5.4 Bodo Morshäuser Wer die Sackgassen der Generationslogik kennenlernen will, möge die Deutschlandtexte von B. Morshäuser zur Hand nehmen.456 Morshäuser, ein um einiges jüngerer (1954) Autor457 , verfolgt die Logik des Deutschheitsdiskurses bis zu ihrem fatalen Punkt: Nur in diesem Land sind die Nachgeborenen mit dem Zwangsmuster geschlagen, entweder die Opfer der größten systematischen Ausrottung dieses Jahrhunderts zu leugnen oder sich anzumaßen, im Namen dieser Opfer zu sprechen, die sich gegen solche Indienstnahme nicht mehr wehren können. Die Sache ist besetzt von sich verabsolutisierenden Wahrheitszumutungen, die im Dialog nicht angeglichen, sondern im Vorwurf immer neu aufgetürmt 455 Siehe eine der Schlussfolgerungen der Studie von Moses: „Die besten der neueren wissenschaftlichen Arbeiten über das Verhältnis der Generationen in Nachkriegsdeutschland ersetzen die Schroffheit des verurteilenden Tadels durch lindernde, aus der Geschichte gewonnene Einsicht, dass Generationen durch kompliziertes Gewebe gegenseitiger Abhängigkeit miteinander verbunden sind.“ D. Moses: „Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie“ ..., S. 263. 456 B. Morshäuser: Hauptsache Deutsch. Frankfurt am Main 1992, ders.: Warten auf den Führer. Frankfurt am Main 1993. 457 In der Klassifizierung von Assmann ein Angehöriger der Generation 78, die sich – nicht selten als jüngere Geschwister der 68er – gerade gegen diese profilierten. Siehe A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis ..., S. 63–64. 183 werden, und jede Seite findet Selbstbestätigung, in einer symmetrischen Eskalation ohne Ende.458 Problematisch sei darin nicht nur, dass man nicht umhin könne, sich zu diesem Thema vorgefasst zu äußern: „Kein Deutscher hat die Gnade, sich außerhalb dieser Befangenheit zu befinden“.459 Noch schwerer wiegt, was Morshäuser als seine Weigerung formuliert, sich von der Linken zu distanzieren, zu der er eine Zeit lang inkliniert hatte. „Eklig die Rechten, aber auch eklig, wie die Linken ihren Ekel mitteilen. Deren Nein, obwohl anfangs auch mein Impuls, ist dem, das ich ablehne, zu nah und gehört mit abgelehnt.“460 Seiner Weigerung geht folgende Erkenntnis voraus: „Die plumpen Neins und Niewieders, jenes Denkgefängnis, das Handeln nur im Kontext von Gegnerschaft zuläßt – sie bestätigen lediglich seitenverkehrt, was sie frontal abzulehnen vorgeben. Die pure Gegenüberstellung verhindert jeden Versuch, das Abzulehnende einzubinden anstatt zu monsterisieren“.461 Also stellt er die Frage in den Raum: „Aber die Meinung A nicht zu haben, heißt nicht, die Meinung Nicht-A haben zu müs- sen.“462 Morshäusers Texte demaskieren die vorhersagbare Logik, von deren Schablonen sich das Generationsdenken nur schwer zu befreien sucht. Morshäuser schildert, wie einfach und bequem er selbst in den 1960er Jahren seine Identität gewinnen konnte, indem er sich [...] für links ausgab. Wichtiger, als links zu sein, war, die Gegenseite zu den Eltern gefunden zu haben. [...] Meine Lehrer wären nicht mit rechten Thesen schocken gewesen, ihre Kinder nicht mit linken. Der junge Protestierer hat so gesehen kaum die Wahl, zu welcher Seite er sich hinbehauptet. Es muß auf jeden Fall die andere Seite sein. Nur dort, im Unterschied, lockt Identität.463 Nun sieht er aber auch schon die Rückseite dieser Logik, die ja eben in ihrer Vorhersehbarkeit liegt: Die erste Generation behauptete, von nichts gewußt zu haben; die zweite Generation bezweifelte, daß die erste nichts gewußt habe; die dritte Generation gibt sich den Anschein, mit der deutschen Vergangenheit nichts mehr zu tun zu haben [...] Jede Generation sagt ihre Entlastungsparolen auf und gewinnt die vorige damit zum politischen Gegner im 458 B. Morshäuser: Hauptsache Deutsch. Frankfurt am Main 1992, S. 116. 459 Ebenda, S. 14. 460 Ebenda. 461 Ebenda. 462 Ebenda. 463 Ebenda, S. 11. 184 gemeinsamen Zeigefingerzeigen, dazu „Wahrheit!“ rufend. Als verschwänden eigene Wunden durch das Erscheinen anderer.464 Die Sicherheit, mir der man sich auf das einwandfreie Funktionieren dieses Mechanismus einlässt, stellt den größten Defekt der Deutschheitsdebatten dar, führt sie doch zwingend in ihre Sackgassen: Die erste Generation wollte von Auschwitz schweigen, weil Auschwitz ihren Stolz verletzt hatte. Die zweite Generation wollte über Auschwitz sprechen, weil dies ihre Scham, Deutsche zu sein, begründete. Die dritte Generation akzeptiert Auschwitz als Zentrum einer Moral nicht, und behauptet einen Stolz, deutsch zu sein. – Jede jeweils jüngere Generation hat einen sicheren Instinkt, wo die Tabus der älteren begraben liegen – und buddelt sie hervor.465 Morshäuser beschreibt den Zwang dieser einschnappenden Generationsreflexe, die am Wirken sind „wenn du nicht mehr zum Thema sprichst, aber auch nicht mehr schweigst [...] Wenn wie automatisch die eigene Meinung in Form von schnellen Entgegnungen abgerufen und aufgesagt wird, schneller, als du denken kannst [...] Wenn nicht du zum Thema, sondern das Thema aus dir spricht, in Vorurteilen und Ressentiments, und wenn dein Gesprächspartner diese bestätigt, woraufhin sich dein Bild von deinem Gesprächspartner bestätigt“.466 Solange wir diesen „Teufels- kreis“467 nicht durchhauen würden, blieben wir machtlos gegenüber allen (linken, wie auch rechten) Extremismen, die von dieser Logik zehren. Warum dieser Exkurs? Die Art, in der sich Morshäuser von dieser Generationslogik absetzt, ist der integrale Bestandteil der Deutschheitsreflexion. Indem er diese Logik reflektiert und zu überwinden sucht, thematisiert er einen der Schlüsselaspekte der Deutschheitsreflexion. Die von ihm beschriebene Generationslogik unreflektiert zu übernehmen, ja sie für das unproblematische methodische Erkenntnisinstrument zu halten, hieße all ihre „Defekte“ und Verzerrungen zu vererben und weiterzutragen, wie an den Studien von Weigel und Assmann deutlich geworden ist. Darum gilt auch umgekehrt: diese Generationslogik stellt nicht nur ein unzureichendes Erkenntnisinstrument dar, sondern gehört zumindest insofern zum eigentlichen Thema, als die einzelnen Literaten bei ihrem Nachdenken über Deutschland nicht umhinkonnten, sich gerade dieser Logik entgegenzustemmen. Am Beispiel gezeigt: Grass’ langjährige Akzentuierung von Auschwitz kann freilich als Antwort darauf verstanden werden, dass man über Auschwitz – einige Jahrzehnte lang – eher zu 464 Ebenda, S. 12. 465 Ebenda, S. 114. 466 Ebenda, S. 117. 467 Ebenda, S. 118. 185 schweigen pflegte. Man könnte ihm freilich auch vorwerfen, dass er selber einiges zu verschweigen suchte, um ihn trotz allem letztendlich der Generation der „Beschweiger“ zuzuordnen, die entlastungssüchtig agiert hätte. Dennoch glaube ich, dass diesem schwierigen Komplex am besten mit einem offenen Generationszusammenhang zu begegnen ist, in dem Sprechen und Schweigen nicht zwei gegensätzliche, sondern vielmehr einander bedingende und durchdringende Generationsmodi dessen darstellen, wie ein im Jahre 1927 geborener deutscher Intellektuelle die Deutschheit reflektieren konnte. Einer solchen Interpretation von Grass, Walser oder Enzensberger, die jenseits der unkritischen Verherrlichung wie auch des überheblichen Abrechnens verlaufen würde, stand wohl lange die Weigerung im Wege, zur Kenntnis zu nehmen, dass die junge Bundesrepublik eben nicht von „strahlenden Helden mit einwandfreiem Lebenslauf“ geistig gegründet wurde, sondern vielmehr von „historisch zutiefst gebrochene[n] und widersprüchliche[n] Persönlichkeiten“.468 Nicht selten wird etwa den Autoren angelastet, sie würden der beanspruchten Rolle der moralischen Instanz kaum gerecht. Oder stellt man den Widerspruch aus, der ja darin bestehen soll, dass diese Repräsentanten des besseren Deutschlands dem normalen (also schlechteren) Deutschland zum Gewissen wurden, um selbst kein Gewissen haben zu müssen. Gerade dadurch glaubten sie, so der Vorwurf, selbst davon schweigen zu dürfen, was sie den anderen auferlegt hätten (Grass), den freien Raum zum Kolportieren politisch unkorrekter (Enzensberger), rechts nationalistischer (Strauß), oder antisemitischer (Walser) Ansichten zu missbrauchen. 5.5 Skeptische Folien Nun sei zusammengefasst, warum der gebotenen Einheit in der Vielheit mithilfe des Generationsbegriffs zu begegnen ist, um anschließend die Perspektive noch um eine andere, komplementäre Folie zu erweitern. Davon ausgehend, dass es wohl generationsbedingte Spannungen und Zwänge waren, die bei den jeweiligen Autoren, je nach der Art deren schöpferischer Umformung, zu unverwechselbar individuellen, jedoch idealtypisch vergleichbaren Konfigurationen führten, die zwar nicht zeitgleich (synoptisch), doch mit zunehmendem Alter immer häufiger erschienen, wird ein Generationsbegriff geltend gemacht, der – an K. Mannheims Auffassung angelehnt – ein möglichst offener und kein substantieller, sondern eher ein Relationsbegriff ist. Dies, da nicht nur Diskontinuitäten innerhalb der Generationen, sondern auch intergenerationelle Zusammenhänge und Übergänge zu erfassen sind, insbesondere diejenigen zwi- 468 So soll es C. Leggewie formuliert haben. Die Quelle nicht gefunden, zitiert nach H. Zimmermann: Günter Grass unter den Deutschen ..., S. 657. 186 schen der Generation der 68er und der älteren, am Ende der 1920er Jahre geborenen Generation. Der Generationsbegriff wird – auch dies in Anlehnung an Mannheim – nicht als ein biologisch determinierender aufgefasst, damit er für andere Aspekte erschließbar werden kann, etwa für die Frage nach der Funktion der Generationsettiketierungen, der Generationsrollenerwartungen oder -bewertungen, der Funktionalisierung der Generations(selbst)thematisierung, und der Nützlichkeit der Generati- onsschemata. In dieser Form scheint der Generationsbegriff nicht nur den zwischen 1926–1930 geborenen Autoren, sondern auch den intergenerationellen Übergängen zwischen ihnen und den etwa 10–15 Jahre jüngeren, gerecht zu werden, zumal man ihn mit den allzu affirmativen Versuchen vergleicht, die Älteren auf einen Begriff zu bringen (etwa Schelskys „Skeptische Generation“), oder ihm die herabwertenden Versuche zur Seite stellt, die Komplexität in zweckmäßig konstruierten Großgenerationskomplexen aufzulösen, wie es etwa in der undifferenzierten großen Kriegsgeneration (1910–1930) der sich en bloc Exkulpierenden bei S. Weigel, oder in der exklusiven Erneuerungsgeneration der MoralischPolitischen (1925–1950) bei A. Assmann der Fall ist. Um diese Überlegungen in einen breiteren Rahmen einzubetten: Der intellektuelle Betrieb in Deutschland, so wurde in vorigen Kapiteln deutlich, scheint über weite Strecken dichotomisch strukturiert zu sein. Hier seien nur die für unser Thema ausschlaggebenden Oppositionen genannt: Linke oder Rechte, Fortschrittlichkeit oder Konservativismus, Aufklärung oder Gegenaufklärung, Geist oder Macht, historisches Bewusstsein, also die Fähigkeit, durch Geschichte zu lernen, oder historische Unbelehrbarkeit etwa in der Form biologischer Determinierung, Antifaschismus oder Faschismus, Philosemitismus oder Antisemitismus, Nationalismus oder Kosmopolitismus, und auf der tiefsten Ebene Freund oder Feind. Solche intellektuelle Praxis lässt immer nur höchstens zwei Varianten zu, um diese ausschließlich als „Entweder-oder-Varianten“ bestehen zu lassen, dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten folgend (wenn nicht A, dann zwingend B). Dies an einem einfachen Beispiel demonstriert: Wer kein Antifaschist sei, müsse Faschist sein, denn es gebe keine andere Variante mehr. Oder, ein bisschen komplizierter: Sobald ein nachkriegsdeutscher Intellektueller an einem der protegierten Werte seine Kritik anzumelden beginnt, ja es wagt, etwa die universale Gültigkeit des Projekts der Aufklärung anzuzweifeln, handelt er sich nicht nur argumentative Schwierigkeiten ein, sondern wird vielmehr gleich als ein Gegenaufklärer abgestempelt. Oder noch anders: Selbst der minimale Verdacht, irgendein Literat denke allzu biologistisch (greift in seiner politischen Essayistik etwa auf die organistische Metaphorik zurück) zieht in der Regel die 187 Schlussfolgerung nach sich, dieser Autor gehöre literaturgeschichtlich in unerwünschte, sprich dunkelbraune Kontexte platziert. Dieses auf allenfalls zwei Alternativen fixierte und somit andere Varianten ausschließende Denken führt jede Reflexion der Nachkriegsdeutschheit in die Sackgasse. Es legt nämlich nahe, die Deutschen hätten immer nur die Wahl zwischen etwa der nationalen Unermesslichkeit und der nationalen Abstinenz; als hätten die Generationen der Deutschen ihre Fehler nicht anders wettmachen können, als durch das Plädieren für die spiegelbildverkehrte Variante, ja als wäre ihnen nur noch übrig geblieben, das ein für allemal Böse durch das vorbehaltlos Gute zu ersetzen. Dabei zeigt der Blick auf die Geschichte der Nachkriegsdeutschheit die Naivität derer, die Faschismus per Antifaschismus, den Hass gegenüber dem Fremden durch den Selbsthass bekämpfen wollten, von der philosemitischen Therapie, die den antisemitischen Rückfall wettzumachen suchte, ganz zu schweigen. Diese Struktur scheint auch innerhalb der Nachkriegszeit historische Wendepunkte gesetzt, ja diese Zeitspanne in einzelne Epochen gegliedert zu haben, denen folglich einzelne Generationsformationen zugewiesen wurden Die dadurch gebildete Narration sieht, einige Vereinfachungen in Kauf nehmend, meist wie folgt aus. Die ersten Nachkriegsmonate stellen einen einzigartigen Aufbruch der Aktivität dar, die große, wohl zu große und kaum realisierbare Hoffnungen mit sich bringt (Stichwort „Stunde Null“). Zu große Erwartungen werden jedoch enttäuscht, darum folgen die langen „bleiernen“ 1950er Jahre, eine dunkle Epoche, in der alte Ordnungen restauriert werden, verdächtige Existenzen langsam wieder an Boden gewinnen, kurzum, eine moralisch unheilvolle Zeit, in der die Deutschen unter anderem wieder wirtschaftlich auf die Beine kommen. Dies ruft recht schnell den Verdacht hervor, dieser ökonomische Erfolg sei dadurch erkauft worden, dass man die unangenehme jüngste Vergangenheit verdrängt habe. Nach der moralischen Finsternis dieser 1950er Jahre scheint die aufklärerische Lichtphase der späteren 1960er Jahre zu kommen, deren Licht die junge Generation der Deutschen im Studentenalter auf alles zu richten beginnt, was ihr Unbehagen bereitet. Es ist nur symptomatisch, dass man erst in diese Jahre die wahre Geburt des Nachkriegsdeutschlands zu setzen bereit war; mit dem am Ende der 1940er Jahre geborenen Rumpf der BRD wollte man damals nichts zu tun haben, zumal seine bessere Körperhälfte, also die östliche, von ihm abgetrennt würde und in der durch die DDR korrumpierten Form auch nicht zu gebrauchen wäre. Dagegen wurden nun die 1970er und 1980er Jahre als eine unselige Zeit der „konservativen Tendenzwende“ geschmäht, eines, so dachte man, verhängnisvollen, da staatspolitisch unterstützen Nationalismus; danach kann es wohl nur noch zum Ende der Geschichte kommen, an dem, um es mit Hegel zu sagen, der Geist rückblickend sich als der 188 ganze Prozess und zugleich als dessen Ziel erkennt. Bei diesem Thema wird zu dieser geschichtlichen Endphase die Phase der Vergangenheitsbewahrung hypostasiert, die ja im Begriffe ist, das Ideal der dialogischen Erinnerungskultur zu erreichen, wie es in ihren Plädoyers A. Assmann betont. Diese schwarz-weiße Sicht erscheint in den letzten Jahrzehnten in vielen Punkten revisionsbedürftig. Die gesamte Architektur der Jahre nach 1945 wird geändert, Akzente werden anders gesetzt; soweit ich sehe, zeichnet sich diese Tendenz ab den 1980er, und zunehmend in den 1990er Jahren ab, zunächst bei H. Rudolph, H.P. Schwarz, dann bei A. Sywotek, A. Schildt, L. Fischer, H. Peitsch,469 parallel dazu kommt es zu zumindest partiellen Blickkorrekturen auch bei den Literaten, etwa bei Enzensber- ger470 . Zunächst wird die Explosivität der „Stunde Null“ relativiert, die 1950er Jahre erscheinen nun folglich nicht mehr als (nur) restaurativ und „bleiern“, sondern in manchen Aspekten als überraschend modern; man spricht dann etwa, im Blick auf die bundesrepublikanische Gesellschaft der 1950er Jahre, von einer Koexistenz der Traditions- und Modernitätsbegriffe, der Restaurations- und Revolutionsaspekte,471 Wiederaufbau und Modernisierung, oder – hinsichtlich der kulturellen Entwicklung – von einer charakteristischen Spannung „zwischen einsetzender Modernisierung und ideologisch konzeptionellem Rückgriff auf mehr oder weniger traditionelle Bestände“,472 ja von einem doppelten Gesicht der 1950er Jahre, das die Rede von der Restauration schlichtweg als unangemessen 469 Vgl. die Beiträge in: A. Schildt, A. Sywotek (Hgg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1993; A. Schild: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre. München 1999; H.P. Schwarz: „Segmentäre Zäsuren. 1949–1989: eine Außenpolitik der gleitenden Übergänge“. In: M. Broszat (Hg.): Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte. München 1990, S. 11–20. Rudolph, Hermann: „Mehr als Stagnation und Revolte. Zur politischen Kultur der sechziger Jahre. In: M. Broszat (Hg.): Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte. München 1990, S. 141–152. H. Peitsch: Nachkriegsliteratur 1945–1989. Osnabrück 2009. 470 “Die Rede von der Restauration, ein in den fünfziger Jahren beliebter Topos, beruhte, wie wir heute wissen, auf einer Augentäuschung“, heißt es bei ihm schon 1988. H.M. Enzensberger: „Mittelmaß und Wahn. Ein Vorschlag zur Güte“, in ders. Mittelmaß und Wahn ..., S. 251. 471 H. Bude: „Die 50er Jahre im Spiegel der Flakhelfer- und der 68er-Generation“. In J. Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 145–158. 472 L. Fischer: „Zur Sozialgeschichte der westdeutschen Literatur“. In: A. Schildt, A. Sywotek (Hgg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1993, S. 551–562, hier s. 559. 189 erscheinen lässt.473 Das Wissen um die nun charakteristische Mischung „von Bereitschaft zum Aufbruch in eine neue westliche Moderne [...] und dem Festhalten an überkommenen Deutungsmustern“474 führt unter anderem dazu, dass nun manchen Projekten bereits der 1950er Jahre ihre Modernität attestiert, und darum auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wird.475 Ähnlich präziser wird auch die Sicht auf die Frage der Kontinuität und Diskontinuität bei anderen Epochen und Zäsuren, einschließlich der ideologisch überpointierten Zäsur des Jahres 1968, die, sobald man sie zu einer neuen Stunde Null stilisiere, die „das Alte vom Neuen, die Enge vom Aufbruch, das Verkrustete vom Lebendigen trennt“, die sechziger Jahre schlichtweg verbiege.476 Darum erscheint es dringend nötig, manche Schematismen zu reflektieren, die unermüdlich auf die Charakteristiken der einzelnen Generationen projiziert werden. So etwa ist die Rede zu korrigieren, die, wie oben angedeutet, recht pauschal von der durch den Nazismus stigmatisierten Generation spricht, die sich zu exkulpieren suche, sooft es möglich sei (hierher werden nicht selten alle Jahrgänge zwischen 1915–1930 zugerechnet). Im Kontrast zu ihr stünd dann – nicht weniger pauschal – die Generation des Jahres 1968, diese wiederum mit moralisch exklusiven und politisch verdienstvollen Attributen versehen. Es gilt darum einmal mehr, die einzelnen, hier kontrastiv gestellten Generationen in deren Übergängen und Interaktionen darzu- 473 Siehe A. Schildt: „Ende der Ideologien. Politisch-ideologische Strömungen in den 50er Jahren. In: A. Schildt, A. Sywotek (Hgg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1993, S. 627–635, hier S. 627. 474 A. Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre. München 1999, S. 197. 475 Gerade A. Schildt machte am Jahrtausendende auf einige kaum erforschte Bereiche aufmerksam, die den Blick auf die angeblich restaurativen 1950er Jahre revidieren würden. So sei bis jetzt kaum die eben für die 1950er Jahre enorm wichtige Popularisierung der Wissenschaft durch Taschenbuchreihen untersucht worden, etwa die Rowohlts deutsche Enzyklopädie (rde) oder wissenschaftlich kulturelle Reihen anderer Verlage wie Fischer, List, Piper, Ullstein. Ähnlich wenig Aufmerksamkeit sei der Vortragstätigkeit verschiedener Clubs und Foren geschenkt worden, nicht zuletzt gelte es, den Inhalt der meinungsbildenden Wochenzeitungen und vor allem der Zeitschriftenpublizistik wie Frankfurter Hefte, Merkur, Monat etc. zu erforschen. Vgl. A. Schildt: Zwischen Abendland und Amerika ..., S. 8–13. Das letztgenannte Desiderat wurde jüngst von der höchst anregenden Arbeit F. Kießlings behoben, die eben diesem Themenkomplex in Bezug auf die Jahre 1945–1972 nachgeht, indem sie die Produktion der „Wandlung“, „Frankfurter Hefte“, „Ruf“ und „Merkur“ im Hinblick auf die Ideenkontinuität und –diskontinuität zwischen der Kriegs- und Nachkriegszeit untersucht. F. Kießling: Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik 1945–1972. München, Wien, Zürich 2012. 476 H. Rudolph: Mehr als Stagnation und Revolte. Zur politischen Kultur der sechziger Jahre. In: M. Broszat (Hg.): Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte. München 1990, S. 141–152, hier S. 142. 190 stellen, um nicht die umstrittene auf die Generationsabfolgen übergetragene Hypothese weiter zu traktieren, die besagt, jede darauffolgende Generation distanziere sich von der vorherigen, indem sie eben das Gegenteil mache (nach der politischen müsste zwingend eine unpolitische Generation kommen, nach der verschweigenden und verdrängenden eine verbalisierende, nach der unmoralischen, die Verbrechen begangen habe, eine moralische etc.). Nun zu der skeptischen Folie. Der oben skizzierten Einheit in der Vielheit sucht diese Arbeit beizukommen, indem sie der Reflexion wie auch Rezeption des Deutschtums nach 1945 mit Gedankenfiguren begegnet, die sowohl den geschichtswissenschaftlichen Debatten, als auch der Spannung, in der sich die Literaten befanden, angemessen erschienen wären. Diese Gedankenfiguren legen nahe, um die Sackgassen zu meiden, sei die Spannung mitnichten aufzuheben, eher auszuhalten. Um es kurz zu sagen, diese Gedankenfiguren stellen das Problem und zugleich dessen Lösung dar. So beschaffen mag zunächst mal die von Joachim Ritter an Hegel herausgearbeitete Figur der positiven Entzweiung477 sein, die in der Studie „Hegel und die französische Revolution“ von Ritter explizit als Problem und Lösung in einem herausgestellt wird, sofern sie eben daran erinnert, Herkunft und Zukunft immer zusammendenken zu müssen, ihre Entzweiung (Nichtidentität) positiv zu ertragen, nicht, was ja eben keine Lösung wäre, sich nur auf die eine oder die andere Seite zu schlagen, diese zum Ganzen zu machen um „das ihr jeweils Entgegensetzte als nichtseiend zum Verschwinden zu bringen“.478 Es heißt also, nur dem kann die Entzweiung Problem und zugleich Lösung werden, wer den Widerspruch nicht beseitige und keine widerspruchsfreie Einheit herstelle.479 Eine konkrete Form der positiven Entzweiung hat Odo Marquard, ein Schüller von J. Ritter, herausgearbeitet, indem er für seine intellektuelle Entwicklung die zentrale Spannung zwischen der Geschichtsphilosophie und der Anthropologie zu erfassen gesucht hat. Auch hier wurde nämlich, zumindest macht Marquards Kapitel „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“ aus dem gleichnamigen Buch480 den Eindruck, eine allenfalls auszuhaltende Spannung angesteuert, die zwischen zwei sich auf Kosten des jeweiligen Gegenübers potenzierenden Größen herrscht, und auch hier gilt es letztendlich, das Unentschieden zu quittieren, also beide Größen daran zu hindern, sich von der Schachstellung auf 477 J. Ritter: Hegel und die Französische Revolution. Frankfurt am Main 1965 (1957). 478 Ebenda, S. 49. 479 Vgl. Ebenda, Anmerkung 25, S. 102. 480 O. Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt am Main 1973 [1963]. 191 jeweils ihre Seite hin zu entfernen.481 Eben dieser Text von O. Marquard legt die Schlussfolgerung nahe, solange das „Entweder- oder“-Denken jeweils in der Sackgasse ende, bleibe uns immer noch die Möglichkeit des Denkens „sowohl – als auch“ übrig; diese Wahl zwingt uns nicht, das eine Prinzip durch das andere zu ersetzten, vielmehr lenkt sie unser Augenmerk auf die Spannung zwischen den beiden Prinzipien, die nun nicht mehr in ihrer sich gegenseitig negierenden Ausschließlichkeit, sondern eher in ihrer Komplementarität zu betrachten sind. Anders gesagt, was in essenzieller Ausschließlichkeit etwa zwischen Fortschrittlichkeit und Reaktionärertum, Vernunft und Trieb, Zukunft und Herkunft, und, so Marquard, Geschichtsphilosophie und Anthropologie482 getrennt schien, ist als aufeinander bezogen und angewiesen zu denken. 481 Vgl. A. Urválek: „Vermessung Deutschlands mit Odo Marquard. In Pro-Fil, Brno: Masarykova univerzita 2016, Jg. 16, Nummer 2, S. 12–22. 482 Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie handeln davon, wie sich Marquard mit der Geschichtsphilosophie (zeitlich bestimmbare Formation, die eine Weltgeschichte proklamiert mit dem einen Ziel, das in der Freiheit möglichst aller besteht) identifizieren will, und dabei mehr und mehr feststellt, dass sein aufwändiges Werben um die Geschichtsphilosophie in der Tat nichts anderes ist, als unermüdliches Hinausschieben seines Entschlusses, von ihr Abschied zu nehmen. Seine langjährige und schwierige Identifizierung mit der Geschichtsphilosophie erfolgte in der Form der Entlastungsnegationen: Um sie wegen Selbstentlastung zu disqualifizieren, negierte er neben der Psychoanalyse, der Existenzphilosophie auch die Anthropologie. Die Schwächen der Anthropologie waren ihm wohlvertraut sowie auch der an sie seitens der Geschichtsphilosophie adressierte Vorwurf, sie vergesse „über der Natur den Menschen“. Doch von der lange favorisierten Geschichtsphilosophie schickte er sich eben deshalb an Abschied zu nehmen, dass auch sie, „gerade indem sie ist, was sie ist, den Menschen eliminiert“. Er überlegt: sei etwa die Geschichtsphilosophie im Recht, weil sie das Gegenteil der Anthropologie darstelle, die im Unrecht sei? Wohl kaum, denn wiederum auch die Anthropologie sei nicht dadurch im Recht, weil sie das Gegenteil der Geschichtsphilosophie darstelle. Das Denken im Modus „entweder – oder“ scheine nun nicht mehr brauchbar, stattdessen gelte es, die Geschichtsphilosophie und Anthropologie anders miteinander zu verschränken. Beide Formationen werden somit zum Bestandteil des Denkens, dessen Akteur zwar augenblicklich von der Geschichtsphilosophie immer weniger und von der Anthropologie immer mehr überzeugt war, indes nicht dermaßen, dass er bereit wäre, das zunehmend Unattraktive dem zunehmend Attraktiven zu opfern. Hätte er es getan, hätte er sich um deren gegenseitige Spannung gebracht, ohne die sie für ihn – und zwar beide – vollkommen unattraktiv wären; er hätte das Potenzial der positiven Entzweiung verfehlt und somit die Fähigkeit, Vorteile und Nachteile gleichzeitig zu sehen (die vielversprechende Eitelkeit der Geschichtsphilosophie einerseits, die beunruhigende Bequemlichkeit der Anthropologie andererseits; das unwürdig geschichtsphilosophische Leben über die Verhältnisse der Menschen einerseits, das anthropologisch unverhältnismäßige Leben unter der menschlichen Würde andererseits). Am Ende des Bildungsweges steht somit Marquard als Skeptiker, der eine Philosophie für sie (und sich) selbst haben wollte, und stattdessen jetzt gleich zwei hat, die jedoch nur gemeinsam zu haben sind, also keine von ihnen in ihrer Ausschließlichkeit. 192 Wenn man nun kurz beispielsweise an die bereits angedeuteten Sackgassen innerhalb der nichtliterarischen Deutschheitsreflexion erinnert, wird die Tragfähigkeit dieser Gedankenfigur evident. Das erste Beispiel: Auf die Theorie des deutschen Sonderwegs, mit der man eher auf dem rechts-konservativen deutschen Flügel seit dem 19. Jahrhundert den privilegiert besonderen, da antiwestlichen und antimodernen Weg Deutschlands ins (moderne) 20. Jahrhundert zu rechtfertigen suchte, reagierten nach dem 2. Weltkrieg, der ein vollkommenes Versagen dieses Sonderweges offenbarte, die – mehrheitlich links-liberalen – Intellektuellenkreise meist wiederum nur im Sinne des „Entweder-oder“-Denkens. Den kompromittierten Nationalitätskonzepten der deutschen „Besonderheit“ (Ausschließlichkeit) wurden nun die dezidiert post- und a-nationalen Konzepte entgegengesetzt. Bald wurde jedoch klar, dass diese spiegelbildliche Tendenz nicht umhin konnte, wiederum nur deutsche Ausschließlichkeit zu postulieren, freilich eine postnationale. Die postnationalen Maßstäbe wurden privilegiert, wodurch Deutschland (vor, aber auch nach der Vereinigung) erneut die ihm geschichtlich wohlbekannte Rolle einer Nation zu spielen begriffen war, die aus ihren Schwächen, Fehlern, Mängeln, Verspätungen und Nöten eine Tugend macht, um sie nun gegen andere Nationen auszuspielen. Kurz: Der rechte Sonderweg der deutschen Ausschließlichkeit wurde nicht reflexiv überwunden, sondern durch den nicht weniger ausschließlichen linken Sonderweg der deutschen Postnationalität ersetzt. Das zweite Beispiel: In dem ersten Nachkriegsjahrzehnt wurde die sogenannte Vergangenheitsbewältigung von der (Anti)Totalitarismustheorie dominiert; diese war für viele Deutsche deshalb so attraktiv, weil sie in der Konstellation des Kalten Krieges eine bequeme Entlastung bot, die auf folgendem Kalkül beruhte: Stellten Nazismus und Kommunismus zwei verhängnisvolle, dabei sich gegenseitig unbarmherzig bekämpfende Varianten der Totalität dar, dann könne von deren gegensätzlicher Verwandtschaft profitiert werden. Es genügte, antikommunistisch zu sein, was in den 1950er Jahren wahrlich nichts schwieriges war, um sich von der Totalität en bloc zu distanzieren: Und zwar sowohl von der aktuellen, kommunistischen (inklusive der ostdeutschen), als auch von der einstigen nazistischen, an der man sich nicht aktiv beteiligt haben will. Sich als Opfer des Nazimus stilisierend konnte man die Totalitarismustheorie zurechtbiegen, um die höchst unangenehme Frage zu eliminieren, wie man den tatsächlich zu den Nazis gestanden hätte. Dieser durchaus berechtigte Einwand, die Totalitarismustheorie könne auch im Dienste der entlastenden Exkulpation gehandhabt werden, mag an sich gültig sein, doch mit der Zeit wurde er zu einem Block, der der Reflexion der Deutschheit fragliche Wege eröffnete. Diese wurden dann sowohl von denjenigen eingeschlagen, die von der Totalitarismustheorie im beschriebenen Sinne inso- 193 fern profitierten, als sie sich nachträglich ihr eigenes moralisches Profil zu verbessern suchten (gegen sie war der Einwand gerichtet), als auch von all denen, die vom Kampf gegen sie profitieren wollten (diese Theorie gehörte ihrer Meinung abgeschafft). Daran sieht man: Die durchaus nützliche Spannung zwischen der totalitären Verwandtschaft des Faschismus und Kommunismus einerseits und deren gegenseitigen Feindschaft andererseits wurde im Nachhinein geopfert, sobald einer der Pole verabsolutiert wurde. Dank Marquard sieht man scharfsinniger, dass ein wirkliches Problem der Nachkriegszeit – trotz allen hitzigen Debatten, inklusive des Historikerstreits – nicht von der Entscheidung abhängig war, ob die Totalitarismustheorie begrüßt oder aber abgelehnt werden sollte, sondern erst dann akut wurde, sobald die Spannung dazwischen, was Faschismus und Kommunismus vereint und zugleich trennt, geopfert, und folglich nur eine Seite (entlastend) verabsolutiert wurde. Eben dies hat auf die eine (Nazismus entlastende) Seite in seinen Texten E. Nolte gemacht, der Bolschewismus und Faschismus nicht deshalb nebeneinander gestellt hat, um ihre totalitären Züge besser ermitteln zu können, sondern, um von ihrer unbarmherzigen Feindschaft auf einen schlichtweg abwehr-reaktiven Nazismus zu schließen. Genauso, nur auf der anderen Seite, haben es jedoch all diejenigen gemacht, die in der entstandenen Panik verbieten zu müssen glaubten, Nationalsozialismus gar zu vergleichen; dieser sollte ein unvergleichbares Verbrechen darstellen. Wie sich dadurch erwies, das gegen die Totalitarismustheorie zielende Komparationsverbot mag genauso gut vom Bedürfnis motiviert sein, die Opfer des Nationalsozialismus zu schützen, wie auch vom Wunsch, vor jedem Vergleich mit dem Nationalsozialismus dessen totalitären Widerpart zu schützen. Hinter dem herausgestellten moralischen Grund versteckte sich meist ein ideologischer. So könnte man fast unendlich lange fortgehen. In den historiographischen Kontroversen wurde stets dasselbe Modell repetitiert, getauscht wurden bloß Kostüme: Evident ist es auch an der ersten wichtigen nachkriegsdeutschen Kontroverse zwischen den tief in die 1950er Jahre hinein dominierenden Vertretern des sogenannten Historismus (gruppiert um den Freiburger Historiker Gerhard Ritter) und der jüngeren Generation der kritischen Geschichtswissenschaft (um Fritz Fischer); nach dem Krieg suchte die Historismusschule vor allem zum sachlichen Historismus zurückzufinden, der historische Ereignisse aus deren jeweiligen Kontexten heraus versteht und nachträglich moralisierende Bewertungen meidet. Nicht selten führten diese Bestrebungen jedoch zur historiographisch amalgamierten Apologetik der nationalen deutschen Vergangenheit. Wiederum darf man nicht vergessen: Das Problem bestand weder in dem Historismus als solchem, noch in der Gegenoffensive der kritischen Geschichtswissenschaft, deren Wahrheiten vor der „gesinnungsethischen Perspektive“ zu bestehen hatten. Problematisch wurden beide Positionen 194 erst, sobald sie ihre Balance verloren hatten und das in ihrem Wechselspiel liegende Potenzial auf eine Seite umgekippt ist: In einem solchem Falle setzte sich die Historismusposition der durch die nationale Indienstnahme der Geschichtswissenschaft potenzierten Gefahr der selbstentlastenden nationalen Apologetik aus, oder aber setzte sich die kritische Geschichtswissenschaft der durch die ethische Indienstnahme der Geschichtswissenschaft bedingten Gefahr des hypertrophierten Moralisierens und des nationalen Masochismus aus. Was als nüchterne Sachlichkeit, wissenschaftliche Objektivität, nicht simplifizierende und nicht pauschalisierende Erfassung der Wirklichkeit vorgetragen wurde, mag auch als Alibi für historische Nationalpolitik gedient haben, die alle Ecken und Kanten der Vergangenheit möglichst glätten will. Und die Kritik solchen Bewusstseins, die sich universal gab, kann wiederum zum hasserfüllten Abrechnen, rigorosen Moralisieren, zur zwingenden Negation alles Deutschen geworden sein. Wenn man es auf Marquards Modell überträgt: Auf der einen Seite wurde die Entlastung verabsolutiert. Das in der anthropologischen Perspektive hervorgehobene Sein, „wozu uns die Natur gemacht hat“ tendiert zur reinen Apologetik, sobald man darin Selbstzweck erblickt, nur das zu sein können, wozu man natürlich geworden ist. Dieser Einseitigkeit erlagen idealtypisch etwa der rechte Sonderweg, die Nutznießer der Totalitarismustheorie, E. Nolte, G. Ritters Historismus. Und wiederum zur rigorosen Überheblichkeit tendiert, wem nicht die Entlastung, sondern die Belastung zum Selbstzweck wird, einem vorbehaltlos zuzumuten, mehr aus sich zu machen, als man natürlich geschenkt bekommen habe. (Diese Verabsolutierung haftete tendenziell dem linken Sonderweg, den Gegnern der Totalitarismustheorie, F. Fischer an). Wie ließe sich die Marquard’sche Gedankenfigur für die literarische Deutschheitsreflexion fruchtbar machen? Ein Umweg zu Ritters „positiver Entzweiung“ wäre insofern erforderlich, als er viel besser geeignet scheint, die Entwicklungstendenzen innerhalb des Gesamtwerkes etwa von B. Strauß, H.M. Enzensberger, G. Grass oder M. Walser adäquater zu erfassen, als es in den Literaturgeschichten der Fall ist; diesen Transformationen wird in der Regel die Figur der negativen Entzweiung zugrunde gelegt, weshalb man nicht umhin könne, den Autoren zu attestieren, sie hätten, um es in Marquards Dilemma zu übersetzen, die Geschichtsphilosophie gegen die Anthropologie ausgetauscht, sie hätten also auf ihre einst linke, liberale, kritische, aufklärerische, postnationale, kurz geschichtsphilosophische Haltung der menschlichen „Belastung“ zugunsten des „entlastenden“ konservativen, rechten, nationalistischen, gegenaufklärerischen, zum Teil sogar antisemitischen Denkens verzichtet, das ihnen, sobald sie sich dezidiert autobiographischen Texten zuzuwenden beschlossen haben, eine willkommene Exkulpierung bot. Man sprach dann massenweise vom 195 entlastenden Missbrauch der Autobiographie, die ins hohe Alter gekommenen Autoren wie Grass und Walser hätten sich literarisch eine sie jeglicher Verantwortung freisprechende Absolution erteilt. Ritters Figur der positiven Entzweiung liegt weniger eine Bruchvorstellung zugrunde, insofern scheint sie näher an die Bewegung heranzukommen, die in seinem Texte Marquard konturiert und die man etwa mit Enzensberger als eine Zickzack-Bewegung bezeichnen könnte. Nach meiner Diagnose haben diese Autoren nicht das eine zugunsten des anderen geopfert, vielmehr sind sie über weite Strecken dazwischen geblieben, die Spannung mehr oder weniger ertragend. Dass es ihnen nicht immer gelungen ist, kann und muss der Analyse unterzogen werden, es wäre jedoch falsch, der Untersuchung das zeitweilige Misslingen als Regel zugrundezulegen. Den für das Thema relevanten literarischen Beiträgen zur Deutschheit nach 1945 mag diese Folie angemessener sein, scheinen diese Literaten, wie nun zu zeigen sein wird, doch wie Marquard selbst zunächst für die Geschichtsphilosophie gekämpft zu haben, um sich dann, als sie zu erfolgreich wurde – der eine früher, der andere später – von ihr abwendend den anthropologischen Akzenten zuzuwenden, ohne jedoch die Geschichtsphilosophie über Bord geworfen zu haben. Doch auch der Interpret könnte von ihr profitieren, sofern ihm nicht der Spagat, auf dem diese Texte hin und her zwischen beiden Polen schaukeln, sondern erst dessen Durchhauen zum Problem zu werden hat. Er sollte also die Texte weder nur von der Seite der Geschichtsphilosophie, noch nur von der Seite der Anthropologie betrachten, sondern – aus der Spannung zwischen ihnen beiden heraus – analysieren, wie genau in ihnen diese Spannung literarisch umgesetzt wurde, in welche Traditionen und Muster man sich dabei eingeschrieben, wie man sie umgewandelt hat, freilich auch wann, wie und warum man dann doch den Einseitigkeiten nicht entgangen ist. All dies angesichts der Wechselbeziehungen zwischen den beiden eng miteinander verflochtenen Generationen, wie dies im Folgenden in den vier dem Werk von G. Grass, M. Walser, H.M. Enzensberger (P. Schneider) und B. Strauß gewidmeten Kapiteln angestrebt wird. 5.6 Günter Grass Die Lehrbücher sprechen eine klare Sprache: Wenn einer der deutschen Nachkriegsautoren die Rolle des Gewissens der Nation und das Recht für sich reklamiert habe, das Sprachrohr des anderen und besseren Deutschlands zu sein, dann sei es neben Heinrich Böll vor allem Günter Grass gewesen. Der Blick auf seine Texte kann diesen Befund zwar nicht ganz und gar zurückweisen, aber allenfalls als partiell gültig erscheinen lassen. Denn bereits Grass’ erster Roman Die Blechtrommel (1959) hob sich 196 deutlich von den frühen Nachkriegstexten ab, deren Autoren das bessere Deutschland beschworen, um das falsche zu distanzieren.483 Den Lesern Der Blechtrommel wird keineswegs nahegelegt, die meisten Deutschen hätten während des Krieges nichts Schlimmes begangen, ja vielmehr edle Jüdinnen und wertvolle Kunstwerke vor bösen Nazis gerettet, wie es manche Texte von Böll oder Andersch suggerierten.484 Stattdessen werden die Leser gemeinsam mit dem Autor zu einem großen, indes nicht dämonisierten „wir“. Mit dem entlastenden Narrativ einer jungen (soldatischen) Generation, die darin für sich die Opferrolle gefunden hat, wovon etwa die diesbezüglich exemplarischen Texte von Borchert (Draußen vor der Tür, 1947),485 Böll (Wo warst du, Adam?, 1951),486 Andersch (Kirschen der Freiheit, 1952)487 oder Richter (Die Geschlagenen, 1949)488 zeugen, hatte Die Blechtrommel genauso wenig zu tun, wie mit den Geschichten, in deren Mittelpunkt ohnmächtige, der totalitären Willkür preisgegebene und im Widerstand lautlos leidende Menschen stehen.489 Grass machte nie einen Hehl daraus, dem Nazismus erlegen zu sein; darum auch die tendenzielle Abneigung dazu, sich selbst entlastend auf andere hinzuweisen, die ihm auch – oder noch mehr und mit schlimmeren Folgen – erlegen wären. Wohlwissend, woran er sich in den inkriminierten Jahren beteiligt hatte,490 lag es ihm fern, die Helden- oder aber die Opfer- 483 In seiner Vorlesung „Schreiben nach Auschwitz“ (13.2.1990) kommt Grass auf seine damalige Einstellung zu den frühen Nachkriegstexten zu sprechen, die im Rahmen der Gruppe 47 präsentiert wurde (er nahm zum ersten Mal im Herbst 1955 teil): „Viele Texte, die dort gelesen wurden, waren direkter als meine. Einige sprachen sich, wie im Nachholverfahren, eindeutig, das heißt mit Hilfe positiver Helden, gegen den Nationalsozialismus aus. Diese Eindeutigkeit machte mich misstrauisch. Mutete solch nachgeholter Antifaschismus nicht wie Pflichtübung an, anpasserisch in einer Zeit, die auf Anpassung abonniert war, verlogen also und geradezu obszön, gemessen am zwar ohnmächtig geringen, aber in Spuren doch nachweisbaren Widerstand gegen den Nationalsozialismus?“ G. Grass: „Schreiben nach Auschwitz“. In ders.: Essays und Reden 1980–2007 ..., S. 248–249. 484 Vgl. A. Weyer: „,Man kann sich modern geben‘. Wie innovativ ist der Bestseller Die Blechtrommel?“. In M. Lorenz – M. Pirro (Hg.): Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen. Bielefeld 2011, S. 126. 485 W. Borchert: Draußen vor der Tür. Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will. Hamburg 1947. 486 H. Böll: Wo warst du, Adam? Opladen 1951. 487 A. Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht. Zürich 1968. 488 H.W. Richter – Hans Werner: Die Geschlagenen. Roman. München 1949. 489 Siehe C. Gansel: „Zwischen Störung und Affirmation?“.., S. 175–178. 490 Vgl. die diesbezüglich deutliche Aussagen aus Grass’ Autobiographie. „Wie ja auch mir faule Ausreden und der Ritt auf dem Unschuldslamm behilflich werden möchten, sobald auf der Zwiebelhaut kleingeschriebene Randnotizen allzu beredsam mit Anekdoten und milieugesättigten Vertälljens von dem ablenken wollen, was vergessen sein will und dennoch querliegt [...] Also Ausreden genug. Und doch habe ich mich über Jahrzehnte hinweg geweigert, mir das Wort und den Doppelbuch- 197 rolle zu beanspruchen, andererseits hinderte es ihn nicht daran, unermüdlich auf neue „falsche Töne“ der 1950er Jahre hinzuweisen. Wenn Grass also der Idee des anderen Deutschlands anhing, dann tat er es vielmehr, um gegen die Saumseligkeit anzurennen, mit der die Bundesrepublik offensichtliche nazistische Kontinuitäten zuließ, und weniger, um dank ihr auf die Pflicht verzichten zu können, Rechenschaft abzulegen, mit der entlastenden Begründung, es habe während des Krieges noch schlimmere Fälle gegeben. Obzwar Grass in der Tat unermüdlich Positionen bezog und Statements von sich gab, behagte ihm viel mehr die Rolle eines engagierten Bürgers und Schriftstellers, der seinen gesunden Menschenverstand nicht scheut, als die eines erhabenen und theoretisch versierten Intellektuellen, der von seiner geistigen Hoheit herab zwar wohlklingend, doch unverbindlich deklamiert. Darum hielt er den prinzipiellen Gegensatz zwischen dem erhabenen (und machtlosen) Geist und der (geistlosen) Macht für eine Fiktion, völlig fremd war ihm die Überzeugung, die Intellektuellen (inklusive der Literaten) seien per se wertvoller als alle anderen Menschen. Sobald er selbst minimale Spuren dieser Überzeugung bei seinen Kollegen verzeichnete, reagierte er sensibel, in den Jahren seiner intensiven Zusammenarbeit mit der SPD hypersensibel, ja zornig. Dann zögerte er nicht damit, die Mitschuld an den verlorenen Wahlen im Jahre 1965 jenem „Gewissen der Nation“ zuzuweisen, das den freien Geist beschworen habe, ohne zum Volk herabgetreten worden zu sein. Mit Unwillen registrierte er, wie viele seiner „von der Unabhängigkeit abhängigen“ Schriftstellerkollegen491 den Revolutionen das Wort reden, die „längst stattgefunden und sich selbst umgebracht haben“,492 während er, „weit entfernt von der Anmaßung, Gewissen der Nation sein zu wollen, gelegentlich [seinen] Schreibtisch“ umwirft, um demokratischen Kleinkram zu betreiben.493 Ich habe nicht vor, Grass’ politische Aktivität zu idealisieren; diejenigen, die ihn von den politischen Gremien und Rednerpulten zu seiner Schreibmaschine zurückwünschten, haben dafür weder schlechte Gründe noch schwache Argumente gehabt. Dagegen will ich lediglich geltend machen, dass Grass’ Reformwille kompromissbereit war, und staben einzugestehen. Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen. Doch die Last blieb, und niemand konnte sie erleichtern [...] Selbst wenn mir tätige Mitschuld auszureden war, blieb ein bis heute nicht abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung genannt wird.“ G. Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006, S. 106, 127. 491 G. Grass: „Rede über das Selbstverständliche“ ..., S. 164. 492 Ebenda. 493 G. Grass: „Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe. Rede in Princeton“ (25.4.1966). In ders.: Essays und Reden 1955–1979 ..., S. 174. 198 darum vorläufige, interimistische und provisorisch unvollkommene Lösungen den radikalen Revolutionen, optimalen Rezepten und utopiegeleiteten Konzepten vorgezogen hat. Dieser Grundtendenz folgte Grass sowohl bei seinen eher allgemeinen bürgerlich schriftstellerischen Interventionen, als auch in den Fällen, wenn er als deutscher Nachkriegsautor nach seinen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten in der spezifischen Lage „nach Auschwitz“ fragte. Diese seine gesamte schriftstellerische Laufbahn prägende Fragestellung erreichte ihren ersten Höhepunkt in der Frankfurter Vorlesung „Schreiben nach Auschwitz“ (1990).494 Die Frage Adornos, ob man nach Auschwitz überhaupt noch Gedichte schreiben könne, beantwortet hier Grass, indem er zunächst die sein Leben prägende Etappe schildert: „Mit Glaubenssätzen dummgehalten und entsprechend auf idealistische Zielsetzungen getrimmt, so hatte das Dritte Reich mich und viele meiner Generation aus seinen Treuegelöbnissen entlassen“,495 um folglich einzugestehen, er habe gewisse Zeit gebraucht, bis ihm klar geworden sei, diese „Schande wird sich weder verdrängen noch bewältigen lassen, [...] Auschwitz wird, obgleich umdrängt von erklärenden Wörtern, nie zu begreifen sein“.496 Um dieser Unmöglichkeit Rechnung zu tragen, ohne die erhabene Pose des ästhetischen Schweigens zu kultivieren (dafür war er doch zu vital und zu arbeitsam), konnte er dennoch nicht umhin, sein künstlerisches Talent im Sinne von Adornos Gebot zu zähmen. Dieses kam ihm zwar zunächst unnatürlich und ungehörig vor – „als hätte sich jemand gottväterlich angemaßt, den Vögeln das Singen zu verbieten“497 –, darum nahm er es zur Kenntnis, um es durch das Schreiben aufzuheben. Solches Schreiben hielt er für den einzig möglichen künstlerischen (Aus)Weg, wie man als Deutscher mit Adornos Gebot vor Augen und Millionen der Toten hinterm Rücken gar schöpferisch tätig sein kann.498 Eben darum waren ihm „reine Farben“499 , aber auch rhetorisch geschmückte Innerlichkeit der unbestimmten lyrischen Gefühle versagt, übrig blieb die beschädigte, auf reine Farben verzichtende Sprache; sie „schrieb das Grau und dessen unendliche Abstufungen vor“.500 Entsprungen der Spannungskonstellation zwischen der Generationsprägung einerseits und dem Zivilisationsbruch namens Auschwitz andererseits, fällt Grass’ künstlerisches Credo mit seinem bürgerlichen ineins. 494 G. Grass: „Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung“. In ders.: Essays und Reden 1980–2007 ..., S. 239–261. 495 G. Grass: „Schreiben nach Auschwitz“ ..., S. 239. 496 Ebenda, S. 240. 497 Ebenda, S. 244. 498 V. Neuhaus: Günter Grass. Schriftsteller – Künstler – Zeitgenosse ..., S. 92. 499 G. Grass: „Schreiben nach Auschwitz“ ..., S. 246. 500 Ebenda. 199 Skepsis gegenüber den utopischen Programmen bestimmt die künstlerischen wie öffentlichen Aktivitäten von Grass, ja sie heißt ihn „den absoluten Größen, dem ideologischen Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben Platzverweis zu erteilen und nur noch auf Zweifel zu setzen, die alles und selbst den Regenbogen graustichig werden ließ“.501 Wer jedweder Eindeutigkeit entsagt, dem behagen eher ambivalente Portraits widersprüchlicher, moralisch konturloser und irritierender Figuren (etwa O. Matzerath), die weit davon sind, zum Gewissen der Nation zu werden. Wer, vor die Wahl zwischen J.P. Sartre und A. Camus gestellt, Camus’ Sisyphos, dem „glücklichen Steinwälzer“,502 zuneigte, wird kaum die Selbstsicherheit ausstellen wollen, die ihn zum Sprachrohr eines besseren Deutschlands, ja zum Gewissen aller Deutschen hätte machen können, um sein eigenes Gewissen zum Schweigen bringen zu können. Weder hat sich Grass hinter den Opfern versteckt, um seinen eigenen Opferstatus zur Geltung zu bringen, noch maß er sich an, im Namen des besseren Deutschlands zu sprechen, um vergessen zu machen, dass er selbst ein begeisterter Nazi gewesen ist. Wenn man dies in die Koordinaten der literaturgeschichtlichen und politischen Entwicklung einbettet, dann lässt sich wohl sagen, dass Grass sowohl den entlastenden „soldatischen“ Narrativen der ersten Generation der Gruppe 47 widerstanden hat, als auch sich gegen den revolutionär entlastenden Druck der Abrechnung behaupten konnte, mit dem die Generation der 68er agierte. Dennoch kommt man nicht darum herum, diese Thesen am literarischen Material zu überprüfen. In der Grass-Forschung werden nämlich auch gegensätzliche Thesen formuliert, sehr prägnant etwa von M. Lo- renz.503 Seine Analyse der frühen Novelle Katze und Maus504 und der Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel505 spricht zwar Grass von der Beschuldigung frei, er hätte seine ideologischen Jugendentgleisungen506 501 Ebenda. 502 Ebenda, S. 247. 503 M.N. Lorenz: „,von Katz und Maus und mea culpa‘. Über Günter Grassʼ WaffenSS-Vergangenheit und Die Blechtrommel als moralische Zäsur“. In ders. – M. Pirro (Hg.): Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen ..., S. 281–306. 504 G. Grass: Katze und Maus. Göttingen 1961. 505 G. Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006. 506 Lorenz’Analyse belegt, Grass’„frühe Novelle ist nicht einfach als Geständnis des Autors zu lesen, in der Waffen-SS gewesen zu sein – wie gesagt, dafür war der diskursive Rahmen 1961 noch gar nicht gegeben – aber die biographische Lesart stützt Grass’ Verteidigungsargument, er habe sich nicht öffentlich zu seinem Makel bekannt, weil er lange glaubte, „mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben“[...] Katz und Maus zeugen davon, dass sich der Autor gerade keine antifaschistische Autobiografie erschlichen hat ...“. M.N. Lorenz: „,von Katz und Maus und mea culpa‘“ ..., S. 301. 200 verschwiegen, doch im Epilog wartet sie mit schwerwiegenden Anschuldigungen auf. Grass’ Texte würden vom Bedürfnis zeugen, „sich gegen etwaige Kritik zu immunisieren“507 etwa dadurch, dass er „nur die Vorwürfe gelten lassen will, die er sich selbst bereits gemacht und die er für uns literarisch aufgearbeitet hat“.508 Die analysierten Texte beweisen in Lorenz’ Augen, dass in Grass’ (ähnlich wie Walsers)509 „Hinsehen stets schon das Wegsehen angelegt sei“,510 was in drei Formen der Eitelkeit zum Ausdruck komme: Grass stelle seine Schuldgefühle zur Schau, wozu ihn seine Eitelkeit eines die Deutungshoheit beanspruchenden Autors führe, den (samt seinen Figuren) letztendlich niemand anderer bewerten dürfe; dieser Autor sei eitel darauf, etwas elegant sagen zu können, ohne es gesagt zu haben, und schließlich sei er auch paradox darauf eitel, vom Nazismus verführt worden zu sein.511 Wer diese Schlussfolgerungen überprüfen will, braucht wahrlich nicht auf all die Interpretationen einzugehen, deren Verfasser hauptsächlich ihren eigenen Projektionen gefolgt sind; für schlichtweg unhaltbar512 halte ich psychologisierende Lektüren,513 die in Grass’ Texten primär Kompensationen dafür zu entdecken glauben, dass dieser in seinen Jugendjahren auf der falschen Seite gestanden habe, über weite Strecken übersehen worden sei, oder ihm unterstellen, er verarbeite die unheilvolle deutsche Vergangenheit, indem er die Juden (öffentlich, oder zumindest unterschwel- 507 Ebenda, S. 302. 508 Ebenda. 509 In Anlehnung an die Erforschung der antisemitischen Spuren bei den nachkriegsdeutschen Autoren, die S. Braese durchgeführt hat (S. Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin – Wien 2001). 510 M.N. Lorenz: „,von Katz und Maus und mea culpa‘“ ..., S. 303. 511 Ebenda, S. 203. 512 Stellvertretend für solche Interpretationen vgl.: G. Margalit: „Grass und sein jüdisches alter ego“. In K.M. Bogdal u. A. (Hgg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart 2007, S. 159–169. Zur Kritik dieses Ansatzes vgl. J. Preece: „Bemerkungen zum Jüdischen im Werk und Denken von Günter Grass: Eine Antwort auf Gilad Margalit“. In N. Honsza – I. Swiatlowska (Hg.): Günter Grass. Bürger und Schriftsteller. Wroclaw – Dresden 2008, S. 153–170. 513 Nur als Illustration seien einige Argumente angeführt, zu denen T. Krause, der Kritiker von Die Welt, die Lektüre des Gedichts „Was gesagt werden muss“ animiert hatte: Grass, so Krause, könne sich „von den intellektuellen Prägungen seiner Jugend offenbar nicht lösen. Oder anders gesagt: Sie holen ihn jetzt im hohen Alter von fast 85 Jahren endgültig ein. [...] vielleicht rächt sich jetzt ganz einfach das lange Verdrängte, vielleicht kommt auf seine alte Tage eben doch der glühende Nazi, der er einmal war, durch die Hintertür wieder hereinspaziert? Man darf ja nicht vergessen, dass Grass oder auch Walser aus iliteraten Elternäusern stammen, die der NS-Ideologie geistig nichts entgegenzusetzen vermochten. Die sitzt dann tief.“ T. Krause: „Die ,letzte Tinte‘ bringt es an den Tag“. Die Welt, 5.4.2012, zit. nach H. Detering – P. Ohrgaard (Hgg.): Was gesagt wurde ..., S. 46–48. 201 lig) zurückweise, ja sie in seinen Texten herabsetze.514 Lorenz’ Argumentation folgt einer anderen Logik. Während ich in meinen bisherigen Ausführungen in der ambivalenten Darstellungsweise in Grass’ Texten eine durchaus skeptische Antwort auf seine Generationsprägung erblickte, glaubt Lorenz hinter dieser Skepsis eine selbstentlastende Strategie entlarven zu müssen. Grass entsage der Eindeutigkeit, um sich Hintertürchen offen zu lassen vor allen Kritikern, die diese Strategie durchschaut hätten. Für beide Standpunkte ließen sich sehr wohl Argumente finden, an und für sich stehend klingen sie aber zumindest wenig überzeugend, sofern sie Grass aus dem für ihn ausschlaggebenden dynamischen Spannungsverhältnis herausnehmen. Belegt sei dies durch folgendes Beispiel: Die moralisch kaum erfassbare Hauptfigur von Die Blechtrommel sowie die ambivalente Erzählweise (Realismus geht mit Phantastik, erste Person mit der dritten einher, die Geschichte wird von dem unzuverlässig referierenden Oskar, aber auch von dessen Wächter erzählt, der Oskar kaum zu durchschauen vermag) haben den Ausschlag dafür gegeben, dass diesem Roman hohe ästhetische Qualität sowie ästhetisches Erkenntnispotenzial zugesprochen wurden. Als jedoch Grass dieselben Prinzipien in seiner Autobiographie aus dem Jahre 2006 geltend gemacht hat, hat man darin eher den Grund dafür gesehen, der Autobiographie das Erkenntnispotenzial abzusprechen, von ästhetischer oder moralischer Qualität ganz zu schweigen. Sobald man die Perspektive ändert, kommt man auch zum anderen Befund. Von Oskar Matzerath kann nämlich genauso gut behauptet wer- den,515 er nehme sein Leben in jedem erlebten Augenblick mit einem Vorsprung gegenüber seinen Zeitgenossen wahr, als hätte er also immer schon alles allzu früh gewusst. Obwohl das „Bewußtsein des Romans“ (H. Kiesel) das Bewusstsein der Figur zu sein vortäusche, sei es eher das Bewusstsein von jemandem, der das Geschehen nicht zeitgleich, vielmehr aus dem Erfahrungshorizont des Jahres 1959 erfasse. Oskar sei also seiner Zeit voraus, als hätte er schon 1933 die Erfahrungen verarbeitet, die die meisten Deutschen – inklusive Grass – erst während des Krieges durchgemacht hätten. Derart privilegiert, werde Oskar zu einer resistenten, antiideologischen, antitotalitären, ja desillusioniert skeptischen Figur, deren Einstellung während der Nazijahre dank dessen in den Augen der 514 Vgl. J. Fleischhauer: „Schuldverrechnung eines Rechthabers“. Spiegel, online, 5.4.2012. H. Stein: „,Antisemitisches Gebrüll‘. Günter Grassʼ Bild von Juden hat sich nicht geändert“. Jüdische Allgemeine, online, 6.4.2012. Beide in: H. Detering – P. Ohrgaard (Hg.): Was gesagt wurde ..., S.. 79–82 und 89–93. 515 H. Kiesel: „Zwei Modelle literarischer Erinnerung an die NS-Zeit: Die Blechtrommel und Ein Springender Brunnen“. In S. Parkes – F. Wefelmeyer (Hg.): Seelenarbeit an Deutschland. Martin Walser in Perspective. Amsterdam – New York 2004, S. 343–361. 202 Leser des Jahres 1959 durchaus habe bestehen können. Im Gegensatz dazu sei Grass in seiner Autobiographie gegen solch nachträgliches Wissen, zu dem man der Figur verhelfen könnte, vollkommen immun, was, so Kiesel, die Aussagekraft der Grass’schen Autobiographie immens steigere, wie ein Vergleich mit dem autobiographischen Roman Ein springender Brunnen von Martin Walser516 belegt, an dem Kiesel eben die Absenz des nachträglichen Wissens hochschätzt.517 An diesem Beispiel soll weniger die Banalität demonstriert werden, dass ein und derselbe Text unterschiedlich ausgelegt werden kann. Vielmehr bringt es zum Nachdenken, inwiefern die Unterschiede in den Interpretationen auf die jeweilige Bereitschaft der Interpreten zurückzuführen sind, das Spannungsverhältnis in Betracht zu ziehen, in dem die einzelnen Autoren dieser Generationen ihren Weg zur Darstellung des deutschen Problems gesucht haben. Schlicht und einfach gesagt: Der Blick auf diese Spannung sollte Grass sowohl gegen alle schützen, die jedwede Kritik seines Werkes unterbinden, als auch gegen alle, die mit Grass als mit einem Exponenten „seiner“ Generation abrechnen. 5.7 Zwischen Blechtrommel und Dunkelkammergeschichten Um diese Spannung in ihrer Dynamik zu erfassen, werden nun die wichtigsten Bezüge zwischen Grass’ frühen und späten Schriften angedeutet.518 Auszugehen ist dabei von dem mehrmals festgehaltenen Befund,519 Grass rekurriere in seinen prosaischen Texten nach 2000 (also Im Krebsgang, in der Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel oder in Die Box. Dunkel- kammergeschichten520 ) auf seine frühen Texte, also auf Die Blechtrommel, Katz und Maus und die Hundejahre,521 indem er auf sie hinweise, sie inter- 516 M. Walser: Ein springender Brunnen. Frankfurt am Main 1998.. 517 Vgl. H. Kiesel: „Zwei Modelle literarischer Erinnerung an die NS-Zeit: Die Blechtrommel und Ein Springender Brunnen“ ..., S. 353. 518 Folgende Ausführungen gehen auf meine ältere Studie zu G. Grass zurück. Siehe Verf.: „Weil unsrem Vater immer noch ne Geschichte ...“ G. Grass’ Weg von der Blechtrommel zur Box“. In Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik, 2012, S. 137–149. 519 M.N. Lorenz: „,von Katz und Maus und mea culpa‘“ ..., S. 281–306; M. Paaß: Kulturelles Gedächtnis als epische Reflexion. Zum Werk von Günter Grass. Bielefeld 2009; T.N. Pietsch: „Wer hört noch zu?“ Günter Grass als politischer Redner und Essayist. Essen 2006; V. Neuhaus: Günter Grass. Schriftsteller – Künstler – Zeitgenosse ... 520 G. Grass: Die Box. Dunkelkammergeschichten. Göttingen 2008. 521 G. Grass: Hundejahre. Göttingen 1963. 203 textuell aufgreife, wie es bei Grass übrigens auch bei anderen Texten der Fall ist.522 Etwa T.N. Pietsch glaubt, die erstmalige Verwendung der autobiografischen Form in Beim Häuten der Zwiebel stelle keinen absoluten Bruch in Grass’ Werk dar, sondern sei vielmehr als ein vorläufiger Endpunkt einer Entwicklungslinie zu verstehen, in der Grass immer mehr zum erzählenden Akteur seiner Prosa werde.523 Dem sei hinzugefügt, dass Grass diese Linie mindestens bis 2010 fortgesetzt hat, indem er mit Grimms Wörtern524 seine autobiografische „Erinnerungstrilogie“ vollendet hat.525 M. Paaß liest Grass’ Texte geradezu als Experimente der Wiederholung, die unermüdlich mit neuen Reprisen und Variationen der Konstellationen aufwarten, die Grass bereits in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren entworfen hatte.526 Zu erwähnen wäre in diesem Kontext auch das Spiel mit den (auto)biographischen Aspekten: Der Roman Die Blechtrommel ist eine fiktive Biographie mit nicht geringem Anteil autobiographischer Elemente,527 in der Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel werden die dokumentarischen Bestandteile bewusst als eine zusammenhängende Geschichte arrangiert, deren Konzeption sich des Potenzials der fiktiven Genres bedient, weshalb die Autobiographie zugleich zum auto- 522 Von vielen intertextuellen Verweisen etwa das Kapitel zum Jahre 1945 in Mein Jahrhundert (1999), das thematisch die Novelle Im Krebsgang (2002) vorweg- nimmt. 523 Seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre betritt Grass zunehmend die fiktive Welt seiner Romane, sei es als teilweise versteckter Erzähler im Hintergrund (Die Rättin, 1986), oder als eine der Figuren (Unkenrufe, 1992), manchmal sogar inklusive seiner Ehefrau (Ein weites Feld, 1995). Unter anderem durch diese Beispiele untermauert Pietsch seine These, Grass habe sich gezielt der autobiographischen Fiktionalität genähert, die schließlich in der recht fiktiven Autobiographie vom 2006 kulminiert habe. Vgl. T.N. Pietsch: „Wer hört noch zu?“ ..., S. 361ff. 524 G. Grass: Grimms Wörter. Göttingen 2010. 525 Nicht uninteressant ist diesbezüglich der Hinweis von V. Neuhaus, diese späte autobiografische Trilogie der Erinnerung (Anspielung auf die Danziger Trilogie, aber auch etwa auf die dramatische Trilogie des Wiedersehens von B. Strauß) nehme im Werk von Grass denselben Zeitraum wie die frühe Danziger Trilogie ein. Zwischen Die Blechtrommel und Hundejahre würden genauso 4 Jahre liegen wie zwischen Beim Häuten der Zwiebel und Grimms Wörter. Siehe V. Neuhaus: Günter Grass. Schriftsteller – Künstler – Zeitgenosse ..., S. 445. 526 Vgl. insbesondere das fünfte Kapitel „Experimente der Wiederholung“. M. Paaß: Kulturelles Gedächtnis als epische Reflexion ..., S. 418–499. 527 E. Platen meint, die Entwicklung vom Geschichtenerzähler, der erinnerungsgesättigte Geschichten schreibt, zum Autobiographen sei bei Grass kontinuierlich verlaufen. Siehe E. Platen: „Erweiterte Zeitgenossenschaft zwischen erfindender und erinnernder Teilnahme. Grenzen der Erinnerung und Versuche ihrer Überschreitung bei Günter Grass (mit einigen Bemerkungen zu Beim Häuten der Zwiebel)“. In Christoph Parry – Edgar Platen (Hgg.): Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. München 2007, S. 130–140, hier S. 140. 204 biographischen Roman mit einer souveränen künstlerischen Aussage wird.528 Und schließlich findet man Themen, Motive oder Szenen, die im Rahmen des Gesamtwerkes von Grass voraus- oder zurückgreifen; diese sind am leichtesten identifizierbar, wenn man die frühen Romane durch die Brille der Autobiographie liest, doch auch andersrum ist klar zu sehen, wie manche frühen Szenen ansatzweise vorwegnehmen, was erst später in größerem Format zur Gestalt werden sollte.529 Im Lichte der vielfältigen Bezüge innerhalb des Gesamtwerkes von Grass wird evident, dass diese Texte mit einer bestimmen Ambition konzipiert wurden, die jedoch nur unter gewissen Bedingungen für eine vollends realisierbare gehalten wurde. Die Ambition lautet zweifellos: die Vergangenheit dürfe nicht vergehen, man habe also gegen diejenigen anzuschreiben, die die Vergangenheit historisieren, zu den Akten legen, ja sie kaltstellen wollen. Daher habe man die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, jedes Schweigen über das Vergangene gehöre gebrochen. Mit diesem Impuls betrat Grass in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre das literarische Feld, in den 1960er Jahren wurde daraus ein Imperativ, dem sich die gesamte liberale deutsche Intelligenz verschrieben hat. So werden auch seine späteren Texte aus dem Freud-Adorno’schen Impuls heraus geschrieben, die unselige Vergangenheit sei mit ihren Schatten zu artikulieren und zu reflektieren, keineswegs zu verschweigen und zu verdrängen. Zunehmend kommt dazu Grass’ Befürchtung, wenn man über die Schatten der Vergangenheit schweigen würde, könnten vom Potenzial des Tabuisierten, Verbotenen und Verschwiegenen die Rechtsextremisten profitieren. Im Allgemeinen sei nichts davon, was passiert sei, zu verschweigen: Grass ist besessen von der Vergangenheit und zugleich davon, Tabus zu brechen.530 Seine Nobelpreisrede aus dem Jahre 1999 bestätigt es, ja erweitert noch die Bereiche des Tabuisierten, deren Bann man zu brechen hat. Auch daß Schriftsteller – was ihres Berufes ist – die Vergangenheit nicht ruhen lassen können, zu schnell vernarbte Wunden aufreißen, in versiegelten Kellern Leichen ausgraben, verbotene Zimmer betreten, heilige Kühe verspeisen oder wie Jonathan Swift es getan hat, irische Kinder als Rostbraten der herrschaftlich englischen Kü- 528 Ich danke J. Stromšík für sein Kommentar zu der Autobiographie von Grass. 529 Von vielen Beispielen sei nur auf die Szene aus „Schmuhs Zwiebelkeller“ hingewiesen, in dem die Protagonisten der Blechtrommel die exklusive Möglichkeit bekommen haben, hemmungslos zu weinen. G. Grass: Die Blechtrommel ..., S. 649ff. 530 Es scheint sich um zwei einander bedingende Aspekte zu handeln, die Vergangenheitsversessenheit und das Bedürfnis, ein Tabu zu brechen, gehen bei Grass Hand in Hand. Vgl. M. Braun: Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film. Bonn 2010, S. 33. 205 che empfehlen, ihnen also generell nichts, selbst nicht der Kapitalismus heilig ist, all das macht sie anrüchig.531 Nun aber zu den einschränkenden Bedingungen: In seinen frühen Texten wusste sie Grass zu erfüllen, indem er seine Figuren und Erzählweise adäquat konditionierte. Oskar Matzerath hatte moralisch unfassbar, in gewissem Sinne unmoralisch zu sein (daher die Heilanstalt), allwissend und zugleich ein Kind. Der Erzähler Pilenz aus Katz und Maus hatte so wie Oskar erzählerisch unzuverlässig zu sein, darüber hinaus angewiesen auf Mahlkes Geschichte, die er erzählte, um seine Schuldgefühle gegenüber Mahlke abzuarbeiten. In den späteren Texten wurden dem Bedürfnis, „zu schnell vernarbte Wunden“ aufzureißen, noch andere einschränkende Bedingungen in den Weg gestellt. Grass ließ die „Vergangenheit nicht ruhen“ jeweils erst, nachdem er sicher(er) wurde, für seine Geschichten eine adäquate Ausdrucksform gefunden532 und dafür den richtigen Zeitpunkt erwischt zu haben. Für seine Kritiker indes war es schwierig, diese Bedingungen nach 2000 zu akzeptieren, ja man hat sie ihm vielmehr angelastet. Während Grass seine Autobiographie herauszugeben bereit war, sobald er für seine Lebensgeschichte eine moderne autobiographische Form gefunden zu haben glaubte, in der vorläufig die Möglichkeiten der autobiographischen Aussage reflektiert und in Frage gestellt wer- den,533 musste er sich den Vorwurf gefallen lassen, die gewählte Form käme allenfalls seinem entlastenden Wunsch entgegen, sich eine bequeme Absolution zu erteilen. Es sei hinzugefügt, dass die zweite Bedingung zu der Autorschaft von Grass eher quersteht. Lange galt er als einer, dem nichts heilig ist, und dessen berühmteste Figur – vollkommen indiskret – all die „allzumenschlichen“ Lügen demaskiert, die sich die Menschen zurechtgeflickt haben, um angesichts ihrer Schuld nicht zusammenbrechen zu müssen. Hatte er in seiner frühen Schaffensperiode Figuren erfunden, vor deren unmoralischem, zwar unbeteiligtem, doch scharf registrierendem Blick niemand ein Held war, und schaute er dabei weder links noch rechts, dann hat sich dies nach 2000, schenkt man den Kritikern Glauben, grundlegend geändert: Nun schaute Grass, auf vieles Rücksicht nehmend, allzu sehr auf beide Seiten. Außerliterarische Absicherungen hätten an Relevanz ge- 531 G. Grass: „Fortsetzung folgt ... Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur“. In ders.: Essays und Reden 1980–2007 ..., S. 564. 532 Grass hat oft erwähnt, wie wichtig es ihm gewesen sei, eine akzeptable Form zu finden, in der er seinem Geständnis erzählerisch gerecht werden könnte. 533 Im Sinne der modernen Autobiographietradition lag Grass nichts ferner, als dem Leser weismachen zu wollen, die „Sache sei so und nicht anders gewesen“. Er habe es offener darstellen wollen, darum das Ringen um eine adäquate Form des autobiographischen Schreibens. Vgl.. M. Paaß: Kulturelles Gedächtnis als epische Reflexion ..., S. 482–483. 206 wonnen. Dabei mögen unterschiedlich berechtigte Motive im Spiel gewesen sein. Man hält etwa dem Autor der Novelle Im Krebsgang vor, sein mutiger Bruch des Tabus, das den Nachkriegsdeutschen untersagt hatte, sich (auch) als Kriegsopfer darzustellen, sei kein mutiger, sondern ein inszenierter und kalkulierter gewesen, wenn nicht ein heuchlerischer. Diese Praxis sei nämlich 2002, als die Novelle erschien, bereits einige Jahre ein fester Bestandteil der Erinnerungskultur gewesen, von deren modischen Welle Grass somit zu profitieren suchte. Diese außerliterarischen Tatsachen habe er nun zur Geltung gebracht, um sich das erwünschte symbolische Kapital eines Intellektuellen zu sichern, der richtig und als erster die verdrängten und potenziell missbrauchbaren Tatsachen thematisiere, ohne zu bedenken, dass ein Tabu, das keins mehr sei, von ihm auf diese Weise vielmehr missbraucht und ausgebeutet worden sei. Sieht man von den programmatisch denunzierenden literaturkritischen Beträgen ab, dann erscheint es naheliegend, dass Grass sein eigenes Tabu in Beim Häuten der Zwiebel in der Hoffnung gebrochen hat, fünfzig Jahre nach dem Krieg und fast 40 Jahre nach der Studentenrevolte werde man wohl keine Lust mehr haben, mit ihm moralisch abzurechnen. Ähnlich wird er sich wohl bei Die Box gedacht haben, seine 8 Kinder und 4 Ehefrauen würden ihm nun seine märchenhaften Bekenntnisse darüber abnehmen und durchgehen lassen, wie wenig er seiner Vaterrolle gerecht wurde. Keine dieser Begründungen lässt sich als unbegründet zurückweisen, alle lassen sich dennoch schwerlos relativieren. Nicht erst nach 2000,534 sondern bereits in Die Blechtrommel konnte Grass nicht umhin, auf außerliterarische Umstände Rücksicht zu nehmen. Schon hier hatte er, am Tabu rührend, die Opfer mitnichten ausgeklammert, die am Kriegsende die deutschsprachige Bevölkerung gebracht hatte: Da ist die Rede von drei russischen Soldaten, die sich „für die Witwe Greff erwärmten, [...] die solch zügigen Andrang nach so langer Witwenschaft und vorhergehender Fastzeit kaum erwartet hatte, schrie anfangs noch vor Überraschung, fand sich dann aber schnell in jene ihr fast in Vergessenheit geratene Lage“.535 Nimmt bei der Schilderung dieser Szenen Oskar die zynische Pose eines unbeteiligt und daher distanziert registrierenden Beobachters an (auch wechselt er von der ersten zur dritten Person), den das Beobachtete allenfalls von der seinerseits wesentlichen Beobachtung der Ameisen ablenkt, nehmen ein paar Seiten später, als es heißt, den schmerzvollen Transport in die Bundesrepublik zu erzählen, seine Hemmungen derart zu, dass er die Trommel ablegt, und diese Ereignisse seinen Pfleger Bruno nacherzählen lässt. Das heißt: Bereits 1959 machte Grass deutlich, dass an dieses Thema vorsichtig herangegangen werden müsse, 534 Wie die Rede „Ich erinnere mich“ (2.10.2000) zeigen würde. G. Grass: Essays und Reden 1980–2007 ..., S. 581. 535 G. Grass: Die Blechtrommel. Göttingen 1959, S. 483. 207 und diese Vorsicht solle dem Erzählverfahren anzumerken sein. So auch in der um 40 Jahre jüngeren Novelle Im Krebsgang, die auf ähnliche Erzählverfahren zurückgreift, die hier freilich, da dieses Thema hier zentral ist, stärker ins Gewicht fallen. Auch hier ist der Anstifter der Erzählung, jener schriftstellerisch ermüdete Alte im Hintergrund, in dessen Rolle wohl der reale Autor Unterschlupf gefunden hat, nicht imstande zu erzählen, was vorgefallen ist. Darum er/findet er einen Ersatzerzähler, der – ähnlich wie Bruno – von dieser Geschichte Zeugnis abzulegen versucht, obwohl er wohl noch größere Hemmungen hat, diesem Auftrag nachzukommen. Im Vergleich zu Die Blechtrommel wird die Erzählstrategie reflektierter; das Delegieren an den Ersatzerzähler wird dank der Erzählstruktur als ein umso verantwortungsloserer Akt demaskiert, je mehr Generationen dieses heikle Thema an die jeweils nachfolgende Generation delegiert hatten. Jedes weitere Delegieren habe die unheilvolle Verantwortungslosigkeit wiederholt, und somit die Gefahr gesteigert; in den Händen von Konrad, der als Repräsentant der dritten Generation von diesem Thema am wenigsten tangiert sein sollte, wird daraus eine Tragödie, bei der ein Junge stirbt, nur weil er sich eines heiklen und lange gemiedenen Themas annahm. Dieses Hinausschieben oder Delegieren des Unangenehmen scheint bei Grass die Rückseite dessen zu verkörpern, was zwar nicht gelöst oder zu Ende erzählt wurde, sich jedoch stets zu Wort meldet. Die absichtlich unabgeschlossenen Schlusspassagen vieler seiner späteren Texte (man findet aber auch in der älteren Prosa drei Punkte als Abschluss)536 stellen offensichtlich unterschiedliche Variationen dieses Verfahrens dar, und bieten immer jeweils zwei Lektüren an. Das Unabgeschlossene kann als Herausforderung gelesen werden, fortzusetzen, da es einmal doch gelingen müsse, alles zum Schluss zu bringen. Oder wird dadurch die unverantwortliche Machtlosigkeit markiert, man hätte wieder den Fehler gemacht, das Unangenehme den anderen zu überlassen. Nicht selten tun Grass’ Texte so, als würden sie auf der letzten Seite ihre Fortsetzung erfordern, ja als möchte ihr Autor dem Leser augenzwinkernd zu verstehen geben, er habe zu diesem Thema noch nicht das letzte Wort gesagt, dieses Thema würde mehr hergeben, doch darauf komme er erst im nächsten Buch zu sprechen. So legt der Leser Beim Häuten der Zwiebel mit dem Gefühl aus der Hand, da könnte einer, wenn er nur wollte, weiter erzählen, doch er belasse es vorläufig dabei, dem Gesagten nichts mehr hinzuzufügen: „So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich inwendig reich an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zwiebeln und Lust“.537 Aus Die Box wird man wie aus einer 536 Vgl. G. Grass: Das Treffen in Telgte. Göttingen 1979. 537 G. Grass: Beim Häuten der Zwiebel ..., S. 479. 208 Theatervorstellung entlassen, bei der zwar der Vorhang gefallen ist, die Schauspieler ihre Rollen ablegen, doch das, warum alles veranstaltet wurde, kann mit dieser Vorstellung unmöglich zu Ende gehen, verschwinden, denn es tickt wie etwas, „das abgearbeitet werden muss, solang er noch da ist ...“538 Die Novelle Im Krebsgang entbehrt des Schlusses, weil zu signalisieren ist, dass gerade das Delegieren und Hinausschieben des Unangenehmen dazu führt, dass die (große) Geschichte stets wiederkehrt, so sehr wir sie daran zu hindern suchen. Nachdem nun Konrad das Modell von Wilhelm Gustloff zerstört und somit die unheilvolle Wiederkehr der verdrängten Geschichte zum Abschluss gebracht zu haben glaubt, zeigt sich, dass diese auch über dieses Ende hinwegzurollen im Begriff ist. Angesichtes dieser Geschichte kann sich der Erzähler nur noch seiner Machtlosigkeit vergewissern: „das hört nicht auf. Nie hört das auf“.539 Sosehr sich das Personal samt den Erzählinstanzen bemühen, die Wiederkehr der Geschichte zu verhindern, es triumphiert nach wie vor der in gewissem Sinne blinde Lauf der Geschichte. Dabei ist vor allem folgendes Detail von Bedeutung: Der Alte im Hintergrund der fiktiven Welt der Novelle ist sich sehr gut dessen bewusst, wozu es führen kann, wenn man sich das Problematische und Unangenehme vom Leibe hält. Gerade er, in „dessen Namen“540 die Novelle ihren Krebsgang genommen hat, macht am Ende den Erzähler auf die Internetseiten aufmerksam, die die Fragwürdigkeit des gesamten Delegierens zutage treten lassen. Und kein anderer als er wird sich dessen bewusst, dass er als Initiator der Novelle zugleich diese delegierende Erzählweise angestiftet hat. Das Schuldbewusstsein, in dieser heiklen Erzählung und verhängnisvollen Geschichte nicht nur bis zum Hals zu stecken, sondern dieses Verhängnis erst einmal bewirkt zu haben, spricht diese Instanz von jedweder Anschuldigung der Eitelkeit frei. Wohinter Lorenz alibistische Eitelkeit des Autors entdeckt, über ein (unangenehmes) Thema zu sprechen, ohne zu diesem etwas zu sagen, kann anderes erblickt werden: Grass sagt durch diese Novelle zu dem Thema recht viel, zumal er anschaulich demonstriert, dass es mit diesem Thema ihre Bewandtnis hat. Der Text vollzieht Folgendes: Der Alte schafft es (dank dem Ersatzerzähler), die Geschichte doch zu erzählen, die zu erzählen er nicht imstande zu sein behauptet. Dabei macht er seine moralischen Skrupeln, es überhaupt zu erzählen, geltend, und zugleich gelingt es ihm dadurch, seine Hemmungen, es überhaupt erzählen zu dürfen und zu können, zu überwinden. Indem er sich am Ende als der Anstifter des delegierten Erzählens entpuppt, beweist er einerseits, genug (bürgerlichen) Anstand zu haben, um dieses Thema verantwortungsbewusst zu bearbeiten, andererseits genug der schriftstellerischen Gabe zu 538 G. Grass: Die Box. Dunkelkammergeschichten ..., S. 211. 539 G. Grass: Im Krebsgang ..., S. 219. 540 Ebenda. 209 besitzen, um die mit diesem Thema verbundenen Hemmungen zu überwinden und sie zu einem literarischen Text zu machen. Noch auf einer anderen Ebene sucht die Novelle den geschichtlichen Notwendigkeiten zu entkommen: Sie wird jenseits der das nachkriegsdeutsche Denken limitierenden Bipolarität des „Entweder–oder“ komponiert. Die Opfer von Auschwitz schließen sich hier nicht mit den Opfern der deutschen Bevölkerung aus, die Deutschen können sowohl als Täter als auch als Opfer dargestellt werden. Grass spricht beides gleichzeitig an, ohne dabei dem schablonenhaften Revisionismus oder aber dem nationalen Masochismus zu erliegen. Dies bringe ihn weit über die entlarvende Kultur des Verdächtigens, ja des „linken Denunziationswesens“ der 68er, das ein ehrliches „Eingedenken der Opfer über Jahrzehnte verhindert habe“,541 wie ihm nachträglich P. Schneider, einer der einstigen Wortführer der Studentenrevolte bescheinigt hat. Zugleich merkt man dem Text eine gewisse Unsicherheit an, die allgemein für Grass’ Texte um 2000 zu gelten scheint, deren Autor wohl das Bewusstsein, an der Epochenschwelle zu stehen, ja diese mitzugestalten, sehr zu schaffen macht. Er schreibt und denkt so, als sollten die nachkriegsdeutschen Regeln und Gesetzlichkeiten nicht mehr gelten, doch zugleich scheint er diese für ungültig erklärten Regeln sogleich zu vermissen. Als nachkriegsdeutsch bezeichne ich hier im Allgemeinen jedes Denken und Schreiben, das der Nachkriegskonstellation entstammt, deren Verbote und Gebote direkt oder indirekt, positiv oder negativ vom Krieg abgeleitet sind. Von dieser Nachkriegswelt war Grass über lange Jahre nicht wegzudenken, sein Denken und Schreiben waren auf sie fixiert. Müßig hier nochmal zu wiederholen, dass er nicht immer alle Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Fixation zu reflektieren imstande war, und sich (noch tief in die 1990er Jahre hinein) anzuerkennen weigerte, das wiedervereinte Deutschland sei sehr wohl denkbar, während das kleine und getrennte Deutschland (zum Beispiel als Konföderation) gar nichts garantieren könne.542 Bemerkenswert ist vielmehr, dass Grass, der lange 541 H. Zimmermann: Günter Grass unter den Deutschen ..., S. 611. Dass P. Schneider hier vor allem mit seiner eigenen Vergangenheit abrechnet, sei dahingestellt. 542 Ein Korrektiv Grass’ hartnäckig verteidigter Positionen stellen einige ostdeutsche Autoren dar, am prägnantesten wohl G. de Bruyn, der innerhalb des Deutschlanddiskurses eine gemäßigte Position innehat. Vgl. M. Braun: „Günter Grassʼ Rückkehr zu Herders ,Kulturnation‘ im Kontrast zu Martin Walser und Günter de Bruyn. Essays und Reden zu Einheit“. In V. Wehdeking (Hg.): Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000). Berlin 2000, S. 97–110. Grass’ Ansicht, die deutsche Frage sei ausschließlich kulturell zu lösen, widersprach etwa auch S. Heym, indem er darauf hinwiese, die ideologisierte Kultur der DDR sei dazu außerstande. Vgl. dazu: G. Grass: „Nachdenken über Deutschland. Aus einem Gespräch mit Stefan Heym in Brüssel 1984“. In ders.: Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot. Frankfurt am Main 1990, S. 33–47. 210 „nur“ das von der Nachkriegskonstellation mit deren Regeln affizierte Personal zur Kenntnis nahm, in Im Krebsgang auf diese Regeln einerseits nicht verzichten will, da sie in seinen Augen die Rückkehr der Barbarei verhindern, andererseits einsieht, diese Fixierung an die Nachkriegsregeln sei zu überwinden, da sie sein Schreiben und Denken zu limitieren beginnt, wie dem Alten im Hintergrund deutlich wird.543 In dieser Novelle, spürt man, wenn man es verallgemeinert, noch deutlich die für den Grass der 1990er Jahre typische Verunsicherung (auch die Starrköpfigkeit ist ja allenfalls ein Versuch, mit der Verunsicherung klar zu kommen), aber zugleich schon die ersten Anzeichen davon, wie er mit dem Ende der Nachkriegswelt klar zu kommen sucht. Um der Unsicherheit Herr zu werden, scheint er zunächst einmal auf die Erzählmittel zurückzugreifen, die ihm in seinen frühen Prosatexten gute Dienste geleistet hatten. So die erzählerische Unzuverlässigkeit, die Oskar Matzerath gleich in seinem ersten Satz anklingen lässt: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.“544 Auch in Im Krebsgang tut man gut daran, sich lieber auf keine der Figuren zu verlassen, die diese Geschichte von sich aus erzählen könnten. „Der Alte“ wie auch Tulla überlassen das Erzählen dem Paul, der zwar seine Hemmungen und sein Desinteresse, zu erzählen, überwindet, doch nicht kompetent und frei genug ist, glaubwürdig und zuverlässig zu erzählen. Geboren am 30. Januar 1945, also am Kreuzpunkt seiner Lebensgeschichte nicht nur mit der Kriegswie auch Nachkriegsgeschichte Deutschlands, sondern auch mit der Täter- und Opferrolle Deutschlands,545 ist dieser Erzähler darauf angewiesen, was er sich über die Katastrophe dieses Tages angelesen oder von der Mutter angehört hat. In seiner erzählerischen Unzuverlässigkeit schlägt sich die Unsicherheit und Ratlosigkeit eines Menschen, der niemandem glauben kann, doch zugleich als Erzähler außerstande ist, seine Quellen der Lüge zu überführen. Dieses Dilemma erlebt er, wenn er mit seiner Mutter über seine Geburt streitet. „Aber das stimmt alles nicht. Mutter 543 Vgl. die Anmerkung 169. 544 G. Grass: Die Blechtrommel ..., S. 6. 545 An diesem Tag jährte das 12. Jubiläum der nazistischen Machtergreifung, zugleich wurde die Wilhelm Gustloff versenkt, am Tag, an dem, kurz davor, Paul auf die Welt gekommen ist, eben in dem Moment, als Tausende der Opfer ertranken. Wie A. Pontzen bemerkt, weisen seine Geburtsdaten darauf hin, wie verlogen aber zugleich unumgänglich fürs Überleben der Katastrophe (also fürs Nachkriegsleben überhaupt) das Narrativ der „Stunde Null“ gewesen sei. Siehe A. Pontzen: „Der unmögliche Chronotopos – Die Stunde Null als Mythos der Narration am Beispiel von Günter Grassʼ Im Krebsgang“. In M. Galli – H.P. Preusser (Hgg.): Deutsche Gründungsmythen. Heidelberg 2008, S. 129–142, hier S. 134. 211 lügt. [...] Aber sie will keine Niederkunft auf der Gustloff. Lügt sich zwei Matrosen zusammen, die mich in der Kajüte des Maschinenoffiziers abgenabelt haben.“546 Obwohl er spürt, dass die Mutter lügt, kann er, sosehr er bei seiner Geburt physisch anwesend war, seine Version keineswegs aus der Position eines zuverlässigen Erzählers schildern. Die Box setzt dieses bewährte unzuverlässige Erzählen fort, indem die Vaterfigur Kinder erzählen lässt, jedoch deutlich macht, dass diese Erzählungen von ihm selbst inszeniert werden, und die Figuren der Kinder sich dieser Inszenierung in der fiktiven Welt bewusst sind: „Und dann soll auch noch alles unter Papas Regie laufen. Er denkt sich uns einfach aus!“ ruft Nana. „Und mir legt er Wörter in den Mund, die absolut nicht meine sind“, beklagt sich Taddel.“547 In der Autobiographie ist die Verunsicherung schon dermaßen mit der eigentlichen literarischen Aussage verschränkt, dass man kaum mehr entscheiden kann, worin sie sich noch ausdrückt, und wann sie schon die Funktion eines literarischen Mittels übernommen hat. Die Leser von Die Blechtrommel konnten sich nie sicher sein, in wie weit man diesem Erzähler Glauben schenken kann, sie wussten nie genug, um das Erzählen wie auch den Erzähler zuverlässig klassifizieren zu können, geschweige denn seine moralische Integrität zu beurteilen. Über diese nachzudenken ist hier schon deshalb müßig, da man als Leser erst dank der ausgebliebenen Integrität erfahren kann, was uns ein moralisch einwandfreier und zuverlässiger Erzähler nie offengelegt hätte. Je mehr Oskar seine amoralische Unzuverlässigkeit ausstellt, desto zuverlässiger erscheint seine literarische Aussage von dieser amoralischen Zeit. Unsicherheit, ob man genug weiß, um die einzelnen Figuren beurteilen zu können, empfinden genauso die Figuren innerhalb der fiktiven Romanwelt; auch sie können sich auf ihr Urteil nicht verlassen. Den Ausgangspunkt bildet wiederum der kleingewachsene Oskar, von dessen wahren Kenntnissen und Fähigkeiten andere Figuren nichts ahnen. Darum wird er von seiner erwachsenen Umgebung nicht ernst genommen; da er aber über ein durchaus erwachsenes Gehirn verfügt, wird sein Blick unbarmherzig und scharf wie ein Messer. Der Bewusstseinshorizont dieser Figur gibt sich beschränkt, er ist aber fast uneingeschränkt. Als erlebende Figur weiß Oskar jederzeit mehr, als er zu wissen scheint. Und zugleich weiß er als Ich-Erzähler mehr, als einem personalen Ich-Erzähler zusteht. Er tendiert daher eher zum auktorialen, allwissenden Erzähler, freilich in grotesker Brechung, da er als allwissender schon geboren wurde und im Laufe des Lebens nichts dazulernen musste. Auch die Autobiographie legt uns nahe, wir sollten keine Urteile abgeben, solange wir nicht genug zu- 546 G. Grass: Im Krebsgang ..., S. 146–147. 547 G. Grass: Box ..., S. 170. 212 verlässige Indizien gesammelt haben. Ein Mensch wird darin zu zwei Figuren: Erstens zu der die Vergangenheit rückblickend rekonstruierenden Instanz, und zweitens zu der Instanz, die diese Vergangenheit als ihre Gegenwart erlebte. Also der alte Grass rekonstruiert, wie der junge Grass gelebt und sein Leben wahrgenommen hat, und die Autobiographie macht es möglich, dass diese zwei existenziell identischen Figuren voneinander distanziert, ja getrennt werden: Nur selten identifiziert sich der Erinnernde mit dem Erinnerten. In seinen Erinnerungen nimmt der Erinnernde den Erinnerten wie in einem Film wahr,548 er versieht ihn mit distanzierenden Bezeichnungen („Entwurf meiner selbst“, „Junge, der unter meinem Namen anzurufen ist“, „mein behauptetes, doch immer wieder im fiktionalen Gestrüpp verschwindendes Ich“). Dort, wo der Junge sich dem Zugriff des Alten geradezu entzieht, denkt man fast, es sei eine literarische Figur, die mit Eigenleben versehen ist und allenfalls den Gesetzen des literarischen Textes zu gehorchen hat. Eben darin erblicken viele Kritiker die Schwäche der Autobiographie: Dass der sich erinnernde Grass diesen „mittelgroßen Bengel in kurzen Hosen und Kniestrümpfen“549 auf Distanz hält, halten sie für eine entlastende Strategie, wie man sich der Verantwortung für seine eigenen Jugendtaten entziehen könne. Grass’ Autobiographie baut in der Tat auf dem Gedanken, es sei innerhalb der fiktiven Welt schwer und vor allem unberechtigt, einander zu beurteilen, auch wenn eine der Figuren zugleich die Erzählerrolle innehätte. Was in Die Blechtrommel durch die Unfassbarkeit des erzählerischen Subjekts gegeben war, geht in der Autobiographie eher auf die Ambivalenz und Unzuverlässigkeit des autobiographischen Erinnerns zurück. Ich halte trotzdem für eher unwahrscheinlich, dass es Grass darum geht, sich der Verantwortung für das Erlebte zu entziehen. Um in die Falle des tröstlich entlastenden Erinnerns zu fallen, fehlt ihm die Naivität. Allzu gut weiß er, wie einfach es wäre, und mit welcher Reaktion er zu rechnen hätte. Es ist kein Zufall, dass die Autobiographie mit folgender Überlegung beginnt: „Ob heute oder vor Jahren, lockend bleibt die Versuchung, sich in der dritten Person zu verkappen: Als er annähernd zwölf zählte, doch immer noch liebend gern auf Mutters Schoß saß, begann und endete etwas. Aber läßt sich, was anfing, was auslief, so genau auf den Punkt bringen? Was mich betrifft, schon.“550 Das verführende Angebot der dritten Person, das wiederholt her- überwinkt,551 wird zurückgewiesen. Zugleich weigert sich die Erzäh- 548 G. Grass: Beim Häuten ..., S. 10, 185 a 106. 549 Ebenda, S. 37. 550 Ebenda, S. 7. 551 „Ich schwieg. Weil aber so viele geschwiegen haben, bleibt die Versuchung groß, ganz und gar vom eigenen Versagen abzusehen, ersatzweise die allgemeine Schuld 213 linstanz, diesen „Jungen von einst, der ich als Dreizehnjähriger gewesen bin,“552 um jeden Preis seine Überlegenheit spüren zu lassen, denn sie wäre, da beide existentiell identisch sind, allenfalls dadurch gegeben, dass der Erinnernde heute weiß, was der Erinnerte damals nicht gewusst hat, oder nicht wissen konnte. Darum die bewusste Resignation an diese Überlegenheit; in hohem Maße verzichtet er freiwillig auf die Möglichkeit, im Lichte des heutigen Wissens das zu bewerten und zu korrigieren, was er damals gedacht und gemacht hatte.553 Dennoch glaube ich nicht, dass dies von Grass gemacht wird, um zu demonstrieren, es sei legitim, die eigene Vergangenheit als die einzig mögliche jenseits von Wahrheit und Lüge zu präsentieren. Vielmehr tut er es, da ihm nichts das Recht geben kann, sich über den Jungen zu stellen, der er selbst ist, ja ihn eben aus der unberechtigt privilegierten, da als moralisch hypostasierten Position zu moralisieren. Solch eine Position kann er einfach nicht beanspruchen, wie übrigens der Junge sehr gut weiß, der sich von ihm nicht „ausbeuten“ lässt, ihm das Recht abstreitig macht, ihn so „fertigzumachen und zwar von oben herab“.554 Um es pointiert zu sagen: Der Erinnernde weiß also gut um die Schandflecken seiner Biographie, doch er muss die Richterrolle zurückweisen, da er die Autobiographie durch diese überhebliche Geste nicht auf das Niveau einer billigen Moralität degradieren will. Diese Überlegung geht in der Autobiographie mit der konsequenten Fortführung des bereits in Die Blechtrommel erprobten Konzepts des Antibildungsromans einher. Würde die erinnernde Instanz das Erleben der erinnerten Instanz aus der gehobenen Position bewerten, würde sie gegen die Regeln des Antibildungsromans verstoßen. Diese setzen bekanntlich voraus, der Erinnernde (der Ältere) müsse nicht zwingend klüger, erfahrener und besser als der Erinnerte (der Jüngere) sein, wie schon Oskar alle eines Besseren belehrte, die dachten, die Kleinen könnten den Erwachsenen nicht einmal das Wasser reichen. Wusste Oskar schon in dem Moment seiner Geburt alles, dann ist nur logisch, dass der Pubeszent mit zwei Runen am Kragen seinem älteren, und nur in diesem Sinne von ihm unterschiedlichen Richter den privilegierten Anspruch auf höhere Moral abstreitig macht. Grass lenkt das Augenmerk vom moralischen einzuklagen oder nur uneigentlich in dritter Person von sich zu sprechen: Er war, sah, hat, sagte, er schwieg.“ Ebenda, S. 36. 552 Ebenda, S. 37. 553 Diese ungenügende, bewertend korrigierende Einstellung zu seiner damaligen Lebens- und Denkweise wird Grass oft angelastet, ohne in Betracht zu ziehen, warum auf die bewertend korrigierende Einstellung resigniert wird. So schreibt C. Gansel: „[...] die individuellen Erinnerungen werden durch das spätere Wissen nicht in Frage gestellt [...] In der Autobiographie [...] führt der Einsatz von field memories bei der Näherung an die ,blinden Flecken‘ nolens volens zum selbst erteilten Freispruch.“ C. Gansel: „Zwischen Störung und Affirmation?“ ..., S. 196. 554 G. Grass: Beim Häuten der Zwiebel ..., S. 30. 214 Profil des Erinnerten hin zu der Kompetenz des Autobiographen, dieses moralische Profil gar zu bewerten. Den Leser, der dem Erinnernden seine selbstentlastende Strategie vorhalten will, stellt die Autobiographie vor die selbstreflexive Frage, ob er von ihm nicht etwa gerade das verlangt, worauf dieser aus guten Gründen verzichtet, weil er sich dazu nicht berechtigt fühlt. Literarisch wird hier von Grass die skeptische epoché inszeniert, die Enthaltsamkeit, also die Weigerung radikale Urteile abzugeben, für die man selten genug Argumente vorfindet. Grass’ Absage an die positive Variante des Bildungsromans scheint auch in der Autobiografie mit der langjährigen Vorliebe für Aspekte der Schelmen- oder Pikaroromane einherzugehen. Bereits in Die Blechtrommel, Der Butt555 und Treffen in Telgte556 suchte sich Grass in diese Tradition einzuschreiben. In der Autobiographie werden viele Simplicissimusmotive bewusst zitiert (der Schutzengel Herzbruder, Lässigkeit, Unbekümmertheit, betonte Körperlichkeit, zielloses Wandern durch Kriegsund Nachkriegslandschaft und viele andere).557 Die Treue dem pikaresken Vorbild könnte wie im Falle des Antibildungsromans eine angemessenere Teilantwort auf die Frage bilden, warum Grass in der Autobiographie so wenig den inneren Motiven des „Täters“ nachzugehen bereit ist. Die Schelmenromane befassen sich in der Tat weniger mit den Ursachen und inneren Motivationen. Anstatt zu psychologisieren, zeigen sie, dass man von jedem Krieg als der Verlorene davonkommt. Wenn von den Idealen, für die man ins Feld gezogen ist, nichts übrig bleibt, ist jeder nur auf sich selbst verwiesen. So verstanden wären die Strukturen des Schelmen- und Antibildungsromans für Grass in der Autobiografie eine willkommene Chance, sich selbst möglichst nahe zu kommen, und dabei eine literarisch schon erprobte Pose eines registrierenden Betrachters zu bewahren, dem alle Überheblichkeits- und Moralisierungsgesten fremd sind. Dank ihnen könnte er auf seine Vergangenheit zu sprechen kommen, ohne die Richterrolle übernehmen zu müssen, die nach faktischer Wahrheit suchen würde, wo diese doch, kaum erkennbar, mit Lügen und Fabulationen verschränkt und verschwommen ist. Um in der Autobiographie zur Wahrheit zu gelangen, müsste der Erinnernde etwas mehr zur Verfügung haben als gehäutete Zwiebeln und die im Bernstein verkapselten Erinnerungen. So wie sich jeder moderne Autobiograph darauf fassen muss, dass er nie zu den „harten Fakten“ seines 555 G. Grass: Der Butt. Göttingen 1977. 556 G. Grass: Das Treffen in Telgte. Darmstadt 1979. 557 Siehe V. Neuhaus: Günter Grass. Schriftsteller – Künstler – Zeitgenosse ..., S. 245; ausführlich werden die pikaresken Motive bei Grass von K. Haberkamm analysiert: „Simplicianische Zwiebelschalen. Zur Wirkungsgeschichte Grimmelshausens bei Grass“. Simpliciana, Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft, XXX, 2008, S. 199– 217. 215 Lebens gelangen kann, kann auch Grass, diese Voraussetzung konsequent umsetzend, nicht umhin, sein Leben allenfalls in Variationen vorzulegen, die, so wie man nie an den Kern der Zwiebel herankommt, des erfassbaren und in sich identischen Kerns entbehren. Statt einer übersichtlichen Vergangenheit legt Grass seinen aufrichtigen, literarisch komponierten Versuch vor, das Vergangene zu besehen und zusammenzuleimen. Jemand, der lebenslang damit beschäftigt ist, sein Leben in Text zu verwandeln, kann sich auch in seiner Autobiographie nur dessen vergewissern, was die Reste seiner noch nicht beschriebenen und literarisch ausgewerteten Lebensspur hergeben. Alles andere wurde bereits zum Bestandteil seiner literarischen Figuren, die ihm auf der Suche nach dem Leben stets in die Quere kommen. Um sich in der Autobiographie an seine eigene Vergangenheit heranschreiben zu können, greift also Grass in der Regel auf erprobte literarische Muster und Techniken zurück. Von der dahinter steckenden Unsicherheit war bereits die Rede: Einerseits glaubte er, eine vollkommene Resignation auf die Gebote und Verbote der Nachkriegszeit würde Deutschland den gefährlichen nazistischen Reminiszenzen preisgeben, anderseits spürte er, sein Beharren auf diesen Prinzipien wirke limitierend. Dies hatte zur Folge: Sosehr er hoffen zu können glaubte, die Nachkriegszeit sei vorbei, konnte er von Zeit zu Zeit nicht umhin, die Nachkriegszeit mit ihren Regeln herbeizureden, um sich von ihrer Sicherheit schützen zu lassen. Einerseits gewinnt dadurch Grass’ Schaffen und Denken an gewisser Kontinuität, andererseits werden dadurch Erinnerungen an einige eher schattige Seiten seiner Generation wach. Evident wurde es an Grass’ Gedicht „Was gesagt werden muss“, worin ich den vorläufig letzten Beleg dafür sehe, dass es Grass nicht immer gelang, der limitierenden Nachkriegslogik seiner Generation zu entkommen. Er dichtet hier offensichtlich aus der Überzeugung heraus, die (Nachkriegs)Zeit, als man in Deutschland die Juden nicht kritisieren durfte, sei vorbei, doch zugleich ruft er den Eindruck hervor, sie sei noch nicht vorbei, denn er müsse nach wie vor gegen den Druck der „philosemitischen“ Diskursnormen anschreiben. Obwohl er in seinem Gedicht frei sagt, was er über Israel denkt, will er es als ein unfreier deutscher Dichter gesagt haben, der den Geboten und Verboten der „political correctness“ ausgeliefert sei. Eben diese politischen und kulturellen Hemmungen, die gleichzeitig bestritten und als nach wie vor existierend dargestellt werden,558 bilden in solch unreflektierter Form eine der limitierenden Gedankenfiguren der skeptischen Generation, deren Gestalt auch Grass wesentlich bestimmte. 558 Vgl. dazu die Analyse der Korrespondenz zwischen Broszat und Friedländer. 217 6 Martin Walser Obwohl Martin Walser im selben Jahr geboren wurde wie Günter Grass, wird sein Werk wohl noch stärker auf dessen generationsbedingte Aussagen hin interpretiert. Waren die positiven wie auch negativen Prädispositionen, die man der Generation der 45er zuschreibt, bei Grass lange nicht deutlich gewesen, was sich freilich mit großer Intensität nach 2006 ändern sollte, wurde Walsers Generationssiegel meist für unumstritten gehalten. Strittig wurde es erst, sobald die jeweiligen Generationszuschreibungen gegenübergestellt wurden. So konnte man einerseits lesen, Walsers Roman Ein springender Brunnen (1998)559 habe im Vergleich zu anderen Romanen plastischer darstellen können, wie die Flakhelfergeneration ihre nationalsozialistische Kindheit erlebt hätte.560 Andererseits wurden Walsers nicht rare Abweichungen davon, was von einem nachkriegsdeutschen Intellektuellen erwartet wird, nicht selten eben seiner Generationszugehörigkeit angelastet. Für die erste dieser Abweichungen, also seinen mutigen Versuch, den „Gespenstern die Hand zu drücken“,561 publiziert im Habermas’schen linksliberalen Sammelband Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, wurde Walser vom Herausgeber gerügt, er habe einen „schrecklichen Text“562 verfasst. Von der zweiten Hälfte der 1980er Jahre an soll Walser indes von seinem „heimischen“ linksliberalen Kurs immer mehr abgekommen sein. Anstatt nur gerügt zu werden, wurde er nun immer offensiver angegriffen. Je weniger er seit dieser Zeit bereit war, einem strengen Antinationalismus („Über Deutschland reden“) sowie der „political correctness“ das Wort zu reden, die bestimmt, wie man in der zivilisierten deutschen Nachkriegsgesellschaft über Holocaust („Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“, 1998)563 zu reden und wie man mit jüdi- 559 M. Walser: Ein springender Brunnen. Frankfurt am Main 1998. 560 Vgl. H. Kiesel: „Zwei Modelle literarischer Erinnerung an die NS-Zeit: Die Blechtrommel und Ein springender Brunnen“. In S. Parkes – F. Wefelmeyer (Hg.): Seelenarbeit an Deutschland. Martin Walser in Perspective. Amsterdam – New York 2004, S. 343–361, hier S. 360. 561 M. Walser: „Händedruck mit Gespenstern“. In J. Habermas: Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, Band 1. Frankfurt am Main 1979, S. 39–50. Zitiert wird aus: M. Walser: „Händedruck mit Gespenstern“. In ders. Ansichten, Einsichten. Werke in zwölf Bänden, Band 11, (Hg.): H. Kiesel, Frankfurt am Main 1997, S. 617–630. 562 Siehe das Gespräch mit G. Sauter, in G. Sauter: Politische Entropie. Denken zwischen Mauerfall und 11. September 2001; (Botho Strauß, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Peter Sloterdijk). Paderborn 2002, S. 323. 563 M. Walser: „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“. In ders. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998. Frankfurt am Main 1998, S. 39–51. 218 schen Figuren literarisch umzugehen hat (Der Tod eines Kritikers, 2002),564 desto öfter wurde ihm bescheinigt, er handele – typisch für viele seiner Generation – wie ein antisemitischer Nationalist, der sich nichts mehr vorschreiben lassen wolle. Kurzum: Er verkörperte für viele Kritiker unselige Attribute der skeptischen Generation. Er wurde demnach zum Sprachrohr all jener, die unter die Vergangenheit einen Strich ziehen, an Auschwitz vorbeischreiben, und das einheitliche Deutschland herbeidenken und -schreiben wollen, all dies um den Preis der Idealisierung des nazistischen Deutschlands. Walsers Texte fanden somit mit der Zeit immer stärker Zuspruch beim „Volk“, immer weniger bei den Intellektuellen. Es muss nicht zwingend gegen einen Schriftsteller sprechen, wenn seine Ansichten vielen Deutschen aus der Seele reden.565 Problematischer ist jedoch, dass viele von ihnen sich auch dann auf Walser berufen zu können glaubten, wenn sie „political correctness“ sozusagen apriori bekämpften, also unabhängig vom jeweiligen Inhalt. Dieser Vorwurf betrifft spätestens seit 2002 ebenso das Reden über Holocaust, indem Walser bescheinigt wird, in seinem schriftstellerischen Kampf gegen die „political correctness“ kultiviere er nicht nur nationalistische, sondern auch antisemitische Haltungen. Er missbrauche die essayistische wie auch die fiktionale Freiheit (Lizenz) der literarischen Texte, in denen er unter dem Vorwand der künstlerischen Freiheit Ansichten formuliere, die „der öffentliche politische Diskurs nie zugelassen hätte“.566 Dieser Verdacht, den übrigens K. Briegleb gegenüber der gesamten Gruppe 47 zu erheben suchte, hatte sich zunächst nur auf Walsers spätere Texte, insbesondere den (Schlüssel)Roman Der Tod eines Kritikers bezogen, doch es dauerte nicht lange, bis Walser für einen lebenslangen Antisemiten erklärt wurde. Während früher noch die Rede davon war, Walser 564 M. Walser: Der Tod eines Kritikers. Frankfurt am Main 2002. 565 Walser beruft sich oft auf die Briefe seiner Mitbürger, in denen man sich bei ihm dafür bedankt haben soll, dass er laut das ausgesprochen habe, was man insgeheim denke, ohne es aussprechen zu wagen. Siehe etwa: I. Bubis – S. Korn – F. Schirrmacher – M. Walser: „Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung“. In F. Schirrmacher (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main 1999, S. 438–465. Nach der „Friedenspreisrede“ soll er mehr als tausend zustimmende und nur einige wenige zurückweisende Briefe erhalten haben. Siehe M. Walser: „Wovon zeugt die Schande, wenn nicht von Verbrechen. Das Gewissen ist die innere Einsamkeit mit sich: Ein Zwischenruf“. In F. Schirrmacher (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte ..., S. 252. 566 M.N. Lorenz: „Möglichkeiten einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung. Tod eines Kritikers im Werkkontext“. Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 2007, 59, S. 142–154, hier S. 152. Vgl. K.M. Bogdal: „Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Perspektiven der Forschung“. In ders. – K. Holz – M.N. Lorenz (Hg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart – Weimar 2007, S. 1–12. 219 habe sich am Ende der 1970er Jahre allmählich von links nach rechts bewegt, wird heute in Anlehnung an die bahnbrechende, indes nicht allgemein akzeptierte Arbeit von M.N. Lorenz567 häufiger von einem kontinuierlichen Antisemitismus gesprochen. Dieser sei in mannigfaltigen Formen nicht nur im Spätwerk, von dem Lorenz in seiner Dissertation ausgeht, sondern auch in frühen prosaischen, dramatischen (Eiche und Angora, Der Schwarze Schwan, 1964) und essayistischen Texten (Unser Auschwitz, Auschwitz und kein Ende)568 präsent. Man könnte zwar manche Schlussfolgerungen von Lorenz durch den Hinweis relativieren, es sei gegenüber dem Autor nicht ganz fair, in frühen Texten nach Beweisen dessen zu suchen, was man vom Spätwerk abgeleitet hatte, trotzdem sind sie nicht von vorne weg als unbegründet zurückzuweisen. Auf der anderen Seite sind sie nicht schlichtweg zu übernehmen. Sosehr sie insbesondere im Detail mit überzeugenden Analysen aufwarten, lassen sie doch zu selbstsicher einige Grundsätze und Fragen beiseite, die als grundlegend für unsere Fragestellung bestimmt wurden. Fugen und Risse, in denen deutsche Intellektuelle nach einer glaubwürdigen Sprache für die Deutschheit suchen, sind nicht von der Banalität, die sie auf die (Entweder-oder) Relation reduziert, dernach Walser die Kraft der jüdischen Erinnerungen abschwäche, um die Identität der deutschen Nation zu bekräftigen.569 Man simplifiziert es, wenn man (etwa in den die Kindheit verteidigenden Romanen)570 all die idyllischen Heimatbilder des unreflektierten Nationalismus überführt, und zwar nur aufgrund dessen, dass diese Texte an Auschwitz vorbeikonstruiert sein sollen.571 Auch glaube ich nicht, dass Walser immer nur solange den Ursachen des Nationalsozialismus nachging, bis er genug Argumente dafür gefunden hat, um die Deutschen dieser Fragen zu entledigen. Hier scheint sich Lorenz allzu schnell von dem Potenzial der Generationsforschung verabschiedet zu haben; hat er diese zurückgewiesen, weil er sie für ein „kurzschlüssiges, präjudizierendes Verfahren“572 hält, dann scheint mir eher kurzsichtig zu sein, wie spannungsfrei er diese Generation schildert, sowenig er von ihr erwartet, und lieber „anhand von nachvollziehbarer Textarbeit“573 zu argumentieren sucht. Übernimmt man ohne weiteres, wie er es tut, das Bild dieser Gene- 567 M.N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart – Weimar 2005. 568 M. Walser: „Unser Auschwitz“. In ders.: Ansichten, Einsichten. Aufsätze zur Zeitgeschichte. Frankfurt am Main 1997, S. 158–172; M. Walser: „Auschwitz und kein Ende“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 631–636. 569 Vgl. M.N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck ..., S. 361. 570 M. Walser: Ein springender Brunnen. Frankfurt am Main 1998; ders.: Die Verteidigung der Kindheit. Frankfurt am Main 1991. 571 Vgl. M.N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ ..., S. 392. 572 Ebenda, S. 488. 573 Ebenda, S. 489. 220 ration als einer ab dem ersten Schuljahr vollständig durch den Nationalsozialismus indoktrinierten, zumal von Adolf Hitler um die eigene Jugend betrogenen,574 kann man zu keinem differenzierten Blick auf das Werk von M. Walser kommen. Gegenüber Walsers Texten sind kaum Ansprüche zu erheben, denen diese prinzipiell nicht gerecht werden können; insbesondere gilt es bei Ansprüchen, die einem gegenüber den Texten fremden historischen Kontext entstammen. Verloren geht in solchen Fällen das für meine Arbeit zentrale Spannungsverhältnis zwischen der Problemkonstellation, der sich die Texte gestellt sahen, und dem Horizont deren in dem jeweiligen Moment möglichen Lösungen. 6.1 Zwischen Intimität und Öffentlichkeit Der für Walsers Reflexion der Deutschheit zentrale Punkt berührt das Wechselverhältnis zwischen dem Intimen und dem Öffentlichen; einerseits geht Walser davon aus, die äußersten Möglichkeiten dieses Themas stecke jeder in seinem eigenen Gewissen ab. Das menschliche Gewissen hält er für eine zuverlässige Instanz, wo immer er darin Zuflucht sucht vor unpersönlichem, formalisiertem, ritualisiertem Thematisieren der Deutschheit. Das intime Denken und Sprechen über dieses Thema will Walser also streng von dem öffentlichen getrennt wissen; man werde darin desto unfreier, je mehr man im öffentlich ritualisierten Bezug zur Vergangenheit aufgehe. Dann reproduziere man nur noch Klischees und Stereotype, ersetze Reflexion durch Reflexe. Walsers Konstruktion, die Schematismen abbauen will, scheint freilich ihrerseits, wie öfters bemerkt wurde, selbst das Thema zu schematisieren, indem darin das individuelle Gedächtnis gegen das kollektive ausgespielt wird. So wandte A. Assmann ein, es sei kurzsichtig, in dem Moment, wo gerade die letzten direkten Zeugen der nazistischen Vergangenheit im Sterben sind, das kollektive Gedächtnis gegenüber dem subjektiven herabzusetzen. Degradiere Walser das kollektive Gedächtnis als etwas Unpersönliches und Ritualisiertes,575 gehe er genauso einseitig vor, zumal er eindeutig im Sinne der protestantischen Innerlichkeit argumentiere.576 Walser glaubt in der Tat nicht allzu sehr an 574 Vgl. Ebenda, S. 488. 575 Vgl. A. Assmann – U. Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 75–80. 576 Ähnliche Argumente findet man auch in dem Protestbrief, der an Walser von K.M. Bogdal und M. Brocke adressiert wurde. Siehe K.M. Bogdal – M. Brocke: „Offener Brief an Martin Walser“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.11.1998. Walser reagierte drei Wochen später: M. Walser: „Wovon zeugt die Schande, wenn nicht von 221 die Prinzipien der öffentlichen demokratischen Diskussion, der die Überzeugung zugrunde liegt, trotz der kulturellen Ritualisierung sei der Dialog über die Vergangenheit dem Thema zuträglicher als strenge Introspektion. Trotzdem wage ich zu bezweifeln, Walser würde sich schon aufgrund dessen der langjährigen „Aversion der deutschen Intellektuellen“577 gegenüber der liberalen Gesellschaft anschließen, von deren symptomatischer Bedeutung für viele deutsche Autoren dieser Generation etwa D. von Petersdorff spricht. Sosehr Walser vor dem Druck der Öffentlichkeit in seinem Gewissen Zuflucht sucht, stellt das Gewissen keine Klausur dar, es muss doch, wenn nichts anderes, literarisiert an die Öffentlichkeit gelangen. Die Literatur stellt in Walsers Auffassung in der Tat eine Art Fenster zwischen der inneren und äußeren Welt dar, sie sucht zwischen Gewissen und Öffentlichkeit zu vermitteln, zwischen Introspektion und der öffentlichen Rede, zwischen verbum interius (Gadamer) und dessen freilich nie absoluter Artikulation. Die Literatur ist für Walser vielerorts dazu da, um vorzuführen, was sich in seinem Inneren abspielt. Darum die programmatische Anlehnung an Hamlet, Kierkegaard und weitere Virtuosen der inneren Stimmfindung, ja Gewissensvirtuosen/innen.578 Die Texte literarisieren die Konstellationen Walsers innerer Welt, einzelne Stimmen gewinnen Gestalt, Selbstzweifel werden zu Rollen oder Figuren. Schreibend spricht Walser zuvörderst mit sich und zu sich selbst. Dies betrifft seine Essays, in denen er unermüdlich von der paradoxen Lage eines Menschen schreibt, der sein Innerstes möglichst offen zu formulieren sucht, und trotzdem nicht umhinkann, sich selbst dabei immer mehr zu verbergen und zu entfremden.579 Genauso gilt es auch für Texte, die als öffentliche Verbrechen. Das Gewissen ist die innere Einsamkeit mit sich: Ein Zwischenruf“. In F. Schirrmacher (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte ..., S. 252–260. 577 D. von Petersdorff: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von 1945 bis zur Gegenwart. München 2011, S. 30. 578 „Antigone, Hamlet, Prinz von Homburg, Josef K: das sind Figuren, in denen das Gewissen eine eigene Sprache suchte [...] Man kann, was das Gewissen angeht, wahrscheinlich nicht im Recht sein. Jeder hat nur eins. Also gibt es keine Vorschrift. Nicht einmal eine Erwartung. Kierkegaard, auch ein Virtuose der inneren Stimmfindung, hat einmal angemerkt, dass es schon unethisch sei, aus den Handlungen eines anderen auf dessen Motive zu schließen.“ M. Walser: „Antigone oder Die Unvernunft des Gewissens“ (1989). In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 939– 941. 579 Nur der Vollständigkeit halber seien einige Essays aus unterschiedlichen Phasen erwähnt, in denen einzelne Aspekte dieses Themas dargelegt wurden: M. Walser: „Über das Selbstgespräch. Ein flagranter Versuch“ (13.1.2000). In ders.: Ich vertraue. Querfeldein. Reden und Aufsätze. Frankfurt am Main 2002, S. 125–150; M. Walser: „Der Händedruck mit Gespenstern“ (1979). In ders. Ansichten, Einsichten ..., S. 617–630; M. Walser: „Über freie und unfreie Rede. Andeutungen“ (1994). In 222 Vorträge konzipiert wurden. Auch hier gehört es zur Rolle des Sprechers, sich stets zu vergewissern, ob seine Bedenken nur ihn, oder nicht etwa auch andere plagen, oft räumt er ein, dass Probleme häufig bei ihm begin- nen,580 wundert sich, wie andere wahrnehmen können, wozu er gar nicht fähig ist.581 Das Schreiben, zumal der öffentlichen Vorträge, versteht Walser als einen Versuch zu verstehen, was ihm passiert, was sich in ihm abspielt,582 um vielmehr diesen Prozess als dessen Ergebnis zu artikulieren; eben diese Tendenz bringt viele seiner Texte in die Nähe der literarisch komponierten Bekenntnisse, freilich nicht der vom selbstsicheren Ergebnis des Prozesses herabblickenden Bekenntnis-Tradition des heiligen Augustin, vielmehr der skeptischen Tradition etwa von M. Montaigne, teilweise auch von J.J. Rousseau.583 Im Gegensatz zu Augustin lässt sich in den zu dieser Konfession-Tradition gehörenden Texten kein Punkt angeben, von dem aus der Bekennende, sich seiner selbstsicheren Evidenz vergewissernd, sein (nur) bis zu diesem Punkt falsches Leben Revue passieren lässt. Im literarisierten Bekenntnis, wie es von Walser bemüht wird, scheint die Unsicherheit des Bekennenden kaum punktuell zu beheben zu sein, damit dieser aus einer ein für allemal wahren Position heraus mit sich abrechnen könnte, sondern diese Unsicherheit wird prozessual zu einer kaum zu behebenden. Auch der Dramatiker Walser suchte seit den 1960er Jahren das bundesrepublikanische Drama im Sinne des Bewusstseinsdramas (des mentalen Dramas) zu modernisieren. Bereits in einem seiner ersten dramentheoretischen Texte (1962) verlangte er vom „exakten Theater“, auf die unschöpferische Darstellung der gesellschaftlichen Antinomien zu ver- zichten,584 um stattdessen „die unauffällig gewordenen Spannungen auffällig zu machen, die nach innen gekrochenen Tragödien ins Sichtbare zu locken“.585 Fünf Jahre später, nun schon als ein durchaus erfolgreicher ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 1046–1061; M. Walser: „Vormittag eines Schriftstellers“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 952–964. 580 Vgl. M. Walser: „Händedruck mit Gespenstern“. In ders. Ansichten, Einsichten ..., insb. S. 617–625. 581 „Warum bietet sich mir das nicht so dar? Was fehlt meiner Wahrnehmungsfähigkeit? Oder liegt es an meinem zu leicht einzuschläfernden Gewissen?“ M. Walser: „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ ..., S. 43. 582 Vgl. M. Walser: „Wie geht es Ihnen, Juri Trifonow?“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 530. 583 Siehe K.M. Bogdal: „,Nach Gott haben wir nichts Wichtigeres mehr gehabt als die Öffentlichkeit‘. Selbstinszenierungen eines deutschen Schriftstellers“. In M. Walser: Text und Kritik VII. München 2000, S. 19–43, hier S. 23. 584 „Die Antinomien liegen nicht mehr auf der Straße. Die gesellschaftlichen Brutalitäten sind auf eine Weise verfeinert, dass das Drama bei deren Abbildung zugrunde gehen muß.“ M. Walser: „Vom erwarteten Theater“ (1962). In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 44. 585 Ebenda, S. 46. 223 Dramatiker, hat er seinen theoretisch-programmatischen „Tagtraum“ vollendet. Sein „Bewußtseinstheater“ verabschiedet den psychologischen Realismus, das Illusionstheater, resigniert auf die „Einteilung in Kunst und Leben, Kunst und Wirklichkeit, Kunst und Natur“,586 um keinen „Ersatz für die Wirklichkeit“,587 sondern die einzig im Drama mögliche Wirklichkeit zu bieten. Wie er jedoch hinzufügt, habe es eine Wirklichkeit zu sein, „die nur auf der Bühne vorkommt. Also kein Abbild mehr aus anderem Material“.588 Diese vom Dramatiker Walser konsequent beherzigte Maxime wird etwa durch die Tatsache belegt, dass das Drama Der Schwarze Schwan ursprünglich den Titel Gedächtnisse tragen sollte.589 Einzelne Figuren hatten modellhaft darzustellen, wie unterschiedlich man die Vergangenheit wahrnehmen kann. Auch die Prosa ist für Walser ein Genre, das, sosehr die erzählte Geschichte meist in dem bundesrepublikanischen Umfeld eingebettet ist, mit dem Bewusstsein des Autors mehr zu tun zu haben glaubt, als es bei den Prosaikern üblich ist. Als er 1985 auf die „Kristlein-Trilogie“ zurückblickte, sah er ein, dass ihre Romane keine ordentlichen wären, vielmehr Oratorien seines Ich, seines Bewusstseins.590 M.R. Engler, der Walsers Prosa als einen Kampf der einzelnen Figuren (deren Autor inklusive) um die eigene Identität interpretiert, der sich zwischen der gesellschaftlichen Integration und Isolation abspielt, bezeichnet Walsers Poetik als eine literarisierte Identitätskrise.591 Walsers Figuren würden sich in einzelne Rollen spalten, um sich zu verstecken, um sich aufzulösen,592 sie würden zum Narzissmus oder zu Regressionen tendieren. Dass Walser seine Romane gern zu wiederholten Selbstthematisierungen, ja zu gewissen Selbst- 586 M. Walser: „Ein weiterer Tagtraum vom Theater“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 233. 587 Ebenda, S. 235. 588 Ebenda, S. 236. 589 Siehe M. Töteberg: „Bewusstseinstheater. Luftnummern mit Bodenhaftung: Walsers Stücke im Kontext der Zeit“. In M. Walser: Text und Kritik VII ..., S. 102. 590 Siehe T. Thieringer: „Durch Schreiben an Welt gewinnen. Gespräch mit Martin Walser“. In Süddeutsche Zeitung, 18.7.1985. 591 Siehe M.R. Engler: Identitäts- und Rollenproblematik in Martin Walsers Romanen und Novellen. München 2001, S. 24. 592 Am stärksten werden in diesen Kontext die Novelle Ein fliehendes Pferd (1978) und der Universitätsroman Brandung (1985) gerückt. Zu deren Figuren und Erzählweisen merkt G.A. Fetz an: „Wenn im Fliehenden Pferd die Figuren Halm und Buch nur Scheingegensätze repräsentieren und sogar als zwei Aspekte eines und desselben Menschen verstanden werden können, sind die zwei sich bekämpfenden Stimmen nun in Halm selbst, Ich-Halm und Er-Halm.“ G.A. Fetz: Martin Walser. Stuttgart 1997, S. 125. 224 setzungen und Selbstvermöglichungen benutzt, ist mittlerweile ein germanistisches Allgemeingut.593 6.2 Ich denke anderes, als ich zu denken habe, also bin ich Halten wir fest: Zentral scheint für Walsers Arbeit gerade die gegenseitige Spannung zwischen der inneren und äußeren Welt zu sein, die ja – wiederum – nicht dadurch zu überwinden ist, dass man in der Entscheidung für das eine das andere verschwinden lässt, vielmehr zu ertragen ist im Bewusstsein dessen, dass beides sich nicht ausschließt, sondern bedingt. Je hartnäckiger Walser behauptet, das Gewissen sei nicht „delegierbar“, desto bedrohlicher erscheint ihm die Gefahr, das Gewissen könne missbraucht werden. Je freier er reden will, desto deutlicher wird ihm, dass man selbst beim stillen, unveröffentlichten Denken nicht frei ist. Als würde Walsers Schreiben stets die Befürchtung überprüfen wollen, man könne beim Denken, Sprechen und Schreiben nicht umhin, sich entblößend immer mehr zu verhüllen; eine Art Dialektik, die zeigt, dass man sich weder im Inneren ganz verstecken, noch in der Artikulation des Inneren ganz veräußerlichen kann. Das Ende von diesem Faden liegt im Essay „Über das Selbstgespräch. Ein flagranter Versuch“, und in der Rede „Erfahrungen beim Verfassen der Sonntagsrede“, der Anfang wohl in dem frühen Essay „Unser Auschwitz“, und dazwischen findet man viele Versuche, sich an diese Gedankenfigur heranzuschreiben.594 593 G. Eggenschwiller: Vom Schreiben schreiben. Selbstthematisierung in den frühen Romanen Martin Walsers. Bern 2000; R. Constantinescu: Selbstvermöglichungsstrategien des Erzählers im modernen Roman. Von ästhetischer Selbstaufsplitterung bis zu ethischer Selbstsetzung über mehrfache Rollendistanzen im Erzählen. Frankfurt am Main 1998. Einen präzisen Überblick bietet M.N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck ..., S. 27ff. 594 In Meßmers Gedanken (1985) gelingt es Walser wiederholt, diese Dialektik pointiert auszudrücken: „Gegenüber Leuten, die ihm einigermaßen fremd oder vielleicht sogar unsympathisch waren, betonte er das Wenige, das er mit ihnen gemeinsam zu haben glaubte, so vehement, dass sie dann der Meinung waren, nie eine verwandtere Seele getroffen zu haben. So kam er eine Zeitlang zu Freunden.“ (S. 501) „Man kann sich darauf verlassen, dass das, was ich sage, um so weniger meine Meinung ist, je heftiger ich es sage. Ich wundere mich selber darüber, wie ich mich anstrenge, etwas zu beweisen, was ich selber nicht glaube. Und weil ich, was ich beweisen will, selber nicht glaube, ist es so anstrengend, es zu beweisen. Geht es anderen anders?“ (S. 502) „Er beschließt, sich jetzt nicht mehr anzupassen. Er will endlich er selber sein. Von jetzt an tut er das Gegenteil von dem, was man von ihm erwartet. Er merkt, dass er nicht das tut, was er will, sondern nur das Gegenteil von dem, was man von ihm erwartet.“ (S. 508) M. Walser: „Meßmers Gedanken“. In ders. Prosa. Werke in zwölf Bänden, Band 8 ..., S. 489–541. 225 Im Essay „Unser Auschwitz“ wendet sich der Sprecher mehrmals vom beobachteten Frankfurter Prozess ab, um darüber nachzudenken, welches Bild der Angeklagten produziert wird und wozu dies führen könnte. Dann wendet er sich selbst zu, doch nicht um zu sagen, was er meint, sondern um sich schreibend klarer darüber zu werden, was sich in ihm abspielt, während er darüber nachdenkt. Als Beobachter des Beobachters verschafft er sich die Möglichkeit, sich daran heranschreiben zu können, was er nicht hätte erklingen lassen dürfen, obwohl es unumstritten zum Thema gehört: Oder geht mich Auschwitz überhaupt nichts an? Wenn in Auschwitz etwas Deutsches zum Ausbruch kam, was ist dann in mir das Deutsche, das dort in Ausbruch kam? Ich verspüre meinen Anteil an Auschwitz nicht, das ist ganz sicher. Also dort, wo das Schamgefühl sich regen, wo Gewissen sich melden müßte, bin ich nicht betroffen. Nun fällt es mir allerdings immer schwer, das Deutsche in meinem Wesen aufzufinden. (Ich kann nur hoffen, dass andere Landsleute, wenn sie’s genau genug nehmen, damit auch ihre Schwierigkeiten haben.) Und trotzdem soll ich mich jetzt, Auschwitz gegenüber, hineinverwickelt sehen in das großdeutsche Verbrechen.595 In dieser inszenierten Introspektion hat man es mit einem nicht, genauer gesagt mit einem weniger retuschierten Bild Walsers innerer Welt zu tun, das bezüglich der ausgesprochenen oder angedeuteten Sätze politisch durchaus unkorrekt ist. Dies dem Sprecher vorzuhalten (wieso er seinen Schuldanteil nicht empfinde?), wäre allerdings unberechtigt, da der Akteur dieser Selbstbeobachtung die Unkorrektheit seiner Worte nicht verschweigt, sondern vielmehr an ihr erst seine Reflexion ansetzen lässt. Hinweise, wie er im gegebenen Moment zu reagieren und was er zu denken und zu empfinden hat, sind von der Welt seiner inneren Stimmen nicht wegzudenken, somit kann deren regulative Wirkung beobachtet werden. Auf diese Methode pflegte Walser immer dann zurückzugreifen, wenn er die Spannung dazwischen inszenieren wollte, ob er – um es mit Freud zu sagen – noch Herr in seinem Hause ist, oder ob es womöglich nicht besser wäre, es lieber nicht mehr zu sein. Geradezu unermüdlich probierte er sie aus, wenn es galt, bis zur äußersten Grenze der politischen Korrektheit zu gehen, oder wenn sich eine seiner inneren Stimmen zu weit von den anderen hinauswagte und er plötzlich nicht mehr sicher war, ob er nun ihr oder eher anderen Stimmen folgen sollte, die ihm wiederum rieten, diese fremd wirkende Stimme zu vergessen. Genau dies traf am Ende der 1970er Jahre ein. Zu dieser Zeit konnte Walser auf seine fast zwanzigjährige politische Aktivität zurückblicken, in 595 M. Walser: „Unser Auschwitz“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 168. 226 der er nach sozial und moralisch vertretbaren Alternativen596 der Bundesrepublik gesucht hat. Von der kapitalistisch-antikommunistischen (selbstverständlich auch nicht genug antifaschistischen) Regierungspolitik distanzierte er sich zunächst zugunsten der – jedoch seinerseits mit großen Vorbehalten unterstützten – Sozialdemokratie,597 in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre trat an ihre Stelle ein um einiges wärmeres Engagement für die DKP. Der Adenauer’schen Lösung der „deutschen Frage“ hielt er Heuchlertum einer Politik vor, die zwar von der Wiedervereinigung rede, sie jedoch längst dem Profitdenken des Kalten Krieges geopfert habe. Im Essay „Händedruck mit Gespenstern“598 blickt er auf seine intellektuellen Aktivitäten der 1960er Jahre jedoch mit dem beunruhigenden Gefühl, er selbst habe sich heuchlerisch benommen, habe er doch sich selbst wie andere übermäßigen Ansprüchen ausgesetzt. Dies bedenkend stellt er indes fest, er habe nichts, wessen er sich nun zuwenden könne, weil das, wozu es ihn dränge, noch heuchlerischer erscheine. Doch das bisher für richtig Gehaltene erscheint ihm jetzt nur deshalb nicht mehr richtig zu sein, weil er nicht ausschließen kann, dass es gedacht hatte, um recht gehabt zu haben. Dann sei aber auch nicht auszuschließen, dass er auch jetzt etwas zu denken suche, um später recht gehabt zu haben. Um der eigenen Verstrickung in den kaum lösbaren Gedankenkreis zu entkommen, probiert er die distanzierte dritte Person, doch auch hier muss er kapitulieren: [...] er muss doch zugeben, dass seine veröffentlichten Meinungen ihn nicht ganz enthalten. Also stimmen sie nicht. Viel von seinem Bewußtsein ist in diese veröffentlichten Meinungen nie eingegangen. Ein selbstverschuldeter Samisdat ist entstanden in ihm. Das ist inzwischen so deutlich geworden, dass er seit langem das Gefühl hat, er verschweige etwas. Aber kann man denn immer ALLES sa- gen?599 Das inszenierte Dilemma ist das eines Menschen, in dem seine bisher für richtig gehaltenen Meinungen immer noch zu stark räsonieren, als dass er entscheiden könnte, ob die Entscheidung, sie für nicht mehr richtig zu erklären, auch nicht nur eine vorläufig richtige ist. In Wirklichkeit entwi- 596 Bereits 1960 steuerte er Weyrauchs Sammelband Ich lebe in der Bundesrepublik (1960) seinen Essay „Skizze zu einem Vorwurf“ bei, ein Jahr später gab er den Sammelband Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung? (1961) heraus, sein Beitrag darin hieß „Das Fremdwort der Saison“. 597 Die Wahl zwischen SPD und CDU gleicht für ihn der Wahl „zwischen dem Gefühl, dass es zum Kotzen ist, und der Gänsehaut. Ich entscheide mich für das erstere!“ M. Walser: „Das Fremdwort der Saison“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 27. 598 Zitiert wird aus: M. Walser: „Händedruck mit Gespenstern. In ders. Ansichten, Einsichten ..., S. 617–630. 599 Ebenda, S. 619. 227 ckelt er sich nämlich „zum Borniertsein, zum Beispiel. Wobei ich diese Entwicklung bisher verschwieg, weil sie, wie ich fürchten muß, Borniertheit genannt werden kann“.600 So versucht er sich probeweise vorzustellen, das eben Erlebte stünde ihm erst bevor, um beruhigend festzustellen, dass er wohl diesem Drang zu widerstehen die Kraft hätte; doch wäre er damit nicht, fällt er sich gleich selbstzweifelnd ins Wort, wieder am Anfang angelangt, etwa bei der Gefahr, sich selbst zu verleugnen. Somit glaubt er festhalten zu können, von einer wirklichen Entwicklung könne man nur im Falle der wirklichen Gegensätze sprechen, also – radikal genug – wenn man mit sich selbst im Widerspruch wäre. Dies würde jedoch dazu führen, sieht er gleich ein, dass solch ein Mensch bald keinem mehr sagen dürfte und könnte, „was er ,wirklich‘ meint“.601 Um dieser Gefahr zu entgehen, habe er bisher stets zugegeben, er sei gegen Änderungen immun, „als enthalte er nicht selber noch alle Übel, die er bekämpft“.602 Sowenig er sicher sein kann, ob das, wozu es ihn drängt, Gespenster sind, oder eher etwas, was er zu benennen fürchtet, streckt er dem ungewiss seine Hand entgegen. Diese radikale Inszenierung der eigenen Unentschlossenheit, in der – unter anderem – der nächste Abschied von dem „Entweder-oder“-Denken vollzogen wird, bereitet in Walsers Essay den Boden für die Reflexion der deutschen Frage vor. Diese wird – wie nicht anders zu erwarten – von Selbstzweifeln eingeleitet, ob das unbedingt zu Sagende nicht vielmehr mit seinem „gestörten Verhältnis zur Realität“ zusammenhänge, so dass es „leicht abzuwehren“603 sei. Seine Weigerung, sich (ausschließlich) mit der Bundesrepublik zu identifizieren (also zu tun, als würde es kein anderes Deutschland neben der Bundesrepublik geben), stellt indes erst die erste von vielen Verweigerungen seines Textes dar; schlicht gesagt, er verweigert die Identifizierung mit allen Paradoxen und Notlösungen der deutschen Frage, mit denen man sich je abzufinden bereit erklärt hatte, bis zu der letzten: „Allmählich erfahre ich, dass nur noch eine Identifikation übrigbleibt: Die mit dem Widerspruch zwischen den beiden deutschen Teilen.“604 Nicht so für ihn, mit diesem Widerspruch sei er kaum bereit, sich „inhaltlich zu identifizieren“605 . Wiederum deutet der Essay an: Es gibt keine richtige Lösung, allenfalls eine falsche, die man wählt, falls man in der Entscheidung für das eine das andere geopfert hat. Der Sprecher sieht zwar, dass beide Staaten real keine andere Wahl haben, als sich zu negieren, doch er kann dies nicht gutheißen, denn nichts sei „so 600 Ebenda, S. 621. 601 Ebenda. 602 Ebenda, S. 622. 603 Ebenda, S. 623. 604 Ebenda, S. 623. 605 Ebenda. 228 wenig gerechtfertigt wie Positionen, von denen aus jeder der beiden seine Negation des anderen vorträgt“.606 Und sogleich wechselt Walser von der deutschen Frage zu seiner eigenen, wie um zu demonstrieren, dass beide Fragen analog strukturiert sind: „Will ich mich nur salvieren? Suche ich nationale Bilder, um eine persönliche Lage zu rechtfertigen?“607 In diesem Moment macht Walser einen dezidiert literarischen Schritt: Er beschließt, sein unentschlossenes Bewusstsein, dass sich prinzipiell nicht entscheiden kann, zu ästhetisieren, also in den Bereich zu transponieren, der primär von den Regeln der poetischen Sprache und erst sekundär von denen der Logik bestimmt ist. Walser vertraut das deutsche Problem der Literatur, oder noch genauer der Poesie an. Diese, wie Walser stets betont, sei desto poetischer, je weniger sie mit den „Meinungen“ zu tun habe.608 Daraus erklärt sich zum großen Teil Walsers Bestehen darauf, das Gewissen dürfe nicht delegierbar sein. Dem Gewissen sei nicht von außen vorzuschreiben, wie es zu sein habe, folglich habe auch derjenige, der mit seinem Gewissen spreche, keine Macht dem Gewissen vorzuschreiben, wann er mit ihm im Reinen sei. Das Gewissensgespräch, also das literarisierte Bekennen versteht Walser analog zum Schreibprozess, also zur Poesie. Wer sich bekennt, gibt sich genauso preis, wie derjenige, der im Walser’schen Sinne dichtet. In beiden Fällen strebt man möglichst hohe Authentizität an, ohne entscheiden zu können, wann, bzw. dass man sie gar erreicht hat. Damit sind wir nun bei der nächsten Variation seiner zentralen Gedankenfigur angelangt, die besagt, je mehr man sich mit dem Inneren befasst, desto weniger verfügt man über es. Je tiefer man in sich hineinschaut, desto mehr setzt man sich dem aus, worauf man nie vollends zugreifen kann. Wer literarisch über sich Klarheit verschaffen will, stellt fest, dass darüber etwas anderes Ausschlag gibt als sein Bedürfnis, eine Meinung zu haben, zumal eine um jeden Preis wahre. Gerade diese Ambition, eine wahre Meinung zu haben, scheint der Essay „Händedruck mit Gespenstern“ ursprünglich verfolgt zu haben, um sie im Laufe des 606 Ebenda, S. 624. 607 Ebenda. 608 Eine weitere Konstante in Walsers Schaffen. Der Dichter bewegt sich in der Sprache, nicht in den Meinungen. Welche dezidiert undichterischen Gesetze in der Welt der Meinungen herrschen, geht aus folgender Passage hervor: „Eine Meinung dagegen, obwohl sie geradezu der Inbegriff des Begrenzten ist, hält sich am liebsten für das einzig Richtige. Eine Meinung ist darauf angewiesen, recht zu haben. Sie lebt weniger von ihrem Inhalt als von ihrem Gestus. Meinungen sind Sätze, bei denen der Geltungsanspruch wichtiger ist als der Inhalt. Der Verurteilungsgestus ist die Form, in der sich eine Meinung am wohlsten fühlt. Sätze, die so tun, als träfen sie nicht nur auf mich zu, sondern auf alle. Sätze, die die Beschränktheit ihrer Herkunft durch eine möglichst imposante Allgemeinheitskarosserie vergessen machen wollen.“ M. Walser: „Vormittag eines Schriftstellers“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 959–960. 229 Schreibens fallen zu lassen. Was die Leser primär als Denkprozess wahrnehmen, bei dem die sprechende Instanz Stück für Stück ihre Sicherheit (und Illusionen) verliert, wird zugleich zur Hoffnung, dass es eine Sprache geben kann, in der doch öffentlich über die Deutschheit gedacht und gesprochen werden darf. Diese Hoffnung mutet zwar manchmal wie eine utopische an, dies mildert jedoch keineswegs Walsers Streben, sie immer wieder ins Auge zu fassen.609 Um diesen Befund nur noch zu unterstreichen: Walser situiert seine essayistisch-literarischen Aussagen stets in einen prinzipiell mehrdeutigen Zusammenhang. Die Wahrheit spricht nie mit einer Stimme, sondern mit mehreren Stimmen auf einmal, und wer nur eine hören will, bringt andere unberechtigt zum Schweigen. Das heißt: Sein Wahrheitsbegriff wird ästhetisiert, die Reden und Essays werden radikal poetisiert. Walser hat sich dazu recht klar geäußert: Wer ihn wirklich verstehen wolle, möge nach den Antworten in den Romanen suchen, in den Reden könne er allenfalls auf Meinungen treffen, in denen man als Sprecher nie vollkommen enthalten sei.610 Und andersherum: Seine literarischen Texte hält er für umso wahrer, als sie sich gegen die Meinung durchgesetzt haben, die sie im Schilde geführt haben. Im Gegensatz zu der Meinung der Kritiker hielt er Den Schwarzen Schwan für sein schwächstes Stück, und zwar deshalb, weil beim Schreiben schon alles klar gewesen sei, was ja der Weg des Wissenschaftlers sein könne, „während für den Autor das Schreiben ein Mittel ist, die Realität erkennen zu können. Andernfalls schreibt man schon besser einen Vortrag“.611 Die Überzeugungskraft dieser Bilder, die darlegen, dass uns das Ganze umso mehr entschwindet, je vorgefasster wir auf unseren Vorsätzen bestehen, wird sich wohl aus den Erfahrungen eines Mannes speisen, der sein ganzes Leben lang gegen Meinungen gekämpft 609 An späten Texten von Walser belegt es M. Krings, der wiederholt betont, Walser sei sich der Unrealisierbarkeit seines Projekts bewusst gewesen, daher betreibe er eine Art Wunschdenken. Vgl. M. Krings: „Die freie Sprache. Tabu und Tabubruch in Martin Walsers Romanen Ein springender Brunnen und Tod eines Kritikers“. In M. Braun (Hg.): Tabu und Tabubruch in Literatur und Film. Würzburg 2007, S. 103–116. 610 Geradezu programmatisch im Essay „Über das Selbstgespräch“ (2000): „[...] ich habe als Schreibender die Erfahrung gemacht, dass ich in meinen Meinungen weniger enthalten bin als in meinen Romanen. Natürlich kommen Romanfiguren nicht ohne Meinungen aus. Aber aus allen Meinungen aller Figuren eines Romans ergibt sich nicht die Meinung des Autors. Ein Roman darf schlechterdings nicht auf eine Meinung hinauslaufen. Das weiß jeder Romanautor, ohne dass er wissen muss, dass er es weiß. Selbst ein Theaterstück darf nicht auf eine Meinung hinauslaufen. Und – möchte ich heute wünschen – eine Rede und ein Aufsatz eben auch nicht. Ich habe nichts zu vertreten. Ich muss niemanden aufklären als mich selbst.“ M. Walser: „Über das Selbstgespräch. Ein flagranter Versuch“. In ders.: Ich vertraue. Querfeldein. Reden und Aufsätze. Frankfurt am Main 2000, S. 125–150, hier S. 128. 611 So äußerte er sich 1970. Zit. nach G.A. Fetz: Martin Walser ..., S. 92. 230 hat, obwohl er sie am liebsten gemieden hätte. In „Über freie und unfreie Rede“612 führt er gegen die „Meinungen“ sogar das Sprechen aus dem Stegreif ins Feld, um von dem Zwang zu Improvisierung auf ein größeres Freiheitspotenzial dieser Redeweise zu schließen: „Wie könnten wir uns erleben, wenn wir alle nur noch frei reden würden. Die Rede trüge uns, wie Luft etwas trägt, das fliegen kann“.613 Betont wird hier jedoch nicht nur der Gegensatz zur routinierten Denk- und Redeweise der engagierten Intellektuellen, sondern auch (und dies scheint hier noch schwerer zu wiegen) der Gegensatz zum genauso routinierten und daran immer mehr verzweifelnden M. Walser, dessen Tagebucheinträge aus dem Jahre 1969 hier mit fast dreißigjährigem Abstand zitiert und kommentiert werden „Ich fange morgens an zu arbeiten, das heißt, ich setze mich an meinen Schreibtisch und schreibe, ich habe das Gefühl, heute fasse ich es, aber schon vor dem Mittagessen sehe ich, ich habe mich wieder in meine mir schon bekannten Meinungen bzw. Irrtümer hineingearbeitet.“614 Walser sieht deutlich die Vergeblichkeit seiner damaligen Aktivität und analysiert deren falsche Voraussetzungen: „Ich war damals leichter zu provozieren als heute. Ich habe also öfter aktuell reagiert als heute. Mit meinen mir bekannten Meinungen. Aber ich habe es damals nicht über mich gebracht, öffentlich zu sagen, das seien eben meine, mir bekannten Meinungen bzw. ‚Irrtümer‘. Ich wollte auch recht haben. Ich mußte.“615 In Anbetracht dessen, wie hartnäckig und geradezu monoton Walser der auf Meinungen reduzierbaren Rede die poetische Rede als Geschehen gegenüberstellt, in der dem Autor seine souveräne Autorschaft abhanden kommt,616 nimmt nicht wunder, dass sein Wunsch, als Autor vielmehr ein interesseloser Beobachter, ja allenfalls protokollierender Zeuge des literarisierten Geschehens zu sein, auf Kritik gestoßen ist. Diese schlägt meist in dieselbe Kerbe wie im Falle der Grass’schen Autobiographie, in die Kerbe der Selbstentlastung. Wird also Grass vorgehalten, er habe die Entscheidung über das moralische Profil seines autobiographischen Helden an die Regeln der jeweiligen literarischen Genres überantwortet, anstatt ihn zur Rechenschaft zu ziehen, oder zumindest zu erklären, warum er über seine in den letzten Kriegsmonaten getroffenen Entscheidungen 50 Jahre lang geschwiegen hat, wird hier ähnlich moniert, Walser entziehe 612 M. Walser: „Über freie und unfreie Rede. Andeutungen“. In ders. Ansichten, Einsichten ..., S. 1046–1061. 613 Ebenda, S. 1046. 614 Ebenda, S. 1060. 615 Ebenda, S. 1060. 616 Während die Sekundärliteratur darüber, welchen Einfluss Hölderlin, Nietzsche und Kierkegaard auf Walser hatten, nicht wenig verrät, kommt Heideggers Name in ihr recht selten vor. Eine Ausnahme bildet K.M. Bogdal: „,Nach Gott haben wir nichts Wichtigeres mehr gehabt als die Öffentlichkeit‘“ ..., S. 29. 231 sich mithilfe literarischer Kniffe der Verantwortung dafür, was er sage. So meint K. Köhler, diejenigen, die wie Walser nur mit sich selbst sprächen, würden die dabei geäußerten Meinungen für unwesentlich halten, um sich niemandem verantworten zu müssen. Walser nutze seine Kunst dazu, die Skrupel loszuwerden.617 Behaupte Walser etwas, was er nicht zu beanspruchen glaube, schreibt M.N. Lorenz, dann sei die gesamte Konstruktion ein Mittel dazu, „Positionen zu verlassen. Eine Meinung ist für ihn nun nicht mehr eine Position, die es zu verfechten gilt, sondern etwas Gemachtes, ein künstliches Produkt medialer Öffentlichkeit“.618 Daraus schlussfolgert Lorenz, dass mit einem Autor, der sich dem Meinungsstreit entziehe, kein Diskurs möglich sei, zugelassen werde allenfalls Diskurs „über die vermittelte Position“.619 K.M. Bogdal steigert diese Kritik noch, indem er sie auf Schillers Unterschied zwischen dem Naiven uns Sentimentalischen zurückführt. Walser beanspruche die Position eines „naiven Genius“, der nicht zu reflektieren brauche, da er spontan und intuitiv zur Wahrheit zu gelangen glaube. Walser habe dem sentimentalen Autor, der historische und gesellschaftliche Kontexte in Betracht ziehen zu müssen glaube, Absage erteilt, und dadurch den Eindruck erweckt, Authentizität der Aussage wiege schwerer als ihre Argumente. Somit verzichte Walser darauf, als Redner für die Intentionalität des Sprechens Verantwortung zu tragen“,620 sofern er sich zu den Aussagen weniger als Autor stelle, denn als jemand, der verzeichne, protokoliere, allenfalls sich dazu bekenne, was sich in ihm abspiele. Die Kritik lautet, Walser stilisiere sich in die Rolle des interesselosen Zeugen seines Inneren, für dessen „Produkte“ er keine Autorschaft (Verantwortlichkeit) akzeptieren wolle. Dann wäre auch einfach zu erklären – dies der nächste Kritikpunkt – warum Walser prinzipiell den Dialog verweigert, zumal mit Partnern, die anderer Meinung sind. Stelle er sich nämlich jenseits der Welt der Meinungen, dann werde es ihm auch nicht in den Sinn kommen, seine „naive Genialität“ durch Konfrontation mit einer 617 „ Walser spielt gern die beleidigte Leberwurst oder die verfolgte Unschuld. Verfolgt von den Meinungssoldaten. Über deren Intoleranz beklagt er sich. Ausgerechnet er, möchte man sagen, der wegen verbaler Inkontinenz ständig Schaum vorm Mund hat [...] Martin Walser sieht sich gern als ein Stimmenparlament. Er hasst nicht nur die Meinungssoldaten, er hasst die Meinungen selbst und weigert sich auf das festgelegt zu werden, was er sagt. Erstens muss das Gegenteil dessen, was gesagt wird, immer gleich mitgedacht werden. Und zweitens ist das unwillkürlich aus ihm Herausdrängende nur seine Weise, einer Erfahrung zur Sprache zu verhelfen.“ K. Köhler: Alles in Butter. Wie Walter Kempowski, Bernhard Schlink und Martin Walser den Zivilisationsbruch unter den Teppich kehren. Würzburg 2009, S. 341. 618 M.N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ ..., S. 420. 619 Ebenda, S. 421. 620 K.M. Bogdal: „,Nach Gott haben wir nichts Wichtigeres mehr gehabt als die Öffentlichkeit‘“ ..., S. 25. 232 anderen Meinung zu relativieren. Dies will recht verstanden sein, denn von daher bringt man folglich, meist mithilfe jüdischer Kronzeugen (am häufigsten R. Klüger)621 stärkere argumentative Munition zum Einsatz: Walser liefere stets neue Beweise dafür, dass er den Dialog mit Holocaustopfern prinzipiell verweigere, Einwände nicht wahrnehme, über sie hinwegschaue; die jüdische Identität stelle für ihn allenfalls einen negativen Hintergrund, von dem sich die mehrheitliche deutsche Identität abhebe,622 der meist der Opferstatus zuerkannt werde; da, wo er Auschwitz (Essays und Dramen) thematisiere, lasse er jüdische Figuren nur als Chiffren zu;623 kurz und gut, er erliege den Stereotypen des klassischen Antisemitismus, die in seinem Falle nicht primär darauf aus seien, antijüdischen Hass zu schüren, sondern ein Mittel seien, mit dessen Hilfe er „die negative Stigmatisierung des Tätervolks zu überwinden“624 suche. Bereits zu Beginn dieses Kapitels habe ich angedeutet, dass in solcher Perspektive diese Kritikpunkte einleuchtend und überzeugend sind. Dennoch wage ich zu behaupten, ihre Spitze wäre entweder mit einigen relativierenden Bemerkungen abzustumpfen, oder durch den Perspektivenwechsel abzubrechen. Zunächst die Relativierung: Man sollte mehr das Spannungsfeld in Betracht ziehen, bei dem auch die Möglichkeiten zu berücksichtigen sind, die Walser unter gegebenen Bedingungen hatte, sowie seine Motivation. Gehen wir von der – freilich nicht automatischen – Voraussetzung aus, Walser habe eine möglichst glaubwürdige Ideenkonsistenz und –kontinuität angestrebt, dann ist das literarische Protokollieren des Bewusstseins keine schlechte Wahl, wenn man der Spannung gerecht werden will zwischen der inneren, dynamisch sich entwickelnden Überzeugung und dem, was einen geprägt und öffentlich umgeben hatte. Im Gegensatz zu Grass, der sich lange auf sein erst später zerbröckelndes Vertrauen in die Sicherheiten der Nachkriegskonstellation zu stützen glaubte (im Zweifelsfall entscheidet Auschwitz), konnten für Walser die Regelungen der „Nachkriegszeit“ keine beruhigende Geltung haben, weil er selbst empfindlicher auf – nicht nur – deren normativen Druck reagierte. Um es banal auszudrücken, je größer der Druck, desto größer auch das Bedürfnis, sich gegen ihn zu behaupten. Wenn man es chronologisch nimmt, wird man schon in Walsers ersten bekannten Essays Anfang der 621 Die Freundschaft zwischen R. Klüger und M. Walser (etwa hat Walser bei S. Unseld interveniert, dass ihre Autobiographie Weiter leben bei Suhrkamp erscheint), von Klüger 2002 nach Tod eines Kritikers beendet, ist geradezu ein Evergreen der Walser-Forschung. 622 Zu diesem Befund gelangte Lorenz nachdem er die Rolle der jüdischen Intellektuellen in Walsers Leben und Werk analysiert hatte (J. Becker, I. Bubis, H. Heine, V. Klemperer, R. Klüger und M. Reich-Ranicki). Vgl. M.N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ ..., S. 256. 623 Vgl. ebenda, S. 310. 624 Ebenda, S. 483. 233 1960er Jahre fündig. Dem intellektuellen Druck seiner Kollegen, die gegenüber der Welt der Politik und Macht ihr radikales „Wacht am Nein“ hüteten, wusste er bereits 1960 zu widerstehen, indem er, sich dabei nicht ausgeschlossen, alle „ehrwürdigen Neinsagern“, „Idealisten ohne Ideale“, die sich an der Ohnmacht wärmen, daran erinnerte: „In welche Verlegenheit brächte uns ein Staat, eine Gesellschaft, die uns einlüden zur Mitar- beit!“625 Ein Jahre später machte er deutlich, mit welchem Unbehagen er den allgemeinen Antikommunismus beobachtet und welchen Anstoß er an der Heuchelei all derer nimmt, die ihre Parolen vom „wiederzuvereinigenden Deutschland“ dauernd im Munde führen.626 So reagierte er immer, wenn er hinter den gehobenen Phrasen andersartige Interessen zu entlarven glaubte; darum sein Widerwillen, vom Holocaust normiert zu sprechen oder seine Vergangenheit nach Maßgabe der heutigen gesinnungsästhetischen Ideale darzustellen. In all diesen Fällen reagierte er jäh, kompromisslos, ironisch, gereizt, doch konstant; zu bedenken, dass dies jemanden kränken, an Würde berühren könnte, kam ihm selten in den Sinn: Respekt dürfe hier keine Rolle spielen.627 Walser scheint, damit ich das Abstumpfen der kritischen Spitzen fortsetze, weniger den Dialog als seine Beteiligung an der normierten Denk- und Redepraxis zu verweigern. Untersteht der intellektuelle Diskurs den Regeln der politischen Korrektheit, vorhersehbaren Schablonen 625 M. Walser: „Skizze zu einem Vorwurf“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 24. 626 „Noch das oberste Ziel aller bundesrepublikanischen Politik (nach Bundespräsident Lübke): Wiedervereinigung. Ich habe keine Güter in Mecklenburg, von GroßDeutschland träume ich nur, wenn ich schlafe, also höchst unfreiwillig, und gar nicht selig, aber ich bemerke, dass das Wort ,Ostkontakte‘ immer mehr in die Nähe von Wörtern wie ,Sittlichkeitsverbrechen‘ und ,Landesverrat‘ rutscht. Das kommt von Antikommunismus (Lexikalischer Hinweis: Antikommunismus: eine Lehre, die entdeckt hat: wer kein Antikommunist ist, der ist ein Kommunist). Dank dieser Entdeckung ist vieles einfacher geworden. Nicht gerade die Wiedervereinigung. Die ist nach wie vor das Ziel, dem sich, sagt unser Bundespräsident, alle andere Politik unterordnen müsse. Fast möchte man empfehlen, einen Orden zu stiften für Verdienste um die Wiedervereinigung (Lexikalischer Hinweis: Orden, kunstgewerblich geformte Metallstückchen, mit denen man schwache Stellen markiert).“ M. Walser: „Das Fremdwort der Saison“ ..., S. 28–29. 627 „Manche Kühe – das beobachtet der Landwirt mit Sorge – bleiben viel weiter vom geladenen Zaun, als sie eigentlich müssten. Das kommt vom Respekt. Dadurch entgeht ihnen natürlich Gras. Und uns Milch.“ M. Walser: „Das Fremdwort der Saison“ ..., S. 25. Diese Meinung ist mit den Jahren nicht milder geworden, noch in der Diskussion mit I. Bubis (1998) bestand Walser darauf, dass wenn man nur das sagt, was nicht mißbraucht werden kann, man gewisse Themen denen überlässt, die sie gezielt mißbrauchen werden. Vgl. I. Bubis – S. Korn – F. Schirrmacher – M. Walser: „Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung“ ..., S. 455. 234 und Zwängen,628 ja ist das Reden über die Deutschheit eher eine Sache der Reflexe als der Reflexion, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Druck der öffentlichen Normen mit seinem Gewissen zu konfrontieren. Der Nachdruck, mit dem er in der ersten Hälfte der 1960er Jahre der Literatur ein streng verbindliches Nachkriegsprogramm auferlegte („Ich glaube, jede realistische Darstellung des Dritten Reiches muß bis in unsere Zeit hineinreichen, sie muß die Charaktere den historischen Provokationen von damals aussetzen, zeigen, wie diese Charaktere damals handelten wie sie heute handeln.“),629 entspricht der Entschlossenheit, mit der er auf die Verpflichtungen der Nachkriegszeit verzichtete, sobald er in ihnen missbrauchte Mittel der manipulativen Zwänge erblickte.630 Sie unreflektiert zu übernehmen, hieße zur Marionette der öffentlichen, also politisch unstabilen Erwartungen zu werden.631 Als Marionette hätte er in den 1950er Jahren ein vorbildhafter Antikommunist sein müssen, der die DDR trotz gegensätzlicher Rhetorik längst geopfert hätte. Später, etwa seit den 1970er Jahren, hätte er wiederum zum verbissenen Gegner der Vereinigung werden müssen, in dessen Augen das getrennte Deutschland wohl auf ewig beizubehalten wäre, da jeder Schritt auf die Wiedervereinigung hin alle Holocaustopfer herabgewürdigt hätte. Keiner dieser Erwar- 628 „Das ist der Vorteil der Linksrechtsschiene, man weiß dann immer gleich, warum einer das sagt, was er sagt“, stellt Walser nicht ohne Ironie fest. M. Walser: „Über freie und unfreie Rede. Andeutungen“ ..., S. 1051. 629 M. Walser: „Imitation oder Realismus“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 136– 137. 630 Wiederholt machte er auf die Sackgasse aufmerksam, in die langjährige Absenz des Patriotismus münden kann. Rechtsradikalismus, der dann erscheint, wird sogleich zweifelhaft dämonisiert, und schon ist man in der Sackgasse, in der Negation und Negation der Negation einander ablösen. „Nur mit Verteufelung produziert man Teufel. Weil ich den Rechtsextremismus lieber auf greifbare und begreifbare Ursachen zurückführe, halte ich nicht von Dämonisierung. Man muß die eigenen Kinder annehmen, auch wenn sie sich ins Unerträgliche entwickelt haben. Dann erst recht. Unser Anteil an dieser Entwicklung ist das, was uns mehr interessieren sollte als die Routine der Bekämpfung.“ M. Walser: „Deutsche Sorgen II“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 1002. 631 „Es geht seit einiger Zeit in Deutschland nicht mehr darum, was ein Autor schreibt oder publiziert, sondern nur noch darum, wie er auf die tabuhaft normierten Denkund Sprachschablonen reagiert, die man ihm so oft als möglich vorlegt. Es handelt sich um inhaltsleere Meinungsklischees, die einfach abgeliefert werden müssen. Wer, von der Simplizität dieser Hohlformen provoziert, versucht, mit einer persönlichen Version zu antworten, gerät sofort in den Verdacht der Abweichung. Und dafür sind die journalistischen Wächter der political correctness hoch empfindlich. In Deutschland muss zur Zeit andauernd öffentlich nachgemessen werden, wo einer auf der Links-Rechts-Skala gerade steht [...] Es geht immer um nichts als praxisfreie Positionen. Es geht um nichts als Positionen.“ M. Walser: „Reise ins Innere oder Wie man erfährt, was man erlebt hat“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 1071. 235 tungen war er bereit nachzukommen, was es all denen leichter machte, die ihn abstempeln wollten: zunächst als einen Kommunisten, dann als einen Nationalisten, nach dem Essay „Über Deutschland reden“ (1988) sogar als rechten Nationalisten, der sich nicht schämt, mit CSU Spitzen befreundet zu sein, und schließlich als einen Antisemiten. Die Willkür dieser Stempel besagt wenig über Walser und viel über die Unbeständigkeit der politischen Korrektheit. Übrigens auch die Analyse von „Händedruck mit Gespenstern“ hat die angestrebte Kontinuität von Walsers Überzeugung an den Tag gelegt. Jeder Schritt, der ihn davon entfernen würde, wovon er sich nun entfernen zu müssen glaubt, wird zunächst geprüft; selbst die nur probeweise gemachten Schritte kommen ohne widerholte Rückblicke und Rückversicherungen nicht herum. Schließlich vertraut er sich dem an, was sich seiner Kontrolle entzieht, in diesem Falle dem Essay, dessen Regeln und Sprache,632 um letztendlich über seine Begegnung mit den Gespenstern mehr sagen zu können, als wenn man es in einigen wissenschaftlichen Thesen abgehandelt hätte. In diesem Sinne scheint sich dieser Autor in der Tat treu geblieben zu sein. Hat er 1993 gesagt, man gebe „einem Bedürfnis nicht in jedem Lebensalter gleichen Ausdruck“,633 dann heißt es mitnichten, er hätte sich wesentlich verändert oder bewegt,634 anders wurde vielmehr das, wogegen er sich behaupten zu müssen glaubte. Walser ist in der Tat von der regulierenden Kraft eines vom subjektiven Willen unabhängigen Zustands angetan. Es war schon die Rede von der poetischen Sprache, die nur dann weiter hilft, wenn man den eigenen subjektiven Willen möglichst zurückstellt.635 Darum wird Walser seinen 632 „Walser sucht nach einer großen Notwendigkeit, nach Erfahrungen, die nicht wählbar sind. Diese Notwendigkeit trägt im Laufe seines Werkes verschiedene Namen, kann Gattung, Zukunft, Volk oder Sprache heißen, aber die Sehnsucht danach, und die Abwehr des freigesetzten Ich, das sich selbst regieren muss, bleiben.“ D. Pettersdoff: „Die Sehnsüchte des Martin Walser“. Die Welt, 28.6.2002, zit. nach M.N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ ..., S. 429. 633 M. Walser: „Deutsche Sorgen II ..., S. 1008. 634 G. Braungart zitiert aus dem Gespräch zwischen G. Grass und M. Walser (1994), in dessen Verlauf Grass angedeutet hat, dass sich Walser nach rechts bewegt habe, worauf Walser jovial erwiderte: „Günter, gut: Links und rechts von Dir ... Ich habe – und das denke ich manchmal mit Sorge – ich habe selber nicht das Gefühl, dass ich mich bewegt hätte, und finde mich heute weit rechts draußen und war früher weit links draußen. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich bewegt hätte.“ G. Grass – M. Walser: „Ein Gespräch über Deutschland“, 1995 (Hörkassette), zit. nach G. Braungart: „,Ich habe nicht das Gefühl, daß ich mich bewegt hätte‘ Martin Walsers Wende zwischen Heimatkunde und Geschichtsgefühl“. In W. Erhart (Hg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997, S. 93–114, hier S. 105. 635 Am Ende der Friedenspreisrede wird solche Sprache beschwört: „Gibt es außer der literarischen Sprache noch eine, die mir nichts verkaufen will? Ich kenne keine. 236 Lesern weniger verständlich, sobald er auf das Potenzial der dezidiert undiskursiven Sprache zurückgreift,636 doch er tut es in der Hoffnung, den Lesern (oder Hörern) dadurch zumindest vertrauenswürdiger zu wer- den.637 Walsers Utopie des vom subjektiven Willen möglichst unabhängigen Zustands scheint die Reste des Subjektiven vor dessen Auflösung, aber auch vor dessen Hypertrophie zu retten. Jeder anständige Deutsche weiß, wie er zu Auschwitz zu stehen hat. Das heißt nichts anderes, als dass er nicht tun darf, als ob er es nicht wüsste, aber zugleich, dass er nicht tun darf, als ob die als richtig erkannte Meinung an sich „herrschaftsfrei“ wäre. Zu Auschwitz dürfe es keineswegs „zwei Meinungen“ geben, doch es sei nicht unproblematisch, wenn „man eine Art, auf die Frage nach Auschwitz zu antworten, so ritualisier[t], dass jede andere Art zu antworten zur Blasphemie erklärt werden kann“.638 Dieser Gefahr suchte Walser auf eine konstante, dennoch variable Art zu entkommen. In den 1960er Jahren ist ihm bei den Frankfurter Prozessen nicht entgangen, dass deren Medialisierung letztendlich der Entlastung der gerade nicht angeklagten Deutschen diene, sofern sie in ihnen eine Mischung aus Abscheu und Anziehungskraft hervorrufe: „Und je furchtbarer die Auschwitz-Zitate sind, desto deutlicher wird ganz von selbst unsere Distanz zu Auschwitz. Mit diesen Geschehnissen, das wissen wir gewiss, mit diesen Scheußlichkeiten haben wir nichts zu tun. Diese Gemeinheiten sind nicht teilbar. In diesem Prozess ist nicht von uns die Rede.“639 Die Deshalb: Nichts macht so frei wie die Sprache der Literatur. Siehe Kleist. Mein Vertrauen in die Sprache hat sich gebildet durch die Erfahrung, dass sie mir hilft, wenn ich nicht glaube, ich wisse etwas schon. Sie hält sich zurück, erwacht sozusagen gar nicht, wenn ich meine etwas schon zu wissen, was ich nur noch mit Hilfe der Sprache formulieren müsse. Ein solches Unternehmen reizt sie nicht. Sie nennt mich dann rechthaberisch.“ M. Walser: „Erfahrungen beim Verfassen der Sonntagsrede“ ..., S. 50. 636 Im „Vormittag eines Schriftstellers“ stimmt er mit Handkes Eintragung im Buch Das Gewicht der Welt. Ein Journal. November 1975 – März 1977. Frankfurt am Main 1979: „Ich denke oft so falsch, so ungültig, weil ich so denke, als spräche ich dabei zu jemand anderem“ überein: „Genau. Dieses rechthabenmüssende Erwiderungsgespräch abbrechen. Meinungen meiden. Keine Beweisführung, keine Theorie, bloß kein Diskurs, nur eine persönliche Notwendigkeit, in der die Frage mitflüstern darf, ob es anderen auch so gehe. Entkommen, das wär’s.“ M. Walser: „Vormittag eines Schriftstellers“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 953. 637 „Als Ziel einer solchen Sonntagsrede schwebt mir allenfalls vor, das die Zuhörer, wenn ich den letzten Satz gesagt habe, weniger von mir wissen als bei meinem ersten Satz. [...] Aber eine ganz abenteuerliche Hoffnung kann der Redner dann doch nicht unterdrücken: dass nämlich der Redner dadurch, dass man ihn nicht so klipp und klar kennt wie vor der Rede, eben dadurch dem Zuhörer oder der Zuhörerin vertrauter geworden ist.“ M. Walser: „Erfahrungen beim Verfassen der Sonntagsrede“ ..., S. 51. 638 M. Walser: „Über freie und unfreie Rede. Andeutungen“ ..., S. 1057. 639 M. Walser: „Unser Auschwitz“ ..., S. 159. 237 Frankfurter Prozesse würden somit paradoxerweise nicht das Ende, sondern vielmehr den Höhepunkt des dämonisierenden Prozesses der persönlichen Exkulpierung darstellen. Dagegen plädierte Walser für eine Versachlichung des Problems: Nun aber war Auschwitz nicht die Hölle, sondern ein deutsches Konzentrationslager. [...] Und die Folterer waren keine phantastischen Teufel, sondern Menschen wie du und ich. Deutsche, oder solche, die es werden wollten [...] Auschwitz ist überhaupt nichts Phantastisches, sondern eine Anstalt, die der deutsche Staat mit großer Folgerichtigkeit entwickelte zur Ausbeutung und Vernichtung von Menschen.640 Etwa seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde Auschwitz zu einem derart festen Bestandteil des allgemeinen (nicht nur) deutschen Bewusstseins, dass es keine Frage mehr war, wie man sich zu diesem Thema stellen soll, sondern vielmehr wie man mit dem normativen Druck umgehen soll, der die Art erfordert, wie man sich dazu zu stellen hat. Nun galt es also, sich primär dagegen zu behaupten, dass man allgemein weiß, was man zu denken hat, um gut und richtig zu denken; diese „Banalität des Guten“641 war in Walsers Augen genauso heimtückisch und gefährlich, wie die Banalität des Bösen, deren Mechanismen nach dem Eichmann-Prozess von H. Arendt beschrieben wurden. In beiden Fällen suchte also Walser seine subjektive Entscheidungsfreiheit zu bewahren, ohne eine objektiv akzeptable Lösung des Problems aus den Augen zu verlieren. Bestand das Problem in den 1960er Jahren darin, dass öffentliche Prozesse sogar der dringend nötigen Verarbeitung der Vergangenheit entgegenwirken können (darum lieferte er Argumente, um den unumgänglichen Prozess zu unterstützen), wurde später, sobald die Vergangenheitsbewältigung zur routinierten Praxis wurde, eher die Leichtigkeit, mit der man das Gute zu kassieren glaubte, zum Problem, indem man auf diejenigen mit dem Zeigefinger gewiesen hat, die die Vergangenheit anders als vorgeschrieben zu bearbeiten wagten. In beiden Fällen ging es Walser um die Versachlichung und Objektivierung eines Prozesses, den er nicht zum Abschluss zu bringen, sondern zu einem freien zu machen wünschte. Die Schlüsselrolle dieser Distinktion (verlangt wurde kein Strich unter der Vergangenheit, sondern einer unter deren unfreien Verarbeitung) geht übrigens aus einem Detail des bekann- 640 Ebenda, S. 162–163. 641 In Schirrmachers „Laudatio“ heißt es dazu: „Denn während es in der ersten Jahrhunderthälfte, nach einem Wort Thomas Manns, für einen durchschnittlichen Deutschen unzählige Verführungen zum Schlechten gab, schenkte ihm die zweite Jahrhunderthälfte unzählige und unzählig verführerische Möglichkeiten, gut zu sein.“ F. Schirrmacher: „Laudatio. Sein Anteil“. In M. Walser: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998 ..., S. 30. 238 ten Gesprächs zwischen I. Bubis und M. Walser am 14. Dezember 1998 hervor. Bubis bestand darauf, dass Walsers Rede in ihrer Wirkung „anderen ein Tor geöffnet [habe]. Das war nicht Ihre Absicht, aber Sie haben das Tor geöffnet“.642 Dem erwiderte Walser, es sei höchste Zeit, „dass dieses Tor einmal geöffnet wurde“.643 Evident versteht jeder von ihnen unter diesem Tor etwas anderes; für Bubis ist dessen Öffnen insofern unheilvoll, als dadurch alle reinkönnen, die nichts mehr wünschen, als den Holocaust vergessen zu dürfen. Darum verlangte er von Walser die Beteuerung, er habe in dieser Hinsicht die Konsequenzen seiner Rede nicht durchdacht. Walsers Reaktion lässt indes darauf schließen, dass er diese Metapher mitnichten für eine unbedachte Folge seiner Rede hielt, deren Unbedachtsamkeit er nun zugeben sollte, sondern eben für einen sehr wohl bedachten Wunsch: Das geöffnete Tor gibt uns die fast verspielte Möglichkeit zurück, über Deutschheit frei nachzudenken, ohne Auschwitz vergessen wollen zu dürfen. Zwischen Historismus und der „naiven Dichtung“ Ähnlich relativierbar wären auch die gegen den autobiographischen Roman Ein springender Brunnen vorgebrachten Einwände. Dass Walser die Jugend des Hauptprotagonisten auf eine „unschuldig idealisierende“ Art in die beileibe nicht unschuldigen Jahre 1933–1945 situiert, ist nicht zwingend als entlastende Strategie einzustufen, primär das Unangenehme zu verdrängen, wie man hie und da lesen kann.644 Er scheint nämlich eine recht klare Vorstellung davon zu haben, wie sich alle inklusive seiner selbst damals hätten benehmen müssen, und wie man heute ihre damaligen Schritte bewerten sollte. Walser interessieren nicht die gegenwärtigen Erwartungen, sondern ausschließlich, wie die Vergangenheit, als sie noch Gegenwart war, wahrgenommen wurde. Angestrebt ist somit in diesem autobiographischen Roman keine Vergangenheitsbewältigung, wie die drei den jeweiligen Kapiteln vorausgestellten Passagen nahelegen. Die überhaupt nicht vorbildhaften Figuren können (oder besser wollen) nicht bestehen, falls man sie an den Maßstäben misst, die den korrekten Vorgaben der Erinnerungskultur entstammen, doch dies dem Roman samt seiner Figuren anzulasten, wäre ein Kurzschluss, sofern lediglich ein Bericht darüber vorliegt, wie man damals subjektiv die Welt wahrgenommen hat- 642 I. Bubis – S. Korn – F. Schirrmacher – M. Walser: „Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung“ ..., S. 464. 643 Ebenda. 644 Vgl. etwa M. Gebauer: „Poesie und Provokation im Erinnerungsroman“. In Christoph Parry – Edgar Platen (Hg.): Grenzen der Fiktionalität und Erinnerung. München 2007, S. 111–129. 239 te. Erzählt wird über die Leute, die lebten, ohne zu wissen, dass manche ihre Taten rückblickend als kleine Schritte betrachten werden können, durch die jeder einzelne Deutsche das ganze damalige Deutschland an Auschwitz näher gebracht hat.645 Walsers Roman unterläuft absichtlich die nachkriegsdeutsche gesinnungsästhetisch normierte Vorstellung davon, wie man über diese Zeit zu schreiben hat. Diesem Druck hält Walser in diesem Roman nicht nur dadurch stand, dass er Auschwitz ausklammert, was man ihm oft genug vorgeworfen hat, sondern vor allem dadurch, dass er von den Figuren nicht verlangt, wie Faschisten oder Antifaschisten zu handeln. Stattdessen zeigt er, dass die meisten von ihnen beides zugleich waren. Es ist nicht uninteressant, dass diese im Spätroman verwirklichte Konzeption umsetzt, was sich Walser programmatisch bereits in der Hälfte der 1960er Jahre vorgenommen hat. An dem sich damals durchsetzenden dokumentarischen Drama glaubte er die Tendenz monieren zu müssen, dass sobald die Handlung zeitlich vor 1945 gesetzt wird, dann nur um den Preis, dass die Darstellungen „die sauber von der Gegenwart getrennten nationalsozialistischen Vorgänge nach heutigen Maßstäben“646 bewerten. Das heißt: sie zeigen, wie man sich nach den Einsichten des Jahres 1964 im Jahre 1942 hätte benehmen sollen. Dies hält Walser für ein Instrument, mit dessen Hilfe man sich von dem thematisierten Nationalsozialismus am einfachsten distanzieren kann. Schon hier entlarvt er die Unaufrichtigkeit, von heute aus den damaligen Akteuren vorhalten zu können, sie würden unseren Erwartungen nicht entsprechen.647 Spätestens an dieser Stelle muss die oben angekündigte Perspektive eingeführt werden, die die gegen Walser vorgebrachten Einwände nicht nur relativiert, sondern die Probleme, die die Germanistik mit Walser hat, auf eine andere Ebene zu stellen versucht. All die bisher erwähnten Vorwürfe (Entlastung, Verzicht auf Verantwortung), wie auch die entgegengebrachten Verteidigungen zeugen von einer fundamentalen Polarität. Sie scheint der Ausdruck der schon erwähnten Erwartungen und daraus resultierenden Zuschreibungen zu sein, die sich ihrerseits auf unterschiedlich konditionierte Haltungen zu dieser Generation zurückführen lassen, und von – möchte man sagen – einem gegensätzlichen Bild des Menschen aus- 645 Ähnlich N. Hadek: „Das Buch dient zunächst nicht als Weg zu einer Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern als eine unvoreingenommene Annäherung an eine ganz persönliche Vergangenheit. Johann erzählt in Ein springender Brunnen nicht die deutsche Geschichte, sondern eine deutsche Geschichte, seine deutsche Geschichte.“ N. Hadek: Vergangenheitsbewältigung im Werk Martin Walsers. Augsburg 2006, S. 117. 646 M. Walser: „Imitation oder Realismus“ ..., S. 136. 647 „Aber wenig sinnvoll ist es, die blutige Epoche zur nachträglichen Befriedigung so darzustellen, dass eine wünschbare Handlungsweise sichtbar wird.“ Ebenda, S. 137. 240 gehen. Konkret: Es trifft das – hier von Lorenz repräsentierte – Generationsbild der lebenslang im nazistischen Sinne Indoktrinierten und Zukurzgekommenen auf das Bild der zwar indoktrinierten, aber belehrbaren Generationsangehörigen. Dem dezidiert politischen, ja – im Marquard’schen Sinne – geschichtsphilosophischen Bild des Menschen als eines moralisch bestimmbaren Wesens, dem kein Recht auf Entlastung zustehe, da es primär das sei, was es aus seiner Natur zu machen bereit sei, wird das vielmehr anthropologische Bild des Menschen als eines Wesens gegenübergestellt, das als stets zu kurz gekommene auf die Entlastungen angewiesen sei, da es primär das sei, wozu es die Natur gemacht habe. Beide Positionen scheinen in ihrer Absolutheit nichts als gegensätzliche Variationen derselben Einseitigkeit zu sein, die Walsers Reflexion der Deutschheit nicht gerecht werden kann, sofern diese sich absoluten Erwartungen stets verweigert. Dies sei hier an dem zentralen Kritikpunkt angedeutet: Dass Walser das unlösbare Dilemma der Deutschheit der literarischen Schrift, der poetischen Sprache überantwortet, kann entweder – von der Geschichtsphilosophie her – als eine bequeme, alibistische, sich selbst entlastende Flucht in eine künstliche Unschuld interpretiert werden, oder – von der Anthropologie her – als ein durchaus ernster Versuch sich einzugestehen, dass uns die ganze Wahrheit über den Menschen desto mehr entschwindet, je hartnäckiger wir auf unseren Vorsätzen bestehen. Im ersten Falle wird der Druck der geschichtsphilosophischen Ansprüche derart stark, dass der Mensch als Naturwesen eliminiert wird; im zweiten wird wiederum die anthropologische Selbstungenügsamkeit des Menschen maximalisiert, so dass dem Menschen abstreitig gemacht wird, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen. Was den einen authentische Wahrheitssuche wird, an dessen Ende man nicht umhin könne, das letzte Wort der Literatur, der poetischen Sprache oder der Natur zu überantworten, werden die anderen für eine Selbstentlastung halten; worin die einen eine berechtigte Auflehnung gegenüber den unangemessenen Ansprüchen der Gesinnungsästhetik erblicken, das tun die anderen als eine unberechtigt beanspruchte Unschuld ab; wird von den einen die nützliche Selbstbegrenzung des Menschen gelobt, der von seinen Grenzen weiß, wird von anderen die Überheblichkeit des genial „naiven“ Dichters getadelt, der, ohne sentimental werden zu müssen, intuitiv zur Wahrheit zu gelangen glaubt. Auf dieser Achse, falls man sie im Sinne von „Entweder-oder“Alternativen handhabt, ist keine Versöhnung möglich, zumal sie stets um weitere Oppositionen erweitert wird; im Anschluss an das Schiller’sche Gegensatzpaar naiv versus sentimental gruppieren sich folglich die Kritiker oder Verteidiger etwa um die aus dem Umkreis der Mann’schen konservativen Texte stammenden Opposition Dichter versus Literat (im Sinne des Zivilisationsliteraten aus den Betrachtungen eines Unpolitischen 241 [1918] und anderen Mann’schen Essays um 1914).648 K.M. Bogdal wendet diese Opposition gegen Walser, ihm unterstellend, der von ihm in Anspruch genommene Dichter (als der Berufene, dem es um die Wahrheit geht) werde von Walser dazu instrumentalisiert, sich endlich – am Ende der 1970er Jahre – von der Rolle eines „engagierten Intellektuellen (des ‚Grass-Typus‘)“649 zu distanzieren (der ja bekanntlich, als Literat, nur Meinungen von sich gebe und vom Rechthaben besessen sei), um sich für die nächsten Jahre als der naive, freilich unter der Kritik spürbar leidende Dichtergenius zu stilisieren,650 der sich nun wirklich niemandem mehr außer seinem Gewissen verantworten zu müssen glaube. Wiederum halten R. Baumgart oder D. Borchmeyer die Mann’sche Inspiration M. Walser zugute, sofern sie Manns Kampf gegen das Zivilisationsliteratentum mit Walsers Rebellion gegen die Wächter der politisch korrekten Gesinnungsästhetik analogisieren: Das Erzählen könne, ja müsse „ohne Vor- und Nachwissen, ohne eingeschaltete und steuernde Moral“651 auskommen. Somit wäre der Roman Ein springender Brunnen eine konsequente Umsetzung der Mann’schen antigesinnugsästhetischen Poetik, deren Autor, jenseits jedes gesellschaftspolitischen Auftrags, seine Figuren weder schonen noch desavouieren dürfe,652 freilich auch den Vorsatz verabschieden müsse, deutsche Vergangenheit zu verarbeiten oder zu bewältigen.653 Anstatt im Einzelnen entscheiden zu wollen, ob Walser eher gegen seine Kritiker in Schutz zu nehmen oder von der Obhut seiner Verteidiger lieber zu befreien wäre, ist es dabei zu belassen, darauf hinzuweisen, 648 T. Mann: „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918). In ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band XII, Reden und Aufsätze 4. Frankfurt am Main 1990. In Ansätzen schon in seinen früheren Texten, etwa in Gedanken im Kriege (November 1914). 649 K.M. Bogdal: „,Nach Gott haben wir nichts Wichtigeres mehr gehabt als die Öffentlichkeit‘“ ..., S. 22. 650 Bogdal erblickt in manchen Schritten Walsers geradezu die „Heilung des beschädigten Autors“, eine Interpretation, die mit der umstrittenen psychologisierenden Annahme steht und fällt, Walsers Texte kompensierten zunehmend das lebenslange Ausbleiben eines großen Romans von ihm. Vgl. ebenda, S. 36–38. 651 R. Baumgart: „Sich selbst und allen unbequem. Der Weg des Martin Walser als ,geistiger Brandstifter‘“. Die Zeit, 10.12.1998. In F. Schirrmacher (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte ..., S. 393. 652 Borchmeyer belegt dies durch den Hinweis darauf, wie oft und gern sich Mann auf Schopenhauers Zitat berufen habe, in dem die schlechten Dichter die schlechte Gesinnung ihrer Figuren desavouieren, und mit warnender Stimme rufen würden: „Dies ist ein Schurke, dies ist ein Narr, gebt nichts auf das, was er sagt“. D. Borchmeyer: Martin Walser und die Öffentlichkeit. Von einem neuerdings erhobenen unvornehmen Ton im Umgang mit einem Schriftsteller. Frankfurt am Main 2001, S. 24. 653 R. Baumgart: „Wieder eine Kindheit verteidigt. Eine Kritik zu Martin Walsers Ein springender Brunnen mit fünf späteren Zwischenreden“. In D. Borchmeyer (Hg.): Signaturen der Gegenwartsliteratur. Würzburg 1999, S. 83–88, hier S. 85. 242 dass seine Verfahren und Argumentationen erklärbar sind als die zunehmend stärker in Erscheinung tretenden Verarbeitungsformen der Generationsprägung, die zwischen dem Druck der dynamischen geschichtsphilosophischen Ansprüche und der Bequemlichkeit der anthropologischen Sicherheiten zu balancieren sucht. Deren spezifische, jedoch für die Generationssemantik gewissermaßen typische Form tritt eben in Ein springender Brunnen zum Vorschein, zumal im Vergleich mit deren ähnlicher Ausprägung bei Grass. Wie lässt sich über die Vergangenheit erzählen, wenn man weiß, dass man nicht umhin kann, sosehr man es bestreitet, in sie das zu projizieren, was ihr nicht angehörte, als sie noch Gegenwart war: So etwa könnte das zentrale Thema des Romans bezeichnet werden. Nun zu dem naheliegenden Vergleich mit Grass: Oskar Matzerath transzendierte die Grenzen der Erzählers in der ersten Person und tendierte weg vom persönlichen hin zum auktorialen Erzählen. Wiederum der Er-Erzähler bei Walser sucht auf alle kognitiven Vorteile zu verzichten, die ihm aufgrund seiner Distanz zukommen, und klammert sich, konzedierend, dass es nicht ganz aufgehen kann, an möglichst undistanziert präsentierte, und natürlich beschränkte Wahrnehmungsperspektive von Johann. Der nonkonforme Oskar kann innerhalb der Welt des pikaresken Antibildungsromans mit grotesk verzerrten Fähigkeiten versehen werden, dank denen er die realen Möglichkeiten seiner Zeit und seiner Zeitgenossen überragt. Darum ist ihm der ideologisch verfremdende Blick gegönnt, sei er schon von unten, von oben, oder von hinten auf den durch ihn demaskierten Lauf der Geschichte. Demgegenüber ist Johann höchst konform und überwiegend damit beschäftigt, wie er von den anderen wahrgenommen wird, meist darauf bedacht, nicht aufzufallen; mit Ausnahme der Fähigkeiten, die ihm von seinem Vater her zugefallen sind, wurde er, darin sehr realistisch, durch nichts ausgestattet, was es ihm einfacher (oder überhaupt möglich) machen würde, seiner Zeit etwas entgegenzusetzen. Indem sich in Ein springender Brunnen der Erzähler zurückzieht, um seine Distanz gegenüber den Figuren in Diskretheit zu verwandeln – die freilich wieder einerseits als entlastend moniert, oder aber andererseits als lebenserfahrene Absage an erhebliches Moralisieren bejaht werden kann – nähert sich die Erzählhaltung unmissverständlich jener autobiographischen aus Grass’ Beim Häuten der Zwiebel, deren erzählerische Instanz, angesichts ihrer zugegebenen Ideallosigkeit, sich nicht anmaßen kann, die limitierte Sicht des (genauso ideallosen) siebzehnjährigen Jungen daran zu messen, was dessen damalige Möglichkeiten übersteigen würde. Der Hauptheld der Grass’schen Autobiographie entzieht sich derart dem bewertenden Zugriff der Erzählinstanz, dass sie – um von sich erzählen zu lassen – eine durchaus skeptische Erzählinstanz erforderlich macht, die sich kein Moralisieren zumuten kann, darum sich auch nichts beson- 243 ders um die Ursachen kümmert. Umso weniger kann und will sie von natürlichen, also menschlichen, körperlichen, triebhaften, emotionalen, kurz anthropologischen Gegebenheiten absehen; diese anthropologische Affinität654 halte ich für eine eigenständige, nichtsdestotrotz generationell geprägte Form einer modernen pyrrhonischen Skepsis.655 Um dem nachträglich erhobenen Moralisieren eine Absage zu erteilen, bemüht Walser neben dem durchaus auch präsenten – etwa in etlichen nietzscheanischen Motiven des sprichwörtlichen Denken am Leitfaden des Leibes656 anklingenden – anthropologischen Kontext, vor allem die aus der Geschichtswissenschaft übertragene Tradition des Historismus. Obwohl er weiß, dass dies offenbar momentan eine „nicht geschätzte Schule“657 sei, behagt sie ihm, da es „zum Beispiel in England, immer noch Forscher [gibt], die damit Wichtiges zutage bringen“.658 Dennoch scheint dies nur bedingt zu gelten, ein Blick auf Walsers frühe prosaische und dramatische Figuren zeugt diesbezüglich von einer Umwandlung. Während Johann durchaus zeitkonform ist, spielen die Figuren der früheren Texte mannigfaltige Formen des Unzugehörigkeitsbewusstseins durch. Ist Johann das Kind seiner Zeit, dann fällt Alois aus Eiche und Angora auf eine – eher unbeholfen – anachronistische Art aus der jeweils aktuellen Zeit heraus, dann ist Rudi Goothein aus Der Schwarze Schwan auf eine tragische Art nicht bereit, in der Zeit zu leben, die von ihrem Präteritum nichts wissen will. Sosehr Johann in der Zeit groß wird, die aus den Angeln gehoben ist, bleibt ihm im Gegensatz zu seinen Vorgängern aus der 1960er Jahren versagt, zu ihr auf Distanz zu gehen. Alois erlebt drei Rückfälle aus der Zeit (1945, 1950 und 1960), in denen er sich nicht zeitkonform benimmt, ohne es besonders gewollt zu haben. Am Kriegsende kapituliert er zu früh, 1950, als die Kapitulation nun als Befreiung gefeiert wird, erweist er sich als einer „von gestern“, 654 Einen inspirativen Überblick des gegenseitigen Konkurrenz- und Komplementaritätsverhältnisses zwischen Literatur und Anthropologie bietet: W. Riedel: „Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung“. In W. Braungart – K. Ridder – F. Apel (Hgg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld 2004, S. 337–366, insb. S. 356–357. 655 Ich gehe davon aus, dass für die Anthropologie etwa im Gegensatz zum Idealismus, der mit einem starken, sich selbst mächtigen Subjekt arbeitet, ein skeptischer Blick auf die Natur des Menschen charakteristisch ist. Vgl. „Literarische Anthropologie“. In Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band. II. Hg. H. Fricke. Berlin 2007, S. 434. 656 Diese Wendung Nietzsches kommt in den meisten Arbeiten vor, die der literarischen Anthropologie in der Moderne gewidmet sind. Detaillierter etwa: F. Günther – T. Hoffmann: „Literarische Anthropologien der Endlichkeit. Zur Einführung“. In dies. (Hg.): Anthropologien der Endlichkeit. Stationen einer literarischen Denkfigur seit der Aufklärung. Göttingen 2011, S. 9–36. 657 M. Walser: „Über Deutschland reden. Ein Bericht“ ..., S. 897. 658 Ebenda. 244 und 1960 verkörpert er schließlich die für seine Mitbewohner zu greifbare Erinnerung daran, dass man von der Vergangenheit eben nicht so schnell loskommen kann. Rudi Goothein passt nicht in seine Zeit, weil er sich zu aufdringlich an seine im KZ verbrachte Kindheit erinnert, wogegen sich sein Vater, der einstige Kommandant in diesem Lager, sträubt. Die zu vergessenden Erinnerungen erfassen Rudi dermaßen, dass er nach einem gescheiterten Versuch, via Hamlet’schem Theater seinen Vater wachzurütteln, dessen uneingestandene Schuld übernimmt, um stellvertretend Selbstmord zu begehen. Rudis Hamletvariationen und Alois’ der Zeit hinterherhinkende Geistesabwesenheit, die zum demaskierenden Hinweis auf die zeitkonforme Geistesanwesenheit aller Zeitgenossen wird, lassen das Heuchlertum der Zeitgenossen hervortreten, die ihre Zukunft mit dem Vergessen der Vergangenheit erkauft haben. Beide verkörpern somit, was ihr Umfeld am liebsten vergessen hätte, sie pressen ihm geradezu das Bekenntnis zum billigen Opportunismus, zum schnell abgesühnten Schuldanteil (Rudi) ab, wie auch zum Hass allen gegenüber, die sie daran zu erinnern wagen (Alois). Diese für die 1960er Jahre recht typische Geste, die Walser – nicht viel anders als Grass –, freilich nicht plakativ im Sinne einer vom eigenen Schuldanteil freisprechenden Abrechnung,659 dazu nutzte, diejenigen, die schnell vergessen und noch schneller in neuen Zeiten heimisch werden, mit denen zu konfrontieren, die eben dies verweigern, sucht man im Ein springender Brunnen vergeblich. Statt Figuren, denen in der dramatischen Konstellation Bekenntnis abverlangt werden wollte, bekennt sich nun der Erzähler dazu, von seinen Figuren kein Bekenntnis verlangen zu dürfen. Dies legt folgende Schlussfolgerung nahe: Je weniger die Figuren ihrer Zeit widerstehen, desto mehr verlagert sich der Fokus von ihnen zu der Frage, aufgrund welcher Kompetenzen sie der 659 Wie prekär diese Lage ist, deutet Walser in seinem Essay „Hamlet als Autor“ (1965) an. Er hebt hier hervor, dass für die Generation, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland aufwuchs, Hamlet „tatsächlich der intime Bundesgenosse“ sei, und diese Intimität „gründet sich auf die schlimmsten geschichtlichen Umstände. Die Hamlet-Rolle habe zugleich ihre Grenzen: der Vater sei kein Onkel, doch das Hamlet-Gefühl könne man auch dank der Mutter nachvollziehen; als Hamlet sei man jedenfalls „ohne alle Mühe [...] schon besser als fast alle Väter zusammen“. Hamlets Zögern kulminiert in der Hoffnung, der Vater werde eines Tages von sich selbst das erste Wort sagen, um uns das Abrechnen zu ersparen. Für die Generation der jungen deutschen Autoren (insbesondere der Dramatiker, denen sich Walsers Essay primär zuwendet) besteht die Hamlet’sche Prägung darin, dass er sie anrege, „die Bühne zu benützen zur Darstellung des gerade Geschehenen, dass alle miteinander Zeugen werden; dass öffentlich wird, was geschehen ist; dass zur Sprache gebracht wird, was verschwiegen wurde [...] Hamlet sah offenbar kein anderes Mittel, sich zu helfen. Die in einer verwandten Situation sind, die zum Beispiel in einer Familie leben, in der gerade noch gemordert wurde, werden dieses Mittel immer benutzen.“ M. Walser: „Hamlet als Autor“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 108–115. 245 Erzähler klassifizieren kann; also das für die frühen Texte zentrale Bedürfnis, literarisch die Vergangenheit zu bewältigen, weicht der Frage, wie adäquat die Maßstäbe seien, an denen man sie messen will. Unadäquate Maßstäbe zu verwenden, hieße, an die Figuren eigene Erwartungen zu projizieren, etwa die, eine klare und deutliche Figur abgegeben zu haben. Aus Johann wäre dann ein faschistisches, oder aber ein antifaschistisches Kind geworden, der junge Rekrut Grass hätte freigesprochen, oder aber als Verbrecher entlarvt werden müssen. Dabei sind beide Texte, sosehr grundsätzliche biographische Unterschiede nicht zu leugnen sind,660 eben deshalb aussagekräftig, weil sie von der Spannung zwischen diesen Polen leben: Walser war weder ein faschistisches noch ein antifaschistisches Kind, Grass war weder ein Verbrecher, noch ein unschuldiges Schicksals- opfer. 6.4 Die Wunde namens Deutschland Die Mehrheit der Fachliteratur teilt die Meinung,661 dass Walser seit den 1970er Jahren die Trennung Deutschlands vom Zweiten Weltkrieg abzukoppeln und sie stattdessen in die geopolitischen Nachkriegskoordinaten einzubetten begann. Das getrennte Deutschland hörte in seinen Augen auf, eine abzubüßende und prinzipiell nicht wiedergutzumachende Strafe darzustellen, um zur vorläufig geltenden Konsequenz des Kalten Krieges zu werden, also dazu, wogegen es sich zu protestieren lohnt, ohne dass man sich dadurch moralisch disqualifizieren müsste. Wie aus seiner Rede „Über den Leser – soviel man in einem Festzelt darüber sagen soll“662 hervorgeht, nahm er bereits 1978 heftig Anstoß daran, dass man die Trennung so bereitwillig hinnimmt: „Ich halte es für unerträglich, die deutsche 660 Vgl. M. Braun: „Günter Grassʼ Rückkehr zu Herders ,Kulturnation‘ im Kontrast zu Martin Walser und Günter de Bruyn. Essays und Reden zu Einheit“. In V. Wehdeking (Hg.): Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000). Berlin 2000, S. 97–110, hier S. 97. 661 Vgl. M. Braun: „Günter Grassʼ Rückkehr zu Herders ,Kulturnation‘ im Kontrast zu Martin Walser und Günter de Bruyn. Essays und Reden zu Einheit“. In V. Wehdeking (Hg.): Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000). Berlin 2000, S. 97–110, hier S. 100ff. F. Eigler: „Poetologische Dimensionen der Heimattopoi in Martin Walsers Verteidigung der Kindheit und Ein Springender Brunnen“. In M. Seidler (Hg.): Wörter für die Katz? Martin Walser im Kontext der Literatur nach 1945. Frankfurt am Main 2012, S. 87–102, hier S. 91–93. Wiederum von Kontinuität sprechen G. Braungart oder M. Lorenz; G. Braungart: „,Ich habe nicht das Gefühl, daß ich mich bewegt hätte.‘“ ..., S. 93–114; M.N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ ... 662 Walsers Biograph J. Magenau führt an, oft stoße man auf die falsche Information, Walser habe diese Rede 1977 gehalten, während dies erst am 30.8.1978 erfolgt sei. Seihe J. Magenau: Martin Walser. Eine Biografie. Reinbek 2008, S. 367 und 631. 246 Geschichte – so schlimm sie zuletzt verlief – in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen.“663 Zu dem alten Argument, dass Adenauers unbelehrbare Parole „Wiedervereinigung“ nur polarisiere und „Spaltung“664 zementiere, kommen nun die bissig ironischen Seitenhiebe an die Adresse „narkotisierter Pragmatiker“,665 die „um eine offene Wunde herumtän- zeln“.666 Gegen sie wagt nun Walser nach einer langen selbstauferlegten Enthaltsamkeitsphase667 ins Feld zu führen, „Leipzig ist mein“668 sowie „Nietzsche ist kein Ausländer“,669 und darum dürfe man, wolle man weder Gefühle, noch historisches Bewusstsein verschweigen, „die BRD sowenig anerkennen wie die DDR“, man müsse also, so unrealistisch dieser Wunsch im Jahre 1978 auch gewesen sein mag,670 „die Wunde namens Deutschland offenhalten“.671 Ähnlichen Metaphern begegnet man auch in „Über Deutschland reden“, in dem sich Walser lustig macht über die Versuche, diese Wunde und deren Trennungsspalt mit „einschlägig behäkelte[n] Trostdeckchen“672 zuzudecken, („Geschichtsnation; Kulturnation; Sportnation“).673 In „Nachmittag eines Schriftstellers“ münden sie in eine begeisterte Würdigung der Wiedervereinigung, die das ostdeutsche Volk auch ohne den theoretischen Westimport und trotz der dagegen argumentierenden Intellektuellen vollzogen habe. Mit diesem Volk fühlt sich Walser eins, ihm zuliebe verteidigt er „das liebste Politische, seit ich lebe“674 vor allen „Demokra- tisch-Aufklärerisch-Sozialistischen“,675 die das wiedervereinigte Deutsch- 663 M. Walser: „Über den Leser – soviel man in einem Festzelt darüber sagen soll“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 569. 664 Ebenda. 665 Ebenda, S. 570. 666 Ebenda. 667 Walser pflegt zu betonen, wie lange er gebraucht habe, bis er es gewagt hat, so etwas auszusprechen: „Ich habe zweiunddreißig Jahre gebraucht, bis ich zum ersten mal gewagt habe, den Mund ein bißchen aufzumachen“, hat er 2002 geschrieben. M. Walser: „Über ein Geschichtsgefühl“. In ders.: Die Verwaltung des Nichts. Hamburg 2004, S. 253–262, hier S. 259. 668 M. Walser: „Über den Leser – soviel man in einem Festzelt darüber sagen soll“ ..., S. 570. 669 Ebenda. 670 „Mein deutsches Wort für Utopie ist Wunschdenken. Aber wir sind verantwortlich dafür, dass es Wunschdenken bleibt und dann eine wirkliche Chance hat im Jahre 1999 oder 2099.“ Ebenda, S. 571. 671 Ebenda, S. 571. 672 M. Walser: „Über Deutschland reden. Ein Bericht“ ..., S. 902. 673 M. Walser: „Über Deutschland reden. Ein Bericht“ ..., S. 902 674 M. Walser: „Vormittag eines Schriftstellers“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 954. 675 Ebenda. 247 land zum Produkt des „DM-Nationalismus“676 herabwürdigen, da sie, wie „mein Kollege“677 (G. Grass) nach wie vor seiner – Auschwitz missbrauchenden – Überzeugung anhängen, Auschwitz verschließe den Deutschen für immer die Möglichkeit, in einem Staat zu leben. Mit dem Missbrauch von Auschwitz hat es bei Walser offensichtlich eine Bewandtnis. Es wird von ihm entweder als eine Anschuldigung vorgebracht, sei der Adressat schon mehr („mein Kollege“) oder weniger („jemand“678 ) konkret angedeutet, oder aber als eine Abwehrstrategie, um diejenigen zurückzuweisen, die selbst Auschwitz missbraucht haben sollen. Es gibt indes auch Fälle, wo Walsers Kritiker den Spieß insofern umdrehen, als dass sie dessen Vorwürfe, Auschwitz werde missbraucht, dadurch zurückweisen, er selbst missbrauche Auschwitz noch schlimmer, da er sich als Opfer der geradezu ritualisierten Beschuldigungsstrategie stili- siere.679 Dies geschieht meist mit der schon erwähnten Konklusion, er strebe den Rollentausch zwischen Tätern und Opfern an, um dadurch die beschädigte kollektive Identität der Deutschen zu stabilisieren;680 Das halte ich für eine unzulässige Reduktion, die wiederum durch eine chronologische Kette der Argumente zu relativieren ist. Erste Anzeichen einer relativierenden Argumentation findet man schon in „Über den Leser“, wo Walser seine Vermutung äußerte, „BRD und DDR können aber über ihr jetziges Un-Verhältnis nur hinauswachsen, wenn unser historisches Be- 676 Ebenda. 677 Ebenda. 678 In „Erfahrungen beim Verfassen ...“ folgt gleich nach der Passage über die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung“ der Satz „Jemand findet die Art, wie wir die Folgen der deutschen Teilung überwinden wollen, nicht gut und sagt, so ermöglichten wir ein neues Auschwitz. Schon die Teilung selbst, solange sie dauerte, wurde von maßgeblichen Intellektuellen gerechtfertigt mit dem Hinweis auf Auschwitz.“ M. Walser: „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ ..., S. 45. 679 W. Schütte: „Nachlese. Annotate: ,Ein springender Brunnen‘ oder die Friedenspreis-Rede“. Text und Kritik, Martin Walser, VII, 2000, S. 116–128, hier S. 123. 680 Laut M. Lorenz fungiert Auschwitz für Walser als „eine unhintergehbare Gemeinsamkeit aller Deutschen [...] Das heißt, die Nation rekonstruiert sich nicht gegen Auschwitz (wie dies im rechtsextremen Spektrum versucht wird), sondern gerade über Auschwitz“. Dem verhelfe Walser, indem er „das Grauenhafte, das in Auschwitz im deutschen Namen geschah, zugleich entkonkretisiert und Auschwitz somit zur Chiffre reduziert“ [...] das deutsche Volk in seiner überwiegenden Mehrheit schuldlos“ spricht und „jegliche unliebsame Erinnerung und Einrede“ auschließt, „die die positive Identifikation mit der Nation durchkreuzen könnte.“ M.N. Lorenz: „Möglichkeiten einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung. Tod eines Kritikers im Werkkontext“. Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 2007, 59, S. 142–154, hier S. 153. 248 wußtsein ein Bedürfnis nach Überwindung des Un-Verhältnisses zeigt“.681 Sosehr ihm bekannt ist, dass ein freies682 Deutschland ein utopischer Wunsch sei, hängt er ihm weiterhin an. Der „Vaterleichnam“683 auf unserem Rücken verpflichte die Deutschen dazu, jenseits der Vergangenheitsverdrängung den „geistigen Raum [zu erkämpfen] für eine Entwicklung der beiden Deutschländer zueinander“.684 „Händedruck mit Gespenstern“ (1979) spricht diesbezüglich noch eine deutlichere Sprache. Auschwitz wird hier gar nicht missbrauchend reduziert, um die Deutschen zusammenzubringen, sondern steht genau an der Schwelle zwischen kulturkritischer Hoffnungslosigkeit und moralisch fundierter Hoffnung. Die Hoffnungslosigkeit kommt daher, dass der moderne Mensch kaum dazu geeignet sei, frei innerhalb der Gemeinschaft zu leben, die seinen Egoismus transzendiert; darum sei er kaum bereit, Auschwitz adäquat zu verarbeiten. Die Hoffnung sieht Walser in der minimalen Chance, dass die Deutschen ihre nationale Indisposition überwinden, indem sie die Bereitschaft zeigen würden, das Erbe von Auschwitz gemeinsam zu teilen. Vereitelt wird diese Chance meist dadurch, dass Auschwitz heutzutage eher dazu herbeigeschworen werde, alles zu diskreditieren, was selbst minimal mit der nationalen Transzendenz zu tun habe:685 „Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden.“686 Auschwitz ist mitnichten dazu da, um eine nationale Identität zu bilden (man sagt nicht, man werde sich der Nation widmen können, sobald man sich mit Auschwitz auseinandergesetzt hat),687 sondern gefragt und erwünscht ist ein derart freies deutsches 681 M. Walser: „Über den Leser – soviel man in einem Festzelt darüber sagen soll“ ..., S. 570. 682 Ein freies deutsches Individuum bedeutet in etwa so viel, das „seinen Sozialismus nicht von einer Siegermacht draufgestülpt bekommt, sondern ihn ganz und gar selber entwickeln darf; und eines, das seine Entwicklung zur Demokratie nicht ausschließlich nach dem kapitalistischen Krisenrhythmus stolpern muß.“ Ebenda, S. 571. 683 Ebenda. 684 Ebenda. 685 „Aber jede Tendenz zum Miteinander reizt bei uns den Verdacht auf Obsoletes. Wo Miteinander, Solidarität und Nation aufscheinen, da sieht das bundesrepublikanisch-liberale Weltkind Kirche oder Kommunismus oder Faschismus. Geschichtsabweisend ist der heutige Intellektuelle.“ M. Walser: „Händedruck mit Gespenstern“ ..., S. 627. 686 Ebenda. 687 Diese Distinktion trat wieder dank dem Gespräch mit I. Bubis zutage; dieser hat Walsers Satz dahingehend ausgelegt, dass „wir uns nicht den nationalen Fragen zuwenden können, wenn wir Auschwitz nicht verdrängen“, worauf ihm Walser deutlich zu machen versuchte, dass dies anders formuliert wurde. Walser will gesagt haben: Wenn man es als Nation gemacht hat, muss man es als Nation tragen. Wenn man dessen fähig sein wird, wird man sich auch den nationalen Fragen zu- 249 Individuum, das imstande wäre, gemeinsam mit anderen Deutschen (somit als Nation) das Erbe von Auschwitz zu teilen. Der Essay „Auschwitz und kein Ende“ fügt diesem Befund nur noch einige Nebenargumente sowie pointierte Formulierungen hinzu: Wir sind die Fortsetzung. Auch der Bedingungen, die zu Auschwitz führten [...] Sicher gibt es kein Verhalten, das dem, was in Auschwitz getan wurde, entspricht [...] Nicht dass wir ein Gewissen demonstrieren sollen, das wir nicht haben, aber wir sollten wenigstens zugeben: Auschwitz ist nicht zu bewältigen.688 Festgestellt wird somit ein direkter Zusammenhang zwischen der Bereitschaft anzuerkennen, was „über den Einzelnen hinausgeht“ und dem er „verpflichtet“ sei einerseits,689 und dem sozialen Handeln andererseits; diese Bereitschaft würde heute das gemeinsame (Mit)Teilen von Auschwitz möglich und die damalige Teilnahme an der „Auschwitz-Tötungs- Fabrik“690 unmöglich machen. Abwegig wäre heutzutage, die deutsche Gemeinsamkeit von Auschwitz, also von dem erfolgreichen Bewältigen der Vergangenheit abhängig zu machen; somit würde man nur den Fehler wiederholen, ohne den Auschwitz wohl in diesem Ausmaß nicht möglich gewesen wäre: Man habe Auschwitz betrieben „und dann auf Bewältigung umgeschaltet“, ohne in Betracht gezogen zu haben, dass beides untrennbar zusammengehört, einander potenziert: „Das Bewältigen gehört in jene Arbeitsteilung, die Auschwitz ermöglichte. Ins Delegiersystem.“691 Andererseits werden in einigen Texten dennoch die Grenzen Walsers Deutschheitsreflexion deutlich, sofern der Blick ausschließlich auf deutsche Aspekte dieses Themas gelenkt wird, ohne vergleichsmäßige Empfindsamkeit auch anderen Interessengruppen entgegenzubringen. Etwa traktiert der kurze Text „Zur Verjährung“ (1979) Walsers These, Prozesse mit den Kriegsverbrechern würden trotz ihrer Unumgänglichkeit der allgemeinen Exkulpierung vorarbeiten. Darum schickt er sich an, für die – politisch durchaus unkorrekte – Verjährung der Verbrechen692 zu plädieren; freilich eine Verjährung in dieser Zeit, also im Horizont der öffentlich rechtlichen Zeitrechnung, keineswegs in der moralischen Zeitrechwenden können, ohne befürchten zu müssen, dass man dabei (und dadurch) etwas verdrängen würde. Vgl. I. Bubis – S. Korn – F. Schirrmacher – M. Walser: „Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung“.., S. 443. 688 M. Walser: „Auschwitz und kein Ende“ ..., S. 632–633. 689 Ebenda, S. 633. 690 Ebenda. 691 Ebenda. 692 Ähnlich auch J. Magenau: Martin Walser. Eine Biographie ..., S. 372–373. 250 nung, in der seit Auschwitz kein einziger Tag vergangen sei.693 Diese Konklusion mag logisch sein, falls wir die Strafe für ein Mittel halten, „den Täter folgenlos zu entlasten. Er hat das Gefühl, er habe gebüßt, die Tat bleibt erst recht seine Tat, er kann dazu stehen, er hat ehrlich dafür bezahlt“.694 Sie ist berechtigt, wenn wir das Bestrafen des Schuldiggesprochenen kausal mit dem Freisprechen aller verbinden, die in diesem Moment nicht verurteilt werden, sich also unschuldig vorkommen können. Unberechtigt ist sie indes insofern, als sie nur die Konsequenzen auf der Täterseite berücksichtigt, anstatt in Betracht zu ziehen, inwiefern man der Opferseite gerecht wird. Eine schwache Empfindlichkeit für die Belange der anderen und mangelnde Bereitschaft, in Erwägung zu ziehen, dass das, was für uns erwünscht und legitim ist, den anderen nicht unbedingt zugute kommt,695 stellt zwar keinen zureichenden Grund dar, Walser des Antisemitismus zu beschuldigen. Sie ist dennoch als Beleg dafür zu verstehen, dass auch bei Walser die etwa in den Kapiteln zu Broszat und Grass ausführlich besprochenen Generationssemantiken zum Vorschein kommen, in denen eine doch nicht genügend reflektierte Verarbeitung der Generationsdispositionen festzustellen ist. Doch, und dies sei wiederholt, daraus pauschal auf Antisemitismusanfälligkeit zu schließen, würde seinem Werk nicht gerecht. Dazu abschließend ein frühes Beispiel, an dem deutlich wird, dass Walser von Anfang an mit Skepsis zu kämpfen hatte, ob man – als Deutscher – überhaupt zu einer von beiden Perspektiven aus annehmbaren Einstellung zu Auschwitz, ja einer „von der Seite der Opfer anerkennenswerte[n] und auf der Seite der Täter erträgliche[n] Empfindung“696 gelangen könne. Wie aus seiner weniger bekannten Vorrede zum Roman Die Nacht zu begraben, Elischa (1962)697 hervorgeht, machte ihm insbesondere zu schaffen, wie er mit der zwangsläufigen Asymmetrie zwischen den HolocaustÜberlebenden (hier Wiesel) und denjenigen, die den Krieg auf der Seite der Täter überlebt haben, umgehen soll. Die Frage wurde akut, wie die Vertreter der beiden Gruppen nach dem Krieg schreiben und wie sie zueinander stehen sollen. In seiner Vorrede unterstreicht Walser die prinzipielle Differenz zwischen beiden Gruppen. Er referiert zunächst Wiesels 693 „Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen. Es gibt eine Zeitrechnung, in der man nicht diskutieren muß, ob Verbrechen verjähren oder nicht.“ M. Walser, „Auschwitz und kein Ende ..., S. 631. 694 M. Walser: „Zur Verjährung“. In ders.: Ansichten, Einsichten ..., S. 611. 695 Vgl. W. Schütte: „Nachlese. Annotate: ,Ein springender Brunnen‘ oder die Friedenspreis-Rede“. Text und Kritik, Martin Walser, VII, 2000, S. 116–128, insb. S. 124–125. 696 M. Walser: „Auschwitz und kein Ende“ ..., S. 633. 697 E. Wiesel: Le Jour. Paris 1961; deutsch: Die Nacht zu begraben, Elischa. Trilogie. Mit Vorreden von Martin Walser und Francois Mauriac. Übers. von: C. MeyerClason. München – Esslingen 1962. 251 persönliche Haltung, die besagt, Auschwitz sei faktisch nicht zu überleben, denn das Leben nach Auschwitz sei nur um den Preis möglich, man würde vergessen, was passiert sei. Wenn man sich die Frage stelle, ob man überhaupt weiter leben könne, dann sei keine der „sozialhygienischen“ Errungenschaften (verzeihen, verarbeiten, sich abfinden) imstande, zu helfen. Diejenigen, die sich diese Frage nicht zu stellen bräuchten, weil sie am Kriegsende keine Schuld gegenüber denjenigen, die von ihnen überlebt würden, sondern nur Erleichterung empfänden, am Leben geblieben zu sein, seien nun unüberwindbar anders: Es wäre besser, sagt Elie Wiesel, der Überlebende trennt sich von denen, die nicht das erlitten haben, was er erlitten hat. „Er verpestet nur die Luft.“ Was ihm angeboten wird an Liebe, Sorge, Freundschaft, erreicht ihn nicht mehr. Will er das gutgemeinte Angebot annehmen, muss er lügen; muss er sein Überleben auf eine Lüge bauen, muss so tun, als habe er vergessen. Anders ist keine Gemeinschaft nötig.698 Angesichts der heutigen Anforderungen an das möglichst produktive und verständnisvolle Aufeinander-Öffnen der Erinnerungskulturen der Täter und Opfer wird Walser, der die gegenseitige Unübertragbarkeit beider diametral unterschiedlichen Erfahrungen affirmiert, kaum bestehen. Man sollte dennoch bedenken, wann und in welchem Kontext diese Sätze geschrieben wurden, und auch, dass er darin Wiesel paraphrasiert; indem er sich ihm anschließt, scheint er zunächst dessen scharfe Spitzen zu mildern. Wenn er folglich darüber nachdenkt, was daraus für ihn – der ja auf der Täterseite steht – resultiert, wie also nach Auschwitz ein Autor schreiben kann, der nicht zu den Opfern gehört, kommt er nicht umhin, sich Wiesel anzuschließen, weil er keine Möglichkeit hat, die unübertragbare Erfahrung adäquat zu ersetzen. „Wer nicht dabei gewesen ist, und doch schreiben will, wie es war, der wird leicht ein Stilist“, der unter Umständen große Literatur schaffen könne, doch bliebe er stets in seiner Manier hängen. Vom freien Schreiben könne keine Rede sein. „War einer aber dabei, dann verschlägt es ihm vielleicht die Sprache. Er wird ein Opfer und ein Zeuge. Wenn er schreibt, wird das, was er schreibt, eine Aussage.“ Allen anderen bleibe jenes „feine Vergnügen, alle Wirklichkeit im Stil aufgehoben zu sehen“ versagt. Was übrig bleibe, sei das ästhetisch minimalistische Programm der literarischen Mitteilungen („keine kulinarische Literatur“), das die dabei nicht Anwesenden zurückzuhalten habe, weil eben diese Literatur jetzt die einzige Literatur sei, „die notwendig 698 M. Walser: „Vorwort zu ,Die Nacht zu begraben, Elischa‘ von Elie Wiesel“. In ders.: Winterblume. Über Bücher von 1951–2005. Ed. M. Zingg. Eggingen 2007, S. 63–64, hier S. 64. 252 ist“.699 Wer hinter diesen Sätzen Walsers ein alibistisches Bedürfnis zu entdecken imstande ist, nicht danach zu fragen, was Auschwitz tatsächlich war, und stattdessen an Auschwitz vorbeizuschreiben,700 der scheint in Walsers Texten danach zu suchen, was man dort beim besten Willen nicht finden kann. 699 Alle Zitate ebenda. 700 Siehe die Interpretation von Lorenz, der betont, Walser sei Wiesels Kontraposition entgegengekommen, sofern er daraus schlussfolgern konnte, als Nicht-Opfer den Komplex Auschwitz nicht bearbeiten zu müssen, also nicht „über Auschwitz, ansonsten aber sehr wohl schreiben“ zu können, sich somit eine Entlastungstrategie zurechtzulegen, die später in „dem Umkehrschluss endete, dass die Opfer auch nicht in die deutsche Erinnerung (des Täterkollektivs) hineinzureden hätten.“. M.N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ ..., S. 400–401. 253 7 Hans Magnus Enzensberger Plakative Beiträge zum deutschen Problem sind bei Enzensberger rar. Sich nur an den Schlüsseldebatten und historischen Schwellenereignissen zu orientieren, würde jede Auseinandersetzung mit diesem Autor überflüssig machen. Weder zum „Historikerstreit“, noch zum „Mauerfall“, „Holocaustdenkmal“, noch zu den erhitzten literarischen Debatten (Walser – Bubis, „Anschwellender Bocksgesang“ etc.) gibt es von Enzensberger eine nennenswerte Stellungnahme.701 So ist sehr wohl J. Lau zuzustimmen, der behauptet, „die sterile Aufgeregtheit der bundesrepublikanischen Debatten um die deutsche Vergangenheit läßt ihn kalt“.702 Enzensbergers Schweigen zu diesen Themen ergibt sich aus einer Mischung von Bescheidenheit und Überheblichkeit; sein Schweigen zur Wende will er durch seine mangelhafte Kompetenz sowie langjährige Abneigung gegenüber der DDR erklärt wissen, die er „nicht ertragen“ konnte.703 Angesicht der politischen Debatten um 1990 befremdete ihn ihr „Mangel an produktiver Substanz, ihr regressiver Zug, ihr ressentimentgeladener Ton, ihr Unvermögen, auf eine neue Situation einzugehen“,704 bemerkenswert erschienen sie ihm allenfalls als „Symptome“.705 Dies war indes nicht immer so; die vierte Nummer des Kursbuch aus dem Jahr 1966 wurde ausschließlich der deutschen Frage gewidmet,706 was die Schlussfolgerung nahelegen könnte, als Thema war die deutsche Frage für ihn nur solange von Belang, als sie 701 „Mauerfall, Holocaust-Denkmal, Walser-Debatte – wer ein Wort von Deutschlands klügstem Dichter dazu sucht, wird keines finden. Nicht ohne Stolz hat er mir einmal erklärt, er habe nie eine Silbe zur Wiedervereinigung verlauten lassen“, hat in seinem Enzensbergerportrait P. Schneider geschrieben. Ders.: „Bildnis eines melancholischen Entdeckers“. In R. Wieland (Hg.): Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich. Über Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main 1999, S. 137–145, hier S. 143. 702 J. Lau: Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben. Berlin 1999, S. 336. 703 Auf die Frage, warum er sich zur Wiedervereinigung gar nicht geäußert habe, merkte er 1998 an: „Weil ich die DDR nicht gut genug gekannt habe. Ich war in fast allen sozialistischen Ländern, aber die DDR konnte ich wirklich nicht ertragen. Und deswegen habe ich mich auch nicht dazu geäußert.“ H.M. Enzensberger: „Die Nachwelt ist nicht meine Sache“. In ders.: Zu große Fragen. Interviews und Gespräche 2005–1970. Frankfurt am Main 2007, S. 79–90, hier S. 87. 704 H.M. Enzensberger: „Gangarten. Ein Nachtrag zur Utopie“. In ders: Zickzack. Frankfurt am Main 1997, S. 64–78, hier S. 74. 705 Ebenda. 706 Diese Nummer aus dem Februar 1966 beinhaltete insbesondere Enzensbergers „Katechismus zur deutschen Frage“, der in der siebten Kursbuchnummer von einigen bedeutenden deutschen Persönlichkeiten kommentiert wurde. 254 ein ungelöstes Problem war. Sobald sie, so etwa G. Fischer, ohne Kriegskonflikt gelöst worden sei, habe sie für ihn an Bedeutung verloren.707 Dieser Schlussfolgerung ist beizupflichten, wenn man die Reflexion der Deutschheit auf die Lösung der deutschen Frage reduziert. Die darin problematisierte deutsche Zweistaatlichkeit stellt indes nur eines der Aspekte der Deutschheitsreflexion, freilich wohl das schillerndste. Von deren anderen Aspekten konnte man sich jedoch nicht verabschieden, indem man etwa davon „Urlaub“708 zu nehmen oder der Bundesrepublik seinen Rücken zuzukehren versuchte. Vielmehr machte gerade dies das Besondere an Enzensbergers Deutschheitsreflexion aus, dass er nämlich stets intensiv und intern und zugleich gleichsam extern und gewollt interesselos dem Thema nachgegangen ist. Man muss darin nicht gleich die stilisierte Geste eines Weltmanns suchen, der sich aus der Distanz über die deutsche Provinz erhebt, obwohl manche Attitüden Enzensbergers solche Stellungnahmen geradezu provoziert haben;709 andererseits darf nicht verschwiegen werden, dass Enzensberger sehr wohl um das Potenzial der Opposition deutsch-mondän (etwa als die deutsch-provinzielle Unbeweglichkeit, Gesinnungsfixierung, Prinzipiensturheit versus mondäne Beweglichkeit, Kunstorientierung, intellektuelle Flexibilität) wusste, und dies – insbesondere seit den 1980er Jahren – zu seinen Gunsten einzusetzen nicht gezögert hat.710 Dieses „Sowohl-als-auch“, das je nach Sympathien oder Antipathien für, wie auch gegen Enzensberger zur Geltung gebracht werden kann, begleitete ihn von Anfang an; der junge Enzensberger war nicht nur ein radikaler Kritiker politischer und gesellschaftlicher Zustände in dem aus seiner damaligen Sicht skandalös restaurierten Nachkriegsdeutschland, der diesem darum, so oft er konnte, seinen Rücken gekehrt hat,711 nicht nur ein Dichter und Denker, der in seinen Anfängen die 707 Vgl. G. Fischer: „Hans Magnus Enzensberger und die ,deutsche Frage‘ vor und nach 1989“. In Ch. Magerski – R. Savage – Ch. Weller (Hgg.): Moderne begreifen. Zur Paradoxie eines sozioästhetischen Deutungsmusters. Wiesbaden 2007, S. 121–132. 708 Ein Jahr nach dem „Katechismus“ kehrte Enzensberger mit der Abhandlung „Versuch, von der deutschen Frage Urlaub zu nehmen“ zum Thema zurück. 709 Beispiele dazu siehe: M. Joch: Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger. Heidelberg 2000, S. 384. 710 Ausführlich geht auf diese Strategie M. Joch ein, dessen Studien auch die in den Klammern angeführten Zuschreibungen entnommen sind; siehe insbesondere: M. Joch: „Anreger und Aufreger. Wie Hans Magnus Enzensberger überrascht und in welchen Medien“. In: M. Joch, Y-G. Mix, N.C. Wolf (Hgg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009, S. 77–109. In kürzerer und anders pointierter Weise dann in: „Medien der Flexibilität. Zu Enzensberger“. In: K-M. Bogdal, H. Tommek (Hgg.): Transformationen des literarischen Feldes der Gegenwart. Bielefeld 2012, S. 245–260. 711 Bis 1979, als er in München eingezogen ist, hatte Enzensberger im Ausland wohl mehr Zeit verbracht als in Deutschland. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre leb- 255 Kunst der mit Verbrechen schlichtweg identifizierten Macht gegenübersetzte, sondern zugleich einer, dem Deutschland sehr wohl am Herzen lag, weshalb er es aus allen Kräften geistig „internationalisierte“. Also nicht nur einer der „angry young man“, ein nachkriegsdeutscher Heine und Brecht in einem,712 sondern auch ein Kulturvermittler par excellence. Da Enzensberger nicht müde wurde, ins deutsche Kulturleben all das an Kultur „einzuschmuggeln“, was Deutschland versäumt hat, war er oft imstande, im Vergleich zu anderen früher und schärfer eine gewisse Relativität, eine zeitliche und territoriale Beschränktheit davon zu erblicken, was sich in Deutschland als neu, modern oder auch universal gab. Diese Ambition verfolgten beide „internationalen“ Projekte Enzensbergers der 1960er Jahre, die Anthologie Museum der modernen Poesie713 und die Zeitschrift Kursbuch. In der Anthologie vermittelte Enzensberger dem deutschen Publikum moderne Weltpoesie (insgesamt 352 Gedichte in 16 Sprachen714 ), im Kursbuch kombinierte er die heimische Kulturkritik (außer ihm vertreten durch etwa K.M. Michel, U. Johnson, M. Walser, P. Weiss) mit erfrischenden Seitenblicken auf die damalige ausländische intellektuelle Elite (etwa Sartre, Beckett) und neuen und/oder noch nicht etablierten Themen (Antikolonialismus, Poststrukturalismus, Kybernetik etc.) und Namen (F. Fanon, M. Foucault). 7.1 Jenseits der Schablonen Die für Enzensbergers Deutschheitsreflexion zentrale „Sowohl-als-auch“Denkintention gebot es ihm, dem Thema stets möglichst mit Überblick zu begegnen, ohne über dessen problematische Seiten hinwegzusehen: Er wollte sich stets, wenn man seine Selbstauslegung übernimmt, eher als te er lange in den USA und in Mexiko, an deren Ende verbrachte er zwei Jahre in Norwegen, dann ein Jahr in Italien, folglich war er für längere Zeit wieder in Norwegen. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ist ein Aufenthalt in den USA zu erwähnen, den Enzensberger demonstrativ beendet hat, um nach Kuba zu gehen, in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verbrachte er wiederum längere Zeit in den USA. 712 Brecht (insbesondere der frühe Brecht der Hauspostille) und Heine stellten die Tradition dar, der Enzensberger in den frühen 1960er Jahren zugeordnet wurde. Siehe z.B. die oft zitierten Rezensionen von A. Andersch. J. Schickel: Über Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main 1970, S. 9–13, 68–69. 713 Museum der modernen Poesie, eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1960. 714 Gedichte werden jeweils im Original und in der deutschen Übersetzung präsentiert. Nicht ohne Interesse ist auch, dass vier tschechoslowakische Lyriker vertreten sind: F. Halas, J. Wolker, V. Nezval und J. Orten. 256 Teil des Problems denn als Teil der Lösung verstehen.715 Zweierlei Gefahr war somit zu meiden: einerseits etwas partikular Deutsches darin zu erblicken, was vielmehr im allgemeinen Rahmen zu lösen wäre, andererseits verallgemeinernd vom Deutschen zu abstrahieren, wo vielmehr eine deutsche Problemkonstellation gefragt sei. Eine der daran anknüpfenden Fragestellungen würde in der Thematisierung dessen bestehen, wie sich am Hintergrund dieser proklamierten Intention Enzensbergers die Reflexion der Deutschheit in dem gegebenen Rahmen etwa seit den 1960er Jahren entwickelte, und zwar im Spannungsfeld der Textaussagen einerseits und der Selbstauslegungen, Selbstkommentare und Selbstpositionierungen Enzensbergers andererseits. Dies in der Hoffnung, dem an sich unsteten und bruchvollen Entwicklungsprozess Enzensbergers gerechter zu werden, als es in der freilich naheliegenden, doch schablonenhaften Gliederung in zwei unterschiedliche, ja konträre Schaffensphasen der Fall ist: Erstens in die kritisch-nonkonformistische Phase eines jungen Linken, die etwa 1968–69 zu Ende gegangen sei, als Enzensberger sein amerikanisches Stipendium zurückgewiesen habe, um die kubanische Anabasis anzutreten. Und zweitens in die späte Phase eines die danach folgende Desillusion lange verarbeitenden linken Renegaten, der den meisten seiner einstigen Überzeugungen und Prinzipien abgeschworen, und – nun vollends unberechenbar, für manche sogar zynisch – in den 1980er Jahren mit der Bundesrepublik seinen Frieden geschlossen, ja zum Teil sogar die konservative Tendenzwende mitgemacht habe.716 Eben darin habe Enzensberger sich selbst verraten, indem er opportunistisch zum unkritischen Verteidi- 715 Dieser Gedanke kommt bei Enzensberger wiederholt vor: Etwa stellt er in „Das Ende der Konsequenz“ (1981) zunächst fest, „Je weniger eine Lösung in Sicht ist, desto offenkundiger dürfte die Tatsache geworden sein, dass es niemanden gibt, der nicht ein Teil des Problems wäre“, um zu schlussfolgern: „Je mürber die eigene Identität, desto dringender das Verlangen nach Eindeutigkeit. Je serviler die Abhängigkeit von der Mode, desto lauter der Ruf nach grundsätzlichen Überzeugungen.“ H.M. Enzensberger: „Das Ende der Konsequenz“. In ders.: Politische Brosamen. Frankfurt am Main 1982, S. 7–30, hier S. 11. In einem 1993 geführten Gespräch, treffend als „Die Schwierigkeiten der Deutschen mit sich selbst“ betitelt, meinte er: „Ich habe nichts gegen gute Menschen. Was mich an ihnen stört, ist nur, dass sie sich immer nur als Teil der Lösung sehen und nie als Teil des Problems. Es ist doch unmöglich, etwas über den Rassismus zu sagen, ohne dass man zumindest den Versuch macht, den Rassisten in sich selbst ausfindig zu machen. Das ist doch nicht so schwer.“ H.M. Enzensberger: „Die Schwierigkeiten der Deutschen mit sich selbst“. In ders.: Zu große Fragen ..., S. 169. 716 So hat ihn zum Beispiel K. Sontheimer interpretiert, vgl.: Ders.: Zeitenwende? Die Bundesrepublik Deutschland zwischen alter und alternativer Politik. Hamburg 1983, S. 150ff. 257 ger der Bundesrepublik und ihrer „Normalität“ und „Durchschnittlichkeit“ geworden sei.717 Diese Vorstellung, so treu sie den voraussehenden Reaktionen auf der Linken sowie der Rechten nachgezeichnet ist (auf der Rechten glaubte man Enzensberger nach seinem Kurswechsel gleich eingemeinden zu können; die Linke lastete ihm die ihrerseits enttäuschenden Ergebnisse seines Lernprozesses als eine unverbindliche Unberechenbarkeit an), muss gleich aus mehreren Gründen zurückgewiesen werden: Auf der ersten Ebene, weil sie unreflektiert die „Entweder-oder“-Denkstruktur kopiert, sofern sie die Schablone der sich jeweils negierenden einzelnen Phasen der politisch-kulturellen Entwicklung der Bundesrepublik (Stunde Null, Restauration, Revolution, Tendenzwende) mit der schwarz-weißen Vorstellung der jeweils sich negierenden Generationsabfolgen (politische, nicht politische, politische) und schließlich mit der dichotomischen linksrechts Struktur verschränkt, um alle Wechselkurse recht mechanisch in ihre Schablonen einzufangen (die kritischen 1960er Jahren wurden von den systemopportunistischen 1970er und 1980er Jahren abgelöst, nach der Ära der linken folgte die Epoche der rechts(liberalen) Intellektuellen, die politische Generation wich der skeptischen usw.). Einmal mehr kann diese Gliederung nicht überzeugen, wenn man in Betracht zieht, wie hartnäckig Enzensberger bereits seit den frühen 1960er Jahren gegen das avantgardistische Geschichtsverständnis argumentierte (stichwortartig: Wer vorne ist, ist im Recht; das Neue ist grundsätzlich besser als das Alte, und zwar in der Politik wie auch in der Kunst). Aus dem 1962 publizierten Essay Aporien der Avantgarde718 geht seine distanzierte Stellung zu der avantgardistischen Obsession, das eben Erreichte möglichst zu überwinden, durchaus eindeutig hervor. Doch bereits aus der Absage an das Projekt der ästhetisch-politischen Avant- garde719 eine konservative Wendung zu ewig Gültigem oder aus tiefer 717 Zu den einzelnen Belegen vgl. W. Kraushaar: „Vexierbild. Hans Magnus Enzensberger im Jahre 1968“. In: D. Petersdorff: Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik. Heidelberg 2010, S. 45–64, insb. S. 61. 718 H.M. Enzensberger: „Die Aporien der Avantgarde“. In ders.: Einzelheiten II. Poesie und Politik. Frankfurt am Main 1962, S. 50–80. 719 Grundsätzliche Zweifel formulierte Enzensberger zunächst im Essay Aporien der Avantgarde im Jahre 1962: „Fragwürdig ist nicht nur seine industrielle Verwertung, sondern das en avant, mit dem sie antritt, überhaupt. Wer nämlich, außer ihr selber, entscheiden soll, was zu jeder Zeit „vorne“ ist, das bleibt offen [...] Was vorn ist, weiß niemand, am wenigsten, wer unbekanntes Terrain erreicht hat. Gegen diese Ungewißheit gibt es keine Versicherung. Mit der Zukunft kann sich nur einlassen, wer dem Preis des Irrtums zu erlegen bereit ist [...] Nicht anders als der Kommunismus in der Gesellschaft will Avantgarde in den Künsten Freiheit doktrinär durchsetzen. Ganz wie die Partei glaubt sie, als revolutionäre Elite, und das heißt als Kollektiv, die Zukunft für sich gepachtet zu haben. Aufs Bestimmteste verfügt sie über das Unbestimmbare. Willkürlich diktiert sie, was morgen gelten soll, und 258 Vergangenheit zu Bergendem herauslesen zu wollen, wie das oben genannte Schema nahelegt, wäre kurzsichtig. Bei der Wahl zwischen zwei Alternativen entscheidet sich Enzensberger in der Regel gegen den Zwang, sich zwischen zwei Alternativen entscheiden zu müssen,720 indem er darauf hinweist, dass zwei gegensätzliche Alternativen in ihrer Radikalität meist allenfalls nur zwei Seiten desselben Irrtums sind. Daher ist es ratsam, Enzensberger aus dem Korsett der „Entwederoder“-Strukturen zu befreien. Seinem Denken adäquater sind Metaphern einer unlinearen „Zick-Zack“721 -Bewegung, die auch das „Gleichzeitige des Ungleichzeitigen“ erfassen können. Enzensberger, so könnte man pointiert sagen, kultivierte seine Fähigkeit, sich prinzipiellen Zweifeln auszusetzen, ihm behagten immer eher Fragen722 als Antworten.723 unterwirft sich zugleich, diszipliniert und willenlos, dem Gebot einer Zukunft, die sie selber verhängt. Sie proklamiert als ihr Ziel die totale Freiheit und überläßt sich widerstandslos dem historischen Prozess, der sie von eben dieser Freiheit erlösen soll.“ Ebenda, S. 61, 63, 67. Zwanzig Jahre später verbindet Enzensberger den Pathos der Avantgarde mit der Konsequenz, deren Anhänger sehr wenig halten von dem Unterschied zwischen „Theorie und Praxis. Gerade dort, wo kein Weg mehr weiterführt, wollen sie ihre Idee in die Tat umsetzen [...] Wo Konsequenz nur um den Preis der Barbarei oder der Selbstverstümmelung zu haben ist, kommt sie mir als ein verabscheuungswürdiger Anachronismus vor.“ Ders.: „Das Ende der Konsequenz“. In ders.: Politische Brosamen. Frankfurt am Main 1982, S. 25. 720 Vgl. Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation über den Anachronismus (1996), wo Enzensberger über die nicht-lineare Zeitauffassung meditiert. Er geht bis zur querelle des Anciens et des Modernes aus dem Jahre 1687 zurück, um zu zeigen, welch blendende Karierre in Kultur und Politik jener Kampf erlebte „zwischen dem Althergebrachten und dem Umwälzend Neuen, zwischen Tradition und Moderne“, bis er zur „Selbstverständlichkeit wurde. Dagegen führt er den Hinweis darauf ins Feld, dass „unsere somatische und psychische Ausstattung [...] unüberwindlich alt [ist, A.U], ganz zu schweigen von dem, was unser Bewußtsein ausmacht. Ebenso vielschichtig ist die kulturelle Evolution; auch hier ist der Anteil der jüngeren Bestände relativ gering. Der Verstoß gegen den Zeitablauf“, den der Diskurs der Moderne verleugnet, ist also nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das jeweils Neue schwimmt nur als dünne Oberflächenschicht auf einer undurchsichtigen Tiefsee von latenten Möglichkeiten. Der Anachronismus ist kein vermeidbarer Fehler, sondern eine Grundbedingung der menschlichen Existenz.“ Ders.: „Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation über den Anachronismus.“ In ders.: Zickzack. Frankfurt am Main 1997, S. 9–32, hier S. 11 und 14. 721 Ebenda. 722 Vgl. H. Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Berlin 2011, S. 249–250. 723 Nur der Vollständigkeit halber seien die Charakteristiken erwähnt, die der Ambivalenz von Enzensberger nahe kommen: Es geht um allgemeine Stellungnahmen, dass Enzensberger „politischer Artist und artistischer Politiker“ sei, der „eine windungsreiche, aber letztendlich doch geradlinige große Gratwanderung zwischen res et verba, Inhaltsbezogenheit und Artistik, Engagement und Kunstbewußtsein unternommen“ habe“. H.H. Hiebel: „Hans Magnus Enzensberger“. In H. Steinecke: 259 7.2 „Harlekin am Hof der Scheinrevolutionäre“: Enzensberger und die Studentenbewegung Andererseits ist unumstritten, dass all diese Charakteristiken nicht nur an den Texten, sondern auch an den Selbstauslegungen von Enzensberger abgelesen worden sind, durch die dieser seine Schritte in seinem Interesse zu beglaubigen suchte. Um dies exemplarisch an seiner umstrittenen Rolle bei der Studentenrevolte darzulegen: Wenn etwa H. Marmulla schreibt, Enzensberger sei mehr als nur teilnehmender Beobachter gewesen, so sehr ihm fern gelegen habe, „eindeutige Mobilisierungsparolen auszurufen“,724 so steht die erste Satzhälfte im Widerspruch zu der – meist nachträglich produzierten – Selbstauslegung von Enzensberger, der sich die Beobachterrolle eines selbst in explosivsten Momenten der Revolte auf Sachlichkeit Bedachten zuschreibt, ja sich als einer schildert, der gegenüber den Illusionen der Studenten seine Freiheit nicht verloren habe,725 zwar nicht ganz außerhalb des Geschehens stehen wolle, doch meist nur, um zu überprüfen,726 was diese in der deutschen Geschichte einmalige Situation hergeben könne. Kein Zufall, dass Enzensberger bei seinen Selbstauslegungen oft eben den Altersunterschied zwischen ihm und den Studenten geltend macht,727 um seine Position zu legitimieren, so sehr er darum weiß, Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 785–800, hier S. 785; Hinweise auf seine Widersprüchlichkeit, die in sich „Aufklärung und Skepsis, Engagement und Formalismus, Protest und Klage, Hoffnung und Angst, Aggression und Resignation, Aktivismus und Artistik, Didaxe und Ästhetik“ vereinige: T. Buck: „,Armes reiches Deutschland‘ Hans Magnus Enzensbergers Schreiben über das eigene Land“. In G. Langguth (Hg.): Die Intellektuellen und die nationale Frage. Frankfurt am Main – New York 1996, S. 230–251, hier S. 231; Vergleiche, dass Enzensberger in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre es geschafft hat, „Bucharin und Lord Byron“ in einem zu sein (P. Demetz), zit. nach: J. Lau: Hans Magnus Enzensberger ..., S. 267, minimal zwei Musen hatte, die eine mit strähnigem Haar und Megaphon, die andere glaubte Sätze sagen zu müssen wie „Das Mögliche hat einen leichten Schlaf neben mir“. D. von Petersdorff: „Im Nachhall der Systeme. Literatur und Anthropologie. Wieland, Henscheid, Enzensberger“. Neue Rundschau, 1996, 2, S. 35–49, hier S. 44. 724 H. Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Berlin 2011, S. 267. 725 Vgl. H.M. Enzensberger: „Spaziergang durch die Zeit“. In ders.: Zu große Fragen ..., S. 56. 726 „Ich habe mich damals experimentell-positiv zu dieser Bewegung verhalten, sagen wir so. Ich wollte probieren, was man damit machen kann. Solche Möglichkeiten sind in Deutschland selten genug,“ erklärte Enzensberger im Jahre 1979: in R. Grimm (Hg.): Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main 1984, S. 116–138, hier S. 125. 727 2007 hat er seinen Beitrag zur Revolte 1968 wie folgt eingeschätzt: „1968 galt ich als Enfant terrible der Linken. Das ist ulkig, denn in diesem Jahr war ich zehn Jahre älter als die militanten Linksextremen aller Mikroorganisationen [...] Die Ethnologen sprechen von ,teilnehmender Beobachtung‘. In genau dieser Haltung war ich in 260 dass ihm dieser Vorteil unverdient zugefallen sei.728 Als Gnade wollte er seine frühe Geburt gegenüber den Studenten nicht verstanden wissen, im Übrigen wie Grass die Gnade der späten Geburt auch, so sehr sie für beide undiskutabel waren. Um es auf den Punkt zu bringen: Entgegen der damaligen Charakteristik seiner Position, etwa der bekanntesten, eines zugereisten Harlekin „am Hof der Scheinrevolutionäre“729 (J. Habermas), legt sich Enzensberger seine damaligen Aktivitäten derart zurecht, um sowohl seinen späteren Wechselkurs, wie auch das intellektuelle Recht darauf, den Kurs gar wechseln zu können, zu beglaubigen. Seine Selbstauslegung soll die Kontinuität in der Wandlung seines Entwicklungsprozesses legitimieren. Obwohl Enzensberger zugab, dass er sich an dem Tumult der schwerlich auf einen Begriff zu bringenden revolutionären Ereignisse kaum orientiert hatte730 und „in den theatralischen Happenings von 1968 [gesteckt hatte, A.U.]“,731 setzte er sich nachträglich mithilfe der Generationsargumente über die Studenten hinweg, da er, so sein Argument, immerhin zehn Jahre älter gewesen sei als die Wortführer der Studenten (etwa R. Dutschke oder P. Schneider), und ganz andere Lebenserfahrungen mit totalitären Regimen gehabt habe als die Studenten, die erst am Kriegsende oder sogar nach dem Krieg geboren seien. Es sei jedoch hinzugefügt, dass seine Rolle bei der „Studentenrevolution“ nicht eindeutig zu klassifizieren ist, Enzensbergers Einstellung war nicht eine prinzipielle, sondern eine kontextuelle:732 Wagte es jemand, die prinzipielder Bewegung dabei. Ich war Beobachter.“ G. Anquetil – F. Armanet: „Les débats de lʼObs. Le plaisir de dire no“. Le Nouvel Observateur, 20.9.2007, zit. nach. W. Kraushaar: „Vexierbild. Hans Magnus Enzensberger im Jahre 1968“ ..., S. 46. 728 H.M. Enzensberger: „Amerikanismus wider Willen“ (Gespräch mit H. D. Osterle, 22.7.1983). In H.M. Enzensberger: Zu große Fragen ..., S. 236. 729 J. Habermas: „Die Scheinrevolution und ihre Kinder – Sechs Thesen über Taktik, Ziele und Situationsanalysen der oppositionellen Jugend“. Frankfurter Rundschau, 5.6.1968; der: „Scheinrevolution unter Handlungszwang“. Der Spiegel, 24, 1968, S. 57–58, hier S. 58. 730 Es sei ausgeschlossen gewesen, alles zu verstehen, da die Widersprüche offensichtlich gewesen wären. Da jeder Versuch, es vernünftig zu bearbeiten, um Ideologisierung nicht habe herum kommen können, könne die Erinnerung an das Jahr allenfalls eine Collage sein. So erinnerte sich H.M. Enzensberger im Jahre 1985. Ders. „Erinnerungen an einen Tumult – Zu einem Tagebuch aus dem Jahre 1968“. In H.L. Arnold (Hg.): Hans Magnus Enzensberger. München 1985, S. 8. Dazu vgl. ähnliche Statements in Tumult. H.M. Enzensberger: Tumult. Berlin 2014, S. 219, 236. 731 H.M. Enzensberger: „Wie ich fünfzig Jahre lang versuchte, Amerika zu entdecken“. In R. Wieland: Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich. Über Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main 1999, S. 96–114, hier S. 105. 732 In der Sekundärliteratur hat sich dafür die Bezeichnung Libero eingebürgert, vgl. W. Lepenies: „Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich“. In R. Wieland (Hg.): Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich ..., S. 25; oder W. Kraushaar: „Vexierbild. Hans Magnus Enzensberger im Jahre 1968“ ..., S. 57. 261 le Nützlichkeit des revolutionären Prozesses in Frage zu stellen, konnte Enzensberger in der Regel nicht umhin, die Studentenrevolte zu verteidigen. Sobald man sie aber unkritisch sah, trat er als ihr Mentor und Kritiker auf den Plan, der nicht erst im Rückblick, sondern schon damals, also Ende der 1960er Jahre keinen Hehl aus der Lächerlichkeit und Überspanntheit mancher revolutionären Pläne gemacht haben will. Von der unumstrittenen Attraktivität der Generationsargumente zehrt er also einerseits, um seine Zugehörigkeit zu der prinzipiell nützlichen Studentenbewegung hervorzuheben, andererseits, um seinen Abstand zu einigen überspannten revolutionären Plänen und Schritten deutlich zu machen. In Enzensbergers Selbstreflexion verfestigt sich somit das abgerundete Bild eines Menschen, der weder etwas zu widerrufen, noch zu revidieren oder zu bereuen hat, weil er neben seinem Scharfsinn und seiner immensen Belesenheit auch auf das Potenzial der Generationssemantik zurückgreift. Dank dessen präsentiert er sich als ein Autor, der seine inneren Selbstwidersprüche nicht scheut, sie vielmehr „mit Genuss kultiviert“733 . Dies ergibt jene seltene Mischung aus chamäleonisch unsteten,734 doch gewissermaßen kontinuierlichen Selbstbildern, die getauscht, fallen gelassen oder verrückt werden können, jenseits der ideologischen Grundsätze, Prinzipien und Programme. Germanistische Sekundärliteratur, soweit ich sehe, neigt bis auf einige Ausnahmen735 dazu, Enzensbergers Selbstauslegungen zu folgen, ja sie gewissermaßen zu kanonisieren. Metzlers Monographie spricht Enzensberger jeder Revisionspflicht frei (die Altlinke habe im Büßerhemd und Agitprop abgeschworen, um einer neuen Innerlichkeit anzuhängen, man habe von Enzensberger keine Zeile der Selbstkritik vernommen, und warum sollte man es eigentlich?736 ) mit folgender Begründung: Warum auch, bestand seine Literaturtheorie und -praxis doch selten in dem, was andere aus seinem Werk herauslesen wollten: Weder propagierte er den „Tod der Literatur“ noch postulierte er gar die totale Produktionseinstellung oder die zum Parteidokument reduzierte Reportage. Enzensberger stellte lediglich die bescheidene Frage nach der gesellschaftlichen Funktion bürgerlicher Litera- 733 J. Stromšík: „K esejům Hanse Magnuse Enzensbergera“. In H.M. Enzensberger: Eseje ..., S. 129 (übersetzt vom Verfasser). 734 „Enzensberger, dieses hochtalentierte Chamäleon der deutschen Literatur, hat die verschiedenen Phasen der deutschen Literaturgeschichte von der Gruppe 47 bis zur Gegenwart exemplarisch durchlaufen und ist trotz seiner vehementen Politisierung seinem zuweilen irritierenden Genius nicht untreu geworden.“ K. Sontheimer: Zeitenwende? ..., S. 150. 735 Zu ihnen sind insbesondere die Beiträge von M. Joch zu zählen. 736 Siehe F. Dietschreit – B. Heinze-Dietschreit: Hans Magnus Enzensberger. Stuttgart 1986, S. 106. 262 tur in der politisch brisanten Phase der spätsechziger Jahre, die einige als „Kulturrevolution“ mißdeuteten.737 Enzensberger wird hier vor dem – oberflächliche Lesarten der 1950er und 1960er Jahre bestimmenden – Bedürfnis in Schutz genommen, aus seinen frühen Texten zu viel „Parteilichkeit und politischer Eindeutigkeit“ herauszulesen, wobei, und hier scheint man schon in Enzensbergers Fußstapfen getreten zu sein, zunächst zu fragen sei, ob dieser Autor wirklich Entscheidungen getroffen, oder mit ihnen vielmehr nur gespielt habe.738 Diese aus dem Spannungsfeld der Textlektüre und der Selbstauslegungen gewonnenen Zweifel wurden nach und nach zum zweifellosen Eindruck, Enzensberger wäre den Revolutionäreren unendlich überlegen gewesen, den viele zu übernehmen bereit waren. Ich bringe nur ein freilich subjektives Beispiel solcher Lesart dar: In der im „Kursbuch“ abgedruckten Debatte zwischen R. Dutschke, B. Rabehl und Ch. Semler (Oktober 1967)739 habe Enzensberger, so etwa die Lektüre von L. Stockinger, mitnichten als ein Kopf der Studentenbewegung agiert, sondern als distanzierter Fragensteller, „der so lange nachhakt, bis sich die Vorstellungen der drei führenden Köpfe der Westberliner Studentenbewegung so weit konkretisiert hatten, dass deren Absurditäten sich von selbst enthüllten“.740 Die Pointe verrät Stockinger gleich, in dem er sich dazu bekennt, dieses Gespräch nicht 1968, sondern erst 1976 gelesen zu haben, so dass nun nachvollziehbar wird, wieso er „seinen“ (!) Autor geradezu kongenial verstanden hat, wie übrigens alle, die genug „lesen konnten“, um letztendlich im Schlusswort Enzensbergers die „den naiven Dogmatismus der Interviewten“741 zurückweisende Stimme einer kritischen Skepsis zu identifizieren. Auch trotz wiederholter Lektüre im Jahre 2015 leuchtet mir nicht ein, wie dieses Schlusswort742 einen deutlichen Abstand von seinen Gesprächspart- 737 Ebenda. 738 Siehe A.U. Sommer: „Skepsis und Zustimmungsverweigerung. Hans Magnus Enzensberger und die Philosophie“. In D. von Petersdorff (Hg.): Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik ..., S. 86. 739 „Ein Gespräch über die Zukunft mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler“. Kursbuch, 14, 1968, S. 146–174. 740 L. Stockinger: „(Meine) Enzensberger-Lektüren von den sechziger Jahren bis in die Gegenwart“. In D. von Petersdorff (Hg.): Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik ..., S. 176. 741 L. Stockinger: „(Meine) Enzensberger-Lektüren von den sechziger Jahren bis in die Gegenwart“ ..., S. 176. 742 „Unser Gespräch hat den Verlauf des Zirkels genommen. Wir sind von Hypothesen ausgegangen und sind bei einer Hypothese angekommen. Die Zukunftsvorstellungen, die unterwegs zum Vorschein gekommen sind, scheinen mir lückenhaft. Das ist kein Wunder. Ein lückenloses Denken über die Zukunft ist nicht möglich. Das gehört zu den Risiken eines solchen Gesprächs. Sein Nutzen könnte darin bestehen, dass diese Lücken erkannt werden.“ Zit. nach: Ebenda, S. 176–177. 263 nern signalisieren soll, wie hier so unumstößlich behauptet wird. Zwar hält sich Enzensberger mit der revolutionären Begeisterung vergleichsmäßig zurück und nimmt, indes nur rhetorisch, den Standpunkt eines Au- ßenstehenden743 ein, doch auch er kommt nicht umhin, für die in Berlin kaum überwindbaren Probleme (überalterte Stadt, viele Bürokraten, frustrierte Frauen, wenig radikale Arbeiter, veraltete Industrie, von der Gesellschaft isolierte Universität)744 eine ahumane Lösung in Aussicht zu stellen (ein Großteil der Bürokraten wird nach Westdeutschland emigrieren müssen; wer die revolutionäre Umerziehung verweigert, wird auswandern müssen, eine Räterepublik in Westberlin, die völlig abgeschnitten von der BRD wäre etc.).745 7.3 Generationssemantik Ein Blick auf Enzensbergers Selbstauslegungen, Selbstthematisierungen und Selbstzuschreibungen macht deutlich: Enzensberger situiert sich an der Schwelle zwischen den Generationssemantiken der 68er und denen der Skeptiker. Darum versteht er sie nicht als geschlossene Einheiten, sondern als komplementäre und ineinander übergehende. Die skeptische Semantik behagt ihm, sobald er mit der unkritischen Sicht der Linken konfrontiert wird. Auf die Generationssemantik der 68er greift er zurück, wenn es gilt, trotz aller Kritik im Einzelnen die allgemeinnützliche Rolle der Studentenbewegung geltend zu machen, dank der die Bundesrepublik für ihn wieder bewohnbar geworden sei.746 Diese intergenerationelle Freiheit kommt erst recht seinem Mut entgegen, gegen den Strom zu schwimmen, seinem mehrmals proklamierten Eigensinn, sich allen (dikta- torischen)747 Zwängen der Kategorien, Gruppen, Programme, Dogmen und Ideologien möglichst zu entziehen. Wohl auch dank ihnen ist seine 743 „ Ein Gespräch über die Zukunft mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler“. Kursbuch, 14, 1968, S. 146–174, hier S. 162. 744 Ebenda, S. 163–166. 745 Ebenda, S. 171. 746 Vgl. H.M. Enzensberger: „Wie ich fünfzig Jahre lang versuchte, Amerika zu entdecken“ ..., S. 105. 747 „Ich reagiere auf jede Form von diktatorischer Autorität mit einer geradezu irrationalen Abwehr. Ich kann nicht anders reagieren. Ich will sofort weg. Warum? Weil die ersten sechs oder sieben Jahre meines bewussten Daseins auf diese Weise geprägt wurden, weil ich herumkommandiert wurde, von irgendwelchen Deppen, die dauernd rumbrüllten. Das wird man nicht so leicht los.“ „Zwischen Wölfen und Wolken. Hans Magnus Enzensberger im Gespräch mit Jan Bürger und Dirk von Petersdorff“. In D. von Petersdorff (Hg.): Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik ..., S. 191. 264 intellektuelle Biographie so reich an Paradoxen und Widersprüchen, aus denen er paradoxerweise stets ungeschoren davonkommt. Nur um diejenigen zu nennen, bei denen die Generationssemantiken am deutlichsten zum Tragen kommen:748 1990, als man in Deutschland eher geneigt war, die Nachkriegszeit mit ihren Gesinnungsmustern zu verabschieden, hat Enzensberger Europa in Ruinen749 herausgegeben, um den nun zur postmoralischen Tagesordnung übergehenden Deutschen die Lage unmittelbar nach dem Kriege in Erinnerung zu rufen. Der Perspektive der ausländischen Nachkriegsbeobachter folgend bringt er maximales Verständnis für die lebensnotwendige Perspektivenbeschränkung der Deutschen auf, doch gar keine für deren selbstentlastenden Strategien. Der kritische Ton und das moralisierende Vokabular verraten unmissverständlich, dass hier mitnichten ein Skeptiker, wie man dem Schema nach erwarten würde, sondern ein auf die 68er-Semantik zurückgreifender Positionskünstler spricht: „In einer Mischung von Lethargie, Trotz und Selbstmitleid regredieren die Menschen in eine Art zweiter Unmündig- keit.“750 Elf Jahre davor, als man ihn noch fest bei der Linken glaubte, überraschte er wiederum, indem er sich von dem linken Stil abzusetzen bereit war, und sich in dieser Selbstkorrektur die skeptische Maske aufsetzte. Die Aufforderung, zum Habermas’schen Sammelband Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“ (1979)751 beizutragen, wies er zurück, und statt, wie Walser, seine keimenden Selbstzweifel zu inszenieren, begründete er seine Absage wie ein geborener Skeptiker: Ich weiß nicht besser als irgend jemand sonst, wann die Katastrophe eintreten wird; ich weiß auch nicht, woran es liegt, daß der Sozialismus in allen bekannten Fällen im Lager endet. Ich weiß nicht, ob das so sein muß. Ich bin nicht bereit, mir darüber so leicht eine 748 Weitere nennt sein Kollege K.M. Michel: In der Zeit des allgemeinen Engagements hätte Enzensberger den Mut, „Theorie des Verrats“ (1963) zu verfassen, in der Zeit, als an prinzipielles Denken gesetzt wurde, hätte er daran erinnert, dass man allerdings einen Menschen, nie einen Gedanken verraten könne. Siehe K.H. Michel: „Der eigensinnige Charakter. Sieben Variationen über ein Thema“. In R. Wieland: Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich ..., S. 149. Weiter ist auch seine Warnung an die Revolutionäre zu erwähnen, sich von der Unmenschlichkeit deren politischen Gegner nicht anstecken zu lassen, wie es bei den Revolutionen oft der Fall sei. Vgl. J. Stromšík: „K esejům Hanse Magnuse Enzensbergera“ ..., S. 135. Dieser Warnruf wurde in „Berliner Gemeinplätze“ geäußert, in Kursbuch, 11, 1968, S. 151– 169, hier S. 166. 749 Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944–1948. Gesammelt und mit einem Prospekt versehen von Hans Magnus Enzensberger. München 19952 . 750 Ebenda, S. 9. 751 J. Habermas (Hg.): Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, 2 Bände. Frankfurt am Main 1979. 265 felsenfeste Meinung anzuschaffen. Ich lasse mich gerne überraschen. Was mich an der heute üblichen Meinungsproduktion am meisten stört, ist ihre Besserwisserei. Manchmal gefallen mir meine eigenen Essays nicht mehr, weil sie in dieser Tradition der Rechthaberei stehen. In Zukunft werde ich eine andere Form, einen anderen Ton des Essays finden müssen.752 Enzensberger wusste, wovon er sprach. Dieser neue Ton wäre nämlich in seinen frühen Texten auch dort wünschenswert gewesen, wo er ansatzweise schon zur Skepsis tendierte. So etwa distanzierte er sich in der zweiten Nummer von Kursbuch (treu dessen aprogrammatischer Konzeption) von linken Dogmen, als er mit dem „marxistischen Glauben vom dialektischen Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen ausbeutender und ausgebeuteter Klasse [gebrochen hat, A.U.] und stattdessen eine unüberbrückbare Kluft zwischen den reichen Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens“ erkannte,753 um aus der linken Sicht durchaus unkorrekt zu fragen: „Wem kommt zugute, was wir Entwicklungshilfe nennen: uns oder denen?“.754 Auf die sogleich entflammte Protestwelle755 reagierte Enzensberger vielmehr wie ein ironischer Skeptiker. Die von Peter Weiss gestellte Frage – „sind wir fähig, unsere Zweifel und unsere Vorsicht aufzugeben und uns zu gefährden, indem wir eindeutig aussprechen: Wir sind solidarisch mit den Unterdrückten und wir werden als Autoren nach allen Mitteln suchen, um sie in ihrem Kampf (der auch der unsere ist) zu unterstützen?“756 – provozierte ihn zur ironischen Bemerkung („Dreimal dürfen wir raten, was die rechte Antwort auf diese Frage ist [...] Wir brauchen nur ein bißchen zu kämpfen, Seite an Seite mit einer sozialistischen gegen eine kapitalistische Welt. Das ist doch wohl nicht zuviel verlangt.“),757 sowie zur Frage, ob denn Weiss gar imstande sei, zu sagen, wofür man zu kämpfen habe. Hinter Weiss’ Humanismus vermutet er eine Haltung, die keine Zweifel zuläßt: 752 „Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger“. In R. Grimm (Hg.): Hans Magnus Enzensberger ..., S. 133. 753 R. Warnecke: „Kurswechselparade eines Intellektuellen. Konsequent inkonsequent: Hans Magnus Enzensberger“. In H.L. Arnold (Hg.): Text und Kritik. Vom gegenwärtigen Zustand der deutschen Literatur, 113. München 1992, S. 97–105, hier S. 97. 754 „Dient sie moralisch unserer Entlastung, faktisch der Erpressung, der Sicherung unserer Machtpositionen, der Verschleierung unserer Ausbeutung, der Subventionierung unserer eigenen Exportindustrien?“ H.M. Enzensberger: „Europäische Peripherie“. In ders.: Deutschland, Deutschland unter anderm. Äußerungen zur Politik. Frankfurt am Main 1967, S. 152–176, hier S. 175. 755 Als erster meldete seine grundsätzlichen Bedenken P. Weiss in dem Text „Enzensbergers Illusionen“ an. 756 H.M. Enzensberger: „Peter Weiss und andere“. Kursbuch, 6, Juli 1966, S. 171–176, hier S. 170. 757 Ebenda, S. 171. 266 „Kein Wunder also, dass jedem Satz, den unser zweifelloser Kollege aufs Papier bringt, immer schon, ehe der Punkt gesetzt wird, das normative Urteil ins Wort fällt, [...] und so dekretiert er in edler Einfalt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.“758 Nach weiteren ironischen Bemerkungen, die die vermeintliche Linkssolidarität aufs Korn nehmen, neben der alles wie Heuchelei erscheine,759 schließt Enzensberger seinen Text mit dem exaltiertem Schrei eines Menschen, der sich ein durchaus skeptisches Bekenntnis abnötigt, jedoch dies in einem Ton vorträgt, der an skeptischer Gelassenheit zu wünschen übrig lässt: „Die moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Revolutionäres Geschwätz ist mir verhaßt. Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit.“760 7.4 Innerhalb seiner Generation Im Vergleich zu Walser und Grass nimmt Enzensberger viel weniger Anstoß an dem Nachkriegsdenken. Man findet bei ihm weder die Grass’sche Unsicherheit, die aus dem überstandenen Beharren auf der „Nachkriegszeit“ resultiert, noch den Walser’schen lebenslangen Kampf gegen die der Nachkriegsordnung verpflichtete Diskurspolizei. Obwohl Enzensberger gegen die Anziehungskraft einiger von deren Gedankenfiguren nicht ganz immun war, hielt er sie in der Regel für überwindbar: Etwa erklärte er 1988 die Opposition Geist versus Macht für eine höchst langweilige deutsche Spezialität, die an der Arbeitsteilung zwischen Politikern und Schriftstellern nichts ändern könne.761 Dank seinem dialektischen Gespür wusste er sich falsche Alternativen vom Leib zu halten. Lässt sich das nachkriegsdeutsche Denken auf die Formel bringen, „wo zwei sich be- 758 Ebenda, S. 172 und 173. 759 „Unsere selbsternannten Vorbilder sind solidarisch mit den Unterdrückten. Sie bekennen Farbe. Wir andern hingegen sitzen in unseren Fünf-Zimmer-Wohnungen [...] Wenn es hochkommt, zahlen wir unser Flugbillett selber, bei der Besichtigung des Sozialismus [...] Aber es ist immer noch was zum Trinken im Kühlschrank. Dagegen Peter Weiss und andere! Die gefährden sich. Die kämpfen. Die haben nichts zu tun mit der Gesellschaft, in der sie leben [...] Peter Weiss und andere sind nicht, wie wir, Komplizen der reichen Welt. Sie zeigen uns, mit ein paar Interviews, wie leicht Solidarität zu verwirklichen ist: mit ein paar Interviews. So leicht ist das Tischtuch zerschnitten, die Seele gerettet und die Schelle der Doppelmoral denjenigen angehängt, die sich ein wenig schwerer tun mit ihren Bekenntnissen.“ Ebenda, S. 175 und 176. 760 Ebenda, S. 176. 761 Siehe H.M. Enzensberger: „Macht und Geist: Ein deutsches Indianerspiel“. In ders.: Mittelmaß und Wahn. Frankfurt am Main 1988, S. 207–221. 267 gegnen, entsteht eine Antinomie oder eine Partei“,762 dann war Enzensberger von Anfang an kein typischer nachkriegsdeutscher Denker gewesen. Man braucht hier nicht zwischen ästhetischen und politischen Texten zu unterscheiden, es gilt sowohl für beide Segmente, als auch für das Verhältnis zwischen ihnen. Von den ersten Essays an profilierte sich Enzensberger als Dialektiker des Verhältnisses zwischen Poesie und Politik. In deutlicher Anlehnung an Adorno suchte er die Kunst vor unangemessenen Ansprüchen und Erwartungen zu schützen, lehnte alle Ansätze ab, die die Relation zwischen „Inhalt“ und „Form“ nicht genug dialektisch auffassen. Daher hielt er Abstand sowohl zu allen, die das gesellschaftskritische Potential der Form verabsolutieren, als auch zu denen, die den politischen Inhalt in die Poesie implantieren, ihn also vom (formal-inhaltlichen) Ganzen trennen: „Der politische Aspekt der Poesie muß ihr selber immanent sein. Keine Ableitung von außen vermag ihn aufzudecken.“763 Es sei abwegig, das subversive Potential der Poesie in der reinen Form zu suchen (also nicht im Ganzen des Gedichts), wie auch der Kunst jedwede gesellschaftskritische Funktion abzustreiten, sie mit den „ewigen“ Werten zu verbinden. Poesie greife in die Politik nur derart ein, wie sie die Sprache handhabe, nicht etwa durch sachbezogene Beiträge zu politischen Diskussionen (an dies müsse man die Literatursoziologie immer wieder erinnern). Doch eben dadurch beweise sie ihren gesellschaftlichen Charakter (dies versäume wiederum die literarische Ästhetik). Kurz und gut, das Verhältnis zwischen Poesie und Politik sei weder eines der absoluten Abhängigkeit, noch eins der absoluten Unabhängigkeit.764 Den gängigen Gegensatz zwischen der reinen, politisch unschuldigen „Elfenbeinturmpoesie“ auf der einen und der engagierten Dichtung auf der anderen Seite will Enzensberger nicht akzeptieren. Sein angepeilter ästhetischpolitischer Weg verläuft konsequent jenseits des radikalen Formalismus sowie der Avantgarde; wer von ihm damals positive Definitionen der Poesie erwartet hatte, musste mit Äußerungen lieb nehmen, an denen man jederzeit den Adorno-Adepten erkennen kann: „Francis Ponge hat bemerkt: seine Gedichte seien geschrieben als wie am Tage nach der geglückten Revolution. Das gilt für alle Poesie. Sie ist Antizipation, und sei’s im Modus des Zweifels, der Absage, der Verneinung. Nicht daß sie über Zukunft spräche: sondern so, als wäre Zukunft möglich, als ließe sich frei sprechen unter Unfreien, als wäre nicht Entfremdung und Sprachlosigkeit [...]“765 762 D. von Petersdorff: „Im Nachhall der Systeme“ ..., S. 37. 763 Ders.: Poesie und Politik. In ders., Einzelheiten II. Poesie und Politik. Frankfurt am Main 1962, S. 127. 764 Vgl. Ebenda. 765 Ebenda: S. 136. 268 Als die 1960er in ihre zweite Hälfte eingetreten sind, wurde evident, dass von diesen zu Beginn der 1960er Jahre formulierten Einstellungen nur noch die negativen Bestimmungen beibehalten wurden. Sobald sich Enzensberger um 1968 der Politik zuwandte, war es um die politische Wirkung der Poesie schnell geschehen. Dieser Schritt über Adorno hin- weg766 – der ja wohl nicht so entschieden war, wie er sich gab767 – führte nicht nur dazu, dass Enzensberger in seinem Bestreben, „geduldig festhalten den schmerz der negation“, ja „geduldig jeden Gedanken wenden der seine Rückseite verbirgt“768 nachgelassen hat. Sosehr er nach wie vor Gedichte geschrieben hat, musste er sich nun schärfer die Frage nach politisch-kritischen Möglichkeiten der Literatur stellen; und seine Antwort glich einer Abrechnung mit der vermeintlich kritischen Nachkriegsliteratur, die in seinen Augen all die Jahre alibistisch vorgegangen sei. Die Illusionen von der kritischen Funktion der nachkriegsdeutschen Literatur über Bord werfend hat Enzensberger im Jahre 1968 den Literaten nicht anbefohlen, die literarische Produktion komplett abzustellen (so interpretiert man nicht selten seine Thesen vom Tod der Literatur, präsentiert im Kursbuch Nummer 15), sondern er hat sie darauf aufmerksam gemacht, dass ihr Schaffen durch nichts zu rechtfertigen sei: Man schaffe sozusagen ohne jedwede Gewähr und dieser Unsicherheit zum Trotz, und wer damit nicht leben könne, möge es immerhin als Literat in der Fabrik versuchen. Dazu sei indes zu vermerken, dass die wenigen Gedichte, die Enzensberger in diesen Jahren publizierte,769 nicht nur an den unerbittlich demaskierenden Ton der ersten zwei Gedichtbände770 anknüpfen, der in diesem Falle insbesondere die,771 oder besser, seine eigenen Revolutionsillusio- nen772 aufs Korn nimmt, sondern auch den melancholisch versöhnlichen 766 Zugleich haben ihn seine Texte aus den 1970er Jahren wieder näher an Adorno herangeführt, am deutlichsten wohl das 1975 herausgebrachte Mausoleum mit dem Untertitel Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, das sehr wohl als ein durch historisch verbürgte Persönlichkeiten aus der Geschichte der Wissenschaften und Künste kostümierter Kommentar zur Dialektik der Aufklärung von Adorno/Horkheimer zu lesen ist. 767 Zur ambivalenten und langwierigen Abwendung von Adorno vgl. etwa Enzensbergers Gedicht „Schwierige Arbeit“, das er Adorno gewidmet hat. Ders.: Blindenschrift. Frankfurt am Main 1964, S. 58–59. 768 Ebenda. 769 Publiziert in Gedichte 1955–1970. Frankfurt am Main 1973. 770 Verteidigung der Wölfe, 1957, Landessprache, 1960. 771 Im Gedicht „Der Papier-Truthahn“: „Den ganzen echten Revolutionär/ finden sie heute auf Seite 30/ der Unterhaltungsbeilage [...] Der ganz echte Revolutionär/ bekämpft das System /mit knallharten Interviews [...] Er ist unser Lieblingsclown“. H.M. Enzensberger: Gedichte 1955–1970 ..., S. 153. 772 Im Gedicht „Zwei Fehler“: „Ich gebe zu, seinerzeit/habe ich mit Spatzen auf Kanonen geschossen./Daß es keine Volltreffer gab,/ sehe ich ein./Dagegen habe ich nie behauptet,/nun gelte es ganz zu schweigen.“ Ebenda, S. 62. 269 Gestus des dritten Bandes aufgreift,773 etwa sofern das lyrische Ich von seinen Fehlern weiß („Ich weiß nur noch/daß es das Wichtigste ist/was wir vergessen haben“),774 ohne, seine Fehlerhaftigkeit überwindend, mit sich radikal abzurechnen („und daß wir das schon wissen/das wissen wir schon“).775 Von nun an suchte Enzensberger die Literatur noch intensiver von redundanten geschichtsphilosophischen Bedeutungen, Funktionen und Ansprüchen zu befreien. Signifikant ist diesbezüglich ein Detail: Enzensbergers Vorwort zum Museum der modernen Poesie wurde zweimal modifiziert (1979 und 2002) und mit jeweils anderen Akzenten versehen. 1979 bemerkt Enzensberger rückblickend eine durchaus starke Ideologieanfälligkeit seines Vorwortes von 1960, als fatal erscheint ihm sein einstiger ahnungsloser „Eurozentrismus, der einzig und allein die Standards der Metropolen gelten läßt“776 , dessen politisches Scheitern in der Form der Ideologie „One World“ im Jahre 1968 klar zutage getreten sei. Diese Revision wird 2002 nicht mehr gesteigert, nur noch erweitert: Es sei nicht zu entschuldigen, in einem postkolonialen Zeitalter von der Idee der Weltliteratur zu sprechen und dabei von Chinesen, Arabern, Indern, Japanern und vielen anderen zu schweigen.777 In beiden Vorworten quittiert er die mit dem Prestigeverlust der Poesie einhergehende Bescheidenheit, ja die Resignation auf „Größe und Allgemeingültigkeit“. Während er in dem älteren Vorwort die einstige Überzeugung von der subversiven Funktion der Poesie (moderne Poesie stelle das Gegebene bereits dadurch in Frage, dass sie Poesie sei) zwar zurückweist, doch zugleich hinzufügt, dass sich darin zumindest der Enthusiasmus offenbart habe, für den die depressiven 1970er Jahre kein Verständnis mehr hätten. Dieser relativierende Gestus weicht im Vorwort von 2002 vollends dem distanzierenden: Den größten Schaden habe die Literatur dort bewirkt, wo sie zur revolutionären Avantgarde wurde, die darauf aus wäre, „politische und ästhetische Revolutionen über einen Leisten zu schlagen“.778 Dies habe ausnahmsweise in „ideologischen Sackgassen“779 geendet, deren Früchte, „um es milde auszudrücken, ziemlich ungenießbar“780 waren. 773 Blindenschrift, 1964. 774 Im Gedicht „Eine schwache Erinnerung“, H.M. Enzensberger: Gedichte 1955–1970 ..., S. 159. 775 Im Gedicht „Lied von denen auf die alles zutrifft und die alles schon wissen“. Ebenda, S. 155. 776 H.M. Enzensberger: Museum der modernen Poesie, Frankfurt am Main 1979 (Nachbemerkung zur Neuauflage von 1979), S. 786. 777 H.M. Enzensberger: „Nachbemerkung zu einer Neuauflage von 2002“. In ders.: Scharmützel und Scholien ..., S. 252. 778 Ebenda, S. 251. 779 Ebenda. 780 Ebenda. 270 Um es auf den Punkt zu bringen: Die während seines Kuba-Aufenthalts (1968/1969) gesammelten Erfahrungen haben Enzensberger sehr wohl zur Korrektur seiner einstigen revolutionären Radikalität bewogen, die er noch 1967 für unumgänglich gehalten hatte.781 Auf diese Desillusionierung lassen sich zwar manche seiner weltanschaulichen und thematischen Akzentverschiebungen zurückführen, doch an seiner zunehmend antiavantgardistischen programmatischen Auffassung der Literatur, wie sie Enzensberger 1968 formuliert hat, konnten sie nicht mehr viel ändern, ja sie konvenierten mit ihr geradezu. Seit dem Ende der 1960er Jahre intensivierte Enzensberger nur noch seine Kritik des avantgardistischen Aktivismus, in dem er längst kollektiv totalisierende, ja militarisierende Tendenzen am Werke gesehen hatte,782 und suchte die Literatur von den Resten der moralischen, elitären, totalitären und geschichtsphilosophischen Ansprüche freizumachen. Als Theoretiker der Künste war er darin freilich konsequenter als Praktiker der Revolutionstheorie, der 1968 seiner Illusion erlag, der Revolution in Kuba, wo der Imperialismus „ein weniger wohlwollendes Gesicht zeigt“,783 seine Dienste anbieten zu müssen. Bei der Erklärung des sonst recht unerklärbaren kubanischen Experiments sollte man die Generationssemantik nicht ausblenden; in diesem Falle weniger die simple Tatsache, dass Enzensberger zwei Jahre jünger als Grass oder Walser ist, als vielmehr die von ihm akzentuierten Generationserfahrungen. Auffallend selten spricht Enzensberger von seinen Kriegserfahrungen, umso häufiger erwähnt er die unmittelbare Nachkriegszeit, deren geradezu anarchistische Verhältnisse sich ihm offensichtlich ebenso stark eingeprägt haben,784 wie es schnell um diese geschehen ist. Die als 781 1967 hat er deutlich genug geschrieben, „In der Tat, was auf der Tagesordnung steht, ist nicht mehr der Kommunismus, sondern die Revolution. Das politische System der Bundesrepublik ist jenseits aller Reparatur. Man kann ihm zustimmen, oder man muss es durch ein neues ersetzen. Tertium non dabitur. Es sind nicht die Schriftsteller, welche die Alternative derart zugespitzt haben; im Gegenteil, sie haben zwanzig Jahre lang versucht, ihr auszuweichen.“ H.M. Enzensberger: „Klare Entscheidungen und trübe Aussichten“ ..., S. 230. 782 Vgl. sein Vorwort zur ersten Ausgabe von Museum der modernen Poesie, zwei Jahre vor „Aporien der Avantgarde“ geschrieben: „Das Fatale an dieser Vorstellung vom Fortschreiten der produktiven Kräfte hat Baudelaire schon erkannt, als sie noch in ihren Anfängen steckte: Diese Gewohnheit, sich militärischen Metaphern anzuvertrauen, zeichnet nicht unbeugsame, sondern Geister aus, die der Disziplin, das heißt der Anpassung zuneigen, unfrei geborene, provinzielle Geister, die nur im Kollektiv denken können.“ H.M. Enzensberger: Museum der modernen Poesie ..., S. 9. 783 H.M. Enzensberger: „Offener Brief. An den Präsidenten der Wesleyan University, Mr. Edwin D. Etherington, Middletown, Conn. USA“. In J. Schickel (Hg.): Über Hans Magnus Enzensberger ..., S. 238. 784 „Man könnte sagen, da ist jemand in einer Zwangsordnung aufgewachsen, und danach kam eine wunderbare Zeit der Anarchie. Die dauerte nur ein paar Monate, aber das prägt einen Menschen in diesem Alter. Ich war sechzehn am Ende des 271 befreiend empfundene (Un)Ordnung der ersten Nachkriegsmonate wurde recht schnell von einer sich stabilisierenden gesellschaftlich-politischen Formation abgelöst, in der Enzensberger nichts als die restaurierten faschistischen Verhältnisse zu erblicken imstande war. Das heißt: Die ihn prägende Erfahrung, dass die Ideologie den Menschen meist im Stich lasse, weshalb man wegen ihr nie den Verstand verlieren solle, wurde ihm am Kriegsausgang, und zunehmender in den ersten Nachkriegsmonaten zuteil. Im Vergleich zu Grass wird deutlich, dass Enzensbergers Generationserfahrung sich weniger aus eigenem Versagen (während der Nazizeit), denn aus der geltend gemachten Fähigkeit verstanden wissen will, sich von der während der Nazizeit installierten Ordnung kritisch abzusetzen. Daher die tendenziell stärkere Ambivalenz in punkto Verarbeitung der Generationsprägung bei Enzensberger (und auch Walser) als bei Grass: Enzensberger ist einerseits wohl biegsamer, flexibler, andererseits in den „zum Totalitären tendierenden Phasen“ dann doch, wenn auch vorläufig, ideologieanfälliger. Dass Enzensberger und Walser gegenüber den linken diktatur-revolutionären Versuchungen in den 60er Jahren weniger immun als Grass waren, mag auch damit zusammenhängen, dass sie im Gegensatz zu ihm ihre Generationsprägung nicht ausschließlich defizitär als den Auftrag verstanden haben, das eigene totalitäre Versagen der Jugendjahre wiedergutzumachen. Insbesondere Enzensbergers Nähe zu der radikalen Linken in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, sosehr er sie zu relativieren sucht, muss offensichtlich derart intensiv gewesen sein, dass man im Anbetracht der späten autobiographischen Texte dieser Generation sagen kann: Während Grass allen Ernstes und mit daraus folgender Überspanntheit seine braune Vergangenheit abzuarbeiten suchte, pflegte Enzensberger um seine „rote Vergangenheit“ wohl eher zu kreisen, sie nicht ab-, sondern eher bearbeitend, darin freilich freier und weniger überspannt. Es lässt sich noch anders sagen: Die kurzen anarchistischen Monate nach dem Krieg zeigen sich für Enzensberger gleich auf doppelte Weise prägend. Angesichts der Studentenbewegung mag diese Prägung seine sonst recht starke (antiavantgardistische) Skepsis gegenüber der Möglichkeit, radikal neu beginnen zu können, übertönt haben, ja sie macht es ihm bis heute unmöglich, seine prinzipielle Befürwortung dieser Bewegung für eine vorläufige zu halten. Wiederum in den 1990er Jahren kehren in seine Texte die an die anarchistische Zwischenphase erinnernden Bilder dort zurück, wo Enzensberger nicht als Revolutionär, sondern als Skeptiker spricht, der für eine nötige Stabilisierung der vorläufig deKrieges [...] In diesen wenigen Monaten habe ich das Glück maximaler Freiheit erlebt. Doch dann kam die Ordnung wieder mit gemischten Signalen. Vieles von der abgeschüttelten Zwangsordnung kehrte zurück.“ H.M. Enzensberger: Zu große Fragen ..., S. 103. 272 stabilisierten Verhältnisse plädiert, die von Bürgerkriegen bedroht er- scheinen. 7.5 Sprache der Deutschheit Auch dort, wo sich Enzensberger an die Sprache heranschreibt, in der ein Deutscher über die Deutschheit sprechen könnte, ist auffallend oft die Rede von Sackgassen, falschen Alternativen, Paradoxen, ja von dialektisch bzw. negativ formulierten Lösungen. So wird etwa im bekannten „Katechismus zur deutschen Frage“ (1966) die Kontraproduktivität von Adenauers Politik deutlich, die deutsche Frage ausschließlich dadurch lösen zu wollen, dass man die Bundesrepublik in die westlichen Strukturen einbindet: Dies habe nur zur „Konsolidierung des Kalten Krieges und der DDR“785 geführt. Als eine Sackgasse entlarvt er somit auch das westdeutsche Bestehen auf dem Alleinvertretungsanspruch, stattdessen plädiert er für engste Kontakte zwischen beiden deutschen Staaten, die jedoch paradoxerweise mitnichten zur Aufgabe der Bundesregierung werden können, da diese dadurch eben ihren Alleinvertretungsanspruch untergraben wür- de.786 Seine Deutschstunde schließt Enzensberger mit dem paradoxen Gedanken ab, die Möglichkeit der Vereinigung sei nur dann nicht ausgeschlossen, wenn man die Vereinigung momentan für ausgeschlossen zu halten bereit sei. Im Titelgedicht des Bandes Landessprache mündet diese Aporie der deutschen Frage in die „schizoide Teilungsmetaphorik“,787 in der dem lyrischen Subjekt die Identität mit dem Land versagt bleibt, in dem es lebt, da „meine zwei Länder “788 weder Bestandteil des verlorenen Ganzen sein könnten, noch es zu ersetzen imstande seien, da sie sich gegenseitig ausschließen würden. Den Ursachen dieses untröstlichen Zustands ging Enzensberger in seiner „Büchnerpreisrede“ (1963) nach, wo er rekapitu- lierte: Wir gehören zwei Teilen eines Ganzen an, das nicht existiert; zwei Teilen, von denen jeder leugnet, Teil zu sein, und jeder auftritt im Namen des Ganzen und als wäre er ganz. Das Ganze, nicht mehr vorhanden, ist somit zugleich halbiert und gedoppelt. Dieser Zu- 785 H.M. Enzensberger: „Katechismus zur deutschen Frage“. Kursbuch, 4, 1966, S. 1– 55, hier S. 15. 786 Siehe ebenda, S. 23–24. 787 H. Kügler: „Deutschlandbilder – Die Frage nach der nationalen Identität im Spiegel der deutschen Nachkriegsliteratur“. Diskussion Deutsch, 1990, S. 392–411, hier S. 404. 788 „Meine zwei Länder und ich, wir sind geschieden Leute“. H.M. Enzensberger: Landessprache. Frankfurt am Main 1960, S. 12. 273 stand gilt zugleich als vorläufig und als definitiv: das Provisorium ist unantastbar. Jeder Teil spricht dem anderen Existenz oder Existenzberechtigung ab. Beide Teile sind sich in allen Punkten uneinig, außer in einem: dass es darauf ankomme, einander in allen Punkten zu widersprechen.789 Die Identifizierung mit jeweils einem der deutschen Staaten sei nur um den Preis möglich, dass man den anderen Staat, das Ganze wie auch sich selbst negiere. In dieser Variation trat diese Figur aus Enzensbergers Texten mit der Zeit zurück – wohl mit Ausnahme von Ach Europa! mit dessen Epilog, der fiktiven Reportage „Böhmen am Meer“790 . Sie mag die Form einer allgemeineren Figur angenommen haben, die jedwede eindeutige Identifikation mit einem der Gegensätze verwehrte: auf sie pflegte Enzensberger zurückzugreifen, wann immer er einseitig zu werden drohte. Anstatt eilfertig den entgegengesetzten Standpunkt zu verteidigen, legte er eine dialektische Lektion der gegenseitig sich negierenden Vorteile und Nachteile vor, manchmal sogar um selbstironisierende Zitate aus eigenen älteren Texten bereichert. Etwa mit seinem einstigen Zorn auf alle durchschnittlichen und normalen Menschen „mit dem Wasseraug, mit dem Scheitel aus Fett und Stroh“791 setzte er sich nun mit einer gedanklichen Äquilibristik, die avantgardistische Anormalitätsbesessenheit auseinanderlegte. Den verunsicherten Leser, der ihn bereits den Anhängern der Normalität zuschlagen möchte, belehrt er indes eines Besseren: „Wenn es etwas Armseligeres gibt als die Verachtung der Normalität, dann ist es ihre Anbetung. Da die eine dieser Attitüden nur die Kehrseite der andern ist, nimmt es nicht wunder, dass sie meistens auf demselben Mist wach- sen.“792 Ähnlich die Art, wie Enzensberger in demselben Jahr, in dem er in Der Untergang der Titanic793 seine geschichtsphilosophische Enttäuschung verarbeitet, in dem kürzeren Essay „Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“ vorgeht.794 Auch hier überdeutlich, wie naiv es wäre, hinter dem desillusionierten Ex-Utopiker einen frisch geborenen Apokalyptiker zu suchen. „Die Idee der Apokalypse hat das utopische Denken seit sei- 789 H.M. Enzensberger: „Darmstadt, am 19. Oktober 1963“. In ders.: Deutschland, Deutschland unter anderm ..., S. 15. 790 H.M. Enzensberger: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt am Main 1987. 791 Aus dem Gedicht „An einen Mann in der Trambahn“ (1956) (Verteidigung der Wölfe, 1957). 792 H.M. Enzensberger: „Zur Verteidigung der Normalität“. In ders.: Politische Brosamen ..., S. 207–224, hier S. 216. 793 H.M. Enzensberger: Der Untergang der Titanic. Eine Komödie. Frankfurt am Main 1978. 794 H.M. Enzensberger: „Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“. Kursbuch, 52, 1978, S. 1–8. 274 nen Anfängen begleitet, sie folgt ihm wie ein Schatten, sie ist seine Kehrseite, sie läßt sich nicht von ihm ablösen: ohne Katastrophe kein Millennium, ohne Apokalypse kein Paradies. Die Vorstellung vom Weltuntergang ist nichts anderes als eine negative Utopie.“795 Zukunftsbilder, die „die Menschheit sich entwirft, Utopien im positiven wie im negativen Sinn, sind nie eindeutig gewesen. Die Vorstellung vom Millennium, vom Sonnenstaat, war kein platter Traum vom Schlaraffenland, sie hat auch immer Momente von Angst, Panik, Terror und Zerstörung mit sich getragen; und umgekehrt bringt die apokalyptische Phantasie nicht nur Bilder der Dekadenz und Verzweiflung hervor [sondern auch, A.U. ...] Regungen der Erleichterung und der Hoffnung“.796 Von diesem unauffälligen, dennoch zukunftsträchtigen Text gilt es nun, zu zwei das deutsche Problem analysierenden Essays aus der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zurückzukehren, damit der Entwicklungsbogen besser ermittelt werden kann. Im Essay „Über die Schwierigkeit, ein Inländer zu sein“797 werden aporetische Konturen der Sackgasse nachgezeichnet, in die nachkriegsdeutsche Deutschlandreden münden können. „Meine Nationalität,“ schreibt er hier, „ist also keine Qualität, sondern eine Erwartung, die andere in mich setzen“.798 Nach einem kurzen Exkurs, in dem die Unhaltbarkeit des Nationalitätsprinzips nicht unumstritten799 aus der spezifischen Situation in Deutschland erklärt wird, wird das Spiel mit den vorgeschriebenen Rollen und Erwartungen in breitere Kontexte gestellt. In der postnationalen Nachkriegszeit würden die Nationen darin wetteifern, den Maßstäben der Zeit zu entsprechen, und da hätten die Deutschen zwei unübertreffbare Trumpfe in der Hand, die „unbewältigte Vergangenheit und die deutsche Frage“.800 Der ritualisierte Umgang mit der deutschen Nationalität, wo einmal auf Selbstverachtung, ein anderes mal auf Überheblichkeit gesetzt werde, scheine ungenügend zu reflektieren, wie seitenverkehrt identisch diese Einstellungen seien, und darum dieselbe Konsequenz nach sich ziehen würden: Die Deutschen seien außerstande, sich ihrer Vergangenheit sachlich zu nähern.801 795 Ebenda, S. 1. 796 Ebenda, S. 8. 797 H.M. Enzensberger: „Über die Schwierigkeit, ein Inländer zu sein“. In ders.: Deutschland, Deutschland unter anderm ..., S. 7–13. 798 Ebenda, S. 7. 799 J. Lau verweist auf mangelnde Konsistenz dieser Konstruktion: „Denn Enzensberger hat ja selber vorausgesetzt, dass die späte deutsche Nationalstaatlichkeit mit ihrem „hysterischen Überschwang“ ein historischer Sonderfall sei. Wie läßt sich aber – rein logisch – aus dem Scheitern eines untypischen Kasus die Hinfälligkeit des Prinzips folgern?“ In J. Lau: Hans Magnus Enzensberger ..., S. 179. 800 H.M. Enzensberger: „Über die Schwierigkeit, ein Inländer zu sein“ ..., S. 10. 801 Ebenda. 275 Im Gegensatz zu J. Lau glaube ich nicht, Enzensberger suche dadurch den Triumph der alten Nationalstaaten im Krieg (des „alten Prinzips Nationalismus“) als den Pyrrhussieg zu entkräften.802 Dazu scheint er nicht nur zu der alten Konzeption der Nation, sondern genauso stark auch zu dem neuen Postnationalismus auf Distanz zu gehen, in dessen bequemer Lage man sich von dem alten, im Nationalsozialismus hypertrophierten Nationalismus zurechtfinden konnte. Enzensberger erteilt mitnichten eine postnationalistische Lektion mit einem „merkwürdigen Beigeschmack“,803 vielmehr moniert er die Naivität der Versuche, den rechten Sonderweg durch den seitenverkehrten linken zu ersetzen. Der Nationalismus ist in seinen Augen genauso missbrauchbar wie der Postnationalismus, sofern das Deutsche für eine „metaphysische Größe“ gehalten werde, bei der man das Böse dort lokalisiere, wo man einst biologisch oder rassistisch das vermeintlich Gute lokalisiert gehabt habe.804 Daher behält er Distanz zu beiden Extremen, bevorzugt eine a-prinzipielle, nichtessenzielle, also eine kontextuelle Einstellung: „Dass ich ein Deutscher bin, werde ich akzeptieren, wo es möglich, und ignorieren, wo es nötig ist.“805 Eben das Bedürfnis, das Gute und das Böse fest zu lokalisieren, scheint den zentralen Kritikpunkt darzustellen, kommt es doch primär dem moralischen Eskapismus entgegen. Stattdessen peilt Enzensberger eine tragfähige Lösung jenseits moralischen Pathos an: Das Konkrete und Allgemeine in Schwebe lassend lässt er zu, die Deutschen hätten ein nicht wiedergutzumachendes Verbrechen begangen, ohne jedoch dieses Problem dadurch lösen zu wollen, dass man es als das deutsche nationale Problem identifiziert. Sinnvoller als die nachträgliche Austreibung des Teufels aus der deutschen Volksseele erscheint ihm eine grundsätzliche anthropologische Überlegung, die bedenkt, dass „der Mensch zu allem fähig ist“.806 Dieser Akzentverschiebung liegt seine Hypothese zugrunde, die besagt, wer Faschismus mit der Deutschheit identifiziere, eliminiere das grundsätzliche Problem, dass dieser jederzeit und überall auftauchen könne. Seine Hypothese glaubt Enzensberger dadurch rechtfertigen zu können, dass die Bundesrepublik in der Konstellation des Kalten Krieges offensichtlich nicht wahrhaben wolle, dass das zahlenmäßig größte Opfer des Zweiten Weltkrieges die Sowjetunion gewesen sei, dass man also – paradox genug – im Nachkriegsdeutschland die faschistische Vergangenheit dadurch bewältigt zu haben glaube, dass man sich möglichst antikommunistisch gebe. Kurz und gut: Man rechne mit dem einstigen sowie dem 802 Dies hält ihm J. Lau vor: Hans Magnus Enzensberger ..., S. 179. 803 Ebenda. 804 H.M. Enzensberger: „Über die Schwierigkeit, ein Inländer zu sein“ ..., S. 10. 805 Ebenda, S. 13. 806 Ebenda, S. 11. 276 jetzigen Faschismus ab, indem man sich dezidiert gegen den Kommunismus stelle. Diese Interpretation der Totalitarismus-Theorie (Kommunismus und Faschismus auf der einen, also totalitären Seite, die Nachkriegsdeutschen, die sich in der Konstellation des Kalten Krieges zu bequem von beiden Totalitäten abheben können, auf der anderen) wird zur Zielscheibe der Kritik von Enzensberger, weil sie in seinen Augen eine grandiose Entlastungsoption bietet. Andererseits erweisen sich die Parallelismen zwischen Faschismus und Antikommunismus, oder genauer zwischen Antifaschismus und Kommunismus auch für Enzensberger zu einem destabilisierenden Element, das das angestrebte Gleichgewicht zwischen dem Konkreten und Allgemeinen, dem Deutschen und Menschlichen, ja der geschichtsphilosophischen und anthropologischen Perspektive langfristig auszuhebeln droht. Deutlich wurde es bereits in seinem Arendt’schen Essay Reflexionen vor einem Glaskasten807 aus dem Jahre 1964. 7.6 H.M. Enzensberger und H. Arendt Die Texte H. Arendts waren bereits dem jungen Enzensberger bekannt, er las diese Autorin kontinuierlich seit den 1950er Jahren,808 und von Anfang an mit großem Interesse. Ihr späterer Bericht Eichmann in Jerusalem (1963) mag ihn vor allem wegen der Ambition angesprochen haben, das Böse möglichst sachlich zu verstehen. Seine Überlegungen zum Sündenbock verraten eine nahe Affinität zu Arendts Gedankenwelt, denn auch Enzensberger verfolgt die Gedankenspur, auf der jedes Urteil zugleich einen Freispruch des eben nicht Verurteilten nach sich zieht.809 Da gefällte Urteile die eben nicht Verurteilten freisprechen würden, könne die Masse der momentan Nichtverurteilten auf eben diesen Einzelnen jenes „diffuse und anonyme“810 Schuldgefühl abreagieren, das für die Einstellung der Deutschen zu ihrer nazistischen Vergangenheit charakteristisch sei. Der eben beschriebene entlastende Mechanismus schien für die „skeptische Generation“ ein derart großes Manko zu sein, dass sie bereit war, die gesellschaftliche Nützlichkeit selbst der Prozesse mit den nazistischen Ver- 807 Ders.: Reflexionen vor einem Glaskasten. In ders.: Deutschland, Deutschland unter anderm ..., S. 69–98. 808 Origins of Totalitarianism las er im Original während des Studiums in Freiburg, die deutsche Übersetzung ist unter dem Titel Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft 1955 erschienen. Vgl. T. Wild: Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt. Berlin 2009, S. 181. 809 Vgl. H.M. Enzensberger: „Reflexionen vor einem Glaskasten“. In ders.: Deutschland, Deutschland unter anderm ..., S. 69–98, hier S. 89. 810 Ebenda, S. 90. 277 brechern in Frage zu stellen, ja sie rechtfertigte dadurch ihr sonst kaum begründbares, da gegenüber den Opfern ungerechtes Plädieren für die Verjährung der Naziverbrechen.811 Angesprochen mögen sich die „Skeptiker“ auch von Arendts Interpretation des Eichmann-Prozesses gefühlt haben, in der Eichmann als Beispiel dafür steht, was damals passiert sei, „und was nun wieder passieren könnte“.812 Enzensberger knüpfte an diese Interpretation an, um Faschismus von dessen Fixierung auf die deutsche nationale Essenz, sowie auf die Vergangenheit zu lösen. Faschismus sei kein Problem der Deutschen und deren Vergangenheit, sondern ein Problem des Menschen und seiner aktuellen Gegenwart des Kalten Krieges, zumal diese von der akuten Bedrohung des „Atomtodes“ bedroht sei. Sobald der Sammelband Politik und Verbrechen813 mit den oben erwähnten Gedankengängen erschien, zeigte sich, dass die Übereinkunft zwischen Arendt und der jungen Generation der deutschen Intellektuellen eher ein Wunsch als Realität war. Arendt, darum gebeten, Enzensbergers Sammelband814 zu rezensieren, hat es mit dem Hinweis auf den in ihren Augen problematischen kausalen Nexus zwischen Politik und Verbrechen abgelehnt,815 aufgrund dessen Enzensberger schlussfolgere, Auschwitz habe die Wurzeln aller bisherigen Politik bloßgelegt.816 So sehr sich Enzensberger bemühe, die Wiederkehr von Auschwitz in Form des nuklearen Krieges zu verhindern, sei es kaum zu übersehen, dass er paradoxerweise der Konsequenz entgegenarbeite, die er um jeden Preis hätte meiden wollen: Wo alle schuld seien, sei niemand schuld.817 Zwar habe Enzensberger wohlbedacht davor gewarnt, den anthropologischen Standpunkt zu verabsolutieren (der Mensch zeigte sich von seiner Natur her mitnichten als fähig, dem Verbrechen zu widerstehen), doch habe er es unterlassen, ähnlich konsequent auch komparative Analogien zu meiden (Auschwitz gleich nuklearer Tod), die entlastend wirken, sobald der Ver- 811 Vgl. das Kapitel zu Walser. Vgl. auch die Rezension des „Eichmannberichts“ von R. Baumgart, in der festgestellt wird, die Prozesse würden paradoxerweise die Deutschen davor schützen, über ihre eigene Verantwortung nachzudenken. “ R. Baumgart: „Mit Mördern leben? Ein Nachwort zu Hannah Arendts Eichmann-Buch“. Merkur, XIX, 1965, S. 482–485, hier S. 485. 812 R. Baumgart: „Mit Mördern leben? ...“, S. 482. 813 H.M. Enzensberger: Politik und Verbrechen. Frankfurt am Main 1964. 814 Es sei ihr zu schwer gewesen, „das ganz Ausgezeichnete von dem Verfehlten zu scheiden“. „Politik und Verbrechen. Ein Briefwechsel“. In: Merkur XIX, 1965, S. 380–385, hier S. 381. 815 Detaillierter zu weiteren Aspekten dieser Korrespondenz siehe T. Wild: „Nach dem Geschichtsbruch. Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger“, in: Sinn und Form, 3, 2010, S. 332–339. 816 „ Politik und Verbrechen. Ein Briefwechsel ...“, S. 380. 817 Ebenda, S. 381. 278 gleich nicht zum Erfassen der Einzigartigkeit der komparierten Phänomene, sondern zu deren verallgemeinernden Pauschalisierung führe. Genau in diese Kerbe schlägt Arendt, indem sie Enzensbergers Argument, Auschwitz sei eine logische Konsequenz der (an sich verbrecherischen) Politik, zurückweist, und somit auch seinen allzu oberflächlich konstruierten Zusammenhang zwischen Auschwitz und dem Atomkrieg (dies sei genauso fatal, als wenn man Nuklearwaffen für eine natürliche Folge der modernen Technik halten würde818 ). Solche Identifikationen seien für sie insofern gefährlich, als sie uns vergessen lassen, Auschwitz sei auch durchaus ohne Krieg denkbar und von ihm unabhängig. Die Abschwächung der anthropologischen Sichtweise bei Enzensberger wurde in ihren Augen durch die Verabsolutierung des geschichtsphilosophischen Standpunkts erkauft, was zur Folge hatte, dass sich die durch den Atomkrieg bedrohte Menschheit – inklusive der Deutschen – im gegebenen Augenblick819 wie eine potentielle Opfergruppe vorkommen konnte. Zusammenfassend gesagt zeigt die Kontroverse zwischen Enzensberger und Arendt (ähnlich wie diejenige zwischen Broszat und Friedländer), wie sich junge deutsche Intellektuelle etwa 20 Jahre nach dem Krieg von der höchst unproduktiven Vergangenheitsbewältigung lösen wollten. Weiter ist ihr zu entnehmen, wie nützlich es für die Deutschen – nicht nur – dieser Generation war, mit anerkannten jüdischen Intellektuellen zu diskutieren, um Stärken, Schwächen und mögliche Risiken der Auswege hervortreten zu lassen, mittels deren sich Enzensberger u.Ä. aus den Sackgassen der Vergangenheitsbewältigung zu befreien suchten. Für den Enzensberger des Jahres 1964 war der Faschismus primär als die Gefahr von Bedeutung, der man als Mensch in seiner Natur schwer widerstehen kann, solange einem die gesellschaftlichen Bedingungen darin nicht entgegenkommen. Zur These geschnürt bedeutet dies, Faschismus sei möglich, solange der Mensch im Kapitalismus lebe. Die Analogie zwischen Auschwitz und Atomkrieg werde erst dann nicht mehr nötig sein, sobald man den Kapitalismus abgeschafft habe. Daran wird deutlich: Arendt warnte davor, eine (aktuelle) Gefahr gegen die andere (einstige) aufzurechnen. Den oben angedeuteten Zusammenhang zwischen Auschwitz und dem Atomkrieg erklärte sie für das Produkt der einseitigen Pauschalisierungen, die sich nicht am Konkreten halten, und alle Differenzen den Konstruktionen opfern würden.820 Vereinfacht und Enzensbergers weitere Entwicklung vorwegnehmend gesagt, reagierte Arendt empfindlich auf die totalitäre Gefahr, deren Spuren sie in Enzensbergers Gedankengängen 818 Ebenda, S. 384. 819 Nach S. Braese mache Enzensberger dadurch aus den Deutschen wirkliche, nicht nur potentielle Opfer. Vgl. S. Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin – Wien 2001, S. 325. 820 „ Politik und Verbrechen. Ein Briefwechsel ...“, S. 385. 279 vorzufinden glaubte, während Enzensberger seinen Antifaschismus konsequent als einen antikapitalistischen verstanden hat. War also Arendt recht misstrauisch bezüglich der Bereitschaft der Deutschen, den eigenen totalitären Schatten zu überspringen, mag wiederum Enzensberger dem Irrtum aufgesessen sein, eine revolutionäre Diktatur des Proletariats könne sozusagen in einem Zug Kapitalismus und Nazismus überwinden, indem sie deren Wurzeln ausmerze. In dieser frühen Auseinandersetzung lassen sich unschwer weitere Umrisse von Enzensbergers intellektueller Entwicklung aufspüren. Arendt hatte für ihn wohl eine noch größere Bedeutung gehabt, als die unzähligen Zitate nahelegen würden, mit deren Hilfe Enzensberger seine Argumente seit den 1960er Jahren zunehmend zu unterstreichen pfleg- te.821 Beinahe könnte man sagen, dass er sich zu ihr später, also in den 1980er und 1990er Jahren umso mehr bekannte, je weniger er von ihr in den Jahren gewusst haben will, die unmittelbar auf die hier erwähnte Kontroverse gefolgt hatten. Während er sich in den revolutionären Jahren des Potentials der geschichtsphilosophischen Konstruktionen und deren großen Narrationen bediente, inklinierte er später zu einer sachlichen Erklärung der Details, ja zum Aufspüren eben dessen, was durch die grobgestrickten Maschen dieser Konstruktionen gefallen war. Durch die Aufforderung, Enzensberger möge in der Zukunft mehr „das Konkrete“ beachten, von der er freilich zunächst nichts wissen wollte,822 führte ihn Arendt unter anderem nah an das Programm der „skeptischen Generation“ heran („Konkretismus“ ist bekanntlich eins der Schlüsselattribute dieser Generation, so wie sie H. Schelsky beschrieben hat). Eine zunehmende Bedeutung Arendts für Enzensberger machte sich auch darin deutlich, wie dankbar er sich auf ihre Autorität berief, (immer) wenn er seine kommunistische Aventüre in den 1960er Jahren rückblickend relativieren, sprich differenzierter betrachtet wissen wollte. Gerade sie soll ihn gegenüber dem kommunistischen Regime immunisiert haben, so liefe er „nie Gefahr, ein Mitläufer der Parteikommunisten zu werden“, deren Positionen unhaltbar gewesen seien. Oder anders, dank Arendt will er gewusst haben, „wo die Grenzen liegen“.823 Dass diese Immunisierung nicht immer zuverlässig wirkte, und man darum Enzensbergers Selbstauslegung in 821 Zum Beispiel greift er im Essay Aporien der Avantgarde gleich zweimal auf die Elemente und Ursprünge ... zurück. Mit der Zeit werden die Querverbindungen zu Arendt immer häufiger. 822 Im Essay Macht und Gewalt hat sie ihn als einen prominenten Vertreter jener Kombination des „Seminarmarxismus“ und „teutonischer Überheblichkeit“ bezeichnet, die für die Neue Linke so charakteristisch war. Siehe T. Wild: „Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger“. Sinn und Form 2010, Heft 3, S. 331–339 hier S. 338. 823 Ebenda, S. 332. 280 diesem Falle wiederum auf nachträgliche Stilisierung hin zu untersuchen hat, ist evident,824 kommt hier doch zum erneuten Male Enzensbergers generationelle Lieblingspositionierung zwischen den antibürgerlichen 68ern (von denen man sich mithilfe von Arendt abzusetzen sucht) und den antitotalitären Skeptikern (Arendt soll über den „unter den Philosophen seltenen common sense“ verfügt haben).825 Hannah Arendt ist für Enzensbergers Essays etwa der letzten 20 Jahre des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten Referenzpersönlichkeiten.826 Von ihren wertvollen Anregungen zehrte er folglich, wenn er die fast unkontrollierbare Gewalt der sogenannten postideologischen Ära der 1990er Jahre begreifen wollte, die sich nicht mehr durch die in der ideologisch schwarz-weißen Epoche des Kalten Krieges erprobten Muster erklären ließ. Sobald sich Enzensberger dessen bewusst wurde, dass der liberale und fast blind an das Gute in der Menschennatur glaubende Staat auf seine Rollen langsam aber sicher verzichtet, holte er sich nicht selten Ratschläge bei Arendt. Der Idee eines toleranten Staates, der auf seine Funktion verzichtet, Macht auszuüben, und folglich die Menschheit vor sich selbst zu schützen aufhört, widersprach er durch Hinweise darauf, dass ein minimales Maß an Zivilisation auf keinen Fall geopfert werden dürfe. Ohne sich ausdrücklich zum Totalitarismusansatz Arendts zu bekennen, gelangte er indes zumindest in dessen Nähe, sofern er nun bereit war, auch den bürgerlichen Qualitäten des Menschen ihre Bedeutung zuzugestehen. Man kann also zugespitzt sagen, Arendt hatte einen großen Einfluss darauf, dass Enzensberger allmählich – obzwar nicht ohne Wenn und Aber – bereit wurde, mit der Bundesrepublik seinen Frieden zu schließen, deren politisches System und Verfassungspraxis er noch in den 1970er Jahren für skandalös undemokratisch, ja sogar unreparierbar gehalten hatte. Der vorläufige Endpunkt der geistigen Verwandtschaft zwischen Enzensberger und Arendt könnte in den 1990er Jahren wie folgt ausgedrückt werden: Es gilt nun, elementare Errungenschaften der bürgerlichen Zivilisation zu schützen, die nun – anders als in den 1960er Jahren – nicht einmal der damals unabdingbaren Notwendigkeit geopfert werden dürfen, Deutschland revolutionär zu demokratisieren. Da Enzensberger in den 1990er Jahren den Menschen eher vor sich selbst, als vor der verhängnisvollen Wirkung der gesellschaftlichen Institutionen schützte, stellten viele Texte Arendts für ihn eine unerschöpfbare 824 Vgl. ebenda. 825 Ebenda, S. 336. 826 Manche gehen sogar soweit, zu behaupten, Enzensberger habe von der „Autorität der Frankfurter Schule zu der von Hannah Arendt“ gewechselt. P.U. Hohendahl: „Splitter: Zu Hans Magnus Enzensberger“. In D. Borchmeyer (Hg..): Signaturen der Gegenwartsliteratur. Festschrift für Walter Hinderer. Würzburg 1999, S. 125–130, hier S 128. 281 Inspirationsquelle dar. Im Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg konnte er an ihre Analysen der selbstdestruierenden Tendenzen anknüpfen, von denen heutzutage immer mehr Menschen heimgesucht werden. Durch ein langes Zitat aus Origins of Totalitarianism827 werden seine Bemerkungen zu einer Massenenergie unterstrichen, die in einer ökonomisch und medial globalisierten und immer mehr Unzufriedene und Geschlagene (Desperados) produzierenden Welt828 an Bedeutung gewinnt. Dabei fällt auf, dass Enzensbergers Diagnosen aus den 1990er Jahren oft die Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit in die Gegenwart transponieren, als würde er zu den Bildern zurückkehren, die er schon lange vor den ersten Begegnungen mit Arendts Büchern wahrgenommen hatte. Aus diesem Bildreservoir mag er etwa die Idee geschöpft haben, der Ausweg aus den nun vielerorts wütenden Bürgerkriegen bestehe in nichts anderem als in einer völlig unrevolutionären (Flick)Strategie im Sinne first thing first. Vom Bürgerkrieg würden weder grandiose Gedanken zurück in die Normalität führen noch umwerfende Konzepte, vielmehr das, was den Deutschen bereits nach dem Krieg geholfen hat: „Trümmerfrauen, Heimkehrer, Ami-Fräuleins, Kellerkinder, Schwarzhändler, Persilscheinbesitzer, Kohlenklaus, Bastler, Schrebergärtner und Häuslebauer“.829 Damit Europa nun nicht zu tabula rasa werde, seien wieder die Helden und Heldinnen vonnöten, die dem Nachkriegsdeutschland auf die Beine geholfen haben: „Eine Frau sucht nach Lumpen, die als Windeln zu brauchen sind. Aus den Reifen eines zerschossenen Fahrzeugs werden Schuhe gemacht. Die erste Wasserleitung wir zusammengeflickt, der erste Generator beginnt zu laufen. Schmuggler schaffen Treibstoff herbei. Ein Postbote taucht auf [...] Der Bischof holt verwahrloste Söldner in den Schuppen neben der Kirche und richtet eine Autowerkstatt ein. Das zivile Leben beginnt.“830 . Arendt leitet Enzensberger bei seinen anthropologischen Exkursen. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre hatte sie ihm gezeigt, dass die anthropologische Perspektive nicht zu unterschätzen, ja durch die geschichtsphilosophische nicht zu verdrängen ist, in späteren Texten sucht er bei ihr schon nach argumentativer Unterstützung, um seinen Analysen eine anthropologische, besser humanistische Skepsis zugrunde legen zu kön- nen.831 Diese anthropologische Linie bildet nicht nur eine Brücke zwi- 827 Vgl. H.M. Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main 1993, S. 28–31. 828 Ebenda, S. 81–82. 829 Ders.: „Zur Verteidigung der Normalität“. In ders.: Politische Brosamen. Frankfurt am Main 1985, S. 207–224, hier S. 224. 830 Ders.: Aussichten auf den Bürgerkrieg ..., S. 92. 831 Damit man den Einfluss von Arendt nicht überbewertet: Nicht nur S. Freud, an den (Stichwort Todestrieb) sich Enzensberger im Text anlehnt, sondern vor allem E. Canetti scheint mir für E. Texte der 1990er Jahre anregend zu sein, insbesondere seine anthropologisch fundierten Überlegungen zu den einzelnen Formen der 282 schen Enzensbergers frühen und späteren Texten, sondern sie mündet in den Punkt, an dem sein Deutschlanddiskurs für sein Gesamtwerk aussagekräftiger wird. Einige Schlüsselargumente der frühen Texte bleiben erhalten und werden in den 1990er Jahren nur in andere Kontexte gerückt. Etwa im Essay Hitlers Wiedergänger,832 einem recht eigenwilligen Versuch, Hitler (Symbol des Deutschseins) Saddam Hussein als einem Symbol der problematischen Gegenwart zur Seite zu stellen, greift Enzensberger auf der Suche nach Parallelen (wie beide jeweils die Massen zu mobilisieren suchten; wie vergeblich alle Versuche sind, diese Phänomene wirksam zu erklären) auf sein Argument der verhängnisvoll entlastenden Lokalisierung des Guten und Bösen zurück. Bemühten sich ganze Nachkriegsgenerationen jahrzehntelang ohne Erfolg darum, das Verhalten der Deutschen in den Jahren 1933–45 auf „ihren historischen Sonderweg, ihren eigentümlichen Charakter, ihre vermeintlich anders geartete Kultur zurückzuführen“,833 warten heutzutage „Nahostkenner und Orientalisten mit ähnlichen Argumenten [auf, A.U.] Man habe es im Nahen Osten mit etwas schlechthin Anderem zu tun, mit einer unvergleichbaren Kultur, einer Mentalität, die es zu entschlüsseln gelte, und mit religiösen Voraussetzungen, von denen sich die ignorante Außenwelt gar keinen Begriff mache.“834 In Anlehnung an dasselbe Argument, das ihm in den 1960er Jahren untersagt hatte, die Wurzeln des Guten und Bösen essentiell zu lokalisieren, stellt er nun nüchtern fest, dass die oben angeführten Hypothesen beruhigend wirken, „denn sie erwecken den Eindruck, als wäre das Problem ohne weiteres zu lokalisieren. Ließe sich der Todesrausch Hitlers und seiner Anhänger schlichtweg auf irgendeine Eigentümlichkeit der Deutschen reduzieren, so hätte es genügt, einen Cordon sanitaire um ihr Territorium zu legen und sie einer immerwährenden Kontrolle zu unterwerfen, und schon hätte der Rest der Welt bis ans Ende der Zeiten unbehelligt leben können.“835 Diese Voraussetzung weist er nun als eine unbegründete Illusion zurück. Indem er die Analogie zwischen Hitler und Hussein aufstellt, versieht er lediglich die pessimistische Hypothese der menschlichen Natur mit Inhalt, die er in den 1960er Jahren mithilfe der geschichtsphilosophischen Konzepte entkräften zu können glaubte. Hatte er sich damals der unproduktiven Vergangenheitsbewältigung mit dem Einwand entgegengestemmt, Auschwitz sei für uns von Interesse, sofern Energie der Massen, die Canetti theoretisch (im Essay Masse und Macht), wie auch literarisch (im Roman Die Blendung) herausgearbeitet hat. 832 H.M. Enzensberger: „Hitlers Wiedergänger“. In ders.: Zickzack ..., S. 79–88. 833 Ebenda, S. 83. 834 Ebenda, S. 83. 835 Ebenda, S. 83. 283 es wiederholbar sei836 , wartet er nun mit einer Annahme auf, die eben anthropologische Tatsachen in den Vordergrund rückt, anstatt ideologisch vorzugehen: Hitlers und Husseins Fälle zeigen, man habe es „nicht mit einer deutschen, nicht mit einer arabischen, sondern mit einer anthropologischen Tatsache zu tun, [und somit, A.U.] scheitern alle Versuche [beide, A.U.] ideologisch zu interpretieren, oder gar zu widerlegen.“837 Ähnlich argumentiert er auch in der Frage der Migration, der er im Essay Die Große Wanderung nachgeht.838 Allen, die die Schwierigkeiten mit der Migration für ein (essentiell) deutsches Problem etwa der – typisch – deutschen Fremdenfeindlichkeit mit der spezifisch deutschen Lösung halten, hält er mit Nachdruck entgegen: Das Problem verschwinde nicht, indem man Deutschland isoliere.839 Sinnvoller erscheine es ihm, die Psychopathologien der ambivalenten und unsteten Einstellung zur Deutschheit zu durchdenken, die zwischen (Selbst)bewunderung und (Selbst)hass schwankt. Mit seiner Diagnose aus dem Jahre 1992 kehrt er zu seiner alten Gedankenfigur zurück, die in gegensätzlichen Alternativen in deren Radikalität nur noch zwei Seiten desselben Irrtums entlarvt: Die Sätze „Nie mehr Deutschland“ oder „Ausländer, lasst uns mit den Deutschen nicht allein!“ stellen für ihn keine angesichts der deutschen Vergangenheit vertretbaren Alternativen dar, sondern allenfalls zwei Irrwege, in denen lediglich das rassistische Klischee pharisäisch ins Negative umgepolt worden ist. Enzensbergers Einstellung zur Anthropologie scheint somit nicht nur eng mit seiner Reflexion des „deutschen Problems“ zusammenzuhängen, sondern stellt einen der Impulse dar, welche ihm über die einschneidende Zäsur des Jahres 1968 hinweg geholfen haben. Seine kubanische Erfahrung hat Enzensberger mindestens zehn Jahre lang verarbeitet, wovon Der Untergang der Titanic zeugt. Dem eifrig Begeisterten Ich, das alles vor sich und sich stets zum Besseren wendend wähnte, wird im Laufe dieser bitteren Komödie allmählich klar, dass das Fest vorbei ist, bevor es richtig begonnen hat, und dass die Hoffnung ähnlich dahin schwindet, wie die Titanic samt Enzensbergers nie abgeschlossenem Kubagedicht.840 Andererseits gleicht dieses Dahinschwinden keinem definitiven Zugrundegehen: Bereits das schreibende Ich schaut in Berlin, in dem es von 836 Im Gespräch mit T. Wild, in dem er auf den Briefwechsel mit H. Arendt zu sprechen kam, hat er dieses Argument nur wiederholt. Vgl. T. Wild: „Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger“ ..., S. 338. 837 H.M. Enzensberger: „Hitlers Wiedergänger“. In ders.: Zickzack ..., S. 85. 838 H.M. Enzensberger: Die Große Wanderung. Dreiunddreißig Markierungen. Mit einer Fußnote „Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd“. Frankfurt am Main 1992. 839 Ebenda, S. 51. 840 Vgl. H.M. Enzensberger: Der Untergang der Titanic. Eine Komödie. Frankfurt am Main 1978, S. 15, 16, 21 und 26. 284 verbitterten Exrevolutionären nur so wimmelt, zum Fenster hinaus, und es sieht keinen Eisberg mehr, der das Schiff (wie auch ihn selbst) versenken würde.841 Es erinnert sich daran, dass es einst (in „Aporien der Avantgarde“ klang es recht überzeugend) imstande war, zu formulieren, wo (leider) nichts beginne, könne auch nichts (zum Glück) zu Ende gehen.842 Seine Desillusion verarbeitend vertraut sich Enzensberger in demselben Jahr im Essay „Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“ einem gewissen Balthasar an, der wohl Ähnliches durchlitten hat (er stellt wahrscheinlich Enzensbergers alter ego dar),843 mit folgendem Befund: Anstatt andere auf ihre Visionen zu verpflichten, müssten Kommunisten sowie Kapitalisten sich damit abfinden, dass die Zukunft weder erkennbar, noch vorhersehbar sei. „Aber die Zukunft,“ schreibt der Briefverfasser, „ist keine Spielwiese für Husaren und die Ideologiekritik keine Kanonku- gel.“844 Es folgen die oft zitierten Sätze darüber, dass sich unsere an die philosophischen Traditionen des deutschen Idealismus gefesselten Theoretiker zuzugebend weigern was jeder Passant längst verstanden hat: dass es keinen Weltgeist gibt; dass wir Gesetze der Geschichte nicht kennen; dass auch der Klassenkampf ein „naturwüchsiger“ Prozess ist, den keine Avantgarde bewusst planen und leiten kann; dass die gesellschaftliche wie die natürliche Evolution kein Subjekt kennt und dass sie deshalb unvorhersehbar ist; dass wir mithin, wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben, sondern etwas ganz anderes das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen.845 Ein Abschied vom Utopismus aller geschichtsphilosophischen Konzeptionen, der kaum eindeutiger werden kann. Dessen Wirkung wird von der weniger strikten Formulierung aufgewogen, es sei nicht mehr angebracht, „jeden Vergleich zwischen Natur- und Gesellschaftsprozessen für unzulässig und reaktionär zu erklären,“846 wie auch vom bescheidenen Wunsch des Briefverfassers, künftig eine der neuen Situation adäquate Haltung finden zu können: Er wünscht sich „ein bisschen weniger Angst vor der 841 Ebenda, S. 26. 842 Zu Beginn der 1980er Jahre kehrt er zu dieser Gedankenfigur im Essay „Zur Verteidigung der Normalität“ zurück. Vgl. H.M. Enzensberger: „Zur Verteidigung der Normalität “ ..., S. 39–40. 843 Der Briefverfasser vertraut sich ihm wohl deshalb an, weil er ihn nie zu den „Planstellendenkern, zu den Fahrkartenzwickern des Weltgeistes“ gerechnet habe. H.M. Enzensberger: „Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“ ..., S. 8. 844 Ebenda, S. 6. 845 Ebenda, S. 7. 846 Ebenda. 285 eigenen Angst, ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, Respekt und Bescheidenheit vor dem Unbekannten“.847 Das Ende der großen geschichtsphilosophischen Erzählungen bringt nicht nur Verluste mit sich, sondern auch neue Optionen. Wer auf die vermeintliche Herrschaft über die Zukunft verzichtet, kann die Freiheit gewinnen, Unerwartetem mit Leichtigkeit zu begegnen. Wer die Zukunft offen hält, sie nicht mehr an seine ideologischen Vorgaben verpachtet, wird sich seine eigenen „allzumenschlichen“ Schwächen zuzugestehen wissen, und darum effizienter der revolutionären Katerstimmung entgegenwirken. Es ist gerade die Zahl der zukunftsoffenen Optionen, die die Schlüsselstellung dieses Textes für Enzensbergers intellektuelle Entwicklung ausmacht. Seitdem bewegt er sich zwischen ihnen, stellt sie frei neben und gegeneinander, um statt der Disjunktionen Wege zu finden, sie in gegenseitiger Spannung zu halten. Auch in diesem Falle, darin nicht unähnlich dem freien Spiel mit den Generationssemantiken, handelt es sich bei Enzensberger weniger um Sprünge, um radikale und irreversible Kurswechsel und prinzipielle Revisionen, als vielmehr um Akzentverschiebungen, die zu komplementieren und zu kompensieren im Begriffe sind. So kommt es auch im Falle des Abschieds von der Geschichtsphilosophie, um Marquards Formel zu bemühen, keinesfalls zu einer endgültigen Abrechnung. Um sich von der Geschichtsphilosophie zu verabschieden, braucht man mitnichten alle Hoffnungen zu begraben,848 auf Utopie restlos zu verzichten.849 Zu distanzieren hat man sich lediglich, und genauso macht es Enzensberger, von fatalsten Momenten des utopischen Denkens, dies sind: „der projektive Größenwahn, der Anspruch auf Totalität, Endgültigkeit und Neuheit“.850 7.7 Zwischen Geschichtsphilosophie und Anthropologie: Enzensberger und die Natur Ein Blick auf Enzensbergers Texte der 1990er Jahre zeigt, wie schwierig es für ihn war, den angedeuteten Abschied von der Geschichtsphilosophie in der gebotenen Spannung zu halten, das heißt, nicht vollends in den Ge- 847 Ebenda, S. 8. 848 In „Vermutungen über die Turbulenz“ (1989) schreibt er: „Das Ende der Geschichte können die meisten von uns sicherlich leicht verschmerzen. Das bedeutet aber nicht, dass wir ohne Lebensperspektiven, Strategien, Pläne auskommen könnten.“ H.M. Enzensberger: „Vermutungen über die Turbulenz“. In ders.: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt am Main 2002, S. 126–134, hier S. 133. 849 Dazu vgl. auch die Gedichte „Sprechstunde“, (Die Furie des Verschwindens, 1980), oder „Entzugserscheinungen“ (Leichter als Luft, 1999). 850 H.M. Enzensberger: „Gangarten. Ein Nachtrag zur Utopie“ ..., S. 69. 286 gensatz umzukippen, also zu der Anthropologie. Der hohe Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe ist unter anderem daran abzulesen, dass Enzensberger in seinen Diagnosen (es betrifft „Gangarten. Ein Nachtrag zur Utopie“ und „Aussichten auf den Bürgerkrieg“) sich von dem geschlossenen geschichtsphilosophischen Denken auf die Anthropologie hin dermaßen stark öffnet, dass einige Beobachter in seinen Texten wiederkehrende Residuen der verdrängten Geschichtsphilosophie zu erblicken glauben. Nicht ganz zu Unrecht bemerken einige Interpreten, am stärksten R. Herzinger, dass Enzensberger, der um 1978 jedem Prophetengestus abgeschwört und die Offenheit der Zukunft betont haben will, in den 1990er Jahren, so Herzinger, dann selber der prophetischen Pose erlegen habe, um zum Verkünder einer „Epoche eines anbrechenden neuen Zeitalters zu werden: 1990 zum Verkünder einer Epoche der der sich selbst organisierenden Demokratie, 1993 zum Propheten eines angeblich unmittelbar bevorstehenden Untergangs der Zivilisation im entfesselten, irrationalen Krieg aller gegen alle“.851 Andererseits ist evident, wie unermüdlich Enzensberger weitere Optionen ins Spiel brachte. Der in „Zwei Bemerkungen zum Weltuntergang“ gestellten Forderung, Gesellschafts- und Naturprozesse Prozesse einander näherzubringen, suchte er seit den 1980er Jahren durch aufgestellte Analogien zwischen den Natur- und Humanwissenschaften näherzukommen. Diese Konstruktion ist in einigen parallel laufenden Schritten zu verfolgen. Zunächst fordert Enzensberger auf, die Opposition zwischen Poesie und Wissenschaft abzuschwächen. Als poeta doctus dichtet Enzensberger nicht nur, um Gefühle und Stimmungen zu verbalisieren, sondern er bettet sein Dichten vielmehr in die Tradition des Lehrgedichts ein. Ganz bewusst ordnet er sich dadurch der zwar aus der griechisch-römischen Antike stammenden, in Deutschland von einigen Romantikern und von Goethe gepflegten dichterischen Form zu,852 die Wissen und Dichten, also Wissenschaften, Philosophie und Künste recht undifferenziert innerhalb des Mythos gelten ließ.853 Diese in der Renaissance und Romantik gipfelnde Linie sei durch das Schisma zwischen „den Naturwissenschaften 851 R. Herzinger: „Flucht aus der Politik. Deutsche Intellektuelle nach Srebrenica“. Merkur, 1996, S. 375–388, hier S. 386. Weiter unten fügt er noch hinzu: „Doch indem Enzensberger jegliche Möglichkeit planvollen Handelns von politischen Subjekten ausschließt, reproduziert er nur das notorisch gebrochene Verhältnis der deutschen Linken zu konkreter, gleichzeitig ethisch fundierter Politik.“ Ebenda, S. 387. 852 Enzensberger erwähnt Lichtenberg, Goethe (Farbenlehre und Metamorphose der Pflanzen), Carus, Chamisso und Novalis. H.M. Enzensberger: „Die Poesie der Wissenschaft. Ein Postskriptum“. In ders.: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa ..., S. 264. 853 Siehe ebenda, S. 263. 287 auf der einen, den Künsten und den Humanoria auf der anderen Seite“854 erst im 19. Jahrhundert abgebrochen, das zwei unversöhnliche, doch wohl nur spiegelbildverkehrte Gegensätze entstehen lassen habe: Den jedes Wissen verweigernden Dichter (idiot lettré) und den jedes nichtwissenschaftliche Wissen missachtenden Gelehrten (idiot savant). Die gegenseitige Achtung zwischen Dichtung und Wissenschaft hält Enzensberger in Anlehnung an einige Wegbereiter der modernen Dichtung855 für einen geradezu aufklärerischen Schritt, durch den die Literatur sich „aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit“856 befreien könnte. Der für unüberbrückbar gehaltene Abstand zwischen den Humanwissenschaften und den Naturwissenschaften wird kleiner, sobald man in Betracht zieht, in welchem Maße die modernen Naturwissenschaften die Natur radikal und vielseitig temporalisiert haben (Geologie, Evolution, Thermodynamik der lebendigen Systeme, Quantenmechanik, Kosmolo- gie).857 Die naturwissenschaftliche Forschung klammert sich nun immer weniger an die traditionellen Ansprüche der „strengen Wissenschaft“, und greift häufiger auf Modelle und Theorien der Selbstorganisation, dissipativer Strukturen und nicht-linearer Logiken zurück;858 im naturwissenschaftlichen Bild der Natur nimmt infolgedessen die Kontingenz, Unvorhersehbarkeit immer mehr Raum ein,859 man kalkuliert stärker die eigenen Unsicherheitsgrade ein, wird bescheidener in den Ansprüchen, darum in gewissem Sinne auch freier.860 Und gerade die äußerst belehrte Partizipation an diesem, die Thermodynamik, Evolutions- und Systemtheorie, sowie Mathematik und die theoretische Physik wesentlich bereichernden Prozess bringt Enzensberger auf die Idee, naturwissenschaftliche Er- 854 Ebenda, S. 264. 855 R. Queneau, P. Levi, S. Lem, T. Pynchon, L. Gustafsson, A. Blanco, M. Holub. Siehe ebenda, S. 266–270. 856 Ebenda, S. 266. 857 Detaillierter zu diesem Prozess: W. Riedel: „Naturwissenschaft und Naturlyrik bei Hans Magnus Enzensberger“. Zeitschrift für Germanistik, 2009, 1, S. 121–132, hier S. 122–124. Die grundlegende Argumentation Riedels wird hier komplett über- nommen. 858 Siehe H.M. Enzensberger: „Vermutungen über die Turbulenz“, ..., S. 129. 859 „Dabei hat sich mindestens zweierlei herausgestellt: dass die Evolution komplexer Systeme prinzipiell nicht exakt vorhergesagt werden kann. Ihr Ablauf wird von singulären Ereignissen, oft von hoher Unwahrscheinlichkeit, entscheidend beeinflusst. Winzige Inputs können sehr große Ensembles zum Umkippen bringen, während andererseits enorme Einflussgrößen dynamisch aufgefangen werden, ohne dass es zu unkontrollierbaren Turbulenzen kommt. Man könnte behaupten, die Wissenschaft sei auf dem besten Wege, den Zufall wieder in seine alten metaphysischen Rechte einzusetzen. Allerdings wäre mit dem Rückfall in eine vorwissenschaftliche Begriffswelt nichts gewonnen.“ Ebenda, S. 129. 860 Nicht zufällig werden die Elixiere der Wissenschaft mit dem Gedicht „Hommage à Gödel“ eröffnet. Ebenda, S. 9. 288 kenntnisse in die Humanwissenschaften zu übertragen. Der Kreis schließt sich in dem dritten Schritt, worin eben die Naturwissenschaften auf die Notwendigkeit hinweisen, Dichtung und Wissenschaft zu verkoppeln. Die bereits überwundene Theorie Ch.P. Snows vom unterschiedlichen Kulturhorizont der literarischen und naturwissenschaftlichen Intelli- genz861 weiter hinter sich lassend bringt Enzensberger Argumente vor, die vom engen Zusammenhang zwischen diesen Bereichen zeugen. Fragt er nach dem eventuellen Einfluss der Dichtung auf die Wissenschaft, kommt er zum Befund, dass es gerade die neuen naturwissenschaftlichen Paradigmen sind, was die Dichtung für die Naturwissenschaft unumgänglich macht. Wenn die Kosmologie und die Neurowissenschaften nicht mehr bereit sind, „spekulative Ideen, die keine unmittelbare experimentelle Verifizierung zulassen,“ zu tabuisieren, ja wenn sich sogar die Mathematiker mit der „Ambiguität ihrer Erkenntnissmöglichkeiten“ auseinandersetzen und wenn in der Quantenphysik das Undenkbare alltäglich sei,862 dann kommt sie um bildhafte, indirekte, übertragene Ausdrucksformen, also um Metaphern, ja um sprachliche Poetizität863 nicht herum. Im Gegenzug kann sie wiederum für die Dichtung als Reservoir der Metaphern nützlich werden, so dass sie die natürliche Sprache um weitere Quellen der Einbildungskraft und Phantasie bereichern kann. Herzingers Feststellung, Enzensberger habe in den 1990er Jahren oft der prophetischen Pose nicht widerstehen können, werden diese Tatsachen wohl nicht ganz widerlegen können, dennoch glaube ich, dass sie die Texte aus dieser Zeit doch in ein anderes Licht stellen. Was in ihnen als unmoralischer Flirt mit indifferenter Offenheit anmuten kann, der mit ausgestellter Absage an Vorhersehbarkeit seinen Unwillen kaschiert, um eine „bessere Zukunft“ zu kämpfen, gewinnt nun einen tieferen Grund. Dünne Fäden, an denen Enzensberger zwischen den einzelnen Generationssemantiken sowie dem geschichtsphilosophisch-anthropologischen Dilemma geschwebt hat, werden nun zu einem stabilen Seil, das problemlos die meisten Themen, Experimente wie auch lyrisch-essayistische Stimmungen dieses Autors zu halten vermag. Doch damit nicht genug; von diesem Themenkomplex her schauend wird auch die Sprache nachvollziehbarer, in der von nun an Enzensberger über die Deutschheit 861 Ch.P. Snow: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Stuttgart 1967 (englisch 1958). 862 Alle Beispiele: H.M. Enzensberger: „Die Poesie der Wissenschaft. Ein Postskriptum“.., S. 273. 863 Enzensberger beruft sich auf N. Bohr, der gesagt hat, die Quantenphysik sei ein „Beispiel dafür, dass man physikalische Vorgänge sehr wohl verstehen könne, ohne dass möglich wäre, anders über sie reden als in Bildern und Gleichnissen; da seine Wissenschaft nicht von der Natur handle, sondern von dem, was Menschen über die Natur aussagen können, würden literarische Techniken zu einem wichtigen Bestandteil der Physik“. Ebenda. 289 spricht. Sie bleibt nach wie vor selbstironisch und frei vom Pathos, im Vergleich zu früheren Texten wird sie jedoch weniger elitär, also sachlicher, beobachtender, zugänglicher den Paradoxen; sie meidet nun weder ökonomische Argumente, noch die Alltagsperspektive der „normalen“ Bürger. Nüchterner in ihren Ansprüchen, skeptischer bezüglich der eigenen Macht, scheint sie stärker bereit, sich überraschen zu lassen. Der radikale Veränderungswille scheint dem Versöhnungswillen zu weichen, selbst nur halbwegs gelungene Lösungen hinzunehmen.864 Ab den späten 1980er Jahren lässt Enzensberger die Ereignisse zunehmend ihren Lauf nehmen; diesen nicht geändert zu haben, erscheint ihm nun annehmbarer, als ihnen seinen Willen aufgezwungen zu haben.865 Der seine frühen Texte prägende aktivistische Heroismus nimmt ab; ohne mit der Wimper zu zucken stellt Enzensberger seine einstigen Übergriffe bloß, ja er weigert sich nicht, ihre Absurdität durch absichtliches Wiederholen vollends hervortreten zu lassen.866 Auch dies wohl ein Effekt der zunehmenden Anthropologisierung seines Denkens: Anthropologische Konstanten gewinnen an Bedeutung, der Mensch sei etwa durch „moralisches Erpressen“ kaum zu ändern. Das Gegenteil zu denken, wäre für den in dieser Hinsicht skeptisch denkenden Enzensberger genauso naiv wie der Glaube, der Mensch lasse sich einige Gedanken verbieten und andere schlichtweg widerlegen: „Mythen [kann man, A.U.] nicht durch Seminararbeiten widerlegen“,867 hat Enzensberger bereits am Ende der 1970er Jahre bemerkt. Der einstige Aktivismus wird auf ein Minimum reduziert. Sich implizit an O. Marquard anlehnend stellt Enzensberger fest, es „komme am Ende des Jahrhunderts nicht darauf an, die Welt zu verbessern, sondern 864 Vgl. Petersdorffs Überlegungen zur hypothetischen Sprache der dichterischen Anthropologie, wie sie Enzensbergers Gedichte nach 1990 nahelegen: Dieser Sprache sei der Grund geschwunden, „die Sprache zu zerhacken, zu verfremden, anzuzünden und so zu reden wie noch nie ein Mensch, ungehört [...] Das Gespreizte der Einmaligkeit. Ebenso gibt es kein Zurück zu einer Sprache davor, das Neue steckt in den Knochen [...] Die Sprache der Anthropologie ist eine Sprache der Schnittmengen, ihr Reiz ist das Mischungsverhältnis“. D. von Petersdorff: „Im Nachhall der Systeme“ ..., S. 48. 865 Siehe die Gedichte „Minimalprogramm“ (Kiosk, 1995), „Zugunsten der Versäumnisse“, (Leichter als Luft, 1999), „Unterlassungssünden“ (Die Geschichte der Wolken, 2003). 866 Im Essay „Mittelmaß und Wahn“ steht: „Die Rede von der Restauration, ein in den fünfziger Jahren beliebter Topos, beruhte, wie wir wissen, auf einer Augentäuschung.“ Und folgende Auflistung weiterer solcher Täuschungen schließt Enzensberger mit dem Selbstzitat aus dem Jahre 1968, das jenes Tertium non dabitur heraufbeschwört. H.M. Enzensberger: „Mittelmaß und Wahn. Ein Vorschlag zur Güte“. In ders.: Mittelmaß und Wahn ..., S. 251–253. 867 Ders.: Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang. In: Kursbuch 52 (1978), S. 6 - 7. 290 darauf, sie zu verschonen.“868 Marquard’sche Spuren, die in Enzensbergers Werk mit der Zeit zunehmen, sind zumindest von doppeltem Charakter. Einerseits scheint Enzensberger Marquard vermittelt aufgenommen zu haben, nämlich indem er sich von der Ritter’schen Figur der Entzweiung inspirieren ließ, so wie sie Marquard als einer der Schüler J. Ritters der breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Diese Figur geht von der auch in vielen anderen Kontexten mehrmals formulierten Annahme aus, die Welt der exakten Wissenschaft, der Technik, Arbeit und Wirtschaft entferne sich immer mehr von der Welt des Ursprungs, der Geschichten, der subjektiven Verwurzelung; banaler ausgedrückt, Zukunft und Herkunft driften immer schneller auseinander. Wichtig ist, und darin liegt das Besondere der Ritter’schen und im Anschluss daran auch Marquard’schen Auffassung, dass die Welten der Zukunft und Herkunft nicht gegeneinander gestellt werden sollten, sondern beide als Teil des Ganzen zu verstehen, daher miteinander zu versöhnen sind. Herkunft und Zukunft seien als entzweite Teile des Ganzen zu ertragen, die in ihrer Entzweiung immer schon zueinander gehören, einander bedingen, brauchen und ausbalancieren. Weder um die um jeden Preis versöhnte Identität des nicht Entzweiten geht es also, noch um die via Negation des Gegensatzes erreichte Identität des Halbierten, sondern darum, dass man Zukunft und Herkunft in der entzweiten Form auszuhalten hat. „Ebenso schlimm wie die zukunftslose Herkunft“, heißt es in Marquards Bemerkungen zu Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung, „ist die herkunftslose Zu- kunft.“869 Die Entzweiung, um das Besondere dieser Auffassung hervorzuheben, ist die Gefahr und zugleich eine gute Botschaft:870 Unsere moderne Welt sei, so Marquard, weder Idylle, noch Hölle, sie sei weder „nur“ konservativ zu verteidigen, noch „nur“ revolutionär zu ändern. Ich glaube, um den Bogen zurück zu Enzensberger zu schlagen, dass diese versöhnende Entzweiungsfigur auch Enzensbergers Gedankenwelt zugrunde liegt, findet man in ihr doch viele unübersehbare Affinitäten zu seinen jede Einseitigkeit meidenden Vorschlägen. Ist die Entzweiung der modernen Welt weniger, als alle Weltverbesserer verlangen, und zugleich mehr, als 868 H.M. Enzensberger: Zickzack ..., S. 62. Dem intellektuellen Dialog zwischen Marquard und Enzensberger widmet sich J Hacke, der in dieser Formulierung von Enzensberger eine Paraphrase aus Marquards Schrift Skeptische Methode im Blick auf Kant entdeckt hat. Aufgegriffen wurde sie auch in Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Vgl. J. Hacke: „Ironiker in der Bundesrepublik. Hans Magnus Enzensberger und Odo Marquard“. In D. von Petersdorff (Hg.): Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik ..., S. 91–102, hier S. 94. 869 O. Marquard: „Bemerkungen zu Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung“. In ders.: Skepsis und Zustimmung. Philosopische Studien. Stuttgart 1994, S. 16–29, hier S. 26. 870 Ebenda, S. 27. 291 darin alle zu erblicken wissen, die die moderne Welt am liebsten zum Teufel schicken würden, dann mag Enzensberger einer der Intellektuellen sein, die sich dieses Gedankengutes der Ritter-Schule angenommen haben. Denn was ihm vorschwebt, scheint weder zukunftsorientiert die Emanzipation zu romantisieren, noch sich dem fundamentalen Konservativismus zu verschreiben, der emanzipative Projekte der Moderne ablehnt und Herkunftswerte verabsolutiert. Andererseits folgt Enzensberger der Marquard’schen Spur, sofern er zunehmend mit Interpretationen liebäugelt, denen die Figur der Kompensation zugrunde liegt. Im Gegensatz zu allen Fortschrittlern oder Konservativen reflektiert er die Dialektik der Vorteile und Nachteile, Gewinne und Verluste. Bereits das Gedicht „Carceri dʼinvenzione“ aus der Blindenschrift (1964) weiß, dass Gewinne stets durch Verluste erkauft werden.871 Die noch im Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts (Kapitel G.B. Piranessi rekurriert auf dessen Bild Carceri dʼinvenzione),872 präsente, der Ägide von Adornos Dialektik der modernen Produktiv- und Destruktivkräfte873 verpflichtete, und wohl hier kulminierende aufklärungskritische Fortschrittskritik („Jede Katastrophe ein Sieg. Jeder Sieg eine Katastrophe“),874 wird in den 1980er und 1990er Jahren gemildert, man könnte fast sagen menschlich-bürgerlicher gemacht, was dem Einfluss von Marquards bürgerlich fundierter Kompensationsphilosophie zugerechnet werden mag. Verluste erscheinen nun nicht mehr so unwiederbringlich und fatal wie es noch die Dialektik der Aufklärung nahelegte, sondern als kompensierbar auf eine Art, die aufs Ganze gesehen akzeptabel sein kann. So wie aus einer wohlmeinenden Intention nicht immer absehbar gute Konsequenzen folgen müssten, kann manch- 871 H.M. Enzensberger: Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts. Frankfurt am Main 1975. 872 Vgl. P. Ohrgaard: „Carceri d’invenzione. Über Enzensbergers ,Mausoleum‘“. Text und Kontext, 61, 1978, S 416–428. 873 „Nochmals sei also betont, dass in Enzensbergers Werk produktive und destruktive Kräfte innerhalb menschlicher Kultur- und Zivilisationsgeschichte bis zur Unkenntlichkeit dialektisch miteinander verwoben erscheinen“, schreibt in seiner insbesondere die frühen Lyrikbände, Mausoleum und Untergang der Titanic minutiös analysierenden Dissertation R. Barbey. Diese belegt einmal mehr, dass Enzensberger dieser dialektischen Tradition folgend Adornos Aufklärungskritik bis weit in die 1970er Jahre anhing, um ihr in Mausoleum zur literarisch eindrucksvollen und avancierten Gestalt zu verhelfen. Die Abwendung von Adorno ist somit vielmehr nur auf die ästhetizistisch praxisferne Theorie Adornos bezogen, die Enzensberger um 1968 unbrauchbar erschien, sofern sich aus ihr „kein direktes sozialrevolutionäres Element oder gar eine Anleitung zu revolutionärem Handeln ableiten“ ließ. R. Barbey: Unheimliche Fortschritte. Natur, Technik und Mechanisierung im Werk von Hans Magnus Enzensberger. Göttingen 2007, S. 101 und 96. 874 H.M. Enzensberger: Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts. Frankfurt am Main 1975, S. 84. 292 mal auch von unguten Vorsätzen oder falschen Voraussetzungen profitiert werden. Was sich als sachlich begründete Kritik gibt, mag auch moralische Gründe gehabt haben, während das, worin man oft nur Moralisieren erblickt, sachlich fundiert gewesen sein kann.875 Dies mag einige Formulierungen Enzensbergers aus der Zeit um 1990 nachvollziehbarer machen, die man nicht recht verstanden wissen wollte und vielmehr für einen eigenwilligen Beitrag zur deutschen Frage hielt: So etwa seine Analogien zwischen dem Gang der menschlichen Gattung, also der Geschichte einerseits, und dem aufrechten Gang, also einer absolut unberechenbaren, prekären, schwankenden, stets von Katastrophen bedrohten Bewegungsart andererseits.876 Seine Feststellung, 1990 seien manche „Liebhaber der Stabilität“877 aus ihrem Traum böse erwacht, in dem sie die Situation zu kontrollieren glaubten, und nun mit leeren Händen dastehen würden, muss somit nicht zwingend als Ausdruck von schadenfroher Genugtuung eines Intellektuellen interpretiert werden, der selber lange seinem revolutionären Traum nachtrauerte, um sich nun seine plötzliche Wachsamkeit zugute zu halten. Vielmehr tut man gut daran, 875 Von vielen Beispielen sei etwa folgendes gewählt, hinter dem deutlich Marquard’sche Inspiration zu spüren ist. „Das Verbot, sich auf die Vorzüge der Bundesrepublik zu berufen, wurzelt im schlechten Gewissen. Natürlich ist es ein moralischer Skandal, dass sich die Deutschen, eine Generation nach dem größten Verbrechen ihrer Geschichte, wenigstens im westlichen Teil ihres Landes besser befinden denn je zuvor. Das mindeste, was sie in dieser Lage tun können, ist, ihr Glück zu leugnen [...] So hat die deutsche Selbstkritik der Nachkriegszeit von Anfang an eher moralisch als politisch argumentiert. Der rigorose Ton, den sie dabei anschlug, hat ihr nicht unbedingt zu größerer Treffsicherheit verholfen. Keine zehn Jahre, nachdem die Lebensmittelrationierung aufgehoben war, avancierte die Vokabel satt zum Sprichwort. Der „satte Bundesbürger“ wurde zur Zielscheibe der Entrüstung so, als wäre der Hunger eine positive moralische Kategorie. Vorwürfe dieser Art [... wurden, A.U.] mit einer gewissen Nachsicht aufgenommen, ähnlich wie in früheren Zeiten die Predigten der Kapuziner; nur bekehrt haben sie niemanden. Umgekehrt konnte der ungerührte Erfolg der Bundesrepublik deren Kritiker nie überzeugen. Im Gegenteil, er führte nur zu einer Radikalisierung ihrer Beanstandungen. Je haltbarer die Zustände wurden, desto scheidender sprachen jene von ihrer Unhaltbarkeit. Das ist ein Mechanismus, der zwar sonderbar anmutet, aber durchaus nicht unerklärlich ist. Wer Unheil verkündet, will meist recht behalten; das gilt für religiöse ebenso wie für soziale Propheten. Wenn sich die Realität weigert, ihre Voraussagen einzulösen, so empfinden sie das als narzisstische Kränkung. Die Folge ist eine Steigerung der Dosis. Je ferner die Bestrafung der Bösewichter rückt, desto greller muss sie ausgemalt werden [...] So entsprechen auch die Phantasien vom unaufhaltsamen Niedergang der Republik einem tiefen psychischen Bedürfnis.“ H.M. Enzensberger: „Mittelmaß und Wahn. Ein Vorschlag zur Güte“ ..., S. 256–257. In einer Variation kommt es bereits im Essay „Armes reiches Deutschland“ vor: H.M. Enzensberger: Politische Brosamen. Frankfurt am Main 1982, S. 177–194. 876 H.M. Enzensberger: „Gangarten. Ein Nachtrag zur Utopie“ ..., S. 65. 877 Ebenda, S. 65. 293 darin eine nüchterne, zumal wissenschaftlich verbürgte Behauptung zu erblicken, dass der unstabile Gang der Dinge in der Tat etwas Natürliches darstellt, sofern die Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit schlichtweg eine Normalität der geschichtlichen, physiologischen und biologischen (evolutionären) Aspekte des Menschen darstellt. In Enzensbergers Verteidigung der bürgerlich nüchternen Haltung, die die Deutschen am Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre an den Tag legten,878 macht sich weniger die herablassende Pose eines nun ernüchterten Intellektuellen bemerkbar, als vielmehr eine erfreuliche Zustimmung der bürgerlichen Praktizität, in der die Deutschen endlich einen Modus gefunden haben, mit dem sie dem deutschen Problem begegnen können in einer Zeit, die ausdrücklich kein Millenium, sondern allenfalls einen Alltag anbrechen lasse, der ohne Propheten auskomme.879 Diese Bejahung des improvisierenden, den ganzen riskanten Prozess in seiner unberechenbaren Selbstorganisation akzeptierenden Menschentums, in dem man die vertrauten Figuren der praktischen Dorfbürgermeister, handarbeitenden Schreiner, Helfer, Spekulanten, Ärzte und Schwarzhändler880 wiedererkennt, scheint die vorläufig letzte Variation des für diesen Autor so prägenden Bildes der Nachkriegsanarchie zu sein, auf das er sich zu erinnern pflegt, sobald ihm das deutsche Problem in weiteren Sackgassen zu entschwinden droht. 878 „ Ganz im Gegensatz zur Hysterie ihrer Eliten hat die überwältigende Mehrheit der Deutschen, in einer äußerst zugespitzten und potentiell gefährlichen Situation, ein Maß an Einsicht und Vernunft an den Tag gelegt, das ihr kaum jemand zugetraut hätte.“ Ebenda, S. 76. 879 Ebenda. 880 Ebenda, S. 76–77. 295 8 Kurzes Zwischenresümee der literarischen Beiträge Bei G. Grass spürt man einen intensiven Willen, sich bei allem politischen Engagement dem geschichtsphilosophischen Zugriff zu entziehen, und dem Angebot, den Geist gegen die Macht auszuspielen, zu entsagen. Von allen hier analysierten Autoren fühlte sich Grass am stärksten verpflichtet, die Hypotheken der Vergangenheit nicht nur literarisch, sondern auch durch konkrete politische Tätigkeit abzuarbeiten. Darum zeichnet sich sein Werk am wenigsten durch Utopismusanfälligkeiten aus. Aus dem Rückblick ist evident, dass er bemüht war, in seinem Schreiben, Denken und Handeln sowohl das für die Nachkriegszeit typische und Entlastung bietende soldatische Opfernarrativ,881 als auch die moralische Rigorosität der radikalen Studentenbewegung zu meiden. Eben dies scheint eine recht gelungene Verarbeitung der generationellen Prägung eines Deutschen zu sein, die ihn einerseits limitiert und verpflichtet (er hat vieles abzuarbeiten; ist zwar ohne eine direkte Verantwortung, doch weiß, dass er sich darum nicht verdient hatte), ihn dafür aber recht immun macht gegen die radikal demokratischen, sprich totalitären Versuchungen der 1960er Jahre. Sein Wille zu ändern und zu verbessern war daher verhältnismäßig weniger grundsätzlich, radikal und theoriebesessen, vielmehr bereit, sich auf Kompromisslösungen einzulassen. In seinen literarischen Texten schlug sich dies etwa darin nieder, dass er ideologisch kaum verwertbare Geschichten lieferte, die ohne absolute Werte und moralisch eindeutige Helden auskommen. Auch sein Ruf eines kompromisslosen Tabubrechers ist wohl zu relativieren; Tabus, die das falsche Ideal der verführten und schuldlosen Deutschen schonten, haben ihm nichts bedeutet, sie gehörten gebrochen. Tabus, die den Deutschen mit Hinblick auf ihre Vergangenheit das Recht absprachen, das gegen die Deutschen begangene Unrecht zu thematisieren, hielt er für politisch korrekt, also für prinzipiell antastbar, indes nicht ohne Absicherung. Meist ließ er davon die Ersatzerzähler berichten. Mit der Zeit drängte Grass immer mehr darauf, auch das politisch Unkorrekte zu thematisieren, so sehr er sich in seinen Texten als ein dazu Unfähiger stilisierte, der sich weiterhin hinter diversen Ersatz- und Stellvertreterstimmen versteckte. Obwohl die Texte strukturell diese Versteckspiele als verhängnisvolles Hinausschieben und unheilvolles Delegieren demaskie- 881 N. Ächtler: Generation in Kesseln. Das soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960, Göttingen 2013, S. 80ff. 296 ren, erlag Grass ihnen immer wieder, sofern er sie durch das stilisierte Bild eines Autors kompensierte, der die Tabus immer als erster bricht. Grass’ Deutschheitsreflexion steht ab 1990 zunehmend im Zeichen der Verunsicherung; Er glaubt darauf bestehen zu müssen, worauf er zugleich gern verzichten würde. Außer den abgesicherten Tabubrüchen war diese Unsicherheit auch seiner Hartnäckigkeit anzumerken, mit der er noch weit über 1990 hinaus die Nachkriegszeit mit ihren Denkregeln am Leben hielt, obwohl er sich deren Grenzen immer bewusster wurde. Sosehr ihn dies limitierte, war er kaum imstande, auf die Regeln der Nachkriegszeit ganz zu verzichten. In diesen Momenten geriet er in die Sackgasse des Deutschtums, sofern er sich anzuerkennen weigerte, die Disjunktion (etwa zwischen Freiheit und Einheit) gelte es zu überwinden. Ungenügend scheint er seine Generationsprägung auch dort verarbeitet zu haben, wo er, etwa im Gedicht Was gesagt werden muss, aus der Überzeugung heraus schreibt, die (Nachkriegs)zeit, als man in Deutschland die Juden nicht kritisieren durfte, sei vorbei, doch ruft er zugleich in dem Gedicht den Eindruck hervor, sie sei gar nicht vorbei, da die Deutschen nach wie vor gegen den Druck der falschen „philosemitischen“ Normen anzuschreiben hätten. Der Gestus, der politische und kulturelle Blockierungen in Frage stellt, zugleich seine Argumentation auf deren Existenz stützt, scheint in dieser Generation keine Ausnahmefall zu sein; auch die Empfindlichkeit, mit der man zu reagieren pflegt, sobald man moralisiert wird, scheint häufiger vorzukommen, daher generationstypisch zu sein. Manche Kritiker haben diese Schattenseite der Generationssemantik zum Anlass genommen, Grass vorzuhalten, er exkulpiere sich eitel mittels der Literatur, indem er allenfalls Kritik zulasse, die er selbst literarisch inszeniert hätte. Grass, so wird moniert, lasse sich dadurch die Hintertür offen, um gegen die Kritiker gewappnet zu sein, die seine literarische Selbstentlastungstrategie durchschaut hätten. Oder aber wird ihm bescheinigt, er gönne seinen Figuren (etwa O. Matzerath) bereits für die Vorkriegszeit den Status eines skeptischen Nichtmitläufers, also eine Haltung, zu der er selbst sich erst nach dem Krieg durchgerungen habe, weshalb er ihnen einen – wohl unverdienten – Wissens- und Erfahrungsvorsprung zusichere. Oder, und darin kulminiert die Kritik, erblickte man in den geistreich verwendeten literarischen Mitteln der Autobiographie den Wunsch des Autors, sich im hohen Alter eine Absolution zu erteilen. So sehr sich für jeden einzelnen Punkt dieser Kritik in den Texten Belege finden lassen, ihre Glaubwürdigkeit ist dadurch beeinträchtigt, dass man sie ausschließlich an den ethischen und geschichtsphilosophischen Maßstäben abzulesen sucht. Sobald die Texte in das Spannungsverhältnis zwischen die geschichtsphilosophischen und anthropologischen Perspektiven eingebettet werden, wird aus dem Beweis, Grass suche literarisch allenfalls Entlastung, die Frage, was ihn dazu bringe, um welchen 297 Preis er das mache und wie er es sonst hätte machen können. Der Versuch, die ältesten und jüngsten prosaischen Texte von Grass aufeinander zu beziehen, geht von der Annahme aus, Grass hielt der Verunsicherung nach 1990 stand, indem er auf literarische Verfahren zurückgriff, die sich ihm in den ältesten Texten bewährt hatten. Anders gesagt: Um die Verunsicherung zu überwinden, kehrte er zu den Sicherheiten des unsicheren, also unzuverlässigen Erzählens samt der moralisch unfassbaren Figuren zurück, wie er sie bereits in der Blechtrommel erprobt hatte. Die Sicherheit des Unsicheren dominiert sowohl Im Krebsgang, die Dunkelkammergeschichten wie auch die Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel. Das literarische Unsicherheitspotenzial der Blechtrommel beruhte auf folgenden Prämissen: Man wusste als Leser nie genug, um die Erzählung zuverlässig klassifizieren zu können, geschweige denn Oskars moralisches Profil auszuwerten. Erst dank der Absenz der moralischen und erzählerischen Integrität Oskars kann der Leser erfahren, was ihm ein moralischer und zuverlässiger Erzähler nie anvertraut hätte. Nicht viel anders geht es auch den Romanfiguren. Als Figur übersteigt Oskar die Bewertungskapazität anderer Figuren, als Ich-Erzähler weiß er mehr, als einer personalen Erzählinstanz zusteht. Darauf scheint Grass auch in der Autobiographie zurückzugreifen: Der Protagonist wird in zwei Instanzen gespalten, in die erzählende und erzählte. Die erzählte Instanz wird jenseits von Gut und Böse gestellt, indem sie von der inneren Logik des literarischen Textes abhängig gemacht wird. Dies macht freilich in den Augen der Kritiker die Autobiographie suspekt; Grass habe sich dadurch der Verantwortung dafür entzogen, was er real in der Zeit gemacht hätte, die er in der Autobiographie schildert. Dabei ist zu bedenken: Grass stellt zwar sein autobiographisches Ich jenseits von Gut und Böse, doch er gewährt ihm keinen Unterschlupf; indem er das existentiell identische Ich in zwei Instanzen spaltet, eröffnet er ein Spiel, in dem beide Ichs aneinander nicht herankommen: Das jüngere kann sich vor dem älteren nirgendwo verstecken, das ältere kann gegenüber dem jüngeren seine Überlegenheit nicht geltend machen. Diese Überlegenheit wäre nämlich keine moralische, sondern allenfalls eine altersbedingte, also dadurch gewonnen, dass das ältere Ich von Zusammenhängen nicht absehen kann, die dem jüngeren damals unbekannt waren. Das Fazit ist eine bewusste Resignation auf diese unverdiente Überlegenheit; Grass’ Vorgehen muss daher nicht zwingend als literarisch alibistische Entlastungsstrategie, sondern kann als gewollter Verzicht bezeichnet werden. Verzicht sowohl darauf, dem jungen Grass etwas anzudichten, als auch auf den Genuss, mit diesem Jungen nachträglich abzurechnen. Solche Abrechnung wäre allenfalls einer moralisch einwandfreien Instanz zuzumuten, und solche Exklusivität weigerte sich der Autobiograph zu beanspruchen. 298 Literarisch bleibt die Autobiographie wie auch schon die Blechtrommel der Tradition des Antibildungsromans mit vielen Elementen des pikaresken Romans verpflichtet. Diese – und darin macht sich bereits eine stark anthropologische Tendenz bemerkbar – bringen den Menschen zu seinen natürlichen Grenzen zurück und setzen dies spielerisch um: Demonstrierte bereits Oskar, dass der kleine mehr sehen und wissen kann als alle großen, räumt die Autobiographie mit der Vorstellung auf, der ältere Mensch müsse klüger, reifer und moralischer sein als der jüngere. Vom moralischen Profil des (jungen) Menschen wird das Augenmerk auf die Kompetenz gelenkt, dessen Profil überhaupt beurteilen zu können mit dem schon erwähnten Fazit: Skeptische epoché, also Verweigerung des Urteils aufgrund der fehlenden Kompetenz. Dies potenzieren die pikaresken Elemente, sofern sie die moralisch-psychologischen Motivationen der Geschichte in den Hintergrund rücken, und stattdessen das KörperlichNatürliche akzentuieren; nicht nur den Überlebensdrang des Protagonisten, sondern auch seine beschränkten Möglichkeiten, den kaum durchschaubaren Horizont der Zusammenhänge, in denen er während seiner Jugend zu agieren hatte. Anthropologische Akzente setzt Grass auch auf metaphorischer Ebene; das Häuten der Zwiebel, das im Bernstein verkapselte Leben, der ewige Hunger nach Essen, Liebe und Kunst. Der Autobiograph, dem es um die Wahrheit seines Lebens geht, kann sich nur darauf verlassen, dass dieser Prozess weder Anfang noch Ende hat und Wahrheit und Lüge in ihm insofern ineinander übergehen, als das Leben nur in seinen Variationen existiert. Dabei wird deutlich, dass die Tradition, in die sich Grass dadurch einschreibt, erweitert wird. Zu Rabelais, Grimmelshausen, J. Paul, Camus oder Döblin, zu denen er sich mehrmals explizit bekannt hat, kommt nun die Tradition der Moralistik mit ihrem wichtigsten Vertreter M. Montaigne hinzu. Eine in Deutschland vergleichsmäßig wenig entwickelte Tradition,882 die auf den Menschen durch die Brille seiner „mores“, also seiner „lebensweltlichen Üblichkeiten“ schaut, sich primär dafür interessiert, was er ist, darum wenig mit der Moral, und viel dem Leben des Menschen in seiner „auch unmoralischen Tatsächlichkeit“883 zu tun hat. Eine Tradition, der Blick auf Montaignes Essays beweist es genauso wie der auf Grass’ Autobiographie, die weit davon entfernt ist, dem Leben – so wie es etwa in der Augustinischen Bekenntnistradition der Fall ist – einen aufsteigenden finalen Charakter unterzulegen, dessen man sich, die eigene Fehlerhaftigkeit rückblickend für eine vorläufige erklärend, im Akt des Schreibens vergewissert. Denn auch Grass kennt, so H. Friedrich 882 Zu den Details siehe: O. Marquard. „Der Mensch ‚diesseits der Utopie‘. Bemerkungen über Geschichte und Aktualität der philosophischen Anthropologie“. In ders.: Glück im Unglück, Philosophische Überlegungen. Leipzig 1995, S. 142–155. 883 Vgl. H. Friedrich: Montaigne. Bern 1967 (1949), S. 10. 299 über Montaigne, ganz „genau seine Verfehlungen, Schwächen, sein Zurückbleiben hinter einer wie auch immer begründbaren Idealität“, auch er besitze zugleich die „Klugheit, einstiges Verhalten nicht hinterher zu verurteilen, [da er] weiß, es entstand seinerzeit aus dem unwiederholbaren Zusammenspiel von Gelegenheit und damaliger Beschaffenheit des Ich.“884 Freilich, Grass bleibt lehrbuchmäßig wohl nach wie der Autor der „Reue“, des „Nicht-mehr so sein wollens“, doch in der Autobiographie scheint dieser Impuls vollkommen verbraucht, in der bisher geschriebenen Fülle der Texte verarbeitet worden zu sein. Die abzuarbeitenden Makel der Jugend werden somit als eine durchaus ernste – also nicht unter des Menschen Würde stehende – Angelegenheit erinnert, die ohne große Bekenntnis- und Bußhaltung auskommt. Walsers Rezeption stellt ein Beispiel dafür dar, wie ein Autor zwischen gegensätzliche, indes in beiden Fällen absolutistische Erwartungen eingespannt wird. Dabei ist kaum zu übersehen, dass er absoluten Ansprüchen schon deshalb nicht gerecht werden kann, weil sein Schreiben und Denken eben aus der Absage an eine Absolutheit der Erwartungen und Ansprüche heraus motiviert war. Um keine Marionette sein zu müssen, weigerte er sich, über weite Strecken im offiziellen Strom zu schwimmen, also in den 1950ern antikommunistisch, in den 1960ern antiamerikanisch, in den 1970ern und 1980ern ausnahmslos antinationalistisch, und durchgehend vorbehaltlos philosemitisch zu sein. Darum ist es nie besonders schwierig gewesen, hinter seinem Unwillen, vorbehaltlos den gegen ihn erhobenen Erwartungen zu entsprechen, einen Wunsch zu entdecken, dem Volk „nach dem Munde zu reden“. So wurde Walser für einige zu einem (freilich auch generationell) dubiosen Autor, der langfristig die Literatur dazu missbrauche, um darin unbestraft nationalistische und antisemitische Meinungen zu präsentieren, jüdische Erinnerungen zu eliminieren, die Identität der deutschen Nation festzuschreiben, den Dialog zwischen den deutschen und jüdischen Erinnerungskulturen zu verhindern und das kollektive Gedächtnis zu missachten, solange es sich mit seinem individuellen Gedächtnis nicht decke. Entgegen dieser Kritik sucht vorliegende Arbeit geltend zu machen, dass sich Walser weniger dem Dialog entgegenstemmt, als vielmehr der Praxis, die im Namen der adäquaten Vergangenheitsbewältigung jeden Versuch um einen offenen Dialog als moralisch fragwürdige Selbstentlastung desavouiert. Walser weigert sich zu akzeptieren, dass man es ihm zur Last legt, sobald er sich von den ethisch rigorosen Ansprüchen der geschichtsphilosophischen Prägung schützt, indem er eine anthropologische Sicht stark macht. Er weiß, wie man sich zu benehmen und was man zu sagen hat; genauso gut weiß er, wie er sich früher hätte benehmen sollen 884 Ebenda, S. 215. 300 und wie er hätte denken und schreiben müssen, um den Erwartungen zu entsprechen; er weiß, dass man keinesfalls Geschichten erwartet, wozu einen die Natur gemacht hat. Darum literarisiert er seine innere Stimmenvielfalt, um Probleme darstellen zu können, die man in Deutschland hat, wenn man anders denken will, als von einem erwartet wird. Indem Walser in seinen Texten zu verstehen sucht, was sich in ihm abspiele, während er denke und schreibe, gelangt er in unmittelbare Nähe zu der Bekenntnisliteratur, wobei wiederum gilt, das Vorbild stelle nicht der nicht mehr zweifelnde Augustinus dar, sondern Rousseau, Kierkegaard und in gewissem Sinne auch Montaigne, sofern Walsers literarisiertes Bekenntnis die Verunsicherung des sich Bekennenden potenziert. Diese stark introspektive Prägung ist neben den essayistischen Texten (auch denjenigen, die zum öffentlichen Vortrag bestimmt wurden) auch für Walsers dramatische Texte charakteristisch (Versuche um das Bewusstseinstheater), ja sogar für seine prosaischen Texte, die weniger Romane als eher Oratorien des Ichs und Bewusstseinsströmungen waren; Walsers Thema ist ein Mensch, der unsicher ist, welcher seiner inneren Stimmen er dermaßen folgen soll, damit ihn die anderen nicht mehr beunruhigen würden. Oder noch anders, es ist ein Mensch, der mit sich in einem unlösbaren Streit ist. Dieses Bild eines unlösbaren Streits wird von Walser ästhetisiert, indem es der literarischen Schrift, der poetischen Sprache überantwortet wird. Der sich Bekennende setzt sich demselben, ihm unverfügbaren Element aus wie derjenige, der dies dichtend macht; zu entscheiden ob es gelungen ist, authentisch zu sein, steht prinzipiell dem Subjekt nicht zu. Dies ist eine der Schlüsselstellen der Walserforschung; entweder wird dieses Bild als eine bequeme, sich entlastende Flucht in künstliche Unschuld, oder als ein durchaus ernstzunehmender Versuch sich einzugestehen interpretiert, dass uns die ganze Wahrheit über den Menschen desto mehr entschwindet, je hartnäckiger wir auf unseren Vorsätzen bestehen. Im ersten Falle wird der Druck der geschichtsphilosophischen Ansprüche derart minimalisiert, dass der Mensch als Naturwesen eliminiert wird; im zweiten wird wiederum die anthropologische Selbstungenügsamkeit des Menschen maximalisiert, so dass dem Menschen abstreitig gemacht wird, seine Freiheit gar aktiv zu übernehmen. In solcher Gegenüberstellung scheint die Vermittlung ausgeschlossen; was den einen zur authentischen Wahrheitssuche wird, an deren Ende man nicht umhin könne, das letzte Wort der Literatur, der poetischen Sprache oder der Natur zu überantworten, halten die anderen für eine entlastende Strategie; worin die einen eine berechtigte Auflehnung gegenüber den unangemessenen Ansprüchen der Gesinnungsästhetik erblicken, tun die anderen als eine unberechtigt beanspruchte Unschuld ab. Wo die einen eine nützliche Selbstbegrenzung des Menschen preisen, der von seinen Grenzen weiß, tadeln die anderen 301 die Überheblichkeit des genial „naiven“ Dichters, der, ohne sentimental werden zu müssen, intuitiv zur Wahrheit zu gelangen glaubt. Zwischen beiden Parteien scheint kein Frieden möglich, zumal Walsers Literarisierung des „unbeteiligten Beobachters“ des von ihm gleichsam unabhängigen gedanklichen Geschehens an dem gefährlichen Terrain der deutschjüdischen Vergangenheit nicht vorbeikommen kann. Hier wird der Vorwurf, mit Walser sei es kaum möglich zu diskutieren, da er sich der Verantwortung für das Gedachte entziehe, zur Anklage, er sei versteckt oder offen antisemitisch, oder liefere ein recht verzerrtes Bild vom Leben der Deutschen während des Nazismus. Wieder plädiert vorliegende Arbeit für eine größere Bereitschaft anzunehmen, dass man neben den Alternativen immer noch Varianten parat hat: dass ein Text nicht genügend philosemitisch ist, muss noch nicht bedeuten, dass er antisemitisch ist. Dies zu akzeptieren heißt, gegen den Zwang zu schreiben (und zu lesen), die Menschen seien nur schwarz oder weiß, ja mit der Denkgewohnheit aufzuräumen, eine Figur sei automatisch freigesprochen, sofern sie nicht angeklagt worden sei. Ich habe nicht vor, Walser vorbehaltlos in Schutz zu nehmen, manche Kritikpunkte erscheinen mir stichhaltig (insbesondere Walsers Konzeption der passiven Erinnerung als eines Prozesses, bei dem geradezu interesselos die Vergangenheit aufgenommen werde, halte ich für revisionsbedürftig). Vielmehr suche ich darauf hinzuweisen, dass seine Verfahren und Argumentationen erklärbar sind als die zunehmend stärker in Erscheinung tretenden Verarbeitungsformen der Generationsprägung, die zwischen dem Druck der dynamischen geschichtsphilosophischen Ansprüche und der Bequemlichkeit der anthropologischen Sicherheiten ba- lanciert. Um deren spezifische Form bei Walser zu ermitteln, wurde dessen autobiographischer Roman Ein springender Brunnen mit Grass’ Autobiographie verglichen. Beide akzentuierten sehr stark physische Bedürfnisse, die sexualisiert und kulturell sublimiert werden: Der Hunger gilt immer mehr den fremden Körpern und der Kunst. Wo sich Grass des metaphorischen Potenzials der Zwiebel bedient, um seine nie bis zum Kern gelangende Lebensgeschichte zu erzählen, beschwört Walser eine poetische Sprache, die umso mehr vorankommt, je weniger man von ihr erwartet. Vertraut sich Grass den ihrerseits bewährten Mitteln des pikaresken Antibildungsromans an, um davon zu erzählen, dass man alt werden kann, ohne dabei weise werden zu müssen, greift Walser auf das zurück, was man Historismus bezeichnen könnte: Den Verzicht darauf, in die Vergangenheit das hineinzuprojizieren, wessen man sich nicht selbst bewusst gewesen war. In beiden Fällen resultiert daraus eine erzählerische Diskretion, die es dem Erzähler verbietet, die altersbedingte Überlegenheit gegenüber seinen Figuren in moralische Überlegenheit umzumünzen. Er 302 hält sich als Erzähler skeptisch zurück, um sich nicht auf Kosten seiner Figuren moralisch überprivilegieren zu müssen. In seinen früheren, insbesondere dramatischen Texten stellte Walser in den Mittelpunkt eher Figuren, die sich geweigert haben, gesellschaftskonform zu leben; Rudi (Der Schwarze Schwan) und Alois (Eiche und Angora) hielten der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft den Spiegel vor, um deren erlogene Konformität hervortreten zu lassen. Darum ist an Alois’ Geschichte für Walser eher dessen Umfeld von Bedeutung, das durch Alois’ anachronistische Rückfälle daran erinnert wird, was es am liebsten verdrängen würde. Und Rudis Nonkonformität spricht Walser an, sofern sie nicht in billige Abrechnung mit den Vätern, sondern in eine – die Hamlet’sche Konstellation variierende – Unentschiedenheit mündet, die dann nur noch durch Selbstmord gelöst werden kann. Anders Johann in Ein springender Brunnen. Dessen Konformität braucht seitens des Erzählers nicht besonders hervorgehoben werden, da sie offensichtlich ist; und zwar jedem der heutigen Leser, der weiß, wie man sich zu benehmen hatte, möchte man in seinen Augen bestehen. Wenn Walser seine Figuren vor etwas schont, dann eben von diesem Anspruch, sich den heutigen Lesern zu rechtfertigen; darum auch die betont subjektive Ambition seines Textes, der kaum vergangenheitsbewältigend wirken will, indem er primär die Vergangenheit schildert, wie man sie damals (als sie Gegenwart war) wohl empfunden haben mag. Rechenschaft abzulegen haben Walsers Texte (samt den Figuren) lediglich vor Lesern, die zu akzeptieren bereit sind, dass man nicht direkt zum Widerstand gehören musste, um die Nazijahre ohne Würdeverlust zu überleben. Die Erzählperspektive, die in Ein springender Brunnen den Blick des während der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts heranwachsenden Hauptprotagonisten kopiert, kann in dieser Hinsicht andere Fragen aufwerfen, als sie nur diejenigen stellen, die hinter ihr eine gezielte Eliminierung ambivalenter Bilder ob der Entlastung des Erzählers, wenn nicht der gesamten deutschen Nation vermuten. Lässt man für einen Moment die gesinnungsästhetische Perspektive beiseite, dann muss man nicht mehr fragen, warum dieser Junge dem Nationalsozialismus nicht widerstanden hatte, sondern welche reale Möglichkeit er hatte (wie jeder Mensch seines Alters), wenn er nicht mitmachen wollte. Die einzigen Formen des Ungehorsams, von denen in Walsers Text die Rede ist, bestehen darin, den Eltern Gehorsam zu verweigern, weiter in dem egozentrischen Flüchten zum körperlichen Ungehorsam des „Beichtwürdigen“ wie auch in dem geheimen Nonkonformismus der Welt der Buchstaben und Wortbilder. Freilich, dass wir all diese Bestrebungen wiederum doppelkodiert lesen können, und zwar einerseits als authentische Schilderung des damaligen Lebens jenseits der Illusionen (vom eigenen Heldentum), oder andererseits als eine erzählerische Entlastungstrategie des seine eigene Feigheit 303 retuschierenden Protagonisten, belegt einmal mehr, dass man Walsers Werk aus der Spannung heraus zu verstehen hat: Ihm nur anthropologische Bequemlichkeit vorzuhalten, oder ihn nur vor geschichtsphilosophischen Zumutungen zu schonen, hieße, dieser Spannung nicht gerecht zu werden. Enzensbergers Reflexion der Deutschheitsmöglichkeiten nach 1945 kombiniert den Blick von innen und von außen; Enzensberger will die Beschränkungen reduzieren, denen man unterliegt, wenn man diesem Thema entweder nur als Deutscher beikommen will, oder aber wenn man das Deutsche um jeden Preis auszuklammern sucht. Seine Ambition ist es jedenfalls, sich als der Reflektierende dem Problem zu stellen, ohne in ihm aufzugehen. Oder noch anders: Deutschheit zu reflektieren heißt für Enzensberger, weder auf Konstanten des typisch Deutschen zu übertragen, was vielmehr ein allgemein menschliches Problem sei, noch vom Deutschen absehend zu verallgemeinern, wo es sich um ein spezifisch deutsches Problem handelt. Zunächst ist festzuhalten: Das Bild eines Autors, der jenseits der Einseitigkeiten zu bleiben sucht, ist jedoch in der Forschung nicht das dominierende. Viel häufiger kommt man Enzensbergers Schaffen mit schwarz-weißen Bildern bei, etwa indem man es in zwei möglichst gegensätzliche Phasen gliedert: Erstens in die kritisch-nonkonformistische Phase eines jungen Linken, die etwa 1970 zu Ende gegangen sei. Und zweitens in die späte Phase eines desillusionierten Systembefürworters, der in den 1980er Jahren mit der Bundesrepublik seinen Frieden geschlossen, ja zum Teil sogar die konservative Tendenzwende mitgemacht habe. Die Vorstellung von zwei gegensätzlichen, sich ausschließenden Phasen, die darauf besteht, dass man entweder das eine, oder das andere sein kann, ist kaum haltbar. Sie sieht erstens darüber hinweg, wie konsequent dieser Autor bereits seit den frühen 1960er Jahren die Wahl zwischen zwei Alternativen verweigerte, indem er den Zwang, sich zwischen zwei Alternativen entscheiden zu müssen mit dem Hinweis darauf zurückwies, zwei gegensätzliche Alternativen seien in ihrer Radikalität allenfalls zwei Seiten desselben Irrtums. Und zweitens beruht sie auf der fragwürdigen Annahme, dass einzelne Werkphasen die Abfolge der geschlossenen Generationsformationen kopieren; sobald Enzensberger zu den Idealen der Generation der 68er auf Distanz zu gehen schien, hatte man ihn automatisch dem Profil der politisch desillusionierten und systemopportunistischen Generation der Skeptiker zugeschlagen, wie sie von H. Schelsky definiert wurde. In Enzensbergers Texten lassen sich jedoch viele Belege dafür finden, dass man ihm mit diesen Schablonen gar nicht beikommt; er vollzog keine lineare Einbahnentwicklung, er bewegte sich vielmehr „Zickzack“, ja er sprang zwischen den Generationssemantiken der 45er und 68er hin und her, machte sich über alle Einseitigkeiten und Absolutismen 304 lustig, seine eigenen eingeschlossen. Revisionen behagten ihm nicht, sie hätten bloß ein Extrem durch ein anderes ersetzt, offener zeigte er sich dialektischen und zunehmend auch kompensatorischen Denkfiguren. So wie Enzensbergers Werk in seiner Entwicklung nicht auf zwei alternative Phasen reduzierbar ist, suchte dieser Autor der Versuchung der bequemen Alternativen auch bei einzelnen Problemen zu widerstehen. Evident ist es gerade dort, wo er sich der Deutschheitsreflexion hingab: Geradezu mit Genuss stellte er falsche Alternativen gegeneinander, um zu paradoxen Lösungen zu gelangen, die etwa die Notwendigkeit des Unmöglichen herausstellen. Meist tendierte er nicht zu prinzipiellen, sondern vielmehr zu kontextuellen Problemlösungen. Ähnlich unprinzipiell und darum schwer erfassbar ist Enzenbergers Haltung zu der Studentenrevolte der 1960er Jahre; bis heute besteht er auf deren unumstrittenen Verdiensten (sie habe mit dem Gehorsam der Deutschen gebrochen), ohne über die unheilvolle Radikalität der überspannten Ansprüche hinwegzusehen. Kommt er rückblickend auf seine eigene Rolle zu sprechen, beruft er sich meist auf seinen generationsbedingten Vorsprung (mindestens um 10 Jahre älter, darum um die Erfahrung mit der nazistischen Totalität reicher), dank dem er im Gegensatz zu den Studenten nie den Überblick verloren haben will. So wenig er auf seiner absoluten Unfehlbarkeit besteht, profiliert er sich dennoch kaum wie jemand, der das jeweils Geschriebene, Gedachte und Gemachte bereuen will, hätte er auch mit Zeitabstand dessen Fragwürdigkeit eingesehen. Bemerkenswert ist, vergleicht man ihn mit seinen intellektuellen Zeitgenossen, wie wenig er seine Fehlbarkeit mit den nationalsozialistischen Jahren verbindet; man findet bei ihm kaum eine Spur des geradezu flagellantischen Abarbeitens der nazistischen Jugendsünden eines G. Grass’. Enzensbergers Gratwanderungen zwischen der geschichtsphilosophischen und der anthropologischen Perspektive sind ohne die Jahre der Studentenrevolte, insbesondere ohne das auf Kuba verbrachte Jahr nicht zu erklären. Während für seine Auffassung der Literatur, wie er sie im Jahre 1968 formulierte, die „kubanische Desillusion“ keine gravierenden Folgen hatte, sofern sie nur seine bereits früher formulierte Forderung vertiefte, die Literatur müsse von allen Resten der moralischen, elitären, totalitären und geschichtsphilosophischen Ansprüche beseitigt werden, hat sie sein Politik- und Menschenbild grundsätzlich beeinflusst. Deutlich sieht man diese Änderung am Hintergrund der Wechselbeziehung zwischen Enzensberger und H. Arendt: Ihre in der Zeitschrift Merkur publizierte Korrespondenz aus dem Jahre 1965 zeugt nicht nur von einer intellektuellen Nähe, um die sich Enzensberger sehr bemühte, sondern auch von grundsätzlichen Unterschieden, an deren Hintergrund Enzensbergers ideologisch bedingte Position hervortrat. Eine anthropologische Perspektive glaubte er abschwächen zu müssen (da ihm deutlich wurde, dass die 305 menschliche Natur die Menschheit vor Verbrechen nicht zu schützen vermag), und dabei erlag er der Versuchung der massenweise unreflektierten ideologisch fundierten Analogien (Auschwitz und Atomtod, Politik und Verbrechen), deren Erkenntniswert durch verallgemeinernde Pauschalisierung des Problems erkauft schien. Die menschliche Natur hielt Enzensberger für eine gesellschaftlich determinierte Größe; darum schlussfolgerte er, der Faschismus sei nicht zu bezwingen, solange die Menschen in der kapitalistischen Ordnung leben würden. Anders gesagt: Er saß dem Irrtum auf, Faschismus (und selbstverständlich auch Kapitalismus) sei qua Kommunismusaufbau zu tilgen. Die weitere Entwicklung von Enzensberger ist in diesem Punkte wie folgt zu beschreiben: Je stärker er zu Arendt inklinierte, desto mehr befreite er sich von den geschichtsphilosophischen Vorgaben. Je weniger er der Legitimisierungskraft der geschichtsphilosophischen Narrationen vertraute, desto freier wurde sein Blick für alles, was das Netz dieser Narrationen nicht fangen konnte, ja desto konkreter wurde sein Denken. Nur am Rande: Rückblickend neigt Enzensberger dazu, die Rolle von Arendt überzubewerten, insofern er betont, er sei gerade dank ihr schon in den 1960er Jahren recht skeptisch gewesen bezüglich der kommunistischen Revolution. Dies klingt nicht überzeugend, da ihm gerade Arendt damals deutlich gemacht hat, wie sehr in seinen geschichtsphilosophischen Konstruktionen nicht nur der Mensch eliminiert werde, sondern auch adäquate Antworten zu den Fragen der Nachkriegsdeutschheit. Inwiefern Enzensberger von Arendt profitierte, zeigen seine Texte der 1980er und 1990er Jahre; in deutlicher Anlehnung an Arendt sucht er hier nach Krisenszenarien für die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges. Hier treten die geschichtsphilosophischen Konzepte zugunsten des um das vertretbare zivilisatorische Minimum ringenden Menschenbildes zurück. Paradox gesagt, auf dem Umweg über H. Arendt kehrt Enzensberger zu den Bildern des anarchistischen Nachkriegschaos zurück, in dem allenfalls die völlig unrevolutionäre (Flick)Strategie im Sinne first thing first gefragt ist. Jene Anarchie der ersten Nachkriegsmonate scheint die prägende Generationserfahrung Enzensbergers zu sein; während sie in den 1960er Jahren in Enzensberger dermaßen räsonierte, dass er sogar seine lange davor formulierte Skepsis, je von Anfang und radikal anders beginnen zu können, hintanstellte, um mit gewissen Vorbehalten die Studentenbewegung zu unterstützen, sprach in den 1980er und 1990er Jahren diese Prägung nun nicht mehr durch den Mund eines revolutionären Umwerfers, sondern eines skeptischen Retters der bürgerlichen Zivilisation, dem es behagt, dass die Deutschen nun (endlich) die pragmatische Bürgerlichkeit entdecken, die ohne Propheten auskomme. Der allmähliche Rücktritt von der Rolle des Revolutionärs mit Vorbehalten wurde von einer Reihe verschiedener Schritte begleitet. Dass die 306 Natürlichkeit des Menschen sich nicht in der Definition des zoon politicon erschöpft, scheint einer der Befunde zu sein, mit denen Enzensberger den Verlust der Illusionen über die Realisierbarkeit der gerechten gesellschaftlichen Ordnung zu verarbeiten suchte. Bereits in den Bemerkungen zum Weltuntergang (1978) ist diese anthropologische Lehre mehr als deutlich: Die Zukunft sei unvorhersehbar, und wer dies einsehe, werde aufhören, die Verbindungslinien zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Prozessen für unzulässig und reaktionär zu erklären; dem bleibe mehr Raum, um alles Unbekannte respektieren und bescheiden beobachten zu können. Was Enzensberger sich davon versprach, liegt nahe: Um den eigenen politisch revolutionären Katzenjammer zu verkraften, galt es davon abzulassen, die Zukunft den ideologischen Vorgaben zu verpachten, um in sein Menschenbild das Allzumenschliche einzulassen. Er verzichtete dabei wohl nicht ganz auf die utopische Hoffnung, vielmehr auf den Größenwahn, den Anspruch auf Totalität, Endgültigkeit und Neuheit. Die Balance zwischen dem geschichtspolitischen und dem anthropologischen Potenzial suchte er mittels einiger intellektuell anspruchsvollen Schritte zu erhalten: Den offensichtlichsten stellen die waghalsigen Analogien zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, respektive zwischen Wissenschaft und Dichtung dar. Am Leitfaden der Annahme, die moderne Naturwissenschaft sei offener für Zweifel, bescheidener in ihren Ansprüchen, und darum freier geworden, sucht Enzensberger beide Bereiche füreinander zu öffnen: So wie die Wissenschaft nicht ohne Metaphorizität, ohne poetische Bilder auskomme, sollte auch die Poesie nicht das wissenschaftliche Reservoir der Metapher missachten, wolle sie nicht erstarren. Dies bleibt nicht ohne Einfluss auf Enzensbergers Sprache: Sie wird pragmatischer, in den Ansprüchen bescheidener, je selbstironischer, desto unpathetischer. 8.1 Inter- und intragenerationeller Vergleich: H.M. Enzensberger und Peter Schneider885 H.M. Enzensberger war für viele 68er nicht nur ein Vorbild gewesen, sondern er wurde für sie auch später inspirativ, als diese ihre eigenen Abhängigkeiten vom Programm der Studentenrevolte nach und nach abzuschütteln begannen. Ein kurzer Text von Peter Schneider886 zeigt, dass 885 Folgendem Kapitel liegt meine andernorts publizierte Studie zugrunde, die hier stark überarbeitet wurde. Vgl. Urválek, Aleš: „Ich will mir gar nicht alles merken, was mich betrifft.“ Autobiographische Texte von H. M. Enzensberger und Peter Schneider. In Germanica Wratislaviensia. Ansätze – Begründungen – Maßstäbe, Wrocław 2016, 141, N. 1., S. 107–122. 886 P. Schneider: „Bildnis eines melancholischen Entdeckers“ ..., S. 137–154. 307 Enzensbergers zunehmender Skeptizismus in der Tat, so W. Kraushaar, „eine Art Umerziehungsprogramm, eine Re-education-Maßnahme für ehemalige 68er [bot], die sich in ihrem Denken, ihrer Lebenseinstellung, ihrer Mentalität eingemauert haben“.887 P. Schneider, elf Jahre jünger, macht hier keinen Hehl aus seiner Bewunderung für Enzensberger, der die Jugendlichen der 1960er Jahre angesprochen habe, indem er „das faustische Suchen, das Kleistische Verzweifeln, das Georgeische Raunen und Gründeln“888 hinter sich gelassen und stattdessen Traditionen geltend gemacht habe, die „seit der Vertreibung und Ermordung der Juden als etwas Fremdes, irgendwie Undeutsches erschienen“,889 etwa H. Heine oder K. Tucholsky. Am enormen Einfluss dieses Intellektuellen auf die 68er ändert in Schneiders Augen selbst die Tatsache nichts, dass man Enzensberger unter den Studenten sehr selektiv zu lesen pflegte.890 Auch die intellektuelle Biegsamkeit von Enzensberger scheint es Schneider angetan zu haben. Gerade weil Enzensberger nichts dabei gefunden habe, „eine frühere, inzwischen überlebte Erkenntnis durch eine neue zu entwaffnen“,891 imponiert er Schneider derart, dass dieser sogleich der deutschen Meinungsträgheit den Krieg erklären zu müssen glaubt, die eben den dazu bereiten 68ern ihre potentielle Meinungsänderung erschwere: Den Spieß umdrehend schreibt er, „in einem Land, in dem das unerschütterliche Festhalten an obsolet gewordenen Überzeugungen als Charakterstärke gilt“,892 halte er den Vorwurf der Unzuverlässigkeit „für einen Ehrentitel.“893 Enzensbergers Vorbild scheint Schneider Mut zuzusprechen, er mache nichts verkehrt, wenn er sich von seiner neu-linken Abhängigkeit freimache, denn ohne diesen gefährlichen Schritt ins Ungewisse wäre er ein lebenslanger Knecht geblieben. Kurzum: An Enzensbergers intellektuellem Eigensinn nimmt sich Schneider ein Beispiel, dass man die gewohnte Schublade, in der man sich lange wohlgefühlt hat, verlassen kann, ohne sich gleich als Verräter fühlen zu müssen: „Den Neugierigen unter uns hat er das Denken unter offenem Himmel vorgemacht, den Ausbruch aus dem Denken im Verein, das fröhliche Wildern im Gar- 887 W. Kraushaar: Vexierbild. Hans Magnus Enzensberger im Jahre 1968. In: D. Petersdorff: Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik. Heidelberg 2010. S. 45–64, hier S. 61. 888 P. Schneider: „Bildnis eines melancholischen Entdeckers“ ..., S. 138. 889 Ebenda, S. 138. 890 Der Zorn der ersten zwei Gedichtbände (Verteidigung der Wölfe und Die Landessprache) hatte die nüchternen, sachlicheren und melancholischen Töne des dritten Bandes in den Schatten gestellt, so dass man der Blindenschrift meist keine Beachtung schenkte. 891 P. Schneider: „Bildnis eines melancholischen Entdeckers“ ..., S. 144. 892 Ebenda. 893 Ebenda. 308 ten des Gegners, die Tugend des Verrats an Überzeugungen, die nur noch Gruppenwärme gewähren.“894 Im autobiographischen Text Rebellion und Wahn. Mein 68, den Schneider 2008 verfasst hat, wirkt Enzensbergers Portrait zwar immer noch hagiographisch, indes machen sich allmählich erste Distanzbemühungen bemerkbar. Zunächst nimmt Schneider Enzensberger in Schutz, dessen Pech es gewesen sei, „das jedes, auch jedes unbedachte Wort von ihm kraft seiner enormen Autorität Folgen hatte“,895 und da man nicht umhin könne, Fehler zu machen, habe auch er – „wie andere, weniger berühmte Intellektuelle“896 sich geirrt und „Konzepte vertreten, die nicht mehr in sein Selbstbild passen“.897 Doch dann wagt er den „rebellischen“ Wunsch zu äußern, „man würde gern einen glitzernden Essay von Enzensberger über seine Einlassungen in der Spät- und Verfallszeit der antiautoritären Bewegung lesen, eine Abrechnung mit seinen eigenen ideologischen Verrennungen“,898 und dies obwohl, oder eher deswegen, weil „Rückbesinnung und Selbsterforschung“ 899 nicht zu seinen Stärken gehören würden. Diese Aufforderung, mit der der Lehrling seinen Meister, der sich nachträglich als (nur) teilnehmender Beobachter „der revolutionären Wirren“ zu stilisieren sucht, unüberhörbar zur Verantwortung zieht, glättet zwar Schneider gleich mit einem neutralen – „sobald eine alte Überzeugung Risse zeigte, ist er, ohne sich umzudrehen, zu neuen Ufern ge- brochen“900 – und (selbst)schützenden Ton – „aber was ist eigentlich so schlimm an seinen Irrungen und Wirrungen?“ –,901 doch das Distinktionszeichen will er gelten lassen: „zum Besten, was Intellektuelle zum Fortschritt beizutragen“902 hätten, würden neben den Erkenntnissen auch Irrtümer gehören, doch man müsse sie vorher eingestanden und intelligent analysiert haben. Soweit Schneider zu seinem Vorbild Enzensberger. Das Mündel will Vormund sein, könnte man in Anspielung auf einen Text von Peter Handke sagen. Im Folgenden ist davon auszugehen, dass Enzensberger auf diese Aufforderung Schneiders, sich zu den eigenen Fehlern und Versäumnissen zu bekennen, sie beim Namen zu nennen, ja mit ihnen und sich selbst abzurechnen, in den darauffolgenden Texten gar nicht eingeht, an ihr geradezu vorbei schreibt. Im zweiten Schritt werden die autobiographi- 894 Ebenda, S. 145. 895 P. Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68. Köln 2008, S. 197. 896 Ebenda. 897 Ebenda. 898 Ebenda, S. 196. 899 P. Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68. Köln 2008, S. 196. 900 Ebenda. 901 Ebenda, S. 197. 902 Ebenda. 309 schen Implikationen dieser Enzensberger’schen Schreib- und Denkweise, an der freilich nicht nur Schneider, sondern auch viele Germanisten offensichtlich Anstoß nehmen, literatur- und ideengeschichtlich kontextualisiert. Dabei werden eben die diametral unterschiedlichen Zugangsweisen zu eigenen Fehlern und Versäumnissen bei Enzensberger auf der einen und Schneider auf der anderen Seite nebeneinander gestellt werden, um jedoch nicht moralisch beurteilt, sondern auf literarische Traditionen zurückbezogen zu werden. Der literaturhistorsiche Kontext wird mithilfe von zwei literarisch Selbstgesprächführenden, zwei Bekenntnisablegenden rekonstruiert. Den ersten stellt Aurelius Augustinus, also der heilige Augustinus mit seinen Confessiones, „Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus“ (um 400) dar, den zweiten dann Michel de Montaigne mit seinen „Essayis“ (um 1580), die unumstritten als Selbstgespräch des Autors gelesen und somit der Tradition der Bekenntnisse zugeordnet werden können. 8.2 Im Spannungsfeld der Generationen Den vielen deutschen Intellektuellen, die um und nach 2000 ihre autobiographischen Texte herausgegeben haben, schlossen sich auch H. M. Enzensberger und P. Schneider an. Die Aufforderung, eine intelligente Analyse der eigenen Irrtümer vorzulegen, kann somit in den Zusammenhang der autobiographischen Texte, und zweitens in das Spannungsverhältnis der Autoren eingebettet werden, die zwei Generationen angehören: Der Generation der sogenannten 45er (geboren 1925 – 1930) und der 68er (geboren nach 1940). Und wenn man bei Enzensberger ansetzt, springen sogleich einige interessante Tatsachen ins Auge. Haben die meisten Angehörigen der Generation der 45er, etwa G. Grass,903 M. Walser,904 R. Baumgart,905 oder J. Fest906 ihre autobiographischen Texte deutlich auf die Nazijahre hin orientiert,907 um aus der Erinnerung heraus zu rekonstruieren, wie sie mit der Prägung dieser Jahre umgegangen sind, ist das Gravitationszentrum in Enzensbergers Autobiographie Tumult (2014) um etwa 903 G. Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006. 904 M. Walser: Ein springender Brunnen. Frankfurt am Main 1998. 905 R. Baumgart: Damals. Ein Leben in Deutschland. München 2003. 906 J. Fest: Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend. Hamburg 2006. 907 Eine zentrale Rolle stellt die Epoche des Nationalsozialismus dar: Etwa eröffnet Baumgart die tatsächliche Handlung seiner Autobiographie Damals mit der Schilderung seiner Erinnerungen an die Ankunft Hitlers in Breslau, wo Baumgart aufwuchs, Walsers autobiographischer Roman Ein springender Brunnen geht 1945 zu Ende. Grass’ Beim Häuten der Zwiebel fügt dem nur noch die ersten etwa 14 Nachkriegsjahre hinzu. Auch Fest erinnert sich überwiegend an seine Kinder- und Jugendjahre unter Hitler. 310 20 Jahre und viele Tausende Kilometer verschoben. Tumult spielt sich weder im nationalsozialistischen Deutschland, noch an der Front des Zweiten Weltkrieges ab, sondern in Zügen, in denen Enzensberger in den 1960er Jahren das weite Russland bereiste, an amerikanischen Campusuniversitäten, in kubanischen Bars und auf Zuckerplantagen, und immer wieder auf Berliner Straßen, wo die Studentenrevolte in vollem Gange war. Bereits dieser erste Vergleich legt die Annahme nahe, Enzensberger glaubt in seiner Autobiographie den Blick nicht auf die Jahre der rechten Diktatur lenken zu müssen, unter der er aufgewachsen war, sondern auf die 1960er Jahre, oder anders, auf die Gefahr der roten Diktatur. Nicht seine jugendlichen Makel unter Hitler scheinen ihm ver- oder abarbeitungswürdig zu sein, vielmehr seine viel spätere große – freilich von ihm immer wieder geleugnete – Bereitschaft, die Studentenbewegung samt der immer radikaler werdenden neuen Linken tatkräftig zu unterstützen und die ans Licht tretenden Verbrechen der chinesischen und kubanischen (vietnamesischer oder kambodschanischer) Revolutionäre als etwas Unumgängliches in Kauf zu nehmen. Um das Besondere dieses Textes von Enzensberger zu erfassen, kommt man um den intra- und intergenerationellen Vergleich nicht herum. Denn sosehr Enzensberger generationell zu Walser, Grass oder Baumgart gehört, thematisch ordnet ihn der Text eher der Generation der 68er zu, wie bereits ein flüchtiger Blick auf den autobiographischen Text Rebellion und Wahn. Mein 68 von P. Schneider erweist, in dessen Mittelpunkt die Studentenrevolte in Deutschland und teilweise in Italien steht. Somit nimmt Tumult eine Scharnierstellung ein: Enzensberger greift darin kein generationstypisches Thema auf, sondern eher ein von der Generation der 68er bearbeitetes. Doch zugleich ist kaum zu übersehen, dass er über dieses Thema nicht wie ein typischer 68er schreibt. Davon ausgehend, dass er an das zentrale Thema der 68er anders herangeht, wäre zu überprüfen, ob seine Art, über die 1960er Jahre zu schreiben, dem Duktus und der Strategie nahe kommt, mit denen seine Generationsgenossen über ihre Nazikindheit und Nazijugend geschrieben haben. Vorab einige Sätze zum Generationsprofil: Das revolutionäre Agieren von Enzensberger in den 1960er Jahren scheint sich mit der „skeptischen“ Definition dieser Generation (Schelsky) kaum zu berühren (misstrauisch, höchst unpathetisch, kein Verständnis für revolutionäre Losungen und begeisterten Idealismus, kein Sinn für allesumwerfende Programme; skeptisch und tolerant, wenn wir unter Toleranz die Fähigkeit verstehen, mit den eigenen Schwächen wie auch mit den Schwächen der anderen zu leben). Man wird kaum behaupten können, Enzensberger habe sich über weite Strecken als ein Skeptiker profiliert. Es bedeutet jedoch weder, dass es für immer so geblieben ist, noch, dass zwischen dem Enzensberger der 1960er und dem der 2010er Jahre eine Zäsur stehen 311 muss, die manche Forscher herbeibemühen, um zwischen dem frühen nonkonformistisch-linken Kritiker und dem späten konservativ normalisierten und illusionslosen Skeptiker zu unterscheiden. Die erste Frage lautet, inwiefern Tumult in Bezug auf Enzensbergers Entwicklung erkenntnisfördernd gelesen werden kann. Die zweite betrifft das Verhältnis zwischen Schneider und Enzensberger. Die von Schneider formulierte Aufforderung zielte auf moralische Qualitäten, genauer auf Enzensbergers (Un)Bereitschaft, sich nun, also nach 2000, wie auch immer er sich im Laufe der Jahre weltanschaulich umpositioniert hatte, den Widerspruch zwischen seiner jetzigen und seiner damaligen Einstellung zuzugestehen und daraus Folgen zu ziehen. Dies könnte für den Leser von Tumult den Blick darauf freimachen, wie dieser Text das Spannungsfeld zwischen dem Horizont des damals lebenden Protagonisten und dem von dessen Autobiographen gestaltet, zumal Enzensbergers intellektuelles Leben sich im Zeichen äußerster Dynamik abspielte. Wie geht, könnte also von Schneiders Aufforderung ausgehend gefragt werden, Enzensberger mit offensichtlichen Brüchen und Diskontinuitäten seiner Biografie in der Autobiographie um? Diese Spur der inter- und intragenerationellen Perspektive fruchtbar zu machen, heißt Enzensbergers Autobiographie in den intergenerationellen Kontext der autobiographischen Texte von P. Schneider, und in den intragenerationellen Kontext der autobiographischen Texte von Walser, Grass und Baumgart einzubetten. Welche Aspekte des Vergleichs sind dabei besonders zu beachten? Welche Analogien und Differenzen lassen sich zwischen den autobiographischen Aussagen über die Nazijahre einerseits, und über die 1960er Jahre andererseits innerhalb einer Generation festhalten? Welche Analogien und Differenzen lassen sich zwischen den autobiographischen Erinnerungen an dieselbe Zeit (die 1960er Jahre) jenseits der Generationen festhalten, also zwischen Enzensberger und Schneider? Welche Haltung nimmt die Erzählinstanz gegenüber dem Hauptprotagonisten ein? Nimmt sie sich seiner an, distanziert sie sich von ihm, bewertet sie ihn, oder versagt sie sich jede Bewertung? In wie weit und mit welchen Konsequenzen betreiben die analysierten autobiographischen Texte eine Identitätsrekonstruktion? 8.3 Der intragenerationelle Blick: Autobiographische Texte der „skeptischen“ Generation Walsers autobiographischer Roman Ein springender Brunnen setzt erzählerisch die Annahme um, wir würden über die Vergangenheit (inklusive unserer eigenen) nicht frei verfügen. Dessen eingedenk, dass die Art, wie wir unsere Vergangenheit rekonstruieren, nie interesselos sei, erlegt sich 312 Walser eine Art historisierende Entsagung auf, die freilich allenfalls als Wunschprogramm formuliert werden kann: im Sinne des Historismus darauf zu verzichten, die Vergangenheit an den heutigen Maßstäben zu messen, ja sie möglichst interesselos entgegenzunehmen. Um dieses Programm zu verwirklichen, bemüht Walser etliche Analogien, die die Undisponibilität der Vergangenheit belegen sollen (Vergangenheit sei wie der Traumstoff, auf dessen reine Intentionslosigkeit man im Wachzustand nie herankomme; je direkter man sich der Vergangenheit nähere, desto deutlicher begegne man statt dieser dem Motiv, ob dessen man sie aufsuchen wollte etc.). Als Konsequenz ergibt dieses Programm eine Erzählhaltung, die zu den Protagonisten moralisch diskret zu sein sucht. Das Programm der erzählerischen Diskretion (Enthaltsamkeit, Skepsis) geht auf Walsers Unwillen zurück, sich mittels der Figuren seine eigene jetzige Position rechtfertigen zu lassen. Auch in der Autobiographie von Grass weigert sich die alte, sich erinnernde Erzählinstanz, an jenen siebzehnjährigen Jungen, der sie am Kriegsende selber war, Maßstäbe anzulegen, die ihre damaligen Möglichkeiten bei weitem übersteigen und vielmehr den Anforderungen der heute gültigen Erinnerungskultur entsprechen würden. Er weigert sich, seine heutige Überlegenheit zur Geltung zu bringen. Diese Überlegenheit auszuspielen, wäre unverdient, ja lächerlich, weil beide existentiell identisch sind. Die Konsequenz ist dieselbe wie bei Walser: Man lenkt das Augenmerk vom moralischen Profil der Person weg, an deren Jugend man sich erinnert, hin zu der Kompetenz des Autobiografen, dieses moralische Profil zu klassifizieren. Man gibt, so könnte zusammenfassend über Walser und Grass gesagt werden, zu, die autobiographischen Protagonisten hätten kein vorbildhaftes Leben geführt. Anstatt deren Konformität zusätzlich hervorzuheben, da sie heute aus dem Abstand heraus offensichtlich ist, werden sie vor diesem Anspruch geschont, in den Augen der heutigen Leser bestehen zu müssen. In autobiographischen Texten dieser Generation spürt man somit den Willen, den Protagonisten nachträglich keinen politischen Ungehorsam hinzuzudichten; ungehorsam, also unangepasst war man allenfalls, sofern man leichtfertig und kindisch „egozentrische, privatistische Rück- zugsversuche“908 unternommen hatte. War man überhaupt irgendwann dagegen, dann allenfalls unmotiviert, unwissend, kaum aus rationalen oder politischen Motiven. Darum brauche man sich, eben als unmündig, nicht schuldig fühlen zu müssen. Der Vorwurf, der gegen diese Texte erhoben wird, schlägt daher genau in diese Kerbe: Diese Autoren würden sich allzu bequem der Verantwortung entziehen, indem sie alles auf die Karte ihrer 908 R. Baumgart: Damals. Ein Leben in Deutschland. München 2003, S. 128. 313 Unmündigkeit setzen würden, um sich als unschuldig darstellen zu kön- nen. 8.4 Der intergenerationelle Vergleich: Autobiographische Texte über die 1960er Jahre Die Doppelfigur, in der das Körperliche und Politische, Private und Öffentliche verkoppelt und mit Mündigkeit und Unmündigkeit, mit Eitelkeit und Eskapismus verschränkt werden, weist bereits auf die autobiographischen Texte, in denen die 1960er Jahre thematisiert werden, also eine Zeit, die als solche unter dem Zeichen der politischen und sexuellen Revolution stand, und darum darauf aus war, die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Politischen verschwinden zu lassen. Schneiders Rebellion und Wahn und Enzensbergers Tumult stemmen sich aus dem Rückblick diesem Gebot der Stunde, indem sie die unheilvollen Konsequenzen beim Namen nennen, die der Versuch, Politisches und Privates um jeden Preis zusammenzuführen, nach sich gezogen hat. Gesichtet werden etliche Widersprüche: Beflügelnden Ambitionen und hohen Idealen der politischen Selbstverwirklichung werden zahlreiche private Katastrophen, eine trostlose Unfähigkeit, mit Beziehungen zurecht zu kommen, ja revolutionäre Müdigkeit und zunehmende Orientierungslosigkeit, wofür man eigentlich noch kämpfen, und wogegen man demonstrieren sollte, gegenübergestellt. Das private Leben der Revolutionäre scheint sich geradezu in der Politik aufgelöst zu haben, ihnen die Worte dafür abhanden gekommen zu sein. Man könnte fast sagen, gegen dieses restlose Aufgehen des Privaten im Politischen anzuschreiben, mag einer der wichtigsten Impulse dieser Bücher sein, hatte es doch beiden Autoren offensichtlich stark zugesetzt. Darum laufen beide Texte oft darauf hinaus, über die schlichtweg unpolitische, also eher „allzumenschliche“ Motivation vieler politischer Taten aufzuklären. Weniger aus politischen, vielmehr aus privaten Gründen habe manches resultiert, was sich politisch, also bewusst und rationalisiert gegeben habe. Diese autobiographische Aufklärung über die Revolution will besagen, es war weniger Vernunft als Wille, weniger Kopf als Körper, weniger Intention als Zufall, weniger Ordnung als Chaos und Rausch, weniger Sinn als Unsinn, was die Revolution am Leben gehalten hat. Wer Enzensbergers oder Schneiders Rolle in diesen Jahren nur politisch zu erklären und deren Aktivitäten nur als Folgen von rational durchdachten Strategien und Diagnosen zu interpretieren gewohnt war, wird hier eines Besseren belehrt, also aufgeklärt. In dieser Figur werden beide Perspektiven verschränkt. So wie man Walser und Grass zugute halten kann, dass sie ihren jugendlichen Ungehorsam nicht als einen bewussten hochstilisieren, wird man auch Schnei- 314 der und Enzensberger hoch anrechnen müssen, dass sie ihre großen revolutionären Taten auf ihre „allzumenschlichen“ Motivationen abklären, und den Blick auf Dummheiten, Widersprüchlichkeiten, ja Selbstentlastungen und Selbstbelügungen der Revolutionäre frei machen.909 Und wiederum so wie man Walser und Grass hie und da vorhält, sie würden bewusst auf die Karte der jugendlichen Unmündigkeit und politischer Unzurechnungsfähigkeit setzen, um sich von jeder Verantwortung freizusprechen, wäre auch die akzentuierte Allzumenschlichkeit für einen alibistischen Trick von Enzensberger zu erklären, der sich damit nachträglich der Verantwortung für die eigenen Taten entzieht, und eine jugendliche Unschuld beansprucht; was verwundern muss, sofern Enzensberger in der inkriminierten Zeit der Revolte nicht 17, wie Grass oder Walser am Ende des Krieges, sondern fast 40 Jahre alt war. Diese Strategie scheint allerdings Schneider fremd zu sein, bei ihm ist zwar auch vom Allzumenschlichen die Rede, doch es überwiegt etwas anderes, nicht das Diskrete und sich selbst Schonende, sondern vielmehr das Bedürfnis, mit sich selbst nachträglich ins Gericht zu gehen. Statt Toleranz, Verständnis, ja diskreter Nachsicht regiert bei Schneider Ironie, Selbstrevisionsbedürfnis, verbissene Distanz- bemühung. Welche Entwicklungslinien der Hauptprotagonisten werden in Schneiders und Enzensbergers Texten gezeichnet? In wie weit wird in ihnen die Geschichte darüber erzählt, wie man das geworden ist, was man nun zu sein glaubt? Schneiders Schilderung seiner Kinder- und frühen Jugendjahre in Freiburg hält sich an typisierte Abbildung der bundesrepublikanischen 1950er Jahre; Freiburg steht für all das Restaurative, die Vergangenheit Beschweigende, und kulturbeflissen Idealisierte, in das der junge, eckige, nervöse, gegen alles Runde allergische Schneider wunderbar passt, um es bald als spießige Provinz hinter sich zu lassen. Doch mit der Geburt eines wirklichen Revolutionärs, der mittlerweile in Berlin zu agieren beginnt, will es nicht ganz klappen, ständig kommt ihm seine durch die „beschweigenden“ 1950er Jahre kultivierte Mutlosigkeit eines Konformisten in die Quere. Sie wirkt auf den ersten Blick neben seinen hypermutigen Zeitgenossen recht sympathisch, sie macht aus dem Revolutionär einen Menschen, zumal Schneider wahrlich nicht wenig zu berichten hat von seinen meist aus Feigheit begangenen revolutionären Dummheiten. Doch mit der Feigheit hat es bei Schneider offensichtlich ihre Bewandtnis: Denn nachträglich hält sich der autobiographische Erzähler eine andere Feigheit vor; eben nicht diejenige, die der Geburt eines radikalen Revolutionärs P. Schneider im Wege stand, sondern eher diejenige, die ihn 909 Vgl. P. Schneider: Rebellion und Wahn ..., S. 279–280, 293; H.M. Enzensberger: Tumult. Frankfurt am Main 2014, S. 110,140. 315 gerade daran gehindert hat, „gegen die überschnappenden Führer in den eigenen Reihen zu protestieren“.910 Man sieht, Schneider spannt seinen Protagonisten zwischen zwei Mut- bzw. Feigheitsbegriffe ein: Nachträglich gesteht er zu, ihm habe es an Mut gefehlt, „gegen die Führer in der eigenen Gruppe aufzustehen und zu sagen: Ihr spinnt! Ihr seid verrückt geworden!“911 Er bereut es also nachträglich, als Revolutionär den Bürger in sich vorläufig ausgeschaltet, zum Schweigen gebracht zu haben. Als Protagonist der Revolution schämte er sich indes vielmehr seiner Feigheit, den Bürger in sich doch nicht ohne weiteres ausschalten, ihn in einen Revolutionär verwandeln zu können; denn er wollte in den ersten Reihen zuschlagen, dort von den Polizisten verprügelt werden, etwas, was ihm trotz allen Hemmungen letztendlich gelungen ist.912 Die Folge ist: Da die Erzählinstanz vor allem daran Anstoß nimmt, dass der junge Schneider bei der Revolution einfach weiter mitmachte, obwohl er längst gerne aufgehört hätte, neigt sie dazu, die damalige Mutlosigkeit des jungen Schneider, sich an Gewaltaktionen zu beteiligen, zum großen Teil als eine bewusste, humanistisch konditionierte Gewaltabsage zu stilisieren. Der junge Schneider spürte, ahnte einfach, so suggeriert der Text, dass er sich für seine Feigheit, nur ein halbrevolutionär zu sein, eigentlich nicht zu schämen braucht. Was der junge Schneider damals allenfalls geahnt hat, ohne sich danach konsequent gerichtet zu haben, weiß die erfahrene postrevolutionäre Erzählinstanz der Autobiographie nun allzu gut und kann nicht umhin, dieses Wissen zur Geltung zu bringen. Das äußerst fragliche Spiel mit den Feigheitsbegriffen, das die Erzählinstanz anstellt, fordert ihr verdächtige Stabilisierungsversuche ab: Einerseits, seltener, wird dem jungen Ich sozusagen unter die Arme gegriffen, seine Feigheit wird ihm im Lichte der späteren Erkenntnis als etwas Humanes hoch angerechnet, und das Bedürfnis, diese Feigheit zu überwinden, von ihm abgespalten, als etwas Illusorisches, sozusagen als falscher Wunsch entlarvt, andere Male, und häufiger, neigt die Erzählinstanz dazu, mit den damaligen Revolutionären, inklusive sich selber, regelrecht abzurechnen.913 Daraus ergibt sich: Dem erinnerten 910 P. Schneider: Rebellion und Wahn ..., S. 175. 911 Ebenda, S. 362. 912 Vgl. Ebenda, S. 130–131. 913 Seine damaligen Reaktionen befremden die Erzählinstanz vollends, beim Kommentieren seiner damaligen Tagebucheintragungen rechnet sie mit sich selbst ab. Rückblickend schildert sich Schneider inmitten der Revolutionäre so, als wären damals alle Protagonisten in einem Spiel, das etwas Traumhaftes, Schizoides und Unbeholfenes hatte (revolutionäre Rollen und Aufgaben werden fast wie bei der Laiengruppe im Sommernachtstraum von Shakespeare verteilt) und das man unfreiwillig im Gange hielt, da man nicht aussteigen konnte (Wer auf die Fragwürdigkeit des Spiels hinweist, wird gleich gruppendynamisch als Kleinbürger, Klassenfeind usw. 316 Leben und dessen Episoden wird von der Erzählinstanz die Folie zugrunde gelegt, auf der nachträglich ein Lebensweg mit klarem und wahrem Ziel konstruiert wird, von dem das (vorläufig geblendete, verführte) Ich während der Revolte abgekommen ist, und nun von der Erzählinstanz zur Rechenschaft gezogen, ja ihm Bekenntnis abverlangt wird. Eine bekanntes Modell, in dem wir kulturell meist aufgewachsen sind und es darum für selbstverständlich halten, dass es gebesserte Sünder gibt, Revolutionäre, in denen sich die Revolution getäuscht hat, oder Revolutionäre, die sich in der Revolution getäuscht haben. Somit ist man langsam bei der Antwort auf die Frage, warum Enzensberger mit diesem doch naheliegenden Modell nichts anfangen kann. Problematisch wird ihm wohl schon die Erzählinstanz in Schneiders Text vorgekommen sein: Sie macht eben seinen Wissens- und Altersvorsprung geltend, um an ihm entweder das junge Ich (unverdient) partizipieren zu lassen, oder es schlichtweg zu distanzieren. Sie macht also genau das, wovor unter anderem Grass und Walser, Enzensbergers Zeitgenossen, Halt gemacht haben. Sie rechnet ab, sie blickt geschichtlich belehrt und darum oft ironisch zurück, sie distanziert sich, führt Selbstkritik und Selbstrevison durch. Diese Strategie bringt freilich hie und da recht genüssliche Früchte, etwa wo einem bei der Lektüre deutlich wird, dass der Revolutionsprozess von Schneider als eine psychotherapeutische Sitzung inszeniert wird, wo allerdings nicht die kranke Gesellschaft, sondern die an sich defekten Revolutionäre selber Hilfe suchen. Andererseits, und dieser Eindruck dominiert, kommt der Text von Schneider bedenklich nahe an die Grenze, wo das Vermenschlichen der Revolutionäre ins bußfertige, ja fanatische Abrechnen umkippt. Dies ergibt die Art, wie Schneiders Autobiographie die Identität des erzählten Lebens konstruiert. Das junge Ich wähnte sich während der inkriminierten Zeit der Revolte identisch, doch es war, wie die Erzählinstanz nun weiß, eine völlig falsche Identität: „Wie konnte denn der Schreibende vor vierzig Jahren diesen Abgrund überspringen“ 914 , bemerkt sie bitter mit Blick auf den offensichtlichen Widerspruch zwischen „privater Verzweiflung und der Siegeszuversicht bei den Demonstrationen“915 in den damaligen Tagebucheintragungen des Revolutionärs Schneider, die in der Autobiographie abgedruckt sind. Nun muss also die einstige falsche Identität hinter sich gelassen werden, damit man über sie hinaus selbstredend die wahre erreicht. Wie geschieht dies? Die Erzählinstanz stellt die revolutionär geblendete Welt des jungen Ich komplett in Frage, ohne jedoch mit derselben Radikalität ihre jetzige Sichtweise zu befragen. Somit schreibt sich Schneider in das Muster ein, disqualifiziert). Die Handlung wird in der psychiatrischen Sitzung abgerundet, die ja nur den schizoiden Traumwahn der Revolution ins Reale transponiert. 914 P. Schneider: Rebellion und Wahn ..., S. 14. 915 Ebenda. 317 das um der jetzigen bruchlosen Identität willen die früheren Lebensphasen zu definitiv unwahren herabsetzen muss. Der jetzige wahre Stand der Idealität wird von den früheren Lebensphasen durch einen Wendepunkt getrennt, von dem an, und das ist bedenklich, doch zugleich für dieses Modell charakteristisch, sich alle weiteren Zweifel erübrigen. Wenn Schneider, um auf die einführende Fragestellung zurückzukommen, von Enzensberger eine intelligente Abrechnung mit seinen Irrtümern erwartet, denkt er wohl an eine eben derartige Selbstabrechnung, die ihm selber offensichtlich behagt, an das, rein typologisch, Augustinische Modell der Bekenntnisautobiographie, die bei ihm freilich nicht mehr christlich, sondern eher geschichtsphilosophisch grundiert ist. Diesem Modell der Autobiographie, um es vereinfacht darzulegen, liegt ein aufsteigend finaler Charakter des Lebens zugrunde, dessen man sich, die eigene Fehlerhaftigkeit rückblickend für eine vorläufige erklärend, im Akt des Schreibens definitiv vergewissert. Im Zentrum steht ein Subjekt, das „nach der Umwendung vom Unwesentlichen zum Wesenhaften seinem vergangenen [...] Ich anklagend gegenübersteht“916 , um den starken Kontrast zwischen damals und jetzt, „zwischen der Befangenheit des alten und der Einsicht des neuen Ich immer wieder neu hervortreten [zu] las- sen“.917 Von diesem Modell sind in Schneiders Autobiographie wahrlich viele Ingredienzen präsent: Man hat da den Wendepunkt, hier ist es – ähnlich wie bei Augustinus – die Reise nach Italien, nach welcher der einstige Revolutionär seinen unumstößlichen Glauben an die Revolution verliert. Man spürt darin auch das unentwegte Bedürfnis, keine der Schwächen, Armseligkeiten, Anfechtungen, Verirrungen auszulassen, einfach alles, lieber eins mehr, als eins weniger zu bekennen, kurzum: Auch hier waltet ein extrem entwickeltes Selbstrechtfertigungsbedürfnis, ja die „Rückhaltlosigkeit des Alles Sagens“.918 Man hat da auch den finalen Charakter, der dem Subjekt das Recht gibt, auf das Geschehene bereits vom Gipfel der Erfüllung zurückzublicken. Man hat da freilich auch die Zweifel, die indes allenfalls dazu da sind, letztendlich überwunden zu werden. Diesen Erwartungen kommt Enzensbergers Autobiographie nicht nach, ihr Modell scheint sich weniger an der moralisch bußfertigen Bekenntnistradition des heiligen Augustinus zu orientieren, in deren freilich säkularisierte Form sich Schneider einschreibt, vielmehr an der skeptischen und moralistischen Tradition, die bei Montaigne und seinen Essays ansetzt, und die gegen unmoralische Seiten des menschlichen Lebens 916 H.R. Jauss: „Gottesprädikate als Identitätsvorgaben in der Augustinischen Tradition der Autobiographie“. In O. Marquard, K. Stierle (Hg.): Identität (Poetik und Hermeineutik, Band 8. München 1996, S. 708–717, hier S. 709. 917 Ebenda, S. 710. 918 Ebenda, S. 717. 318 nicht normatives „Seinsollen“ ausspielt. Die Autobiographie Tumult wie auch die Biographie Hammerstein oder Eigensinn919 legen davon einen klaren Beweis ab. In deren Mittelpunkt stehen jeweils recht eigensinnige Figuren: der General Kurt von Hammerstein (1878–1943) und H.M. Enzensberger. Beide spielen sich in umstrittenen und kontroversen Jahren ab: um 1933 und um 1968. Entscheidend scheint an diesen Texten, die beide panoramatisch den Blick auf rechte und linke Totalitätsversuchungen frei machen, das Maß der Freiheit, das darin ihren, beileibe nicht vor- bildhaften920 Helden gegönnt wird. Beide Texte machen das Recht der Figuren auf Eigensinn geltend, um sie von der Allmacht der ideologischen Schemen zu befreien. Denselben Eigensinn, den Enzensberger Hammerstein und dessen Kindern einräumt, beansprucht er selbst mit der Folge: Je eigensinniger die Figuren, desto weniger kann die Erzählinstanz auf sie herabblicken. Warum Hammerstein seine Verachtung der Nazis in keine politisch konsequente Widerstandsaktion umgesetzt habe, ist zwar eine berechtigte Frage, aber nicht für Enzensberger. Er entsagt allen Urteilen, bleibt zu seinen Figuren diskret, um hervortreten zu lassen, dass das Leben nicht auf die Wahl zwischen entweder–oder zu reduzieren ist. Hammerstein war weder Held, noch Verräter. Und darum auch jemand, der über seine Vergangenheit schweigen kann, ohne sich den Vorwurf gefallen zu lassen, er verschweige etwas. Dass es wenig Sinn macht, davon auszugehen, der später Geborene wisse, was man besser hätte machen sollen, weil er automatisch über einen ihn privilegierenden Wissensmehrwert verfüge, demonstriert Enzensberger an seinen in der Hammersteinbiographie verstreuten Totengesprächen, den postumen Unterhaltungen. Hier ist es genau umgekehrt, als man erwarten würde: Auch wenn man heute einiges wissen mag, was diese bereits Verstorbenen zu ihren Lebzeiten nicht gewusst haben, ziehen die Heutigen in allen diesen Konfrontationen immer den Kürzeren. Obzwar Tumult ohne das verfremdende und verunsichernde Mittel der Totengespräche auskommt, ändert sich an der Situation kaum etwas. So sehr En- 919 H.M. Enzensberger: Hammerstein oder Eigensinn. Eine deutsche Geschichte. Frankfurt am Main 2008. 920 K. Hammerstein, dem obersten Offizier der Reichswehr, einem konservativen General, könnte man etwa vorwerfen, dass er in der ersten Hälfte der 1930er Jahre, als es noch möglich war, und er dazu sicher genug Gelegenheiten gehabt hatte, kein klares Nein zu Hitler gesagt hat, obwohl er ihn sehr kritisch sah. Und Enzensberger könnte man vorwerfen, dass er sich lange seine Illusionen über die linke Revolution nicht nehmen ließ, sogar nach Kuba ging, um die Revolution live zu erleben und zu unterstützen; vorzuwerfen wäre ihm weiter, dass er, statt einzusehen, dass hier auf dem Weg zur freien Gesellschaft vollkommen unfreie Verhältnisse in Kauf genommen wurden (Lager für Regimekritische, Hinrichtungen, Zensur usw.), diese sozialistischen Experimente mitmachte, ja sogar die sich radikalisierende Linke in Deutschland gelten ließ. 319 zensberger 2014 weiß, was er in den 1960ern hätte machen müssen, er weiß einfach nicht genug, um sich gegenüber dem damals Lebenden einseitig ins Recht setzen zu können. Indem Schneider seinen Text als Rebellion und Wahn, Mein 68 bezeichnet, gibt er deutlich zu verstehen, bemüht sei ein ausgeglichener Blick auf 1968, der Verdienste (nützliche Rebellion gegen den Gehorsamszwang) und Verluste (man hätte sich viel früher besinnen müssen) auf die Waagschale wirft; bemüht sei weiter eine Identitäts(re)konstruktion, in der ein heute 68jähriger sich qua 1968 seiner selbst vergewissert. Da, wo Schneider einen freilich umstrittenen, doch fest verankerten Begriff verwendet, steht bei Enzensberger das Wort Tumult (das im Übrigen auch bei Schneider oft vorkommt, es aber nicht zum Titel bringt). Damit gibt Enzensberger zu verstehen, bemüht sei weniger eine Begrifflichkeit, als vielmehr ein offener, chaotischer Entwurf, kein von besonderem Identitäts- und Selbstvergewisserungswunsch geleiteter. Enzensberger tut in seinem Text nicht viel anderes als etwa Montaigne, alles, um sein Desinteresse an sich selbst, an seiner Biographie zu zeigen. Der Duktus der Prämissen, in denen er über die Motivation seiner Autobiographie schreibt, ist voll dilettantischer Selbstironie („Mein Gedächtnis gleicht einem Sieb, in dem wenig hängen bleibt [...] Allerdings lässt mein Interesse an einer Autobiographie zu wünschen übrig. Ich will mir gar nicht alles merken, was mich betrifft“),921 die man eben von Montaigne kennt, der sich auch gerne den Anschein gibt, ein schlechtes Gedächtnis zu haben und in seiner Bibliothek (wie Enzensberger in seinem Gedächtnis) „wahllos herumblättert und die Zufallsfunde je nach Laune niederschreibt oder ver- gisst“.922 Als ein schlechter Adept für eine wahrheitssuchende Autobiographie ist Enzensberger also bereit, nur das von der Hand zu geben, worin Zufall, Chaos und Offenheit regieren, um nur nicht aus großem Abstand von sich selbst erzählen zu müssen. Diese zu Schneider diametral entgegengesetzte autobiographische „Ambition“ ergibt auch die gegensätzliche Haltung der Erzählinstanz zu dem jungen Ich; sie lässt keinen Raum für jegliche Selbstrechtfertigung und selbstrevidierenden Bekenntnisse offen. So sehr Enzensberger aus seinen damaligen Fehlern keinen Hehl macht, so wenig spürt man bei ihm – auch diesbezüglich wäre man bei Montaigne fündig – das Bedürfnis, sich ob des Zurückbleibens hinter der Idealität ethisch zu aktivieren, sich zu zerknirschen, ja „das nicht mehr so sein wollen“923 eines nach Erlösung Drängenden. Die Wechselbeziehung zwischen der Erzählinstanz und dem jungen Ich entspricht dem Motto: Mit seinen Problemen muss jeder selber fertig werden. Beide sind durch keinen Wendepunkt getrennt, der einen von 921 H.M. Enzensberger: Tumult, S. 105. 922 H. Friedrich: Montaigne. Bern 1967, S. 36. 923 Ebenda, S. 214. 320 ihnen umso falscher zeigen, je wahrer sich darin der andere geben würde. Habe man damals Fehler gemacht, könne nicht ausgeschlossen werden, dass man sie wohl auch jetzt mache, so sehr man es bestreite. Zweifellosigkeit könne weder die Erzählinstanz, noch der Protagonist der Autobiographie beanspruchen. Und zwar: Weder die Zweifellosigkeit, dass man damals definitiv falsch gehandelt hat; noch die Zweifellosigkeit, dass man nun nachträglich das Recht hat, den damals Handelnden zur Rechenschaft zu ziehen. Suchte Schneider die falsche Identität seines jungen Ich in eine definitiv wahre Identität der Erzählinstanz umzumünzen, verzichtet Enzensberger offensichtlich auf diesen Identitätswunsch, um ihm die aktuelle Freiheit der beiden Ichs nicht opfern zu müssen. Auf eine sehr wohldurchdachte Art wird dies in den Kapiteln „Erinnerungen an einen Tumult“ dargestellt, wo beide Instanzen aufeinandertreffen. Und von vornherein ist klar, diese Begegnung wird ohne Selbstrechtfertigungsszenarien auskommen, sie ist einfach auf keinerlei Entlastung der einen oder anderen Instanz aus, sie wird also auch auf jedwede Überheblichkeitsoder Machtstrategien verzichten können. Man kennt sich einfach allzu gut, ausgeschlossen, sich etwas vorzumachen. Der Alte durchschaut jedes Alibi des Jungen, ohne ihn deswegen gleich zu tribunalisieren. Der Junge gibt seine menschlichen Schwächen zu, ohne sich von dem Alten herablassend behandeln zu lassen. Dieses Paar spielt nicht das Spiel, bei dem immer der eine auf Kosten des anderen gewinnt, sondern es gibt hier niemanden, der in dem autobiographischen Selbstgespräch die Schiedsrichterrolle für sich in Anspruch nehmen könnte. Die Erzählinstanz geht auf das agierende Ich nicht – wie bei Schneider – mit der moralischen Vehemenz eines einstigen Revolutionärs zu, der es heute besser wissen will, sondern sie will lediglich wissen, was er sich damals „bei alledem ge- dacht“924 habe. Die Spaltung in zwei Ichs unternimmt Enzensberger nicht, um den einen auf Kosten des jeweils anderen zu privilegieren (entlasten) oder herabzusetzen. Es gibt hier also keine Möglichkeit für die beiden, sich dem jeweils anderen drunter und drüberzustellen, sich gegenseitig unter die Arme zu greifen, jedem von ihnen bleibt nichts anderes übrig, als mit seinen Problemen selber zurechtzukommen. Dessen eingedenk, dass man in keinem Augenblick genug weiß, um ein gerechtes Urteil zu treffen, und dass jedes Moralisieren – der anderen wie auch sich selbst, wie in dieser autobiographischen Spaltung zu sehen war – letztendlich auf eine Entlastung hinausläuft, weist Enzensberger das bekenntnishafte Modell der Augustinischen Autobiographie, an das sich Schneider anlehnt, zurück, und neigt idealtypisch zu demselben Modell, das auch Grass und Walser in ihren autobiographischen Texten bevorzugen. Zugleich ist kaum zu übersehen, dass all diesen Texten ein Gestus 924 H.M. Enzensberger: Tumult ..., S. 107. 321 eigen ist, der eigentlich ein versöhnender, mit menschlichen Bedürftigkeiten und Grenzen abgefundener ist. Also eine Haltung, der zwar des selbstentlastenden Alibilismus bezichtigt werden kann, jedoch, da sie Verständnis für die Fehler der anderen wie auch ihre eigenen zeigt, insofern zu sich streng ist, als sie sich weigert, definitive Urteile auszusprechen. Damit gelangt Enzensberger nicht nur in enge Verwandtschaft zu seinen Generationsgenossen, die zu genau diesem skeptischen Gestus in ihren die Nazikindheit und -Jugend thematisierten Autobiografien gefunden haben, sondern auch zu deren moralistischer (anthropologischer) Ausprägung: gegenüber den Schwächen und Stärken bei den anderen wie auch bei sich selbst gleich gerecht zu sein. 323 9 Botho Strauß An der intellektuellen Entwicklung von Botho Strauß, der um zirka 15 Jahre jünger als die Generation der zwischen 1925 bis 1930 Geborenen ist, wird deutlich, dass die Reflexion des deutschen Problems zu typologisch ähnlichen Schlussfolgerungen führen konnte, so unterschiedlich die Generationsvoraussetzungen auch waren. Strauß hatte sich gegen andere Zwänge zu behaupten, auf die er unterschiedlich reagierte, die entworfenen Strategien waren jedoch zumindest insofern analogisierbar, als sie die Spannung auszuhalten hatten zwischen den generationellen Prägungen und deren möglichst freier Umgestaltung. Bereits durch sein Geburtsdatum (2. Dezember 1944) fällt er direkt in die Wendezeit, in der Ende und Anfang kaum voneinander zu trennen sind. Wohl auch aufgrund dieser Prägung reagierte er besonders sensibel auf die mit Zäsuren verbundenen Hoffnungen und Illusionen: Allzugut wusste er, dass man umso mehr davon geprägt werden mag, was man hinter sich gelassen zu haben glaubt.925 Darum suchte er jedem naiven Idealismus fernzubleiben, wohlwissend, dass es keine Stunde Null geben könne, da man allenfalls von dem Punkt aus handeln könne, der der vermeintlichen tabula rasa voraus- gehe. Der Zukunft kann man sich nur zuwenden, wenn man nicht aus dem Blick verliert, was gewesen ist. Dieser wohl für nachkriegsdeutsche Autoren typischen Maxime suchte Strauß auf seine spezifische Art Rechnung zu tragen, indem er die für das nachkriegsdeutsche Denken zentralen Begriffe stets in ihre begriffsgeschichtliche Dimension einbettet. Auch darum ist seine Suche nach der dem deutschen Problem gewachsenen Sprache von diesem begriffsgeschichtlichen Rahmen nicht zu trennen und nur aus ihm heraus zu verstehen. Strauß setzte sich noch stärker als die bisher vorgestellten Autoren mit einem reflexartigen Begriffsgebrauch auseinander, mied Orthodoxie und Doktrinarismus,926 ließ sich gern von unorthodoxen Denkern inspirieren,927 bewegte sich jenseits der festgefah- 925 „Noch durchtriebener wird es, wenn die eigene Frühe mit einem Epocheneinschnitt, mit dem Wiederanfang des ganzen Volkes zusammengeht, wenn man eine historische Stunde Null zum Geburtsdatum hat.“ B. Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie. München – Wien 1992, S. 120. 926 Vgl. das Gespräch mit V. Hage. In M. Radix (Hg.): Strauß lesen. München – Wien 1987, S. 209. 927 Recht genau hat es P. Sloterdijk formuliert: „Strauß liest katholische Klassiker, gut, er liest Dissidenten der Moderne, auch gut – wird er durchs Lesen und Nachverstehen solcher Dinge Katholik und Renegat seiner Zeit? Mir scheinen solche Ver- 324 renen ideologischen Muster. Den (ungeschriebenen) Regeln des Deutschlanddiskurses begegnete er mit vielleicht noch erfinderischeren Argumenten als Walser, im Vergleich zu dem stärker flatterhaften Enzensberger blieb er dann seiner Begrifflichkeit treu, nachdem er sie allerdings angesichts des Nachkriegsusus redefiniert hatte. 9.1 Im Banne der Vorurteile Bevor diese Begriffskonstellationen vorgestellt werden, sei angedeutet, warum auch bei Strauß die Generationssemantik zu berücksichtigen ist. Zunächst sei bemerkt, dass es ihm fernlag, mit ihrer Hilfe sein intellektuelles Selbstbild zu profilieren. Die wohl einzige diesbezügliche Aussage geht nicht über die sachliche Feststellung hinaus, er habe sich einer gewissen Generationssicht zugehörig gefühlt, die sich jedoch aus seiner Sicht nach einem gewissen Moment überlebt habe.928 Umso stärker pflegten sich diejenigen der Generationsargumente zu bedienen, die nur schwer die Entwicklung quittieren konnten, die Strauß zu Beginn der 1990er Jahre in seinen Texten einschlug. Mit kleinen Änderungen kommt in dieser Kritik dasselbe Muster zum Tragen, das hervorgeholt wurde, als es galt, Grass und Walser für ihre Abweichungen vom politisch konformen Kurs als Angehörige der vom Nazismus indoktrinierten, und eo ipso determinierten Generation zu stigmatisieren. Somit wurden sie zu Autoren, die sich prinzipiell nie vor dem Vorwurf gefeit fühlen konnten, trotz aller Mühe die Spuren der unheilvollen Vergangenheit doch revitalisieren zu wollen. In dieser Perspektive wird der Unterschied zwischen den „Skeptikern“ und den um mindestens 10 Jahre älteren Autoren verwischt, so dass etwa Walser oder Grass von der Generation der Hitlerwähler und seiner „willigen Vollstrecker“ kaum unterscheidbar erscheinen, denen ja eher vorgehalten werden kann, sie hätten „Hitler in sich“ weder abgearbeitet, noch sich darum gar bemüht. Auch bei Enzensberger scheint man beide Augen über seine linken Ausrutscher zuzudrücken, während gegen seine intellektuelle Entwicklung seit den späten 1970er und insbesondere der 1980er Jahre Argumente ins Spiel gebracht werden, die an der moralischen Fragwürdigkeit der Skepsis im Allgemeinen, an der Skepsis der „skeptischen dächtigungen ärmlich, paralytisch.“ P. Sloterdijk: Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira. München – Wien 1996, S. 120. 928 „Es gibt eine Generation, zu der ich auch gehöre, die bei ihrem geistigen Erwachen eine stark oppositionelle Haltung zu der Gesellschaft der Väter eingenommen hat. Die politischen Aktivitäten hatten zum Ziel, diese Väterherrschaft abzuservieren, besonders eben im Aufbegehren der Studenten. Und das ist alles ja – wie man jedem Feuilleton entnehmen kann – inzwischen auf dem Rückmarsch. Es gibt keine Kraft des Durchsetzens mehr gegen die Vorgeneration.“ meinte Strauß 1980. In M. Radix (Hg.): Strauß lesen ..., S. 201. 325 Generation“ im Besonderen nichts zu wünschen übrig lassen. Einmal mehr gilt es bei Strauß: Auch seine linke Phase wird meist stillschweigend übergangen, umso stärker wird, um den späteren Texten beizukommen, der direkte Zusammenhang mit der „konservativen Wende“ der Bundesrepublik herangezogen. Seit dem gesamteuropäischen Zusammenbruch des realen Sozialismus wird Strauß mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe in der historischen Niederlage der linken Ideologien die Bestätigung der Notwendigkeit erblickt, das vereinte Deutschland nun endlich von dessen nazistischer Vergangenheit abzukoppeln. Für die erbittertsten seiner Kritiker habe er seine Generation der 68er verraten, um nach 1990 in fragliche konspirative Gemeinschaften innerhalb oder jenseits seiner Generationskohorte zu geraten, um etwa mit dem ähnlich alten P. Sloterdijk und P. Handke, oder mit dem älteren M. Walser und H.M. Enzensberger als ein „intellektueller Brandstifter des Rechtsradikalismus“929 zu agieren. In beiden konspirativen Gruppen soll Strauß den nützlichen und für die nachkriegsdeutschen Intellektuellen unentbehrlichen linksliberalen Konsens unterminiert haben. In dem Moment, als Strauß das stabile Fahrwasser der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zu verlassen begann, um gedanklich zu experimentieren, wurde zugleich deutlich, wie stark die gegen ihn geltend gemachten Argumente ideologisch grundiert, schematisch strukturiert und reflexartig abrufbar waren. Das Schema lautete: Mit Vertrauensentzug ist zu bestrafen, wer an der Erzählung zu stricken aufhört, der Weg zum wahren Deutschsein habe erst 1968 angefangen, und man dürfe von diesem nicht abweichen, welchen Grund auch immer man dafür haben sollte. Der schwache Punkt: Es wird dabei in der Regel über die offensichtlichen Differenzen hinweggesehen, die ja zeigen müssten, dass man auf demselben intellektuellen Holzweg „Renegaten des Jahres 1968“ (B. Strauß), um einiges ältere Skeptiker (H.M. Enzensberger), versteckte Antisemiten (M. Walser), ewige Nazis, die sich ja zu Unrecht als Gewissen der Nation stilisiert hätten (G. Grass), festhalten zu können glaubt. Darzulegen sei im Folgenden also zunächst, dass Strauß’ intellektuelle Trajektorie kaum die eines linken Renegaten ist, der verraten und seine Gewissensbisse durch den Sprung aufs gegenüberliegende rechte Ufer wettgemacht hat, um rechte Erklärungs- und Werteregister zu übernehmen. Dieses Schema ist bereits deshalb ungeeignet, da Strauß erstens zum Unbehagen seiner Kritiker das rechte Ufer kaum erreicht hat, und zwei- 929 Über die nicht nur im Feuilleton kursierenden Zuschreibungen der rechten intellektuellen Brandstifterei, die in Walsers Deutschen Sorgen, Enzensbergers Aussichten auf den Bürgerkrieg, Strauß’ „Anschwellender Bocksgesang“ und Sloterdijks Im selben Boot festgemacht wurden, referiert am ausführlichsten R. Havertz: Botho Straußʼ Essay „Anschwellender Bocksgesang“ und die Neue Rechte. Eine kritische Diskursanalyse, Band I. Berlin 2008, S. 245–297. 326 tens zu dem linken um einiges früher auf Distanz gegangen war, als dies bemerkt wurde. Ähnlich wie bei Walser und Enzensberger handelt es sich auch in seinem Falle vielmehr um eine langwierige Abschiednahme vom schwarz-weiß dichotomischen Denken, das keine intellektuelle Freiheit, es sei denn die eine im Rahmen des vorgeschriebenen disjunktiven „Wenn nicht A, dann B“-Schemas erlauben würde. Strauß war in der Tat beispiellos in der Kunst, eben diesem die Deutschlandreden prägenden disjunktiven Schema zu entkommen. Die „Gnade der späten Geburt“ für sich in Anspruch zu nehmen kam ihm im Gegensatz zu vielen 68ern930 nie in den Sinn, so sehr es nahegelegen hätte. Fern blieb er auch der für viele seiner Generationsgenossen attraktiven Geste, von einer moralisch höheren Warte aus mit den etwa 20 Jahren der deutschen Nachkriegsgeschichte bis zum Jahre 1968 abzurechnen, in denen der ökonomische Erfolg mit gewaltigem Verdrängen der Vergangenheit erkauft worden sein soll.931 Die Generationsprädispositionen eines Menschen, der unter einem riesigen Schatten aufgewachsen sei, seine Augen „aufgeschlagen als zum Bewußtsein kommender Mensch – und habe ein Blutbad vor [sich] gesehen. Es ließ sich im Grunde nicht begreifen. Also rettete man sich nach links“,932 haben es jedoch Strauß äußerst schwierig gemacht; es bleibt selten bei einem Sprung. Als ein heimatloser Linker sah Strauß in dem „Sprung nach links“ die einzig mögliche Rettung, zugleich legte er sich dadurch die Fesseln der politischen und ideologischen Eindeutigkeit an. Diese seien zu brechen, andererseits wusste Strauß, jeder Schritt ohne diese Fesseln könnte alsbald im falschen intellektuellen Zuhause des nationalen und rechten Konservativismus enden.933 Die Spannung zwischen beiden Polen 930 Vgl. etwa die nachträgliche Reflexion von P. Schneider in Das Ende der Befangen- heit. 931 Im Gespräch mit V. Hage heißt es, daß die verantwortliche Generation sich in den Wiederaufbau gerettet habe, sei eine quasi biologische Überlebensnotwendigkeit gewesen. Den Hohn gegen die „Verdrängungsgesellschaft“ habe er nie verstanden (auch darauf gibt es einen Reflex in seinem Gedicht). Eine Gnade der späten Geburt hingegen kann es für ihn nicht geben. „Das gerade nicht! Dieses Mal ist eingebrannt. Aber es wird mich nicht zur Erstarrung bringen.“ M. Radix (Hg.): Strauß lesen ..., S. 214. 932 Ebenda. 933 Der Metaphorik der ambivalenten Rettungsversuche von Strauß geht J. Schröder nach. Für ihn liegt das Besondere dieser Prägung darin, dass sie Strauß „als einzig mögliche Rettung und zugleich als unentrinnbares, auswegloses Gefängnis erfahren“ habe. „Aus dieser spannungsvollen und fatalen Ambivalenz konnte sich Strauß, dessen Abstoßung- und Ausbruchsversuche nach 1989 immer heftiger und auffälliger wurden, bis heute nicht wirklich befreien. Man hört immer noch die Ketten klirren [...] Seine auffälligen Rückwärts- und Rückkehr-Tendenzen sind primär Befreiungsimpulse eines an den Fels der deutschen Nachkriegsgeschichte Geschlagenen.“ J. Schröder: „,Whoʼs Afraid of ...?‘ Botho Strauß und die deutsche Nachkriegsliteratur“. In: R. Weninger – B. Rossbacher (Hgg.): Wendezeiten – Zeiten- 327 aushaltend suchte er mit eigenen Möglichkeiten zu experimentieren (etwa in Beginnlosigkeit, 1992), ja sich versuchsweise der Gefahr auszusetzen, die an deren Grenzen lauert (insbesondere „Anschwellender Bocksgesang“, 1993). Genauso heckte er Pläne aus, wie man sich den deutschen Sackgasen entwinden könnte, in die sich die Nachkriegsgenerationen hineinmanövriert haben (unter anderem „Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt“, 1987).934 Kein Wunder, dass bei dieser mutigen Gangart auf Messers Schneide Strauß mal die Balance verloren hat, mal ins Leere getreten ist. Dennoch glaube ich, sein Werk vorzugsweise aus diesen Fehltritten heraus zu interpretieren wird diesem genauso wenig gerecht wie Hinweise darauf, dass Strauß sämtliche fragwürdigen antiaufklärerischen und antidemokratischen Ideale etwa der sogenannten Konservativen Revolution zu revitalisieren sucht. Weitere Belege seiner Zugehörigkeit zur konservativen Rechten zu versammeln935 erscheint unproduktiv, so sehr man im Detail fündig werden kann. Sinnvoller erscheint mir wiederum, den Schreibprozess ins Spannungsfeld der Zwänge und deren schöpferischen Transformationen einzubetten; Strauß’ Texte wären somit nicht nur nach Spuren der Fehltritte abzusuchen, sondern genauso auch danach, wie er seine ambivalente Situation zu meistern suchte. Zunächst wurde ihm der Weg zur Freiheit, sich nicht zwangsläufig nach links begeben zu müssen, von zwei fremden Staaten versperrt, die ihm „verboten, je im Namen des Volkes der Deutsche zu sein“,936 später tat es das vereinte Deutschland. Welche Rolle spielte in dieser Auseinandersetzung die Reflexion des deutschen Problems? Wurde ihre Gestalt von den Dramen der realen politischen Umstände (etwa der Wiedervereinigung) geprägt, oder stellten diese eher nur Kulissen der Bühne, auf der Strauß wesentlich andere Dramen inszenierte? Diese Frawende. Positionsbestimmungen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 1945–1995. Tübingen 1997, S. 215–229, hier S. 219 - 220. 934 B. Strauß: „Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt“. In ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München – Wien 1999, S. 7–22. 935 Aus älteren Texten etwa J. Wertheimer: „Jünger, Strauß & Co. oder Das neue deutsche Selbstbewusstsein“. In M. Kessler – W. Graf Vitzthum – J. Wertheimer (Hg.): Neonationalismus Neokonservatismus. Sondierungen und Analysen. Tübingen 1997, S. 237. Aus den neueren: A. Denka: „Konservative Denkfiguren in der essayistischen Prosa von Peter Handke und Botho Strauß nach 1989“. In M. Schmidt (Hg.): Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kiel 2013, S. 243–270; differenzierter: Ch. Rauen: „,Konservative‘ Prosa? Modern und nicht-modernistisch! Zu Botho Straußʼ Vom Aufenthalt“. In M. Schmidt (Hg.): Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik ..., S. 99–120; oder T. Nadja: „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt – Botho Strauß und die „Konservative Revolution“. Würzburg 2004. 936 B. Strauß: Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war. Gedicht. München – Wien 1985, S. 50. 328 gen sollten im Weiteren ähnlich stark akzentuiert werden wie die Überlegungen, inwiefern die Dynamik dieses Prozesses aus der Spannung zwischen den Generationsdispositionen einerseits und deren schöpferischen Umgestaltung andererseits resultierte. Es ist durchaus anzunehmen, dass so wie auf der Suche nach Auswegen aus den Sackgassen des deutschen Problems die skeptische Generation an ihre eigenen Grenzen stieß, auch Strauß nicht umhin konnte, immer wieder mit seinem eigenen Schatten konfrontiert zu werden. Auf den ersten Blick zeichnet Strauß in seinem Werk eine klare Linie nach, die wie folgt verläuft: von links nach rechts, von der Aufklärung zur Antiaufklärung, vom Liberalismus zum Konservativismus, vom antiautoritären Denken zum autoritären, von der Negation zur Affirmation, von der „Ästhetik der Abwesenheit“ zur „Ästhetik der Anwesenheit“. Diese Reihe ließe sich fast beliebig fortsetzen, doch viel wichtiger ist, warum dieses Fortsetzen an sich keinen Sinn macht. Erstens: Das Problem besteht mitnichten darin, dass jemand den Kritizismus der Frankfurter Schule dem positiven Denken etwa im Sinne der Ästhetik der „Realen Präsenz“ G. Steiners opfert. Schwerer wiegt die bereits automatisierte Regel, dass im Nachkriegsdeutschland sich moralisch disqualifiziert, wer die für fortgeschritten gehaltenen Werte der Aufklärung und des Liberalismus in Frage stellt, denn dies scheint meist zu genügen, um ihn automatisch den durch Nazismus moralisch diskreditierten konservativen Traditionen der Rechten zuzuschlagen. Eben aus der Absage an diese Automatismen speist sich Strauß’ unermüdlicher Wille zu belegen, dass das einseitige Plädoyer für solch einseitig aufgefasste Aufklärung mit linksliberalen Akzenten sich fatal auswirken könne. Zweitens: Das Balancieren zwischen den oben erwähnten Polen, die Strauß weniger disjunktiv als komplementär versteht, ist in weitere Zusammenhänge einzufügen. Strauß reflektiert das deutsche Problem nicht in voneinander getrennten Segmenten, sondern er ist stets darauf aus, sie miteinander zu verschränken. Von seinen dramaturgischen und theaterkritischen Anfängen an denkt er über ästhetische und politische Ereignisse möglichst zusammengekoppelt nach,937 um seinen Ansatz alsbald um religiöse wie auch naturwissenschaftliche Aspekte zu erweitern. Scheinbar partielle Probleme, beispielsweise Strauß’ ästhetisches Dichterverständnis, haben somit nicht nur ästhetische Wurzeln, sondern werden vom Autor nun schon als Bestandteil der Deutschheitsreflexion in neue Kontexte übertragen, um dort etwa seine Geschichtsauffassung zu profilieren. Zum Ausbalancieren zu starker Einseitigkeiten setzte Strauß bereits in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre als junger Theaterkritiker an, indem er recht scharf die damals gängige dramatische Praxis (stellvertretend 937 B. Strauß: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Texte. Texte über Theater 1967–1986. Frankfurt am Main 1987. 329 für viele andere seien die Autoren des neuen Volksstücks F.X. Kroetz und M. Sperr genannt) angegriffen hat, weil sie im naiven Nachahmungsakt den Inhalt der Form vorziehe und sich im kritisch entlarvenden Gestus erschöpfe. Ihr gegenüber hob er die avanciert bahnbrechenden dramatischen Versuche von P. Handke oder M. Walser hervor, in denen im Anschluss weniger an Brecht als vielmehr an Ö. von Horváth938 wirksamer die Allianz der ästhetischen Elemente mit den politischen Ambitionen erreicht worden sei: Politische Misere habe ihren Ausdruck in der Unfähigkeit der Figuren gefunden, ihre eigene Sprache zu entwickeln. Es ließe sich noch anders sagen: Mit Adorno im Rücken suchte sich der junge Theaterkritiker Strauß von Brecht zu befreien, um all dessen als defizitär empfundenen Einseitigkeiten hinter sich zu lassen: die Herrschaft des Inhalts über die Form,939 des Gesellschaftlichen über das Ästhetische,940 kurzum die vordergründige Politisierung der Kunst, in deren dramatische Formen politische Inhalte plakativ implantiert werden. Gerade in den recht ratlosen Reaktionen der linken Kritik auf Handkes und Walsers Versuche um das moderne Sprechstück und das Bewusstseinstheater941 erblickte Strauß nicht nur ästhetisch-politische Grenzen der links-orthodoxen Kritik, sondern auch die Notwendigkeit, diese Einseitigkeiten zu überwinden. Dem unproduktiv politischen Theater den Rücken wendend steuerte nun der Dramatiker Strauß das ästhetisch politische Theater an, das seine innere Welt mithilfe der dramenimmanenten Bilder und Mittel 938 Im Gegensatz zu der damals dominierenden politischen Lesart von Horváth betonte Strauß seine bahnbrechende und bisher wenig beachtete Vorreiterrolle des modernen Bewusstseinstheaters, das ja eben die politischen und ästhetischen Bereiche zu synthetisieren vermag. Zum Horváths Bedeutung für Strauß siehe J. Schröder: „Ödön von Horváth und Botho Strauß. Eine Spuren-Lese“. In K. Kastberger (Hg.): Ödön von Horváth. Unendliche Dummheit – dumme Unendlichkeit. Wien 2001, S. 179–192. 939 Später greift er es wiederholt auf, etwa in Paare, Passanten heißt es: „Ein ,vorästhetisches parti pris für Stoff und Mitgeteiltes‘, das Adorno einmal der Lukácsschen Literaturtheorie vorhielt, bestimmt wohl immer das ungeschminkte Interesse der Masse an einem Kunstwerk [...] Die Unsitte aber, ein Kunstwerk ausschließlich auf seinen kritischen Gebrauchswert hin durchzumustern, es auf dem Prüfstand entweder einer subjektiven Betroffenheit oder eines flachen Sozialkritizismus zu messen, untergräbt gewissermaßen die freiheitlich symbolische Grundordnung der Kunst.“ B. Strauß: Paare, Passanten. München – Wien 1981, S. 109–110. 940 Brecht soll bis zu seinem Tode bereut haben, nicht deutlich genug klargemacht zu haben, dass „das Epische seines Theaters eine Kategorie des Gesellschaftlichen und nicht des Ästhetisch-Formalen ist [...] Zweck des Brechtschen Theaters ist die gesellschaftliche Praxis“. K.D. Müller: „Utopische Intention und Kritik der Utopien bei Brecht“. In G. Ueding (Hg.): Literatur ist Utopie. Frankfurt am Main 1978, S. 339. 941 Detaillierter dazu im Kapitel zu M. Walser. 330 konstruiert, und erst aufgrund der Reflexion dieser Prozesse gesellschaftlich adäquate Aussagen trifft.942 Am Ende der 1960er Jahre kam Strauß ähnlich wie Enzensberger zum Schluss, die gesamte deutsche Nachkriegsliteratur habe sich ihre politischkritische Bedeutung nur eingeredet. Nach dem Tod von B. Ohnesorg (2. Juni 1967) sei das kritische Theater nicht mehr imstande gewesen, glaubwürdig zu begründen, warum man nun politisch machtlos sei. Daraus folgte für Strauß erstens die künstlerische Notwendigkeit, Ästhetik sinnvoller mit Politik zu verbinden, und zweitens sein (unrealistischer, wie er wusste) Wunsch, die – als Nachkriegszeit benannte – Phase der deutschen Geschichte zu beenden, die sich aus der positiven wie auch negativen Bezugnahme auf Hitlers Regime heraus verstanden hatte. Somit versuchte Strauß den Bann der Nachkriegsgeschichte zu brechen, das Ende der Nachkriegszeit herbeizurufen, also „das Ende eines auf vielfache, begründete wie irrationale Weise ins Vergangene verstrickten Daseins, das die offizielle Politik ebenso beherrschte wie Kunst und Literatur, vor allem auch die jüngeren Stückeschreiber, und das gleichsam für eine gemeinsame, die Intelligenz und die Herrschenden verbindende politische Moral sorgte“.943 Dass die Nachkriegszeit ihr proklamiertes Ende überlebt hat (dasselbe gilt auch für die vermeintlich totgesagte Literatur), ist bereits an dem kritischen Interesse abzulesen, mit dem Strauß auch in folgenden Jahren mannigfaltige Aspekte dieses ins „Vergangene verstrickten Daseins“ monieren wird. 9.2 Das Ende der Nachkriegszeit ist kein Ende der Aufklärung An der nachkriegsdeutschen Deutschheitsreflexion konnte Strauß nichts zufriedenstellen, darum glaubte er die Nachkriegszeit für abgeschlossen erklären zu müssen. Es sei hinzugefügt, dass die Rasanz, mit der er 1967 über dieser Epoche den Stab gebrochen hat, der Allgemeinheit entsprach, mit der er sie definierte. Abgerechnet wurde nicht mit politisch und literarisch tätigen Persönlichkeiten, auf die er mit dem Finger zeigen könnte, sondern mit Tendenzen, die er nicht zuletzt an sich selbst monierte.944 Die deutsche Nachkriegsintelligenz verschwamm in seinen Augen mit dem sozialkritischen Denken (ewig protestierende „Anti-Köpfe“), und 942 Ausführlicher gehe ich auf sie anderenorts ein: A. Urválek: „Zur Revision eines Bildes. Botho Strauß als Theaterkritiker“. Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik, 2002, S. 139–170. 943 B. Strauß: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken ..., S. 53. 944 Vgl. J. Schröder: „,Whoʼs Afraid of ...?‘ Botho Strauß und die deutsche Nachkriegsliteratur“ ..., S. 221–222. 331 mit dem subversiven und destruktiven Anarcho-Radikalismus der Generation der 68er, wie seine Selbstkritik zeigt: „man hat ja nichts anderes gelernt – das kalte und ausgezehrte Vokabular des kritischen Durchblicks, das durch jede Wiederholung um einen Hauch abstrakter zu werden scheint “.945 Unermüdlich entblößte Strauß insbesondere in seiner Denkprosa die allgegenwärtigen aufklärerischen Bildungsstrategen, die Hygieniker der Seele und der Sozialpolitik, die ihr Versprechen, die Leute ihrer Angst zu entledigen, einzulösen suchen, als hätten sie nie von der aufklärungsdialektischen Geschichte gehört, wonach die verdrängte Angst gern wiederkommt. An solcher Aufklärung, wie sie von Strauß geschildert wird, sind aufklärerisch allenfalls die Ambitionen, während die Konsequenzen eher antiaufklärerisch sind. Dieser Schritt machte den begrifflichen Tisch frei, um im Namen der „wahren“ (gegebenfalls rechten) Aufklärung das Programm definieren zu können, das die halbe Aufklärung um solch einen Vergangenheitsbezug erweitert, der auch unerwünschte Folgen der ursprünglich guten Absichten mitzureflektieren wünscht. Strauß’ Ziel ist es dabei, die mögliche Explosion der infolge der langjährigen Verdrängungen angesammelten Hemmungen und Verklemmungen zu verhindern, zu der es infolge des aufoktroyierten Philosemitismus, des ungebremsten Antipatriotismus und des moralisch standardisierten Perfektionismus (gegenüber Auschwitz sei alles andere als Betroffenheit fehl am Platze) kommen kann. Bis daher wäre an diesem Programm nichts Neues, mindestens den Lesern der Essays von M. Walser müsste die Kritik der Instrumentalisierung der Vergangenheit sattsam bekannt sein. Die Beschreibung des Prozesses, bei dem die nationalsozialistische Tragödie instrumentalisiert wird, damit anderen vorgehalten werden kann, sie würden nicht genügend Buße tun, kann ich darum mit der Feststellung abtun, dass diese Gedankenfigur in Strauß’ zentralen essayistischen Texten regelmäßig vorkommt. Um Strauß’ Deutschheitsreflexion genauer zu erschließen, ist jedoch zunächst zu ermitteln, woraus sich sein Programm der wahren Aufklärung speist und wie es begründet wird. Einer der Impulse dieses aufklärungskritischen Programms liegt in der Politik. Spätestens seit den 1970er Jahren hielt sich die liberale Linke für den ausschließlichen Erben der Aufklärungstraditionen, darauf hinweisend, nur sie könne garantieren, dass die Bundesrepublik der Versuchung des Sonderwegs widerstehe, die Deutschland schon einmal zum Verhängnis worden sei. Einer der Effekte dieses Schrittes, der unreflektierterweise einen für verpönt erklärten Sonderweg durch einen anderen ersetzte, bestand darin, mittels des Aufklärungsbegriffs ideologische 945 B. Strauß: Paare, Passanten ..., S. 199. 332 Gegner zu eliminieren. Dieser Begriff wurde als ideologisches Kriterium gehandhabt, das auf die nazistische Vergangenheit appliziert in den Händen der selbsternannten Aufklärer zum Instrument wurde, den bis dato unaufgeklärten und darum moralisch ungenügenden Deutschen Bedingungen zu diktieren, unter denen sie dies ändern, also sich aufklären könnten. Solche sogenannte „aufklärerische“ Praxis, die ja ideologisch andere bevormundet, konnte Strauß nicht anders als zurückweisen. Der zweite Impuls ist geisteswissenschaftlichen Ursprungs und hat mit dem politischen Hintergrund der philosophischen und literarischen Begriffsgeschichte zu tun. Ganz bewusst hob Strauß solche Elemente der aufklärerischen sowie romantisch-aufklärerischen Traditionsbestände hervor, die in der linksmarxistischen Auffassung unterbelichtet, wenn nicht ideologisch verklärt wurden. Darum wies er sowohl die marxistische Auffassung der Aufklärung als einer primär antireligiösen, pathetisch der irreversiblen Emanzipation der Menschheit frönenden Strömung von sich, als auch das linke Romantikbild, in dem diese en bloc reaktionär und antiaufklärerisch abgetan, ja als eine dem Nationalismus und römischen Katholizismus dienende Bewegung bezeichnet wurde.946 Um diese ideologisch bedingten Einseitigkeiten zu hinterfragen, bekennt sich Strauß ausdrücklich zu aufklärerischen Grenzgängern, die entweder die kompliziert definierbaren Übergangszonen zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung ausloteten (J.G. Herder, J.G. Hamann, G. Ch. Lichtenberg, E. Jünger), Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft analysierten (G.E. Lessing, I. Kant), oder auf die für die Vernunft unumgängliche Rolle der poetischen Imagination hinwiesen (F. Schiller, J.G. Herder, Novalis).947 So sehr er sich somit der naheliegenden Gefahr aussetzte, missverstanden zu werden, ja so sehr er diese Gefahr selber steigerte, indem er in manchen Plädoyers (etwa für E. Jünger und M. Heidegger)948 bewusst die 946 Etwa H. Kurzke weist darauf hin, dass es die linksliberalen Hegelianer waren, die im Anschluss an H. Heines Abrechnung mit der Romantischen Schule die Romantik für eine reaktionäre Bewegung hielten. Dieses die Romantik verklärende Bild wurde erst nach 1945, insbesondere seit den 1970er Jahren korrigiert, sofern an der Romantik ihre aufklärerischen Komponenten hervorgehoben wurden. Sie wurde nicht nur zur Archäologie der Moderne, sondern vor allem zum unumgänglichen Bestandteil des Projekts der Aufklärung. Siehe H. Kurzke: Romantik und Konservatismus. Das „politische“ Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte. München 1983, insb. S. 11–66. 947 Detaillierter habe ich es andernorts geschildert, hier beschränke ich mich auf das Wesentliche. Vgl. A. Urválek: „Aufklärung und Gegenaufklärung (Begriffsgeschichtliche Überlegungen)“. Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik, 2004, S. 237–265. 948 Dies betrifft die recht unkritische Beurteilung von E. Jünger, sosehr ich mir dessen bewusst bin, dass eine Hommage zum hundertsten Geburtstag spezifische Genreregeln respektieren muss. Jünger wird hier als Nachfolger von Hamann, Vico und Heraklit zu einem der „tieferen Aufklärer“, der sich eben an die Schwelle zwischen 333 Grenze des Akzeptablen berührte, verdient die damit verfolgte Intention trotzdem als aufklärerisch bezeichnet zu werden: die Aufklärung zu ihren deutschen Wurzeln zurückfinden zu lassen, wo sie laut Strauß mutig genug war, ihr Recht, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, selbst gegen das aufklärerische Autoritärertum geltend zu machen. Um diesem strengen Programm der Aufklärung gerecht zu werden, sucht sie Strauß vom ideologischen Ballast zu befreien. Soll sie auch für die Nachkriegsdeutschheit ihre Verbindlichkeit behalten, kommt die Aufklärung nicht darum herum, ihre eigenen Grenzen zu reflektieren, sowie das zu pflegen, wodurch sie an ihre Grenzen erinnert werden kann. Daher die bei Strauß so häufigen Hinweise darauf, zur Aufklärung gehöre sowohl die Kultivierung der Vernunft, als auch der Einbildungskraft, der Emotionen, der Naturseite des Menschen, wie deutlich aus Lessings oder Schillers aufklärungs-ästhetischen Erziehungsprogrammen hervorgeht. An die Quellen der Aufklärung erinnert Strauß folglich auch dort, wo er, in Anlehnung an Kant, Hamann, Herder und viele andere Aufklärer949 Licht und Dunkelheit heranschreibt. Dagegen wäre wenig einzuwenden, wenn Strauß von diesem dunklen Licht aus nicht gleich mit der gesamten deutschsprachigen Nachkriegsliteratur als einer vom Licht geblendeten abgerechnet hätte. „Die Epoche der Nachkriegsliteratur wird erst vorüber sein, wenn allgemein offenbar wird, dass sie vierzig Jahre lang vom Jüngerschen Werk überragt wird [...] Seine alten Widersacher sind kleinlaut geworden, in Selbstmitleid versunken. Wohingegen er für die Jüngeren immer deutlicher zum Prototyp einer kommenden Kunst wurde: der, der in den Verbindungen steht, löst den Subversiv-Radikalen, den jakobinisch-“hölderlinschen“ Zeitheros ab.“ B. Strauß: „Refrain einer tieferen Aufklärung“. In G. Figal – H. Schwilk (Hg.): Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten. Stuttgart 1995, S. 323–324. Auch Heideggers umstrittenes Erbe scheint Strauß recht zweckmäßig zu handhaben; er kann nicht umhin, das „mystische Schweigen“ gegen alle emanzipierten Zeitgenossen auszuspielen, zumal auf eine sehr pauschalisierende Art und Weise: Er distanziert „ihr bestes Meinen zu rhetorischem Außengeplänkel. Ja, es zeigt an, wie fortschreitend äußerlich wir geworden sind, alles in allem, nicht zuletzt infolge der maßlosen Politisierung des Denkens nach Hitler.“ Wer Heideggers Gedichte lese, „setze seine kommunikative Intelligenz einer Feuerprobe aus. Es ist zugleich ein Feuer, das einen Haufen zeitgeschichtlichen Müll verbrennt. Eine Reinigung“. B. Strauß: „Heideggers Gedichte. Eine Feuerprobe unserer kommunikativen Intelligenz: Zum einundachtzigsten Band der Gesamtausgabe“. allmende. Zeitschrift für Literatur, 2008, 3, S. 45–50, hier S. 49–50. 949 In Niemand anderes bekennt sich Strauß zu Senancours Ansicht, dass „die Unterdrückung religiösen Empfindens ein grosses Unglück für die Geschichte der menschlichen Vernunft darstellt. Über beinahe alles ist mit dem intelligenten Zeitgenossen zu reden, nur nicht über ein metaphysisches Problem. Man spürt allgemein eine Scheu, über derlei zu sprechen, die nicht ganz geheuer ist. Fluchend, blasphemisch, tabuverletzend darf man sich jederzeit auslassen. Aber die ernste Überzeugung stößt ab und macht verlegen wie eine Zote. Die satirische Intelligenz hat hier ihre Schamgrenze“. B. Strauß: Niemand anderes ..., S. 143. 334 daran erinnert, der Mensch habe das ihn Transzendierende (Gott, Sprache etc.) zu respektieren. Angesichts des in der deutschen Nachkriegszeit zum unschöpferischen Kritizismus verkommenen Aufklärungsprogramms glaubt Strauß unermüdlich auf die Unumgänglichkeit des mythischimaginativen Ursprungs der Vernunft mahnen zu müssen. Und nicht zuletzt wendet er sich zu den skeptischen Aufklärern, die im Namen der Aufklärung fragten, ob es sinnvoll sei, in dunkle, destruktive oder tragische Lebensaspekte um jeden Preis Licht zu führen. Angebracht seien doch die Zweifel, ob die Aufklärung nicht vielmehr den Menschen blende, so dass er Licht von Dunkelheit kaum unterscheiden könne (E. Jünger).950 Es sei ja nicht auszuschließen, dass die den Mythos hinterfragende Aufklärung selber zum Mythos werde, zumindest dort, wo sie den mythischen Grund der Welt hinter sich zu lassen glaube, um den Mythos als das vermeintlich Irrationale zu besiegen. Zu fragen sei schließlich auch, ob die Aufklärung dem menschlichen Destruktivitätshang gerecht werde, wenn sie glaube, das gegen die Menschlichkeit Zielende vernünftig eliminieren zu müssen, ja bezwingen zu können, kurzum, ob sie sich nicht täusche, wenn sie den Anspruch erhebe, die Menschheit vor sich selbst zu retten. Strauß mögen darin die Dialektik der Aufklärung sowie andere anthropologisch fundierte Beiträge inspiriert haben, die in der Regel nichts als eine Kritik der Aufklärung im Namen der Aufklärung betreiben. Wohl noch schwerer wird sein Verdacht gewogen haben, all diese dezidiert aufklärerischen Traditionen seien von der nachkriegsdeutschen Intelligenz der vermeintlich aufklärerischen Praxis geopfert worden, die ihr Heil im Entlarven und Demaskieren von allem sucht, mit Ausnahme der eigenen Ver- säumnisse. Unter den Nachkriegsbedingungen ist das Projekt der Aufklärung für Strauß nur dann zu erhalten, wenn es sich nicht dem verschließt, worin sich seine Grenzen offenbaren, was sich ihm als unklar, unverständlich, unvoraussehbar und unberechenbar gibt. In diesem Schritt gelangt das Strauß’sche Aufklärungsprogramm an die Grenzen der Aufklärung, hinter denen es schlichtweg antiaufklärerisch auf das Vermögen der menschlichen Vernunft verzichtet hätte. Um diese Gefahr zu eliminieren, bettet Strauß seine Experimente in die romantische und gnostische Tradition ein: „Man braucht die Romantiker des Wissens, wie Novalis und Friedrich Schlegel es waren. Jedes große Wissen braucht ein mythisches Geleit, wodurch es in den gesellschaftlichen Geist eingeführt wird. Ohne 950 Vgl. die oft zitierte, wohl von C. Schmitt inspirierte Tagebucheintragung vom 23.12.1942: „Blindheit wächst mit der Aufklärung; der Mensch bewegt sich in einem Irrgarten von Licht. Er kennt die Macht der Finsternis nicht mehr.“ E. Jünger: „Kaukasische Aufzeichnungen“. In ders.: Sämtliche Werke, Band. II. Stuttgart 1979, S. 407–491, hier S. 462. 335 vorherige Verschmelzung wird es nicht symbolfähig“.951 Strauß’ gezielte Versuche einer Symbiose zwischen Rationalität und Poetik, Licht und Dunkelheit, Deutlichkeit und Undeutlichkeit, Wissen und Idiotie, Verstehen und Nicht-Verstehen, einer der Schwerpunkte seiner Essayistik der 1980er Jahre,952 gipfeln an deren Ausgang in dem dünnen Bändchen Fragmente der Undeutlichkeit.953 Darin begegnet man nicht nur den das harte Leben jenseits der Zivilisation preisenden Passagen,954 sondern auch Bekenntnissätzen, in denen das unübersichtliche Terrain an der Schwelle zwischen Wissen und Poetik, Erkenntnis und Poesie vermessen wird: „Die poetische Vernunft ist die Führerin des Wissens, das sich selbst erforschen will.“955 Und weiter unten: „wann endlich dient die Methode dem helleren Nicht-Verstehen?“956 Hier gelangt Strauß an den äußersten Punkt seiner nachkriegsdeutschen Revitalisierung der Aufklärung; die offensichtliche Überspitztheit ist darauf zurückzuführen, dass das aufgrund vieler Einseitigkeiten destabilisierte nachkriegsdeutsche Aufklärungsprojekt offensichtlich zurechtgerückt werden will. Dass es dabei zu neuen Einseitigkeiten kommen kann, scheint er zu wissen, sonst hätte er nicht so oft Halt bei geistig verbündeten Größen gesucht: Mal ist es R. Borchardt, den Strauß an die 951 B. Strauß: Niemand anderes, ... S. 149. 952 Neben den Bänden Paare, Passanten und Niemand anderes findet man sie auch im Roman Der junge Mann vor. Hier steht etwa mit Verweis auf gnostische Evangelien Folgendes: „Wenn einer Schmetterling nicht mit Seele übersetzen kann, so wird er nicht zur Einheit mit der Natur zurückfinden. Er bleibt außen vor. Er bleibt wie ein Grashalm, abgeknickt zur Lebensmitte, dessen Spitze lose über seiner Wurzel schwingt. Denn ohne Mythen und Metapher ist unser zentrales Organ, der Herzkopf, der Bewußtseinstraum, oder nennen Sie es, wie Sie mögen, nicht angeschlossen an die Ordnung des Lebendigen. Sie bilden den eigentlichen symbiothischen Nährschlund, durch den wir mit Äther und Erde, Tier und Strauch verbunden sind.“ B. Strauß: Der junge Mann. München – Wien 1984, s. 214. Zu diesem Themenkomplex vgl. J. Schröder: „,Whoʼs Afraid of ...?‘ Botho Strauß und die deutsche Nachkriegsliteratur“ ..., S. 225–229. 953 B. Strauß: Fragmente der Undeutlichkeit. München – Wien 1989. 954 Inspiration stellt hier der amerikanische Dichter R. Jeffers dar. Der sogenannte Jeffers Akt ist eine kommentierte und stark stilisierte Collage aus seinem Werk. Der am Rande der Welt lebende Jeffers ist für Strauß Vorbild in seinem Kampf gegen die seichte Gegenwart. Darum wird an ihm seine unkonventionell antimoderne Heroen-Haltung hervorgehoben, mit dem die Moderne wenig habe anfangen können, da sie für solch natürliche Dichtung kein Gespür mehr habe. Es ist auch für unseren Vergleich zwischen Strauß und Enzensberger nicht ganz ohne Bedeutung, dass Enzensberger einige Gedichte Jeffers’ in seine Anthologie Museum der modernen Poesie aufgenommen hat, diesen Autor also nicht gegen die Moderne gesetzt, sondern bewusst der Moderne zugeordnet hat. 955 B. Strauß: Fragmente der Undeutlichkeit ..., S. 49. 956 Ebenda, S. 58. 336 „Pforte unserer Demokratie“ wünscht, wo dieser neben W. Benjamin („Engel mit dem kritischen Schwert“) stehen möge, um als Wächter des „wissenden, schaffenden Bewahrens“ dem „Wächter über Aufklärung und fortschrittliches Bewusstsein“957 Gesellschaft zu leisten, mal ruft Strauß wissende Dichter und poetisch belehrte Intellektuelle herbei, wie etwa S. Kierkegaard, C. Levi-Strauss, M. Foucault:958 „Es bedarf des wissensfrohen Dichters, nicht des Gelehrten oder Philosophen, die nur ihr Forschermaterial und -Gerät anliefern.“959 Sind die von Strauß ins Spiel gebrachten Namen gar auf einen Nenner zu bringen, dann auf den der umstrittenen Zugehörigkeit zum Programm der Aufklärung; R. Borchardt, N.G. Dávila, F. Nietzsche, J.G. Hamann oder E. Jünger sind wahrlich keine Klassiker der Aufklärung. Vielmehr handelt es sich um Autoren, die sich geweigert haben, Aufklärung auf ihr sozialkritisches, empirischpositivistisches und liberal-emanzipatorisches Programm zu reduzieren; Strauß nimmt sich eben der Intellektuellen an, die im Nachkriegsdeutschland aus dem kanonisierten Aufklärungsprojekt ausgeschieden wurden, sei es schon aufgrund ihrer abgeschwächten Immunität gegenüber dem Nationalsozialismus (E. Jünger, M. Heidegger), oder wegen der zu dunklen Sprache (J.G. Hamann). Gerade sie seien einmal mehr ins Aufklärungsprojekt zu integrieren, ja zu rehabilitieren, was nicht ohne gewisse interpretatorische Gewalt geht, zumal zumindest bei Heidegger und Jünger stets zu bedenken ist, inwiefern sie ausgeschieden wurden und nicht vielmehr ausgestiegen sind. Die interpretatorische Gewalt macht sich folglich etwa in dem stark ironischen Verachtungsgestus bemerkbar, den Strauß an den Tag legt, wenn er den aufklärerischen Fortschritt auf der horizontalen Achse kommentiert: Mal schüttelt er den Kopf, wie verbreitet die „zweitklassige Intelligenz“960 ist, mal äußert er sich abschätzig über die „dumpf aufgeklärte Masse“, deren Intelligenz ihren „Sättigungsgrad er- reicht“961 habe. Es sind gerade solche Sätze, auf die man sich zu berufen pflegt, um zu belegen, Strauß argumentiere antiaufklärerisch, etwa indem er auf dichotomische Muster der konservativen Kulturkritik zurückgreife, deren Elitärertum es ihm offensichtlich angetan habe (dumpfe Masse versus geniale Außenseiter etc.). Es ist tatsächlich nicht ganz von der Hand zu weisen, dass er einen kausalen Konnex zwischen der Zunahme des Wissens (genauer, der Informiertheit) und deren steigenden Oberflächlichkeit bildet: „Zu beklagen ist der große Mangel an Stubenhockern 957 B. Strauß: „Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt 1987“ ..., S. 7. 958 Vgl. B. Strauß: Paare, Passanten ..., S. 116. 959 B. Strauß: „Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt 1987“ ..., S. 8. 960 B. Strauß: Die Fehler des Kopisten. München – Wien 1997, S. 88. 961 B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“, in ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. München Wien 1999, S. 55–78, hier S. 68. 337 und die Überzahl von weltfahrenden, an ihr vorbeifahrenden Leuten und Wissenschaftlern!“.962 Dagegen wäre jedoch einzuwenden, dass diese kulturkritischen Lamentationen meist nicht gegen die Aufklärung gerichtet sind, sondern gegen deren Reduktion auf die horizontale Achse.963 Einmal mehr sucht sich dann Strauß damit zu trösten, dass die vertikale Achse der horizontalen durchaus aufklärerisch ihre Grenzen zu zeigen vermag: „Fortschritte im Religiösen kann man so wenig machen wie das Unendliche vermehren. Auch kann es keine neue Einsamkeit geben“.964 Der dritte Impuls ist ästhetisch religiösen Ursprungs. Immer wieder reibt sich Strauß an der Widersprüchlichkeit des Deutschlanddiskurses, bei dem weniger auf Argumente gehört, als vielmehr Reflexen gefolgt wird. Im Gegensatz zu Enzensberger glaubt er jedoch ein Rezept anbieten zu können, das in seiner doch moralisch fundierten nationalen Erneuerungssemantik gewisse pastorale Ähnlichkeit mit dem Walser’schen hat: Dem Teufelskreis des Deutschlanddiskurses könnte man entkommen, wenn man die Deutschen gar das vermissen lassen könnte, was sie während und nach der Naziepoche verloren haben. Zugleich stellt er die Mittel zur Diskussion, dank denen die Deutschen bezüglich ihrer nationalen Vergangenheit eine wirkliche Erschütterung erleben könnten. Seine Vorschläge setzen an der ästhetischen und religiösen Erfahrung an, konkret an deren Vermögen, Individuen und Gesellschaften zu integrieren. Da Strauß den funktionalen Standpunkt bevorzugt, kann er nicht umhin, einerseits die Religion zu ästhetisieren (Religion vermittele gewisse Sinneswahrnehmungen) und andererseits der ästhetischen Erfahrung religiöse Züge zuzuschreiben: Strauß wiederholt die alte Wahrheit, Dichtung wirke auf den Menschen auf dieselbe Art „wie die Religion“.965 Der Zweck der Dichtung sei die emotionale Regung, die ebenfalls das religiöse Erlebnis mit sich bringen könne, also die Kontaktnahme des Menschen mit dem Heiligen, bei dem fascinosum et tremendum empfunden werde, „Gefühle des Respekts, des ahnungsvollen Ergriffenseins, der Scheu vor dem 962 B. Strauß: „Wollt ihr das totale Engineering? Ein Essay über den Terror der technisch-ökonomischen Intelligenz, über den Verlust von Kultur und Gedächtnis, über unsere Entfernung von Gott“. Die Zeit, 52, 20.12.2000, S. 60. 963 Die meisten Fortschritte seien im zweiten Teil des Jahrhunderts auf dem Gebiet des Geistreichen gemacht worden, wobei jenes Gebiet, „auf dem man keine Fortschritte machen kann, die Sentimente, das Erleidbare, das Schwere“, mit „viel verfremdetem Gefühl, mit Psychologie (die am wenigsten von der Seele spricht!) wie ein kontaminiertes Stück Erde versetzt ist.“ B. Strauß: Die Fehler des Kopisten.., S. 20. 964 B. Strauß: „Wollt ihr das totale Engineering?“ ..., S. 60. 965 T. Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Berlin – New York 2006, S. 259. 338 Erhabenen, des Enthusiasmus für das Ganze, aus dem allein so etwas erwächst wie Opferbereitschaft und Dienst“.966 9.3 Das Erhabene Die Brücke zwischen Ästhetik, Religion und Deutschheit bildet somit in Strauß’ Aufklärungsprojekt das, was Kant in Anlehnung an Aristoteles, N. Boileau oder E. Burke als das Erhabene bezeichnet hat. Erhaben sind in Kants Kritik der Urteilskraft Naturobjekte, die unsere Wahrnehmungskapazität übersteigen, handelt es sich schon um mathematisch (das Unendliche) oder dynamisch erhabene Objekte (allmächtige Natur und ihre Phänomene; überwältigende Gefühle, die uns am Ozeanufer ergreifen etc.). Zurkenntnissnahme der eigenen Ohnmacht, Kapitulation davor, was uns unendlich überlegen ist, respektvolle Bewunderung, überwältigende Größe, für die wir keinen Vergleich hätten (Kant) – so wurde seit der Antike das Erhabene verstanden. Mit der Idee des Erhabenen werden jedoch auch aktive von Kant und insbesondere von Schiller beschriebene Gefühle verbunden, zu denen das menschliche Vermögen gehört, diese physische Naturgröße moralisch und geistig zu überwinden. Die Natur sei unermesslich, in ihrer Größe uns unfassbar, indes zugänglich mittels unseres moralischen und übersinnlichen Vermögens. Darin wären sehr wohl die mit religiösen Gefühlen verbundenen Züge auszumachen, von denen Strauß ausgeht: Davon, was ihn überragt, lässt sich der Mensch ergreifen, ja überwältigen, um seine Ungenügsamkeit moralisch zu kultivieren. Was den Menschen derart radikal überragt, kann Gott oder können Götter sein, aber auch Natur, Vernunft, Idee, Wahrheit, Schönheit, Gesellschaft u.Ä., doch immer wird es die Funktion des quasireligiösen Gegenübers haben, auf das man sich bezieht und an dem man sich misst. Diese zwei Pole des Erhabenen erlauben recht gut die unterschiedliche Formen des Erhabenen bei Strauß und Enzensberger zu erfassen. Enzensberger, so W. Riedel,967 nehme in seinen Naturgedichten vor dem Chaos der Naturerscheinungen den Standpunkt der Unbegreiflichkeit ein, er kapituliere vor dem Strudel der Erscheinungen, deren fantastische Verwandlungsfähigkeit (etwa der Wolken) ihm unzugänglich bleibe, ihm zeitlich vorausgehe. Das Enzensberger’sche lyrische Ich staune, bewundere, werde bescheidener, all dies – die Tradition des Erhabenen übernehmend – in der Zurkenntnisnahme dessen, das die selbstorganisierende, voll autonome und dem menschlichen Subjekt gegenüber unendlich 966 S. Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995, S. 3. 967 W. Riedel: „Naturwissenschaft und Naturlyrik bei Hans Magnus Enzensberger“. Zeitschrift für Germanistik, 1, 2009, S. 121–132. 339 gleichgültige und es evolutionär determinierende Natur dieses lyrische Ich entbehrlich mache. Dies, und das scheint für den Kontrast zu Strauß zentral zu sein, erzeuge in ihm freilich „keinen Pascal’schen Schrecken mehr, sondern im Gegenteil Gelassenheit, Heiterkeit“.968 Während Enzensberger das Gefühl des Erhabenen nicht weiter funktionalisiert, scheint es Strauß nicht bei den mit dem Erhabenen verbundenen Gefühlen nicht belassen zu können, er schickt sich alsbald an, sie ethisch zu mobilisieren. Das Erhabene führe weniger zur Gelassenheit eines staunenden Beobachters, vielmehr zur moralisch unabdingbaren Kur, die der deutschen Nation vorgeschrieben wird, um sie von Größenwahn und Selbstüberheblichkeit auszukurieren. Daher glaubt Strauß tun zu müssen, was Enzensberger nie in den Sinn gekommen wäre, nämlich den Deutschen eine äußerst asketische Philosophie der Verluste und Entsagung vorzuschreiben mit der Begründung, die moderne Wohlstandsgesellschaft gebe ihnen offensichtlich zu wenig Chancen zu leiden, es sei ihnen diesbezüglich (künstlich) nachzuhelfen: Es gelte den Deutschen ihr Schicksal (programmatisch) schwerer zu machen.969 So überspitzt es wirken mag, Strauß appelliert an die Deutschen, in sich Verlustgefühle des erhabenen Überwältigtseins zu mobilisieren, um letztendlich dem Anderen und den anderen Respekt und Anerkennung entgegenbringen zu können, ohne dies zugleich sich selbst (und dem Eigenen) absprechen zu müssen. Man sieht, Strauß bürdet der Idee des Erhabenen zu viel auf; infolgedessen büßt seine Deutschlandreflexion die erwünschte Leichtigkeit ein, unter der Last der erkünstelten schicksalhaften Tragik scheint sie ins Stocken zu kommen.970 Das will nichts über den Zweck der Funktionalisie- 968 Ebenda, S. 132. 969 Ein Beispiel von vielen: „Selbstverständlich muß man grimmig sein dürfen gegen den ‚Typus‘ des Deutschen als Repräsentanten der Bevölkerungsmehrheit. Die Würde der bettelnden Zigeunerin sehe ich auf den ersten Blick. Nach der Würde ach, Leihfloskel vom Fürstenhof! - meines deformierten, vergnügungslärmigen Landsmannes in der Gesamtheit seiner Anspruchsunverschämtheit muß ich lange, wenn nicht vergeblich suchen. Wie sähe, denke ich oft, mein protziger Nächster aus, wenn ihn der jähe Schmerz oder Kummer träfe? Vielleicht träte zum Vorschein dann seine Würde. Man muß sie doch wenigstens einmal gesehen haben, bevor man sie ins gesetzliche Glaubensbekenntnis aufnimmt.“ B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“ ..., S 61. 970 Wiederum sei auf Sloterdijks Kommentar verwiesen: „Es ist natürlich ein Fehler, wenn eine Kultur die Befreiungsfrage überspielt, es ist ein Fehler, wenn Menschen sich leichter geben, als Menschen sein können. Aber ein Fehler wäre es auch, die Tragödie vom Zaun zu brechen, nur damit wieder alles würdevoll hart wird, und damit wir uns wieder mit dem ontologischen Adel des Schweren schmücken dürfen [...] Im Verhältnis zum Heiligen müssen die Modernen sich diskret benehmen, es genügt, die Tür einen winzigen Spalt zu öffnen ... ein Spalt, das ist gut und richtig, soviel entspricht der geistigen Situation der Zeit. Ein Spalt Transzendenz, mehr ist 340 rung des Erhabenen besagen, dieser läuft nämlich wie auch bei Enzensberger darauf hinaus, das problematische Verhältnis der Deutschen zu Fremden und sich selbst in ein für die Zukunft tragfähiges Gleichgewicht zu bringen. In einem Fremden einen wahrlich Fremden zu erblicken, ist genauso schwierig, wie dem Nächsten mit demselben Gefühl des Erhabenen zu begegnen, das in uns das Unendliche hervorruft. Diese geradezu Levinas’sche Perspektive der Begegnung mit dem Anderen als eines immer radikal Anderen übersetzt Strauß in eine recht verständliche Formel: Den Anderen (Ausländer wie auch Landsleute) in seiner radikalen Andersheit anzuerkennen, heißt sich klarzumachen, dass die Fremdheit und Eigenheit nicht gegeneinander auszuspielen, vielmehr in der nötigen Balance auszuhalten sind. Weder hat man sich von dem Fremden ein Bildnis zu machen (also ihn gewaltvoll zum Eigenen zu machen), noch hat man – etwa sich ihm anbiedernd, ihn um jeden Preis willkommenheißend – die eigene Fremdheit ihm gegenüber zu opfern, denn dies leiste allenfalls dem Selbsthass Vorschub, der dann letztendlich den Hass gegenüber den Fremden steigere, und somit in eine gefährliche Sackgasse führe. Harte, schmucklose, dramatische Dichotomie: es ist verwerflich ohne jede Einschränkung, sich an Fremden zu vergreifen – es ist verwerflich, Horden von Unbehausbaren, Unbewirtbaren ahnungslos hereinzulassen. Die Deutschen sind nach wie vor zu jeder Schandtat bereit und ebensofort bereit, die begangene Schandtat aufgebracht zu bereuen. [...] Die schweigende Mehrheit, nämlich 51 Prozent, gibt heute ihre Meinung kund, der Grölspruch „Deutschland den Deutschen“ käme auch ihr aus dem Herzen, um morgen mit gleichem überwältigenden Votum Abscheu und Entsetzen über ihre gestrige Meinung zum Ausdruck zu bringen.971 Somit gelangt Strauß über einen Umweg zu derselben Haltung, die sich ja in dem Enzensberger’schen Mittelweg zwischen den Radikalitäten der Xenophobie und Xenophilie, Antisemitismus und Philosemitismus kundtut. Auch sein Deutschlanddiskurs erfordert somit immer weniger prinzipielle Haltungen, tendiert nach und nach zu einem situativen. In Die Fehler des Kopisten wird es schließlich heißen: „Gegen die Mehrheit muß man häufig das Gegenteil dessen vertreten, was man gegen die Minorität, nämlich die herrschende Intelligenz, vorbringt. Das Wort Nation z.B. muß nicht möglich. Schon die Tür halb öffnen, so wie diese Autoren [Handke und Strauß – A.U.] es manchmal hielten, wäre zuviel, da entstehen Zwielichter, Geistersprachen, magische Zugluft, auch kommen falsche Töne leicht auf, man ist gefährdet, pastoraler zu reden, als es einem Schriftsteller zukommt. [...] Es kommt darauf ein, dass heute auch der Unterschied zwischen einem Autor und einem Priester nur im Experiment herausgearbeitet werden kann.“ P. Sloterdijk: Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira ..., S. 128–130. 971 B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“ ..., S. 72. 341 man dem, der seine chauvinistischen Rülpser über dem Bierglas von sich gibt, mit Nachdruck vermiesen, während man es anderen, die sich zur aufgeklärten Elite ihres Volks zählen, gar nicht antiaufklärerisch genug entgegenhalten kann.“972 9.4 Man wird wohl auch ohne Adorno denken können Die Topik des Erhabenen, so problematisch Strauß’ instrumentalisierender Zugriff auf sie auch war, war für ihn wichtig, um der Anziehungskraft der Geschichtsphilosophien zu widerstehen, und zugleich die unproduktiven und potenziell verhängnisvollen Praktiken der Vergangenheitsbewältigung zu distanzieren. Beide zentrifugalen Tendenzen liefen parallel dazu, wie sich Strauß seit den frühen 1980er Jahren Adornos und insbesondere Blochs Einfluss zu entziehen begann.973 Immer weniger sprach ihn das eschatologische Denken an, das von der Idee des Endes (Heilswie auch Unheilsgeschichte) sein Versprechen ableitet, auf dessen Einlösen hin sie ausgerichtet ist. In dieser Hinsicht wandte sich Strauß allmählich dem Denken des Anfangs zu; in Niemand anderes schreibt er: „Apokatastasis – Wiederherstellung aller Dinge, Allversöhnung, Wiederbringung selbst der Hölle zur Glückseligkeit; verworfene[r] Verheißung von der katholischen Kirche wie von der Reformation“, die nie die Chance hatte, „in unser weltliches Bewusstsein abzusteigen wie ekpyrosis; das Flammen-Ende, welches nun allein die Szenerie beleuchtet und Stimmung macht [...].“974 Diese Überlegungen, in denen immer mehr der Respekt dem gegenüber an Gewicht gewinnt, wovor wir allenfalls kapitulieren können, münden in eine generelle Kritik der Heilsgeschichte, die wieder- 972 B. Strauß: Die Fehler des Kopisten ..., S. 119. 973 In Paare, Passanten stößt man auf die oft zitierte Formulierung: „Heimat kommt auf (die doch keine Bleibe war), wenn ich in den Minima Moralia wieder lese. Wie gewissenhaft und prunkend gedacht wurde, noch zu meiner Zeit! Es ist, als seien seither mehrere Generationen vergangen. (Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muss sein: ohne sie!)“ B. Strauß: Paare, Passanten ..., S. 115. Von einem extrem starken Einfluss der Frankfurter Schule war auch in den Gesprächen mit V. Hage die Rede: „Dann las er Adorno – und alles wurde ihm suspekt. Die Lektüre lähmte ihm die Glieder [...] Strauß gehört zu der Generation, die unter dem Prinzip Hoffnung aufgewachsen ist. Das Buch habe ich gelesen wie meine Bibel [...] In meiner intellektuellen Erziehung hat halt die dialektische Schule eine große Rolle gespielt [...] Man las alles von Benjamin und verschaffte sich mit einem Zitat das entsprechende Fluidum. Aus dieser Schulung bin ich nie herausgetreten und werde da wahrscheinlich auch nie herauskommen.“ M. Radix (Hg.): Strauß lesen ..., S. 189, 195, 199. 974 B. Strauß: Niemand anderes ..., S. 131. 342 um alles Heilige entweihe: „Wir haben die Bücher der Offenbarung gelesen wie Do-it-yourself-Anweisungen. Wir haben die Weissagungen geplündert und alles hinuntergezerrt, was uns eigentlich hinaufziehen sollte. Eins nach dem anderen selbst in die Hand genommen, nachgebaut, selbstgemacht. Heilsgeschichte vergesellschaftet. Endzeit erfolgreich militari- siert.“975 In Anlehnung an die von K. Löwith kurz nach dem Krieg976 vorgelegte Analyse der Transformation der Heilsgeschichte in die Geschichtsphilosophie – „Abstieg des religiösen Stoffs in den Weltbetrieb. Und bildet dort mit den Vernünften ein unschönes Gemenge“977 –, mahnt nun Strauß an, die unheilvoll Verschmolzenen, Religion und Politik wieder voneinander zu trennen: „Es gibt wohl den Drang des Menschen, den rohen Klumpen wieder auszuwerfen, den Glaubensstoff zu isolieren und wieder gegenüber zu haben: das Ganz Andere.“978 Denn es gelte, dem politischen Missbrauch der religiösen Transzendenz Einhalt zu gebieten: „Es gibt keine andere Welt, es gibt nur eine weitere. Und es gibt das Ganz Andere; nicht hier.“979 Fazit: Wer der erhabenen Gefühle imstande sei, wer fähig sei, sich erschüttern zu lassen, werde keinen Grund haben, in weltlichen Ideologien nach Ersatzerlösungen zu suchen; und wer statt den Versprechen vom noch nicht eingetroffenen Ende den Anfang ernster nehmen werde, gewinne zumindest die Freiheit der offenen Zukunft, die all den „eschatologischen Epigonen“, Marxisten, mit ihren „gebrochenen Vernünften“980 abhanden komme. Erst die konsequente Verweltlichung der Welt, die Befreiung „von jeder Art gesellschaftlichen Jenseits, von politisierter Erwartungsmetaphysik, die jeden täglichen Gang mit unerfülltem Dasein beschwert“,981 könne die „wahre und endliche Aufklärung voranbringen. Das Jenseits zurück an seinen Platz! Und wenn du unter Menschen gehst: sieh länger hin und hoffe kürzer“.982 Die allmähliche Abwendung von Adorno lässt sich auch an Strauß’ spezifischer Vergangenheitsauffassung festhalten. Die in unterschiedlichen Zusammenhängen geäußerten Zweifel ob der Nützlichkeit des reflexiven Bewältigens der Vergangenheit gingen mit zunehmender Skepsis bezüglich der Praxis, das Transzendente zu säkularisieren und das Vergangene via Vergegenwärtigen zu klären. In den sogenannten „Notizen zu 975 Ebenda. 976 K. Löwith: „Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1949/53)“. In ders.: Sämtliche Schriften, Band 2. Stuttgart 1988, S. 7–239. 977 B. Strauß: Niemand anderes ..., S. 131. 978 Ebenda, S. 132. 979 Ebenda, S. 135. 980 Ebenda, S. 133. 981 Ebenda, S. 202. 982 Ebenda. 343 Ithaka“, wo sich Strauß unmissverständlich von einem solchen Vergegenwärtigen distanzierte, das trotz starker Reflexion „alles zu sich herunter- holt“,983 fand er zugleich eine prägnante Formulierung984 für die grundsätzliche Tendenz, die bereits seine früheren Texte konturiert hat, eben „den Buchstaben des Mythos stehen zu lassen; zu glauben, was des Glaubens – zu kritisieren, was der Kritik würdig ist“.985 Dem reflexiven Vergegenwärtigen der Vergangenheit wird eine Absage erteilt, es sei denn man würde dabei nicht „Wiederholung, Teilhabe, Erinnerung“ abschwächen.986 Geht man den Spuren dieser Intention in den einzelnen Texten nach, verdeutlicht sich zumindest deren gedankliche Konsistenz. Man stößt ja zunächst an die oft diskutierten Sätze über die unumgängliche Auflehnung „gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und sie ausmerzen will“,987 die nahelegen, man habe den verlockenden Verheißungen zu entsagen, um zu lernen, wie mit dem Verlust zu leben ist. Kurzum, angestrebt sei der „Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte [...]“.988 Ältere Texte plädieren zwar nicht explizit für die Notwendigkeit, die Vergangenheit allenfalls als unerklärte zu vergegenwärtigen, dennoch enthalten sie deutliche Signale, dass in Strauß’ Texten die Figur der Verheißung und Bewältigung von der Figur des Verlustes und der Unerreichbarkeit überschattet wird. Dies korrespondiert sowohl mit seiner Sprach- und Schriftauffassung, in der der Schreibprozess eine Art hinausgeschobene Abwesenheit darstellt – „Das Schreiben deutet auf die Sachlage des Fehlens. Alles fehlt, wo der Buchstabe ist“,989 oder „Wo ein Bild ist, hat die Wirklichkeit ein Loch. Wo ein Zeichen herrscht, hat das bezeichnete Ding nicht auch noch Platz“990 –, als auch mit seinem Modell der Erinnerung, das ebenso die Abwesenheit betont. Wenn das Schreiben darauf hinweist, dass etwas fehlt, ohne die Abwesenheit vollends durch Anwesendes ersetzen zu können, dann kann sich auch die Erinnerung nicht darin erschöpfen, das in ihr Abwesende vollends zu vergegenwärtigen. Das Wesentliche der Erinne- 983 B. Strauß: „Aus den Notizen zu „Ithaka‘“. Ithaka. Programmheft der Münchner Kammerspiele, 1995/96, Heft 4, S. 8–9, hier S. 9. 984 „Beim Wiederlesen des Odysseus-Kapitels in der Dialektik der Aufklärung besticht ein gedankliches Parlando, ein Gewebe in sich gekehrter Reflexion, die alles gebrauchen kann, sich einverleibt und angleicht und alles, was das ist, um seinen Stand bringt.“ Ebenda. 985 Ebenda. 986 Ebenda. 987 B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“ ..., S. 62. 988 Ebenda. 989 B. Strauß: Paare, Passanten ..., S. 102. 990 B. Strauß: Trilogie des Wiedersehens. Theaterstück. München – Wien 1976, S. 339. 344 rung, wodurch unter anderem991 ihr Potenzial in der Reflexion der Deutschheit angedeutet wird, besteht darin, unser Gefühl für Vergängliches und Unerreichbares zu schärfen.992 Dank seines recht differenzierten und kritischen Umgangs mit der Aufklärungstradition war Strauß im Gegensatz zu vielen enttäuschten (Ex)Linken am Ende der 1980er Jahre weit davon entfernt, von einem Extrem ins andere zu fallen; die naheliegende Reaktion, 1990 auf den kompletten Hoffnungsverlust mit einem systematischen Pessimismus, ja mit der Apokalyptik zu reagieren, ist in seinem Falle ausgeblieben. Von Strauß lässt sich mitnichten sagen, dass er aus dem „Dornröschenschlaf“ mit dem Gedanken aufwachte, dass die „letzte Rache des gestürzten totalitären Regimes [...] auch die totale Entlarvung, die negative Offenbarung einer verfehlten, weltlichen Soteriologie [war, A.U.]: Alles falsch von Anbeginn“.993 Dass man nicht gut tut, nur auf die Geschichtsphilosophien zu setzen, davon musste er sich wirklich nicht von den Ereignissen am Ende der 1980er Jahre belehren lassen. Vielmehr zeugen seine damaligen Reaktionen davon, dass die zu Beginn seines Schaffens überwiegend von geschichtsphilosophischen Modellen besetzte Stelle nun von mannigfaltigen Impulsen in Anspruch genommen wurde; den politisch-ästhetischen und ästhetisch-religiösen traten immer stärker auch die naturwissenschaftlichen zur Seite. Den vierten Impuls von Strauß’ konsequenter Umsetzung des Aufklärungsprogramms stellt somit die Naturkunde dar. Aus textstrategischen Gründen muss, bevor der seine Texte seit den 1980er 991 Diese Gedankenfigur liegt auch vielen prosaischen Texten von Strauß zugrunde, da in ihnen auf folgendes Muster rekurriert wird: Kurz bevor eintritt, worum sich die Figuren bemühen, leuchtet ihnen ein, dass das Angestrebte ihnen weniger wert ist als das Gefühl, es nie erreichen zu können. So werden die in der Novelle Kongress erzählten Geschichten erzählt, um – wie bei Scheherezade – das Einzutreffende hinauszuschieben. So wünscht die verlassene Frau in Niemand anderes (Brief zur Hochzeit) zwar die Rückkehr ihres Gatten, doch zugleich ist sie nicht bereit, ihr durch Einsamkeit geschärftes Verlustgefühl zu opfern. So schreibt der verlassene Literat (Widmung) seinen Text in der Hoffnung, ihn später der Exfreundin zur Lektüre vorzulegen, und sie zur Rückkehr zu bewegen. Doch allmählich wird ihm deutlich, dass er dann keinen Grund mehr hätte, zu schreiben; es ist kaum zu übersehen, dass dieses Muster Strauß’ unendlich prolongierte Geschichte variiert, die besagt, sich vom Bösen loszusagen, heißt noch nicht, es zu überwinden. 992 So auch bei J. Windrich. Worauf es bei der Erinnerung laut Strauß ankomme, schlussfolgert Windrich, „ist die Sensibilität für das Vergehen, die Fähigkeit, den Verlust eines Vormaligen zu erleben und als solchen zu belassen, ohne die geistige Kraft auf mögliche Wege der Wiedergewinnung zu richten [...] Es geht um die Erweckung von Verlustgefühlen.“ J. Windrich: Das Aus für das Über. Zur Poetik von Botho Straußʼ Prosaband „Wohnen Dämmern Lügen“ und dem Schauspiel „Ithaka“. Würzburg 2000, S. 182. 993 B. Strauß: „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit“. In ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt ..., S. 39–40. 345 Jahren in zunehmendem Maße prägende naturwissenschaftliche Impuls analysiert wird, noch durch einige Bemerkung der Zusammenhang zwischen Strauß’ Reflexion der Deutschheit und der mehrmals konstatierten Abwendung von dem links-liberalen und der Zuwendung zum rechtskonservativen Programm verdeutlicht werden. 9.5 Politisch-ästhetische Symbiosen Strauß, der intellektuell im Nachkriegsdeutschland sozialisiert wurde, wusste gut um die politische Unbrauchbarkeit der Begriffe „Konservativismus“ und die „Rechte“. Andererseits wurde ihm die brauchbare, ja die einzig mögliche liberale Linke bald zum Gefängnis. Darum suchte er wiederholt zu betonen, dass das, was ihn an der konservativen und rechten Ideenwelt anspricht, nichts mit dem politischen Gebrauch dieser Begriff zu tun hat,994 sowenig einige typologische Übereinstimmungen zu leugnen sind (weniger Individualismus, vielmehr Eingliederung in die Gemeinschaft, Konsumkritik, Kritik der nivellierten Medien, der anonymen Multikulturalität, Zuwendung zu den traditionellen Werten u.Ä.). Seinen Weg verstand er als einen ästhetischen, sofern er die Begriffe kaum mit politischem, vielmehr mit ästhetischem Inhalt versehen hat; die Schlüsselrolle kommt dabei seiner spezifischen Auffassung der Dichtung. Der Dichter verkörpert eine unzeitgemäße Haltung, die gezielt gegen die Herrschaft der Gegenwart, ja der prinzipiellen Anwesenheit des Vergegenwärtigten gerichtet ist; er sei gegenüber der heutigen Welt eine margi- 994 Vgl. Strauß’ Postscriptum 1994 zum „Anschwellenden Bockgesang“: „Jenes Rechte, um das der Streit noch geht (und für mich ist es zuerst das Rechte des gegenrevolutionären Typus von Novalis bis Rudolf Borchardt), ist inzwischen ein intellektuelles Suchtproblem geworden. In erster Linie deshalb, weil es in besonders spannungsreichem Verhältnis zum mißbrauchten Rechten, das besser seitenneutral: das totalitäre Verbrechen hieße. Hier ist die kategorische Unterscheidung noch längst nicht so geläufig wie auf Seiten der Linken, wo niemand gegen einen Literaten, der für den demokratischen Sozialismus eintritt, den Vorwurf erhöbe, er mache Stimmung für die Wiederkehr stalinistischer Blutbäder.“ B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang.., S. 78. Vom Konservativismus grenzte er sich mehrmals aus, etwa im Brief an H. Schwilk, den Herausgeber der Selbstbewußten Nation, bezeichnete das Wort „konservativ“ für „völlig fehl am Platz“ (B. Strauß: „Ein Brief“, zit. nach Deutsche Literatur, 1994, Jahresüberblick. Stuttgart 1995, S. 314), im Essay über R. Borchardt distanzierte er sich von ihm als einen in Bezug auf Borchardt „unwürdig[en]“, „lächerlich seitenverkehrt[en]“ (B. Strauß: „Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt 1987“.., S. 9), 2000 sagte er sich von ihm los, er sei als „vollkommen platter Begriff verhunzt“. (B. Strauß: „Am Rand. Wo sonst. Ein Gespräch mit Botho Strauß“. Die Zeit, 23, 31.5.2000), und im Essay „Anmerkungen zum Außenseiter“ (Der Spiegel, 31, 2013) charakterisierte er den Konservativen als den „Krämer des angeblich Bewährten“. 346 nale Außenseiterfigur, die bereits dadurch begabt sein soll, „mit seiner Zeit zu brechen und die Fesseln der totalen Gegenwart zu sprengen“.995 Schon diese Forderung deutet darauf hin, dass die dem „Dichter“ auferlegten Aufgaben den ästhetischen Bereich bei weitem übertreffen. Ihm kommt die – aus deutschkonservativen Traditionen wohlbekannte – Sendung zu, die (um es mit Hofmannsthal zu sagen) Erneuerung „des geistigen Raumes der deutschen Nation“ in die Wege zu leiten. Vom Dichter wird verlangt, den Prozess zu katalysieren, bei dem eben die mentalen Dispositionen zu entwickeln sind, denen die Nachkriegsentwicklung nicht förderlich war. Anders gesagt, der Dichter lebt die Therapie im Namen des Erhabenen vor, die beizubringen sucht, wie das zu ertragen ist, was nicht zu ändern ist; in den 1990er Jahren wird diese Fähigkeit in Strauß’ Texten als eine tragische bezeichnet, hiermit als Disposition, tragisches Schicksal (als ein tragisches) zu ertragen. Die Folgen, die diese Konzeption für die Deutschheitsreflexion hat, treten deutlich zutage: Aus dem Dilemma zwischen der reflexartigen Negation einerseits und der restlosen Affirmation der Deutschheit andererseits, ja zwischen Xenophobie und Xenophilie kommt man allenfalls heraus, wenn man den exklusiven, an den Dichter erhobenen Ansprüchen gerecht wird. Dass es sich um ein elitäres und für das Nachkriegsdeutsche maßgeschneidertes Programm handelt, das schon darum keine massive Unterstützung gewinnen kann, weil dadurch der reklamierte ästhetische und moralische Ausschließlichkeitsstatus des (deutschen) Dichters fallen würde, geht aus Strauß’ Überzeugung hervor, dass „außerhalb des Dichters nichts eigentlich mehr deutsch sein kann“,996 da nur er „wehrlos bereit [ist, A.U.] die Auferstandenen der Lager zu empfangen“.997 Die antiliberale Facette der Dichterauffassung, auf die knappe Formel des Kampfes gegen „die Totalherrschaft der Gegenwart“ zu bringen, speist sich aus Strauß’ Befürchtung, der Westeuropa dominierende liberale Geist der Gegenwart erweise sich im Prozess der deutschen Vergangenheitsbewältigung als unzuverlässig, sofern er der Gefahr der Nazismusrückkehr vorarbeitet. Für den Prozess der Liberalisierung hatte Strauß diesbezüglich dialektische Erklärungsmuster parat: je emanzipierter die Individuen, desto bedrohlicher für sie gerade das, wovon sie sich emanzipiert haben. Je mehr sie sich dem Diktat der Freiheit unterwerfen, desto weniger sind sie imstande, das Schicksal zu ertragen. Allgemeine Liberalisierung prädisponiert somit zum oberflächlichen und äußerlichen Vergangenheitsbezug, darum inspiriert sich Strauß oft bei Intellektuellen, für die die Vergangenheit mehr als nur Anlass zur Emanzipation ist; dies brachte ihm nicht selten den Vorwurf, konservativ „restitutio in integrum“ zu 995 B. Strauß: Paare, Passanten ..., S. 105. 996 B. Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie, S. 121. 997 Ebenda. 347 betreiben. Dieser kann und muss wiederum nur durch den Hinweis darauf abgeschwächt werden, dass Strauß stets aus der ihr Gleichgewicht verloren habenden Nachkriegsperspektive heraus argumentiert, und alles tut, um die Balance zu installieren.998 Seine Appelle, die Einseitigkeiten wettzumachen, richten sich freilich an eher antimoderne Autoren, doch betont wird nicht deren politischer Konservativismus, sondern die als metapolitisch verstandene Poetizität. Etwa zu R. Borchardt bekennt sich Strauß nicht wegen den offensichtlichen Affinitäten zwischen dessen Programm der „schöpferischen Restauration“ und dem deutschen antidemokratischen Konservativismus der Zwischenkriegszeit, sondern ausschließlich – also über diese Affinitäten hinwegsehend („zu welchen gesinnungspraktischen Konsequenzen sie ihn auch geführt haben mag“) – , weil er in seinen Augen „von den Wurzeln her universalpoetisch im Geist Herders und Friedrich Schlegels [ist, A.U.], als die zeitspaltende Sehnsucht nach dem Ersten und Ganzen.“.999 Insbesondere die Tatsache, dass Strauß Rudolf Borchardt mit Herder in einem Atemzug nennt, um betonen zu können, dass für Herder (wie auch für Hamann, und, so die Konklusion, wohl auch für Borchardt) die Poesie die „Muttersprache des Menschengeschlechts“ ist, weshalb uns der erneuernde Kontakt mit der lyrischen Zeit die „Verjüngung“1000 gebe, stellt Strauß’ Intention in ein scharfes Licht. Darin wird evident, dass weder das historische „damals“, restitutio der einstigen Verhältnisse, noch die romantische Rückkehr ins Goldene Zeitalter gemeint sind, sondern nur Wiederberührung mit dem schöpferischen Ursprung, mit der ungeschichtlichen Frühe. Nicht das imponiert Strauß, was gewesen ist, sondern das, was in der Geschichte „unbewegt“ bleibt; sein „Dichter“ hat sich nicht auf der historischen Zeitachse zu bewegen, sondern in Augenblicken innezuhalten, in denen die Anfänge unterschiedlicher Ereignisse einander berühren. Genauso evident wird aber auch, dass der Rückgriff auf die in diesem Sinne (noch) unpolitische Romantik für Strauß ein Alibi darstellt, damit er über die umstrittenen politischen Konsequenzen hinwegsehen kann, die die Programme seiner vermeintlich (nur) metapolitischen Dichter nach sich gezogen haben. Dass von diesen Konsequenzen bei Herder offensichtlich nicht die Rede sein kann, macht die Strategie einmal mehr 998 Typisch etwa folgende Wunschphantasie: „Es ist nicht weiter danach zu fragen, weshalb in der jugendlichen Periode unserer Nachkriegszeit ein ,Konservativer‘ keine Leitbildfunktion übernehmen konnte. Es war so nötig wie richtig, andere Entscheidungen zu treffen. Dennoch mag es im Spiel der ‚geschichtlichen Möglichkeiten‘ erlaubt sein, sich vorzustellen, dass an der Pforte unserer Demokratie [...] neben einem Benjamin auch ein Borchardt gestanden hätte. So wie auf Odins Schultern doch beide Raben saßen, die hießen ,Gedächtnis‘ und ,Gedanke‘.“ B. Strauß: „Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt 1987“ ..., S. 20–21. 999 Ebenda, S. 9. 1000 Ebenda, S. 15. 348 fragwürdig. Indem Borchardt gerade Herder zur Seite gestellt wird, werden durch den ausgestellten Hinweis auf Herders Poetik umstrittene politische Konsequenzen ausgeklammert, die das Borchardt’sche Programm der schöpferischen Restauration um 1933 nach sich gezogen hat. Bei Herder suchte Strauß ästhetische und poetologische Inspirationen, er fand bei ihm aber auch einen recht fragwürdigen Vorwand, seine antiliberalen Ansichten von der Last der historischen Schuld zu befreien, in die in der Zwischenkriegszeit in nicht unbeträchtlichem Maße auch Intellektuelle wie Rudolf Borchardt verstrickt waren.1001 9.6 Politisch-ästhetische Symbiosen mit der Naturwissenschaft In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nehmen in Strauß’ Texten Passagen zu, in denen eine naturwissenschaftliche Perspektive eingenommen wird. Bereits im Rumor (1980) bildeten naturwissenschaftliche Exkurse, gestützt insbesondere auf die Rezeption des biologischen Bestsellers der 1970er Jahre, Jacques Monods Zufall und Notwendigkeit,1002 einen beträchtlichen Teil des Romans aus. Beginnend mit Niemand anderes steigt die Zahl der kommentierten oder auch nur unvermittelt übernommenen Thesen zur neuesten Entwicklung der Naturwissenschaften,1003 etwa der Chaostheorie, Quantentheorie oder Kybernetik enorm,1004 wie auch der Signale, dass Strauß bezüglich dieser Entwicklung up to date werden will. Die proklamierte Anlehnung an die „Romantiker des Wissens“ bringt es mit sich, nicht nur politische und ästhetische Ereignisse zu parallelisieren, sondern auch „Konvergenz zwischen der ästhetischen und naturwissenschaftlichen Wahrnehmung“1005 anzustreben, ja Brücken zwischen Geist und Natur, Vernunft und Instinkt, Wissen und Schau1006 zu schlagen. Zentrale Bedeutung unter den naturwissenschaftlichen Termini nimmt zu dieser Zeit der Begriff der „Emergenz“ ein; symptomatisch wurde er von Strauß am Ende der 1980er Jahre aufgegriffen, um den spezifischen Cha- 1001 Im tschechischen Sprachraum siehe etwa: A. Urválek und Koll.: Dějiny německého a rakouského konzervativního myšlení. Olomouc 2009, S. 224–357. Hier weitere Verweise auf die Sekundärliteratur zu der konservativen Revolution und der schöpferischen Restauration R. Borchardts. 1002 J. Monod: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. München 1971. 1003 Vgl. B. Strauß: Niemand anderes ..., S. 141. 1004 Als erster lenkte den Blick auf diesen Fragenkomplex J. Daiber. Vgl. J. Daiber: Poetisierte Naturwissenschaft. Zur Rezeption naturwissenschaftlicher Theorien im Werk von Botho Strauß. Frankfurt am Main 1996. 1005 M. Radix (Hg.): Strauß lesen ..., S. 210. 1006 B. Strauß: Fragmente der Undeutlichkeit ..., S. 47. 349 rakter der gesellschaftlich-politischen Ereignisse zu erfassen. In den umwerfenden Ereignissen am Ende der 1980er Jahre glaubt er den Beleg dafür zu sehen, dass sich das Unvorhersehbare sein Recht verschafft hatte und „das scheinbar undurchdringliche Geflecht von Programmen und Prognosen, Gewöhnungen und Folgerichtigkeiten [zerschnitt]. Es belehrte alle, dass es der Geschichte sehr wohl beliebt, Sprünge zu machen, ebenso wie der Natur“.1007 Deutschland habe sich also weniger wiedervereinigt, vielmehr sei das eingetreten, was man unter anderem in „den biologischen Wissenschaften mit dem Ausdruck ,Emergenz‘ bezeichnet: etwas Neues, etwas, das sich aus bisheriger Erfahrung nicht ableiten ließ, trat plötzlich in Erscheinung und veränderte das ,Systemganze‘, in diesem Fall: die Welt“.1008 Dass dieser Begriff nicht nur in der Biologie vorkommt, ja nicht einmal streng naturwissenschaftlichen Ursprungs ist, ist insofern nebensächlich, als hier die Intention erforscht wird. So wie Enzensberger glaubt auch Strauß auf naturwissenschaftliche Begriffe und Erklärungen zurückzugreifen, sobald die geschichtsphilosophischen Schemata nicht mehr taugen. Symptomatisch genug verwirft er in Bezug auf die Ereignisse um 1990 den Begriff der Revolution, um stattdessen von der „emergente[n] Summe von vielerlei Zerfalls-, Druck- und Widerstandsformen“ zu sprechen.1009 Auch bei Strauß kam diese Affinität zu der Naturwissenschaft nicht aus heiterem Himmel, lassen sich doch auch in seinen früheren Texten etliche Hinweise finden, in denen die geschichtsphilosophische Perspektive zugunsten der naturwissenschaftlichen abgeschwächt wird. Auf der allgemeinen Ebene ist auf die zyklische Zeitauffassung hinzuweisen, deren unterschiedliche Gestaltungen Strauß’ Texte von Anfang an prägen. Die lineare Zeitauffassung widersprach seinem künstlerischen Anspruch, die Kunst habe die Erlebnisse der nicht-linearen Zeit zu vermitteln. Daher seine starke Affinität zu breitverzweigten mythischen Geschichten, in denen Ende und Anfang ineinsfallen. Typisch für ihn ist eine langjährige und äußerst reflektierte Beschäftigung mit dem My- thos,1010 bei der ja nicht nurdie zyklische Zeit des Mythos, sondern zu- 1007 B. Strauß: „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit“ ..., S. 39. Strauß stellt sich dadurch in die Opposition zu der Tradition Natura non facit saltum, die ja Namen wie Aristoteles, Leibniz, Newton, Linné und Kant repräsentieren. 1008 Ebenda. 1009 Ebenda, S. 1010 Dass Strauß den Mythos reflektiert handhabt, ihn also keineswegs revitalisiert, um ihm blind zu frönen, ist in der Sekundärliteratur mehrmals belegt worden. Am differenziertesten wohl von H. Herwig: „Überhaupt lässt sich sein Verhältnis zur griechischen Mythologie nur dialektisch beschreiben. Strauß setzt die mythische Bildwelt und die Folgenschwere der in ihr gefällten Entscheidungen als Maßstab der Wertung ein, vor dem die modisch genügsame Ambivalenzherrschaft der Gefühle sich selbst der Profillosigkeit überführt; das heißt aber nicht, dass er mit die- 350 gleich die mythische Verwandlung der Geschichte in die Natur von Interesse waren;1011 Strauß gehört zu vielen, die wissen, dass wir dem Mythos umso mehr ausgeliefert sind, je mehr wir ihn überwunden zu haben glau- ben. Das Bewusstsein der historischen Zäsur um 1990 machte das Bedürfnis, ästhetische und politische Ereignisse möglichst produktiv miteinander zu verschränken und an das neueste naturwissenschaftliche Wissen heranzuführen nur noch dringlicher. Seinen Ausdruck fand dieses Bedürfnis in den Dramen Schlußchor,1012 und Das Gleichgewicht1013 (bis zu einem gewissen Grad auch in Angelas Kleider,1014 Ithaka und Schändung1015 ), in den Essays „Aufstand gegen die sekundäre Welt“ und „Anschwellender Bocksgesang“, sowie im poetisch-wissenschaftlichen Experiment Beginnlosigkeit. Diese Texte werden hier nicht im Einzelnen analysiert, vielmehr werden die Transformationen in größeren Textkomplexen erfasst. Den ersten eng zusammenhängenden Block bilden Beginnlosigkeit und Schlußchor; freier lassen sich ihm Gleichgewicht und Ithaka zuordnen, wird doch in allen Fällen der ausschlaggebende Augen-blick dramatisiert, in dem man wieder zueinander zu finden sucht, es spielen sich darin also Prozesse ab, die mehr oder weniger das Leitmotiv der einstigen Trilogie des Wiedersehens aufgreifen. Alle drei Dramen kann man hiermit als Gleichnisversuche lesen, sofern sie das unverhoffte Wiedersehen der beiser Technik das Wertesystem, das den mythischen Erzählungen zugrunde lag, restitiuieren will [...] Bei Strauß dient der Rekurs auf den griechischen Mythos nicht der Remythisierung wie bei P. Handke, nicht der psychologisierenden Umdeutung griechischer Heldenideale wie bei Christa Wolf und nicht der Mythologisierung der Psyche wie bei Hans Henny Jahn. Es dient als ästhetisches Spiel vielmehr einer Dialektik des Verbergens und Entbergens [...] Durch das mythologische Zitat und dessen eigenmächtige Variation hebt Strauß die Grenze zwischen Mythos und Logos auf und arbeitet der Verdrängung dessen entgegen, was sonst als Verdrängtes wiederkehren müsste [...]“ H. Herwig: Verwünschte Beziehungen, verwebte Bezüge. Tübingen 1986, S. 161 und 175. 1011 W. Emmerich weist darauf hin, inwiefern sich Strauß aufgrund seiner mythischen Affinität von der linken Mentalität abhob, die ja für mythische Qualitäten kein Verständnis gehabt, sie für irrationale Erscheinungsformen des voraufklärerischen Primitivismus gehalten, ja in ihnen das unheilvolle Erbe der antiken Klassik erblickt habe, an das sich falsch diejenigen klammern würden, die politisch versagt hätten, also allen voran das Bildungsbürgertum. Vgl. W. Emmerich: „,Eine Phantasie des Verlustes‘. Botho Straußʼ Wendung zum Mythos“. In B. Seidensticker – M. Vöhler (Hg.): Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. Berlin – New York 2002, S. 321–345, hier S. 321. 1012 B. Strauß: Schlußchor. Drei Akte. München – Wien 1991. 1013 B. Strauß: Das Gleichgewicht. Stück in drei Akten. München – Wien 1993. 1014 B. Strauß: Angelas Kleider. Nachtstück in zwei Teilen. München – Wien 1991. 1015 B. Strauß: Ithaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee. München – Wien 1996; ders.: Schändung. Nach dem Titus Andronicus von Shakespeare. München – Wien 2005. 351 den deutschen Staaten in historisch-symbolische Bilder und Geschichten (Schlußchor) übersetzen, es als ein Effekt des zerbrechlichen Gleichgewichts zwischen diesen Staaten thematisieren (Gleichgewicht), oder auf die Frage hin zuspitzen, unter welchen Bedingungen (und um welchen Preis) das Wiedervereinigen der lange voneinander Getrennten und zueinander Zurückkehrenden machbar ist (Ithaka). In allen drei Fällen ist das Wiedersehen durch den Mythos konditioniert: Im Schlußchor durch den griechischen und biblischen (Dionysos, der von Dianas Hirschen zerrissene Aktäon, der diese nackt baden erblickt hatte, beziehungsweise David und Batsheba, denen Ähnliches zugestoßen ist), durch den griechischen (der Rückkehrer Odysseus) in Gleichgewicht und Ithaka. Strauß’ naturwissenschaftliche Interessen haben am stärksten in dem durch Schlußchor und Beginnlosigkeit gebildeten Block durchgeschlagen. So gattungsunterschiedlich sie auch sind, beide Texte suchen eine Antwort auf typologisch ähnliche Fragen: Wie zu denken in der unstabilen Welt, der die Naturwissenschaftler mit der Chaostherie beizukommen suchen? Wie im Weltraum zu denken, der nach Theorie stade state stationär sein mag? In einer Welt, in der unsere Gedanken weniger auf unsere bewussten Akte zurückzuführen sind, als wir glauben? In der man alles, was man über die sogenannte Wirklichkeit wissen kann, selbst zu konstruieren hat? In der die Ereignisse unserem Kalkül weniger unterliegen, also zufälliger passieren, als wir es wünschen? Solche Fragen übersetzt Schlußchor in dramatische Bilder; das zentrale Motiv des Augen-blicks, der hier die visuelle (Blick, Beobachten, Sehen, aber auch Versehen) und die zeitliche Komponente (der richtige, entscheidende Augenblick, von dem an etwas anders, aber auch zum Verhängnis werden kann) zueinanderführt, um das Notwendige mit dem Kontingenten zu verschränken, erfasst sehr wohl die Spannung zwischen dem doch zu Erwartenden und trotzdem Überraschenden, zwischen dem Sichergeglaubten und der „emergenten“ Plötzlichkeit, der historischen Notwendigkeit und der kaum vorhersehbaren Kontingenz des natürlichen Geschehens, die für die Ereignisse von 1989/1990 bezeichnend war. Die Ambivalenz des historischen Augenblicks besteht somit darin, dass es zu ihm weder zwingend, noch ganz zufällig kommen konnte; nicht auszuschließen, dass historische Prozesse in Bewegung kommen, weil sich jemand „versehen“ hat, oder den „Augenblick“ erwischt oder verpasst hat. Aus einem marginalen Ereignis erwachsen in der dramatischen Struktur Prozesse, die von deren Akteuren allenfalls beobachtet, doch kaum beeinflusst werden können. Durch offensichtliche Anspielungen auf das sogenannte schwache anthropische Prinzip (die Welt muss so sein, damit auf ihr Menschen entstehen können, die diese Welt beobachten) wird das zentrale Motiv des Augenblicks im ersten Akt um etliche Facetten erweitert: Für die Akteure des Wiedervereinigungsprozesses gilt es, im richtigen Augenblick erblickt 352 zu werden, um in der Geschichte als Einzelne aber vor allem als (national) identische Gruppe greifbare Spuren zu hinterlassen. Der Fotograf verpasst indes den einzigen Augenblick, in dem das Gruppenbild eine homogene Einheit darstellen würde, auf dass er von der Gruppe zerrissen wird. In weiteren zwei Akten wird das Versehen (der versehentliche Anblick der nackten Delia, der dem Architekten Lorenz „zustößt“) für die Figur(en) zum Verhängnis; auch der potentiellen Vereinigung zwischen Delia und dem Architekten Lorenz wurde kein günstiger Augenblick beschert, aus dem heraus ein zukunftsträchtiges Geschehen entstehen könnte. Und schließlich in der allerletzten Szene sucht sich Anita im Augenblick des Mauerfalls symbolisch wie auch direkt mit dem deutschen Adler zu vereinigen, und auch dieser wohl allegorisch aufzufassende Ver- such,1016 die Identität im lange ersehnten Augenblick zu setzen, endet in einer historischen Farce, in der lange verdrängte ungezähmte Triebe Regie übernehmen: „Wenn es wieder hell wird, steht ANITA bis zu den Waden in Federn, mit blutendem Gesicht, den abgeschnittenen Fang des Vogels in der herabhängenden Hand“ und ruft: „Wald ... Wald ... Wald ... Wald.“1017 Ähnlich unternimmt Strauß auch in Beginnlosigkeit den Versuch, als Dichter der neuen historischen Situation mit modernen (naturwissenschaftlichen) Kenntnissen zu begegnen.1018 Als äußerst belehrter wissenschaftlicher Laie schickt er sich an, das spezialisierte Wissen aus der Isolation innerhalb der einzelnen naturwissenschaftlichen Fächer zu befreien, ohne sich dabei allzu sehr um die Verifizierung der Theorien zu kümmern, auf die er in seinen Texten rekurriert;1019 naturwissenschaftliche Theorien handhabt er nicht als Wissenschaftler, sondern als experimentie- 1016 G. Neumann merkt an, drei dramatische Augenblicke würden sich hier an drei klassischen Identifikationsmustern der Deutschen orientieren; an der Identität der Nation als Masse, der Identität des Paares im Blick des Mannes auf die Frau und an der Identität der allegorischen Art. Siehe G. Neumann: „Gedächtnis-Sturz“. Akzente, 10, 1993, S. 100–114, hier S. 113. 1017 B. Strauß: Schlußchor. Drei Akte ..., S. 98. 1018 Siehe seine Versuche, das Repertoire der Bilder und Metaphern zu modernisieren, die kaum von den Enzensberger’schen zu unterscheiden sind. B. Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie ..., S. 82 und 92. 1019 Dies erklärt, wieso ihm nichts ausmacht, dass etwa die Theorie stady state in der Zeit, als er sie in seine Texte einbaut, längst überwunden war (was bedeuten würde, man könne etwa mit geozentrischer Kosmologie arbeiten, sofern es unserem poetischen Bild der Wiedervereinigung Deutschlands entspricht, und alle Einwände mit dem Hinweis darauf entkräften, es sei ein poetisch naturwissenschaftliches Experiment; eine sehr fragwürdige Annahme). Vgl. T. Hoffmann: „Poetologisierte Naturwissenschaften. Zur Legitimation von Dichtung bei Durs Grünbein, Raoul Schrott und Botho Strauß“. In K. Bremer – F. Lampart – J. Wesche (Hg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Freiburg im Breisgau 2007, S. 172–190, hier S. 178. 353 render Laie, den interessiert, wozu es kommt, wenn man traditionelle Denkstrukturen textuell mit neuen Erkenntnissen zusammenstoßen lässt. In Beginnlosigkeit scheint dieses Experiment allerdings zunächst mal dazu zu führen, dass dem wissenden Dichter Strauß der ambitionierte Umweg nicht nur neue Kenntnisse, sondern auch die Bestätigung dafür bringt, dass er sich mit seiner dichterisch-wissenschaftlichen Konzeption von Anfang an auf dem richtigem Wege befindet. Die erzählerische ErPosition, die im Text in die äußersten Winkel der umwerfenden wissenschaftlichen Theorien hineingeführt wird, die wiederum aus der „WirPosition“ präsentiert werden, kehrt indes am Ende seiner Wanderung mehr oder weniger dorthin zurück, von wo sie zu Beginn des Textes ausgegangen war. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass die Erzählinstanz in der dritten Person Singular nicht eigentlich mit Überraschendem konfrontiert wird; in vielem, was sich umwerfend neu gibt, findet sie allenfalls Spuren dessen vor, was man in vielfältigen Modifikationen und Varietäten aus Strauß’ Texten allzu gut kennt.1020 Neurobiologisches Wissen darüber, dass „Unser Gehirn [...] keinen unmittelbaren Zugang zur Welt [besitzt, A.U.] Es ist vollkommen auf sich selbst bezogen [...] Alles, was überhaupt ist, geschieht unter der Schädeldecke. Die Leidenschaft der Abgeschlossenheit ist das Medium Gottes wie der Welt [...] Mithin sind wir gegenüber Änderungen unserer Innenwelt 100 000mal empfänglicher als gegenüber Änderungen in unserer äußeren Welt“, 1021 konveniert einem Strauß-Leser etwa mit dessen unzähligen Versuchen, Literatur als höchst selbstreflexives System zu verstehen, dessen Verwandlungen allenfalls auf seine eigenen innerliterarischen Mittel und Möglichkeiten zu beschränken seien.1022 Der hier dargelegte radikale Konstruktivismus stellt in Strauß’ Werk auch nichts „Emergentes“ dar, da Strauß längst davon weiß, dass „Erschaffen und Herstellen, Poesie und Poiesis, als Fortsetzung und Maß des kognitiven Betriebes, zur Menschennatur gehört wie der Flug zum Vogel“.1023 Ähnlich wohlbekannt wirkt auch die Konklusion, dass es neben „der Neuronenherrschaft die autonome Macht der Sek- 1020 So auch T. Hoffmann: „Eine der Pointen der in Beginnlosigkeit betriebenen Auseinandersetzung mit neueren naturwissenschaftlichen Theorien besteht darin, dass einerseits eine Beschäftigung mit aktuellsten Forschungsergebnissen erfordert wird, andererseits aber immer wieder solche Theorien ausgewählt werden, die mit Gedanken kompatibel sind, die in der Literaturgeschichte bereits lange zuvor verhandelt worden sind. Der Poet erscheint somit als Vordenker von Philosophie und Naturwissenschaft [...] Schockierend ist das neue Wissen der Naturwissenschaften also nicht zuletzt deshalb, weil es die Vermutungen der Poeten beweist.“ T. Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen ..., S. 297, 309. 1021 B. Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie ..., S. 10–11. 1022 Vgl. hierzu etwa Strauß’ Forderung, das „Theater seinen Traum alleine tragen“ zu lassen. B. Strauß: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse ..., S. 107. 1023 B. Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie ..., S. 12. 354 rete ist, der Enzyme und Hormone, die dem Ich seine Verfassung diktie- ren“,1024 darum sei „das selbstbewußte Individuum [...] die frechste Lüge der Vernunft“.1025 Ganz im Gegenteil, Strauß, der langjährig M. Foucault oder J. Monod rezipiert, und sich zu ihnen explizit bekennt, hatte schon zu Beginn der 1980er Jahre in Paare, Passanten oder in Rumor dargelegt, wie das Ich, jeder transzendentalen „Fremd-Bestimmung“ beraubt, heute „nur noch als ein offenes Abgeteiltes im Strom unzähliger Ordnungen, Funktionen, Erkenntnisse, Reflexe und Einflüsse“1026 existiere, der Mensch „seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen ...“,1027 ja dass das Ich zugeweht werde „wie ein Scheißhaufen am Strand“.1028 Ohne die Feststellung pauschalisieren zu wollen, sei behauptet, dass mit einer zunehmenden naturwissenschaftlichen Semantisierung der Texte auch der Gestus in Strauß’ Essayistik um 1990 eine Änderung erfährt. Selbstsicher, nicht frei von Predigerattitüden wird sein Ton, als könnte Strauß kaum das Gefühl der Genugtuung verbergen, dank der erarbeiteten Einsicht in die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge einen zuverlässigen Leitfaden an die Hand zu bekommen, der all die – die Naturwissenschaften transzendierenden – Konsequenzen beglaubigen soll, die Strauß von seinen naturwissenschaftlichen Exkursen ableitet.1029 Also auch etwa das gesellschaftlich privilegierte Außenseitertum des „Dichters“, der um so privilegierter sei, je mehr er sich über die gesellschaftliche Masse er- hebt.1030 Während für Enzensberger der ästhetisch-naturwissenschaftliche 1024 Ebenda, S. 13. 1025 Ebenda, S. 107. 1026 B. Strauß: Paare Passanten ..., S. 176. 1027 B. Strauß: Rumor. München – Wien 1982, S. 141. 1028 Ebenda, S. 143. 1029 Ähnlich auch T. Oberender, der zu Strauß’ Essays nach 1990 bemerkt: „Neu ist der Manifest-Charakter [...] und die weltgeschichtliche Bestätigung, die diese Weltsicht plötzlich für sich reklamieren kann [...] Das Jahr 1989 ist für ihn ein Wendejahr eigener Art – es bestätigt Botho Strauß als Intellektuellen, und von nun an entwickelte seine Kulturkritik immer stringentere Züge eines metaphysisch begründeten Kulturentwurfs.“ T. Oberender: „Die Wiedererrichtung des Himmels. Die Wende in den Texten von Botho Strauß“. In Text+Kritik VI, 81 (Botho Strauß), S. 76–99, hier S. 77. 1030 Noch neun Jahre später äußerte er sich dazu auf eine Art, die seinen damaligen Standpunkt nur insofern ironisierte, als beglaubigt werden sollte, dass er recht behalten hatte: „Wie? Ich der einzige, ich ganz allein, in den Wiedervereinigung, das Wort, als ein Tautropfen fiel? Der einzige, der sie nach ihrem mystischen Wortsinn aufnahm und davon deutscher wurde, als es die Zeitgeschichte erlaubt. Damit habe ich mich vor meinen Zeitgenossen ebenso lächerlich gemacht, wie sie umgekehrt mir als armselig und unbegabt für die Epoche erscheinen.“ B. Strauß: „Zeit ohne Vorboten“. In ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt ..., S. 101. 355 Synthetismus schlichtweg unentbehrlich ist, will dieser vor sich selbst bestehen, erklärt Strauß den Dichter selbstredend zum nobilitierten Wesen, das sich mit jeder Bestätigung, dass die Naturwissenschaften mit ästhetischem und politischem Wissen in seinem Sinne zu verschränken sind, selbstsicherer und prophetischer gibt. Noch der Borchardt-Essay aus dem Jahre 1987 gibt sich über weite Strecken defensiv. Borchardt wird dem Geist der Nachkriegszeit entgegengesetzt, um sich deren wohl nicht mehr wettzumachenden Defiziten zu vergewissern. Auch wird sein dezidiert ungeschichtlicher Wunsch, die „Wiederkehr der Frühe“ herbeizuschreiben, den reinen ungeschichtlichen Anfang wiederzubringen, als Irrtum bezeichnet, freilich als ein „schutzspendende[r]“, “geweihte[r]“, „gesunde[r] und kompetente[r]“, jedoch geschichtlich gesehen ein „Tie- fenirrtum“.1031 1990 weicht die skeptische Defensive Schritt für Schritt einem selbstsicher gewordenen Redegestus, der nicht mehr den versäumten Chancen nachtrauert: Nun erscheint es „nicht mehr unmöglich, dass der Zusammenbruch von Weltanschauung auch die Entmischung der weltlichen von den verweltlichten heiligen Dingen vorantreibt und dass aus dieser Scheidung die endliche Säkularisierung des Säkularen einerseits und ein geläutertes Erwarten andererseits hervorgehen“.1032 Der Redner glaubt sich stärker auf sein geschichtlich sich bewährendes Gespür verlassen zu können, um die Nachkriegsintelligenz aus einer gehobenen Position heraus damit bekannt zu machen, dass uns nun eine „Lektion“1033 erteilt wurde, die alle davon belehrt haben soll, was an sich gar nicht so selbstverständlich, ja vielmehr umstritten ist, nämlich „das es der Geschichte sehr beliebt, Sprünge zu machen, ebenso wie der Natur“.1034 Drei Jahre später wird im „Anschwellenden Bocksgesang“ aus der defensiven Haltung eine offensive, das verbitterte Nachtrauern wird zum prophetenhaften Verkünden, das kaum von Zweifeln gebremst ist: Formulierungen wie „Ich habe keine Zweifel“, „Es wird sich als nötig erweisen“, „es wird Krieg geben“, „die Modernität wird mit einem Kulturschock abbrechen“, „irgendwann wird es dazu kommen“1035 nehmen Überhand, an die Stelle des vorsichtig Abtastenden „Schließlich erscheint es nicht mehr unmög- lich“1036 rückt das geradezu Apodiktische „es scheint undenkbar“.1037 1031 B. Strauß: „Distanz ertragen“ ..., S. 8–9. 1032 B. Strauß: „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit“ ..., S. 40. 1033 Ebenda, S. 41. 1034 Ebenda, S. 39. 1035 B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“ ..., S. 69, 59, 63. 1036 B. Strauß: „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt ..., S. 40. 1037 B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“ ..., S. 60. 356 Auch die Politik stellt immer weniger einen an sich verbindlichen Wert. In der Konfrontation mit religiös aufgeladener und naturwissenschaftlich modernisierter Ästhetik scheint sie sich zu verwandeln. Die politische Aussage mancher essayistischen Texte wird zugleich durch geradezu rituell vollzogene ästhetisch-performativen Praktiken intensiviert: Etwa stellt der berühmt berüchtigte Essay „Anschwellender Bocksgesang“ inhaltlich eine Tragödie in Aussicht, die er zugleich ästhetisch vollzieht, indem er den der Tragödie zugrundeliegenden Akt des Zerreißens zwischen dem Autor und seinen Kritikern inszeniert. Als Autor des Essays wird Strauß eben das erleben, was er darin in Anlehnung an R. Girards Sündenbocktheorie thematisiert hat: So wie der Sündenbock das Böse absorbiert, um die Gemeinschaft zu erhalten,1038 lässt sich Strauß, das Böse artikulierend, und dadurch den Kritikern ihren Part vorschreibend, von seinen Kritikern verreißen, ja auf Dionysos anspielend sollte man eher sagen „zerreißen“.1039 Außerdem tritt die politische Semantik zugunsten der fragwürdigen biologizistischen Erklärungen zurück, in denen die Gemeinschaft als lebendiger Organismus aufgefasst wird. Dass Strauß in ihnen Trost in Not sucht,1040 fällt weniger ins Gewicht als die umstrittenen Implikationen à la „je mehr man leidet, desto stärker und kompakter wird der Organismus“. Auf einer anderen Ebene kommt ein Anthropologismus zu Wort, der nach der Absage des politischen Aktivismus an die „allzumenschlichen“ Limiten des Menschen erinnert. Im „Bocksgesang“ ist der Anklang an anthropologische Konstanten aus der vorsichtig formulierten Bemerkung herauszuhören, dass „die alten Dinge nicht einfach überlebt und tot sind, dass der Mensch, der einzelne wie der Volkszugehörige, nicht einfach nur 1038 Vgl. R. Girard: Der Sündenbock. Zürich 1988. 1039 So wurde Strauß’ Text von B. Greiner interpretiert: ders.: „Wiedergeburt des Tragischen aus der Aktivierung des Chors? Botho Straußʼ Experiment ,Anschwellender Bocksgesang‘“. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 40, 1996, S. 362–378; Greiners Interpretation weist in derselben Nummer des Jahrbuchs T. Anz: „Sinn für Verhängnis und Opfer? Zum Tragödien-Verständnis in Botho Straußʼ ,Anschwellender Bocksgesang‘“. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 40, 1996, S. 379–387. 1040 Das ist evident am Ende des Essays „Anschwellender Bocksgesang“, wo Strauß, häufig mißverstanden, die rechtsradikale Gewalt keineswegs billigt als eine Sündenbockvariante, sondern im Gegenteil darauf hinweist, dass diese Gewalt im Vergleich zum linken Terrorismus – der seinen „Hass ausschließlich gegen die Herrschenden richtete und seine Opfer aus ihren Reihen wählte“ – nicht einmal den schwachen Vorteil nach sich zieht, dadurch paradoxerweise die negative Einmütigkeit zu stiften. Die Argumentation behauptet: Die rechtsradikale Gewalt ist schlecht, ja dermaßen schlecht, dass man sich nicht einmal dadurch trösten kann, dass sie uns trotz allem in irgendwelcher Hinsicht nützlich sein könnte. B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“ ...,, S. 75–76. 357 von heute ist“,1041 die in expressiver Vorwegnahme kulminiert: „Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben.“1042 Von demselben skeptisch anthropologischen Befund geht Strauß auch zwei Jahre später im Drama Ithaka aus, das ähnlich wie Enzensbergers „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ gegen die (selbst)destruktiven Tendenzen denjenigen auf den Plan ruft, der die gesellschaftliche Destabilität zumindest vorläufig beendet. Während jedoch Enzensberger in seinem Essay aufgrund der Intention und vorgeschlagener Lösungen einen Beitrag zur aktuellen politischen Krisensituation liefert, stellt Ithaka eine bewusst idealisierte und in die protopolitische „Kindheit der Welt“1043 übertragene Phantasie eines Dramatikers dar, der keine ideale Lösung der Konflikte zwischen Menschen oder Nationen parat hat, darum vom idealen Paar träumt (Liebe im Novalis’schen Sinne als das magisch sich realisierende Vorbild des Weltfriedens). Einen weniger idealisierten Einblick in die Machtkonflikte sowie darin, mit welch anthropologischen Dispositionen man sie ausagieren kann, bieten vielmehr die Szenen des späteren Dramas Schändung. Dieses Drama wartet zugleich mit skeptisch-nüchternen Kommentaren zur mythisch märchenhaften Liebeswelt von Ithaka auf, wie unter anderem an dem Verhalten von Chiron deutlich zu sehen ist, der als wohl die zynischste und grausamste Figur seine (vorgetäuschte) Liebe zur stummen, geschändeten, sogar von ihrer Doublerin Monika vertretenen und beinahe vergewaltigten Lavinie mit Worten bekundet: „Ich will der erste sein, der diesen düsteren Argwohn aus den Mauern scheucht und Frieden stiftet zwischen den verfeindeten Familien.“1044 Die Affinität zu den Naturwissenschaften kann im Falle von Strauß die Isolation des Dichters nicht beheben, vielmehr wird diese noch vertieft, sofern das dichterische Programm des ästhetisch Erhabenen ausschließlich an der riskanten Grenze zwischen dem Greifbaren und dem Unzugänglichen zu realisieren ist.1045 Es galt für Strauß von Anfang an, dass sich Dichter am besten untereinander verstehen, die Gruppe derjenigen indes, mit denen im Kontakt zu bleiben sich lohnt, wird mit der Zeit immer kleiner und kompakter. Ähnlich wie Enzensberger lehnt er sich vorrangig an diejenigen an, die „den poetischen Stoffwechsel in Gang“ 1041 Ebenda, S. 59. 1042 Ebenda. 1043 B. Strauß: „Ithaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee“. In ders.: Theaterstücke III. München – Wien 1999, S. 73–152, hier S. 76. 1044 B. Strauß: Schändung. Nach dem Titus Andronicus von Shakespeare, in B. Strauß: Theaterstück IV. München – Wien 2006, S. 301–370, hier S. 343. 1045 Vgl. F.F. Günther: „Vom Sterben des Anfangs? Botho Strauß: Beginnlosigkeit“. In D. Klein (Hg.): Die Erschaffung der Welt – alte und neue Schöpfungsmythen. Würzburg 2013, S. 207–227, hier S. 221. 358 halten, also zwischen „Philosophie und Geschichte bei den Klassikern (und außer der Chemie beinahe alle physikalischen Wissenschaften bei Goethe), Philosophie bei Kleist und Hölderlin, alles Wissenswerte bei Musil, Mann, Benn, Brecht und Jünger“.1046 Wiederum ostentativer als Enzensberger glaubt er sich von allen Kollegen distanzieren zu müssen, die selbst im höheren Alter ihren Zorn abzulegen nicht bereit sind. Dabei hat er mitnichten Enzensberger im Sinn, dessen Zorn mit der Zeit nachgelassen hat, vielmehr jene ewigen 68er, Repräsentanten des erstickenden und satten „intellektuellen Protestantismus“,1047 die sich aus ihrem einstigen Kritizismus durch uferlosen Toleranzwillen freikauften, der sie heute unfähig mache, intellektuell einzugreifen. Ihre Mentalität der Schamverletzungen, die „die anarcho-fidele Erst-Jugend um 68 beging“, sei, so eine weitere umstrittene Annahme, „von rechts beerbt worden“1048 . Die neuen Jugendlichen tun zunächst nichts anderes als ihre Väter-Generation – sich großtun, Initiation betreiben durch Tabuzertrümmerung“.1049 Ohne Aufheben sagt sich Strauß von all den Ironikern und „unzähligen Spöttern, Atheisten und frivolen Insurgenten“1050 los, die eine „bigotte Frömmigkeit des Politischen, des Kritischen und All-Bestreitbaren geschaffen hat“1051 . Was daraus folgt, ist, wie man sieht, nichts als der nächste der verbitterten Versuche von Strauß,1052 sich von der Generation zu befreien, der er angehört; ein umstrittener übrigens, sofern Strauß nur Zorn für diejenigen übrig hat, die nicht vorhaben, ihren Zorn abzulegen. Dieser umstrittene Gestus des zornigen Kritikers des intellektuellen Protestantismus gibt sich allerdings in seinen Auswirkungen als ein demütiger, dienender. Diese Demutsgebärde gegenüber dem Gegebenen und uns Unzugänglichen äußert sich in Strauß’ Texten auf mannigfaltige Art und Weise. In Fehler des Kopisten transformiert sich das emphatische Bekenntnis der literarischen Selbstgenügsamkeit in einen Text, der nicht durch Innovationen, vielmehr nur durch konsequentes Einhalten der lite- 1046 B. Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie ..., S. 81–82. Obwohl Strauß auch andere Namen erwähnt, hat er dieselbe Tradition im Sinn wie Enzens- berger. 1047 B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“ ..., S. 65. 1048 Ebenda, S. 72. 1049 Ebenda, S. 72–73. 1050 Ebenda, S. 64. 1051 Ebenda, S. 64. 1052 Kein besonders durchdachter Versuch; dass zwischen der Mentalität der 68er und den rechtsradikalen Jugendlichen keine kausalen Bezüge zu finden sind, stellt die Mehrheit der Texte fest, die den schwachen Stellen der Argumentation im „Anschwellenden Bocksgesang“ gewidmet sind. Siehe dazu etwa die zusammenfassende Studie: H. Harbers: „Botho Straußʼ ,Bocksgesang‘ oder Wie die Literatur im Essay ihr Gleichgewicht verliert“. In G. Knapp – G. Labroisse: 1945–1995. Fünzig Jahre deutschsprachige Literatur in Aspekten. Amsterdam 1995, S. 583–608. 359 rarischen Tradition entsteht, und dabei wiederum eine naturwissenschaftlich inspirierte Hoffnung umsetzt, Neues könne allenfalls durch Tippfehler beim Übertragen des literarischen (oder genetischen) Textes/Codes1053 entstehen.1054 In seinen dramatischen Texten der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts wandelt sich Strauß’ Zugang zu Vorlagen, handelt es sich schon um Vorlagen mythologischer oder rein literarischer Art; wurden in früheren Dramen (Kalldewey, Farce, 1981; Die Fremdenführerin, 1986)1055 diese Vorlagen spielerisch umgesetzt, etwa als Palimpsest gehandhabt (Park, 1984),1056 kann in Ithaka1057 vom palimpsestartigen Überschreiben keine Rede mehr sein; hier wird der Prätext nur noch „von Lektüre in Schauspiel“ [übersetzt]. Nicht mehr, als höbe jemand den Kopf aus dem Buch des Homer und erblickte vor sich auf einer Bühne das lange Finale von Ithaka, wie er sich’s vorstellt“.1058 Ähnlich legt Schändung1059 die drastische Vorlage nur mit minimalen Änderungen und kleinen ästhetischen Verfremdungseffekten gegenüber der Shakespeare’schen Vorlage vor. Damit wird allmählich der Unterschied zwischen Strauß und Enzensberger greifbar. Dass der Mensch allenfalls eines der zufälligen und vorläufigen Produkte der Evolution darstellt, der während seines Lebens mehr hinzunehmen, als zu ändern hat, bringt Strauß im Gegensatz zu Enzensberger keineswegs zum gelassenen und heiteren1060 Bejahen der Tatsache, dass wir auf die Natur angewiesen sind obwohl wir ihr vollends 1053 Siehe B. Strauß: Die Fehler des Kopisten ..., S. 131. Er stützt sich dabei auf die ungefähre Ähnlichkeit mit dem Prozess der Evolution, in dem auch nicht auszuschließen ist, dass die Entwicklung auf genetischen Tippfehlern beruht. Auch diesem Bild konnte man bereits in den von J. Monod inspirierten Passagen des Rumors begegnen (S. 140–141). 1054 Diesen Komplex analysiert T. Roberg, der das Fazit zieht: „Die biologische Evolutionstheorie dient als Vergleichshorizont zur Bestimmung der Wirkung, die das Werk eines Kopisten irgendwann im Universum des Geschriebenen auslösen mag: eine ,neue Gattung des Bemerkens‘ könne entstehen, eine subtile Veränderung literarästhetischer Rezeptionsweise.“ T. Roberg: „Die ,Übersetzung von Lektüre in Schauspiel‘ als poetologisches Selbstexperiment: ,Ithaka‘ von Botho Strauß“. Text und Kritik, VIII, 2010, Sonderband Homer und die deutsche Literatur, S. 262–276, hier S. 272. 1055 B. Strauß: Kalldewey, Farce. München – Wien 1981; ders.: Die Fremdenführerin. Stück in zwei Akten. München – Wien 1986. 1056 B. Strauß: Der Park. Schauspiel. München – Wien 1983. 1057 B. Strauß: „Ithaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee“. In ders.: Theaterstücke III. München – Wien 1999., S. 73–152. 1058 Ebenda, S. 76. 1059 B. Strauß: Schändung. Nach dem Titus Andronicus von Shakespeare. München – Wien 2006. 1060 Vgl. W. Riedel: „Naturwissenschaft und Naturlyrik bei Hans Magnus Enzensberger“. Zeitschrift für Germanistik, 1, 2009, S. 132. 360 gleichgültig sind, sondern vielmehr zum geradezu heiligen Respektieren der den Menschen grenzenlos übersteigenden Kraft des (ästhetischen) Wortes. Nur so leuchtet mir der von Strauß proklamierte enge Zusammenhang zwischen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, dem Zusammenbruch des politischen Systems und der ästhetischen Konzeption von G. Steiner ein, der den ersten Texten nach 1990 zugrunde gelegt wird: „Die Lektion, die das Unerwartete als geschichtliche „Ankunft“ dem skeptisch Verschlafenen Dahinwursteln erteilt hat“ (eine Seite früher hat er es als emergent bezeichnet),1061 will er ausdrücklich als Anlass dazu verstehen, Steiners Von realer Gegenwart1062 die unermessliche Bedeutung eines Buches zuzuerkennen, das die These in den Raum stellt, dass überall „wo in den schönen Künsten die Erfahrung von Sinn gemacht wird, handelt es sich zuletzt um einen zweifellosen und rational nicht erschließbaren Sinn, der von realer Gegenwart, von der Gegenwart des Logos-Gottes zeugt“.1063 Respekt zum Wort, in dem sich offenbart, was diesem vorausgeht, und zugleich die rationale Unvermittelbarkeit des in der Kunst entstehenden Sinnes kann mit jener Metapher des Emergenten nur dann verbunden werden, wenn man das poetische Handhaben des aus der Sprache der (Natur)Wissenschaft Entlehnten in einen dezidiert religiösen Rahmen einbettet. Im Gegensatz zu Enzensberger versteht Strauß seine Ästhetik des Erhabenen als eine nicht säkularisierte, denn sonst wäre er in diesem Maße kaum bereit, die Implikationen der Poetik der realen Präsenz von G. Steiner in diesem Ausmaß zu übernehmen. In darauffolgenden Texten macht sich dies etwa dadurch bemerkbar, dass Strauß die religiöse Aufladung des Wortes bis zum Extrem treibt, darauf bestehend, dass man stets zu bedenken habe, dass das Wort, sosehr es auf Auslegung angewiesen sei, in jedem Akt des Benennens verletzt werde.1064 Im Essay „Anschwellender Bocksgesang“ ist Steiners Einfluss hinter dem Bestreben zu vernehmen, die „Gegenaufklärung im strengen Sinne“1065 nicht nur vor den „Schändungen, die Neonazis begehen, im besonderen bei ihren antisemitischen Ausschreitungen“ in Schutz zu nehmen, sondern in der Zuschreibung, so verstandene Gegenaufklärung sei „immer die oberste Hüterin des Unbefragbaren, der Tabus und der Scheu, deren Verletzung den Strategen der 1061 B. Strauß: „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit“ ..., S. 41. 1062 G. Steiner: Real Presences: Is There Anything in What We Say? London 1989; deutsch: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß. Aus dem Englischen von Jörg Trobitius. München – Wien 1990. 1063 B. Strauß: „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit“ ..., S. 41. 1064 Ebenda, S. 45. 1065 B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“ ..., S. 73. 361 kritischen Entlarvung lange Zeit Programm war“.1066 Genauso deutlich sind sie in dem als rechts bezeichneten Bestehen darauf, dass man selbst „inmitten der modernen, aufgeklärten Verhältnisse“1067 weder auf eine unaufgeklärte Vergangenheit, noch auf ein grundlegendes Missverständnis verzichten könne, wiewohl uns dessen Unumgänglichkeit nur die Kunst vor Augen führen könne.1068 Und schließlich sind Steiners Spuren darin auszumachen, was am stärksten missverstanden werden konnte: dass Strauß in Bezug auf den Holocaust vom tragischen Verhängnis spricht. Die von Steiner ausgehende Spur legt deutlich nahe, dass hier nicht die historische Faktizität des Holocaust bestritten, oder jenseits des Erklärbaren auf eine entlastende Art für ein tragisches Verhängnis erklärt wird, sondern vielmehr eine der möglichen Formen thematisiert wird, wie man sich im Jahre 1993 zu diesem historisch unumstrittenen Ereignis beziehen kann; ob man es politisch oder gesellschaftlich entsorgen, also „durch staatsbürgerliche Gedenkstunden“ abarbeiten kann, oder ihm mit dem Gefühl begegnet, die „Verbrechen der Nazis stehen zuletzt außerhalb der Ordnung des Politischen. Sie können nicht erinnert werden [...], ihre über das Menschenmaß hinausgehende Schuld [werde] nicht durch moralische Scham“1069 abgearbeitet, werde den Nachgeborenen zum Verhängnis „in der sakralen Dimension des Wortes, indem sie ihr geschichtliches und gesellschaftliches Leben auf Dauer entstellt.“1070 Strauß’ religiös aufgeladene Ästhetik des Erhabenen befürwortet unmissverständlich die zweite Variante. Dazwischen, wie Strauß das Deutschsein reflektierte, und den Kontexten, in die seine Argumente nicht selten geraten sind, scheint indes ein Zusammenhang zu bestehen. Dieser setzt sich daraus zusammen, dass es ihm nicht immer gelungen ist, seine Deutschheitskonzeption auszubalancieren. Indem er dann und wann der Suggestion der Schematismen und disjunktiven Oppositionen erlag, folgte er einigen der Sackgassen der nachkriegsdeutschen Reflexion des deutschen Problems. Dass er nicht selten Gruppen der Intellektuellen zu Seite gestellt wurde, mit denen ihn allenfalls Äußerlichkeiten verbinden, ist dennoch nicht nur auf seine mangelnde Bereitschaft zurückzuführen, sich deutlich abzugrenzen: Etwa zu sagen, dass er nicht zu Rechtskonservativen wie R. Zitelmann, G. Bergfleth oder U. Schacht gehöre, und darum nicht zulasse, dass sein Essay 1066 Ebenda. 1067 Ebenda, S. 62. 1068 „Das Mißverständliche wird um so mehr zum Privileg des Kunstwerkes, das Deutung fordert und nichts meint.“ B. Strauß: „Anschwellender Bocksgesang“ ..., S. 69. 1069 Ebenda, S. 73. 1070 Ebenda. 362 „Anschwellender Bocksgesang“ im Sammelband Selbstbewußte Nation1071 abgedruckt werde. Da er all dies unterlassen hat, tut man gut daran, in ihm nicht zwingend ein Opfer der bösen Interessen, Missverständnisse oder Desinterpretationen zu sehen. Von diesen Gemeinschaften wurde er auch deshalb eingemeindet, weil seine Texte vielen Lesern ermöglicht haben, sich auch beim Formulieren der Schlussfolgerungen auf Strauß berufen zu können, die aus seinem Werk nicht zwingend abzuleiten sind. So haben sich etwa die Herausgeber der Selbstbewußten Nation ausdrücklich auf Strauß’ Texte berufen, um feststellen zu können, dass „die Zeit deutscher Sonderwege tatsächlich vorbei“1072 sei. Anstatt dieses für die Jahre nach 1990 an sich nicht ungewöhnliche Argument auf sich beruhen zu lassen, münzten sie es zur Aufforderung um, die Deutschen müssen „den eigenen endlich wieder wagen“1073 können. Im Lichte der vorherigen Kapitel erscheint eine solche Aufforderung als ein klares Beispiel des ungenügend reflektierten Deutschseins, bei dem eine Form der deutschen Besonderheit für obsolet erklärt wird, um durch ihr spiegelbildverkehrtes Surrogat ersetzt zu werden. Ich bestehe darauf, dass eine solche Konklusion Strauß’ Werk zumindest insofern ausschließt, als es zwischen den radikalen Polen der Xenophobie und Xenophilie, Antisemitismus und Philosemitismus zu vermitteln sucht. Zugleich ist einzuräumen, dass er nicht nur in vielen Aspekten zu Einseitigkeiten tendierte (die Emanzipation sei freilich nicht absolut zu setzen, einzuschränken ist jedoch auch die künstliche Produktion des Tragischen), sondern auch die Idee des Erhabenen für ein recht massives Erziehungsprogramm funktionalisierte, das den Deutschen das elitär verstandene Vorbild des dichterischen Deutschseins vor Augen führte. 1071 H. Schwilk – U. Schacht (Hgg.): Die selbstbewusste Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte. Berlin 1994. 1072 Ebenda, S. 17. 1073 Ebenda, S. 17. 363 10 Nachwort Am Anfang dieses Buches steht ein Satz, der prägnant ausdrückt, was jedem zu schaffen macht, der die deutsche Ideengeschichte analysiert: Es sei nicht einfach, über Deutschland und Deutschheit zu reden. Freilich, es ist genauso schwierig, wie im Falle jeder anderen großen Idee. Deutschland und Deutschheit sind Ideen, die auf unterschiedliche, wohl auch einander widersprechende Art realisiert wurden; die jeweilige Art der Bewertung kann recht tückisch sein. Deshalb nimmt sich das vorliegende Buch nicht vor, zu überprüfen, inwieweit die Realisierung der Idee der Deutschheit den Menschen zuträglich wurde, die damit zu tun hatten. Dadurch hätte man sich auf ein weites Feld der Spekulationen über versäumte geschichtliche Möglichkeiten begeben, dem kaum zu entkommen wäre: „Wenn“ sich Deutschland in der Geschichte anders verwirklicht hätte, hätte die Frage nach der Deutschheit ganz andere Antworten gebracht. Da sich jedoch diese Idee auf eine konkrete Art verwirklicht hat, wurde sie zur Wirklichkeit, von der man auch dementsprechend wirklich reden kann. Über Deutschland zu reden ist nicht einfach, weil man über Ideen redet, die Geschichte geworden sind. Und weil die Geschichte Deutschlands mehr als einmal zur Geschichte Europas wurde, können die Deutschen kaum erwarten, dass ihre Deutschlandreden nur in Deutschland Gehör finden. Dies berechtigt dazu, die Deutschheit aus dem deutschen Selbstgespräch herauszunehmen, um sie aus einer Position heraus darzustellen, die man als Wirkungsgeschichte bezeichnet. Der lange nachkriegsdeutsche Weg von den Trümmern, von unbestraften SS- und Gestapooffizieren über die verlorene politische Selbstbestimmung bis zu ihrer Wiederfindung hatte zum großen Teil den Weg bedingt, den Europa nach dem Krieg eingeschlagen hat. In den meisten Deutschlandreden war immer, obwohl mit unterschiedlicher Offenheit, auch von Europa die Rede. Ist die Geschichte Deutschlands nicht nur Bestandteil, sondern auch Produkt der europäischen Geschichte, stellt die Zukunft Deutschlands einen der wichtigsten Rahmen des künftigen Europäertums dar. Deutschland ist für Europa zu wichtig, als dass man es nur sich selbst überlassen dürfte. In der Geschichte werden Ideen selten interesselos realisiert, meist stehen im Hintergrund Subjekte, die in diesen Realisierungen nur einen Vorwand für ihre Interessen sehen. So sehr niemandem, der über die Deutschheit redet, diese Interessen gleichgültig sein können, für den Umgang mit diesen Ideen, selbst wenn es ein missbrauchender wäre, trägt er somit keine direkte Verantwortung. Die hier durchgeführten Analysen haben jedoch gezeigt, dass zwischen einzelnen Deutschlandgedanken und den Formen, in denen sie im Nachkriegsdeutschland historisch realisiert 364 wurden, doch einige definierbare Zusammenhänge bestehen können. Zum Vorschein kamen sie, sobald sich deutsche intellektuelle Eliten von bewertenden ideologischen Schemata und deren Einseitigkeiten abzuwenden begannen, um nach anderen Denkmodi Ausschau zu halten. Das Neue an ihnen war eben, dass sie nun dem Diktat der lediglich zwei Varianten, also des Denkens im Sinne von „Entweder-oder“ haben entkommen wollen. Das Denken wird frei, sobald es bereit wird, zwei Alternativen auch noch weitere Varianten zur Seite zu stellen. Für die Deutschen war dieser Schritt zum Denken in Varianten beinahe ein mentalitätstransformierender; welche Traditionen das deutsche Denken auch immer absorbiert hatte, verpflichtet fühlte es sich nach wie vor dem Denken in Oppositionen. Aristoteles, der den logischen Satz vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) formulierte, könnte man in diesem Sinne für den ersten Deutschen halten. Und es hätte vor ihm wohl derselbe Dornenweg gelegen, den auch deutsche Literaten und Intellektuelle zurücklegen mussten, bis er ein anderes Prinzip auf die Waagschale gelegt hatte: das Prinzip der Isosthenie, das uns daran erinnert, dass eine alternative Entscheidung für eine von zwei Optionen zwangsläufig dazu führt, dass man für weitere Varianten blind wird. Das Prinzip der Isosthenie liegt dem Skeptizismus zugrunde, für den die zentralen deutschen geistesgeschichtlichen Traditionen in der Regel wenig Verständnis aufbrachten. In der skeptischen Motivation wurde weniger eine Kunst des reflexiv anspruchsvollen Zweifelns, als vielmehr bequeme Zweiflerei erblickt, bei der nur die Schwachen Zuflucht suchen. Die Vorstellung, dass genauso starke Argumente für eine Lösung wie gegen sie zu finden sind, war über lange Jahre unvereinbar mit Ansprüchen, denen das deutsche Denken, zumal das philosophische, gerecht werden wollte. Der erste und zugleich wichtigste Anspruch bestand darin, dem Menschen Grundsätze seines Denkens und Handelns zu geben; der deutsche Grundsatz (keine andere Philosophie kann es mit der deutschen in der Zahl der Grundsätze aufnehmen) stellt fest, wie es um die Sachen steht, wo deren Ursprung liegt, wie mit ihnen zu arbeiten und wann mit der dank dem Grundsatz erkannten Wirkung zu rechnen ist. Mit grundsätzlicher Philosophie geht meist eine grundsätzliche Kultur einher, in der nur grundsätzliche Menschen bestehen können. Die Tragödie des Nationalsozialismus ist von dieser Grundsätzlichkeit nicht zu trennen. Deutschland hat den Krieg verloren, und dadurch wurden die Wurzeln zerrissen, aus denen es gezehrt hatte; für alle „noch einmal Davongekommenen“ trat im Lichte der Tragödie deutlich zutage, dass vor Fall und Niederlage selbst die grundsätzlichsten Grundsätze nicht schützen können. Etwas Undenkbares ist eingetreten – zusammengebrochen ist das, was nie hätte zusammenbrechen dürfen: Eine nach Grundsätzen gebaute Welt, der klare Regeln, geschichtliche Gesetze zu- 365 grunde gelegen hatten, sowie eine Deutschheit, die keine anderen als „Entweder-oder-Varianten“ geduldet hatte. Die größte Herausforderung, vor deren grundsätzlichen Folgen deutsche Intellektuelle, Schriftsteller und Historiker gestellt wurden, bestand darin, akzeptieren zu lernen, dass man immer noch eine andere Option hat. Es war kein Problem des Willens, eher der Kenntnisse: In diesem Sinne zu denken waren die Deutschen nie ausgebildet worden. Dass man immer noch anders denken und handeln kann, erfuhren sie erst, sobald sie von den Alliierten daran gehindert wurden, weiter nach Grundsätzen zu leben und zu handeln. Aus allen nachkriegsdeutschen Deutschlandreden spricht eine kaum überhörbare Ratlosigkeit. Die Alternative Sieg oder Niederlage hat offensichtlich versagt; der Sieg ist ausgeblieben genauso wie die Ankunft des tausendjährigen Reiches. Die Niederlage stellte jedoch mehr Befreiung als Niederlage dar, mehr Anfang als Ende. Und falls sie einem Untergang gleichen soll, dann möge dieser insofern kein absoluter sein, als sich in ihm die Hoffnung offenbart, die nur im Augenblick des Untergangs hat entstehen können. Im Untergang eine Hoffnung zu erblicken ist freilich trostlos, doch hatte man keine andere Wahl. Für die Ratlosigkeit, die dies bei den Deutschen hervorgerufen hat, sollten wir Verständnis haben, da ihren Gegensatz in der damaligen Lage allenfalls ein politischer Extremismus hätte darstellen können. Dass die Deutschen aus der Nachkriegsausweglosigkeit nicht in den Extremismus zurückgefunden haben, mag erstaunen, bedenkt man, wie verführerisch eine solche Option gewirkt haben muss. Hätte man sich für sie entschieden, hätte man viel einfacher zur selbstbewussten Nation gelangen können, zumal das Selbstbewusstsein ein berühmter deutscher Grundsatz ist. Die im dunklen Ungewissen tastenden, verbitterten und frustrierten deutschen Intellektuellen wussten zum Glück den Streit um die Deutschheit in eine andere Richtung zu lenken: zu skeptisch unbestimmten, dichterisch undeutlichen, ambivalenten, kitschig tragischen, politisch elitären, einfältig solidarischen und vielen anderen Bildern der deutschen Zukunft, über die sie gestritten, sich gegenseitig angefeindet und skandalisiert haben, um den gesellschaftlichen Raum mit Reden und Texten zu füllen, die einander scharfe Spitze abgebrochen haben. Eben hier machte sich eine Wandlung bemerkbar, dank der sich die einzelnen Kontrahenten wohl unbewusst die Tür zur modernen Kultur des europäischen Denkens geöffnet haben. Es war die Wandlung von der hartnäckigen Grundsätzlichkeit hin zur alltäglichen Nüchternheit der Lebenspraxis ohne schicksalhafte Gesten. Die erwünschte Fähigkeit, sich selbst zu bezweifeln, pflegten sie sich zwar nicht selten mit dem typischen Heroismus anzueignen, ohne den die Nation der Dichter, Denker und Heerführer nicht zu denken war; allmählich machte dieser Heroismus jedoch der Ahnung Platz, zu sich selbst komme man als Nachkriegsdeutscher auch dann, wenn man auf seinen eigentümlichen 366 Anspruch in der Geschichte verzichte. So hat man also unter dem Schatten der Geschichte gelitten, doch man verlangte nach und nach von den anderen immer weniger, dass sie mitzuleiden haben; in diesem Sinne gleicht der nachkriegsdeutsche Weg der Deutschheit einem Weg zur deutschen Mündigkeit. Diese Wandlung scheint unbewusst und absichtslos angefangen zu haben. Zunächst ist deutlich, dass sowohl die ersten Nachkriegsreflexionen, das zögernde Kokettieren mit den Werten der westlichen Demokratie, wie auch die radikale Kritik der von Deutschland in den 1990er Jahren erreichten politischen und wirtschaftlichen Macht von der Überzeugung getragen waren, alles müsse vom Prinzip der deutschen Selbstbestimmung ausgehen. Darin äußerte sich der rechtsstaatliche Positivismus, der auf der Kontinuität des deutschen Nationalismus baute, um nahezulegen, die Zukunft Deutschlands sei schlichtweg Deutschlands Sache. Als B. Strauß im Jahre 1994 nach der bereits übermäßig angeschwollen Bocksgesangdebatte bemerkte, zur deutschen psychopathologischen Befangenheit könne sich nur äußern, wer selber betroffen sei, also innerhalb der Deutschlandsdebatten stehe, bestätigte er unter anderem, von welchem Irrtum sich die nachkriegsdeutsche Reinkarnation zunächst befreien musste. Von einer neuen Selbstbestimmung Deutschlands konnte keine Rede sein, geopolitische Interessen gingen nach dem Kriege ganz andere Wege. Der offensichtliche Widerspruch zwischen der politischen Realität und den literarischen Bildern geht aufs Konto der literarisch agierenden Intellektuellen, so sehr ihre Fehleinschätzung auf eine gewisse politologische Unkenntnis, ja gewisse Bildungslücken in der deutschen historischen Vernunft zurückzuführen sein mag. Gerade infolge dieser Unkenntnis haben sie sich Scheuklappen zugelegt, die ihre Sicht eingeschränkt, doch nicht dermaßen verzerrt haben, als dass sie dem nazistischen Regime und dessen Ordnung und Maximen nachtrauern, wie auch zu allen Ressentiments gegenüber anderen Nationen und Maßnahmen der Alliierten zurückfinden würden. Problematisch an der deutschen Bildung war vielmehr, dass gleich der erste Schritt der schwierigste war: die Unbezweifelbarkeit zu bezweifeln. Erst nachdem klar wurde, dass die neue Nachkriegsordnung wohl nur zu akzeptieren oder abzulehnen wäre, dass man jedoch keineswegs derjenige sei, auf dessen Entscheidung es ankomme, konnten erste Konturen des neuen Deutschheitsdenkens hervortreten. Im Gegensatz dazu stellen all die „altneuen“ Variationen der deutschen „Sonderwege“, in denen ja die Vorstellungen von historischer und kultureller Ausschließlichkeit und Besonderheit des Deutschseins fortwirkten, den letzten und recht fraglichen Versuch des nachkriegsdeutschen Denkens dar, definitiv zu sich zu finden. Jenseits von ihm regte sich indes der Sinn für Skepsis, die die Deutschheitsidee weniger von den Idealen der vermeintlichen Traditionen, denn als von gegebenen sozialpolitischen und 367 historischen Realien abhängig zu machen suchte: Ein starkes Deutschland, das seine Schritte selbständig setzen könnte, blieb den Deutschen verwehrt. Die hier analysierten Autoren tendieren allesamt zur literarischen Ästhetisierung Deutschlands. Das ist zumindest insofern nichts Ungewöhnliches, als diese Tendenz in der Regel in allen historischen Umbruchphasen auftauchte: Europäische Literatur der Zeit der Französischen Revolution, der Napoleonkriege oder des Ersten Weltkrieges ist an solchen Beispielen durchaus reich. Die deutsche intellektuelle Elite wusste allzu gut, dass man nicht zurückgehen wolle, einerseits zur deutschen Niederlage und andererseits zu den denazifizierenden und re-edukativen Praktiken der Alliierten. Den Willen zur Änderung hatte man gehabt; bezüglich ihres Inhalts war man sich dennoch nur darin einig, dass die nazistische Vergangenheit sich nicht wiederholen dürfe, während man jedoch darüber nicht vergessen dürfe, deutsche Traditionen seien nicht auf die Intentionen zu reduzieren, die zum Nationalsozialismus geführt hätten. Es ging nicht nur darum, in der Vergangenheit einen bunten Teppich zu erkennen; es ging genauso sehr um die Zukunft Deutschlands, die recht lange einem Rätsel ohne Lösung ähnelte. Die Deutschen wollten es zweifellos lösen, am liebsten nach ihrem eigenen Willen. Die unternommenen Versuche rücken indes eher die Frage in den Vordergrund, ob man es überhaupt lösen konnte. Nicht dass es Autoren wie G. Grass, M. Walser oder K. Sontheimer an Mut und Überzeugung gefehlt hätte, eher lag das Problem auf dem Tisch, ob, oder wie die den Nationalsozialismus stützenden Traditionen aus dem gesamten Kontext der Deutschheit herauszupräparieren wären. Man war eher der Meinung, es sei machbar: Manche haben sehr fein wie Chirurgen gearbeitet, andere eher wie Metzger. So haben die Literaten selbst einsehen können, dass literarische Reden kaum die erwünschte Wirkung erzielen können, weil Politik nicht durch Literatur zu ersetzen sei. Die Kunst kann die gesellschaftliche Realität etwa in ein interessantes und lesbares Buch, oder in eine sterile Erinnerungscollage verwandeln, falls jedoch der Schriftsteller denkt, er könne die gesellschaftliche Realität auf eine künstlerisch unwiederholbare Art formieren, weil er Politik und politische Arbeit verabscheue, wird er seinen Streit verlieren, bevor dieser richtig angefangen hat. Auch diese Illusion mussten die Nachkriegsautoren abwerfen, und es war eine bittere Prozedur, an deren Anfang man noch die Hoffnung gehegt hatte, den Text der wahren Welt zu schreiben, um folglich zur ernüchterten Skepsis zu gelangen, die doch erst nach dem emanzipatorischen Aufschwung am Ende der 1960er Jahre und letztendlich nach 1990 eintraf. Politisch haben die Literaten versagt, was ja nur bedeutet, sie hätten sich als führende Kräfte des politischen Aufbaus der deutschen Gesellschaft nicht bewähren können. Enzensberger und Walser wussten sich relativ problemlos mit dem Scheitern 368 der Literarisierung von Vergangenheit und Zukunftserwartungen abfinden, Grass hoffte noch recht lange, dass das, Was gesagt werden muss, mit derselben Aufdringlichkeit zu erhören sei. Alle hier analysierte Autoren wussten: Solle die Erneuerung Deutschlands diesem auch internationale Anerkennung bringen, müsse dieses Land eine neue und akzeptable Identität gewinnen. Es gibt nur wenige so vage formulierte Wörter wie das Wort „Identität“, zumal es sich meist solange selbstverständlich wähnt, bis man feststellt, dass man es kaum festlegen kann. Jede Deutschlandrede hatte sich daran gerieben, dass es kaum möglich ist, diesem Land eine klare und verständliche Idee der Deutschheit anzubieten, mit der man sich identifizieren könnte. In jeder Phase gab es Krisen, die die jeweiligen Widersprüche vertieft haben, oder neue haben entstehen lassen. Diese Erfahrung machte jeder der hier präsentierten Literaten, als er mit den nicht selten unbarmherzigen, ja tückischen Reaktionen, die seine Texte hervorgerufen hatten, konfrontiert wurde. Mit ihnen musste man klar kommen, um den komplizierten Prozess nicht zu bedrohen, in dem sich Deutschland darum bemühte, sich selbst zu verstehen: Deutschland konnte sich kaum verstehen, da es sich zwangsläufig mit den Schrecken identifizieren müsste, die es geboren hatte. Zugleich war es unumgänglich, sich um das reflektierte Selbstverständnis zu bemühen, weil es sich sonst mit diesen Schrecken wohl wieder unreflektiert identifiziert hätte. All die Nachkriegsjahre lag es an den Literaten, diese Hypothek abzuarbeiten, um ihre drohende Wirkung zu minimalisieren. Was machte das Besondere an deren Position aus? Sie hatten in einer prinzipiell vertrauenslosen Situation ein Verhältnis des Vertrauens zu bilden; etwa sprach Enzensberger von der Notwendigkeit dessen, was eben unmöglich sei. Man strebte also eine persönliche, subjektive Autonomie an, wo Scham und Zweifel vorherrschend waren, man forderte die Landsleute zur Eigeninitiative auf, obwohl man schuldbelastet war. Man animierte zum Selbstvertrauen, und sprach dabei zu Frustrierten und unter Minderwertigkeitskomplexen Leidenden. Man verlangte eine persönliche und nationale Integrität, und man musste zuschauen, wie diese Forderungen an Verzweiflung abprallen, durch die man in die literarische Isolation getrieben wurde. Wie konnte man in solcher Lage bestimmen, wann die intellektuelle Aktivität die Deutschen noch zur Erneuerung des gemeinsamen Raumes ermuntert, und wann sie nur Chaos und Verzweiflung vertieft? Wie die vorliegenden Analysen der Deutschlandreden angedeutet haben, ließ sich überhaupt nichts vorhersagen, ja riefen die Texte oft unerwartete Reaktionen hervor, wenn sie nicht gleich missverstanden wurden. Die Genugtuung, die etwa G. Grass mit seiner Autobiographie allen gegeben hatte, die sich von ihm schlichtweg abwenden konnten, verfehlt den Zusammenhang, in den man Grass’ Texte einzubetten hat, wenn man sie 369 nicht missverstehen will. Jede andere Lesart stellt eher eine willkommene Gelegenheit dar, durch den Hinweis auf die Schwächen der anderen von seinen eigenen abzulenken. Die deutsche Nachkriegsidentität verfügte über keinerlei Möglichkeiten, unterschiedliche Varianten der Erneuerung zu verwirklichen. Es mangelte ihr an Kraft, nach den Gründen für diese Erneuerung zu suchen, deshalb konnte sie sich nicht dabei helfen, die Idee Deutschlands zu stabilisieren. Erneuerung, Legitimierung und Stabilität: an diesen drei miteinander verbundenen Elementen hat sich subjektive und psychosoziale Identität stets zu orientieren. Die Grundlage bildet darin die Narrativität; Identität ist nur denkbar, wo es eine autonarrative Mitteilung gibt, wo sich also einzelne Subjekte mittels Narration verstehen, einander ihr Selbstverständnis vorlegen, um den Faden ihrer Narration ins gemeinsame Gewebe der Kultur einzuweben, mit der man sich folglich zu identifizieren hat. Das Nachkriegsdeutschland war alles, nur nicht dieses Gewebe. Es hatte jedoch das Glück, einige Weber gefunden zu haben, die die zerfaserten Fäden der Deutschheit in neue Narrationen der deutschen Identität zusammenzuführen wussten. In dieser Hinsicht ist das moderne Deutschland seinen Literaten, Essayisten, Kommentatoren, Dramatikern und Dichtern wohl zu mehr verpflichtet, als man glaubt. In der Nachkriegsgeschichte Deutschlands stehen zwar fettgeschrieben Ereignisse wie Wirtschaftswunder, Währungsreform, oder Ikonen wie die starke D-Mark. Daneben werden jedoch in der Krankengeschichte desselben Deutschlands Diagnosen verzeichnet, gegen die wohl der Marschallplan oder die Kreditwirtschaft machtlos waren; hier kamen Symptome zum Vorschein, für die der Ökonomismus keine Sensoren hat. Eben diese Symptome wurden von der deutschen literarischen Elite nicht übersehen, ja sie wurden scharfsichtig registriert, weshalb man gerade ihr dafür dankbar sein muss, dass man das heutige Deutschland als einen Mitschöpfer des Europäertums anzuerkennen bereit ist. Trotz aller Widersprüchlichkeit der hier skizzierten Versuche, der Deutschheit reflexiv beizukommen, sei mit Nachdruck auf ihre Grenze hingewiesen. Diese stellt keineswegs die Skepsis, zu der die Literaten tendierten, noch der Relativismus bezüglich der deutschen Authentizität dar, weil die Authentizität immer nur in Relationen denkbar ist. Schon gar nicht ist es die problematische Selbstidentifizierung der Deutschen, in der das historische Großmachterlebnis mit dem der Nachkriegsohnmacht eine fragliche Verbindung eingeht. Vielmehr ist diese Grenze in der strikten Ablehnung der Vorstellung zu sehen, das Denken werde frei, sobald es sich vom Denken der deutschen nationalsozialistischen Tragödie emanzipiere. Dies würde keineswegs von Freiheit, vielmehr von Vergesslichkeit zeugen. Denn was wäre von der Überzeugung zu erwarten, dass das nazistische Deutschland durch die Maschen des Vergessens hindurch- 370 fällt, verstummt, ja unter anderen Imaginationen verschwindet? Soll zur Idee der Deutschheit auch ihre Freiheit gehören, muss das Bild Deutschlands vollständig sein. Texte der deutschen Literaten zeigen, dass die nachkriegsdeutsche Deutschheit eher einer Hülle gleicht, die zu durchbrechen, um die erwünschte Freiheit des Denkens zu erreichen, nicht unbedingt wünschenswert ist. Es sei nicht auszuschließen, dass eben die darin zum Vorschein gekommene Skepsis an die Weisheit erinnert, die einem erst mit der nötigen Lebenserfahrung zukommt, darum also nicht jederzeit abrufbar ist. Grass, Walser, Enzensberger, Strauß; ihnen allen bot die literarische Sprache, genauer gesagt die Literatur im Sinne der Kontinuität der Überlieferung, das einzig mögliche Medium, in dem man über die Deutschheit reden kann. Für alle vier, obzwar im unterschiedlichem Maße, wird die Literatur insofern zum Wert, als sie Kontinuität verkörpert und verbürgt, ja zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittelt. In den analysierten Texten überwiegen Bilder, die von Skepsis zu jedweden Umbrüchen und revolutionären Änderungsmomenten zeugen, in denen, so glaubt man gerne, etwas Neues, aus Bisherigem Unableitbares entstehe. Bereits dadurch entsprechen diese Autoren kaum der Vorstellung von „typischen“ modernen Nachkriegsautoren, die sich keine Gelegenheit entgehen lassen, von Neuem und radikal anders zu beginnen, weil ja jeder Beginn besser sei als das Alte, und daher immer diejenigen im Rechte seien, die sich vorne, also avant gruppieren würden. Ich denke, dass ihre Absage an diese nachkriegsdeutsche „Avantgardeform“ auch die Erfahrung herbeigeführt haben mag, die alle Deutsche durchgemacht haben, die unter Hitlers Schatten aufgewachsen waren. Die Aufarbeitung der heiklen Generationsprägung, bei der neben den Kriegsjahren insbesondere die ersten Nachkriegsjahre und die Jahre der Studentenrevolte die Schlüsselrolle gespielt haben, hatte bei ihnen unter anderem zur Folge, dass sie meist immun geblieben sind gegen die Versprechungen der Avantgarden. Stattdessen schützten sie die Vergangenheit vor jeglichem Missbrauch und wiesen auf eine nur bedingte Gültigkeit aller radikalen Brüche, Zäsuren wie auch der mit revolutionärem Pathos proklamierten Änderungen der Studentenrevolte hin. Demonstrieren lässt sich dies etwa an B. Strauß, der intellektuell während und mit den Idealen der Studentenrevolte aufgewachsen war, doch bereits in den 1990er Jahren als Autor und Denker in die Rolle des Kopisten hineinwuchs, der allenfalls wiederholen könne, was vor ihm geschrieben und gedacht worden wäre, somit auf die Hoffnung zu verzichten habe, er könne den Beginn der Sachen finden oder selber setzen. Parallel dazu wurde hier belegt, dass alle hier analysierten Autoren sich von der bipolaren Interpretation von Gesellschaft und Geschichte abzuwenden suchten, dieser Prozess scheint jedoch von den politischen 371 Ereignissen weniger bedingt zu sein, als man in der Kulturgeschichte der Bundesrepublik allgemein glaubt. Das Jahr 1990 spielte in deren intellektuellen Entwicklung keine große Rolle, stellte jedenfalls keinen Einschnitt dar; der Zusammenbruch des Ostblocks und seiner linken Ideologie konnten am Denken und Schreiben dieser Autoren insofern nicht viel ändern, als es im Jahre 1990 dafür entweder zu spät (Enzensberger, Walser und Strauß) oder zu früh war (Grass). Somit wurde die Annahme bestätigt, dass diese zeitlich unterschiedliche Abwendung von der bipolaren Welterklärung kaum zu erklären ist, ohne dass man berücksichtigt, wie die nachkriegsdeutschen Möglichkeiten der Deutschheit jenseits der Literatur erwogen wurden, also in der Geschichtswissenschaft, Politologie und Philosophie. Die mehrmals festgestellte Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Intellektuellen mag, abgesehen von deren beruflichen Orientierung, unter anderem auch dem gemeinsamen Generationszusammenhang zugeschreiben werden; dieser Zusammenhang eignet sich in meinen Augen kaum dazu, eine einheitliche Determinierung aller zu einem Generationszusammenhang gehörenden Autoren zu postulieren. Das Anliegen dieser Arbeit ist vielmehr, in einzelnen Texten und deren Kritiken die Rolle der unterschiedlichen Ansprüche, Stilisierungen, Bilder und Erwartungen zu erörtern, die man bei einer bestimmten Generation antrifft. Die Idee, den einzelnen Generationssemantiken, sprich der Art, wie man sich selbst oder jemanden anderen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation interpretiert, nachzugehen, ist zum großen Teil davon motiviert, wie unzureichend das Bild der sogenannten Skeptischen Generation konstruiert wird, dem man in der einschlägigen Literatur begegnet. Daher der in dieser Arbeit untersuchte Verdacht, Relationen zwischen den einzelnen das Nachkriegsdeutschland prägenden Generationen (Autoren, die um 1910, 1927 und 1940 geboren wurden) seien ambivalenter und zugleich ineinander verwickelter, als es die geschlossene Auffassung der Generation nahelegt, die die Abfolge der Generationen als einen ausschließlich aufgrund der Negation sich vollziehenden Generationswechsel versteht. Auch die Literaten waren bestrebt, diesem Schematismus zu entkommen; wo es ihnen gelang, fanden sie viel besser den Weg aus der Sackgasse, in der die Deutschlandreden nicht selten gelandet sind. Die durchgeführten Analysen geben den Leitfaden an die Hand, an dem man aufgrund der Thematisierung der Deutschheit die Relationen innerhalb der nachkriegsdeutschen Literatur neu strukturieren könnte. Es werden tradierte und in oben genanntem Sinne unzureichende Vorstellungen präzisiert, die der Geschichte der nachkriegsdeutschen Literatur eine von geschlossenen ideologischen und historisch-politischen Gesichtspunkten abgeleitete Struktur zugrunde legen. Dieser Teil der deutschen Literaturgeschichte ist kaum auf eine solche Struktur zu reduzieren; würde man auch andere Strukturen in Betracht ziehen, wie es in der vorgelegten Ar- 372 beit ausprobiert wurde, könnte er neue, bisher unbeschriebene Geheimnisse preisgeben. Sosehr dabei neue und unerwartete Befunde zutage treten können, eins wird sich wohl kaum ändern: Es bleibt nach wie vor schwierig, über Deutschland zu schreiben. 373 11. Bibliografie1074 Abusch, Alexander: Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte. Mexiko 1945. Ächtler, Norbert: Generation in Kesseln. Das soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960. Göttingen 2013. Ackermann, Ulrike: Sündenfall der Intellektuellen. 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