BOLZANOS SCHÖNERE WELT, ODER: DIE GEBURT DER UTOPIE AUS DEM SYSTEMATISCHEN DENKEN Otto Neumaier Wer mit Bolzanos Philosophie vertraut ist, erwartet bei der Rede von einer Utopie wohl am ehesten, dass sein »Büchlein vom besten Staate« Gegenstand der Diskussion ist.1 Tatsächlich können wir in diesem Werk utopisches Denken im Sinne des Entwurfs einer idealen Gesellschaft finden, die de facto in keinem Land der Welt existiert, aber unter bestimmten Bedingungen vielleicht verwirklicht werden könnte.2 Allerdings müssen wir einerseits bedenken, dass der Utopie »Vom besten Staate« eine moralische Haltung zugrunde liegt, die mit anders ausgerichteten utopischen Überlegungen in Konflikt geraten kann, andererseits aber, dass das Utopische für Bolzanos Denken auch in anderem Sinne von Bedeutung ist, nämlich dem des theoretischen Bemühens um die Feststellung oder Bestimmung eines idealen Begriffs von etwas, das uns nicht nur ein besseres Verständnis davon erlaubt, sondern auch die Möglichkeit eröffnet, praktisch im Sinne der Suche nach einer »besseren Welt« zu wirken. 1 Bolzano schrieb am Büchlein vom besten Staate, oder Gedanken eines Menschenfreundes über die zweckmäßigste Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft über etliche Jahre: Eine erste Fassung lag 1831 vor, die endgültige Fassung entstand zwischen 1840 und 1846, wurde aber erst 1932 als Band 3 der Schriften Bolzanos veröffentlicht; die maßgebliche Ausgabe von Jaromír Loužil erschien in: Bernard Bolzano, Sozialphilosophische Schriften, hg. von Jan Berg und Jaromír Loužil (BGA, Reihe II A, Bd. 14}, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1975, 7-144. 2 Vgl. zu diesen (und einigen anderen] Verwendungsweisen der Ausdrücke >Utopie< und >utopisch< etwa Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23., erw. Aufl., bearb. von Elmar Seebold, Berlin-New York: de Gruyter, 1999, 851 (s.v. >Utopie<), sowie das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (die relevantesten Eintrage sind zu finden unter: www.dwds.de/?kompakt=l&sh=l&qu=utopie/ www.dwds.de/?kompakt=l&sh=l&qu=utopisch/). 1. Philosophieren im Geiste Bolzanos Bolzanos philosophischer Ansatz ist insofern utopisch, als für ihn der Umstand, dass etwas mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht vereinbar [und die Vorstellung von Alternativen dazu als undurchführbar] erscheint, noch lange kein Grund ist, darüber nicht ernsthaft nachzudenken. Seine Fähigkeit zum systematischen Denken versetzte Bolzano dabei in die Lage, zu durchaus überraschenden und zu seiner Zeit tatsächlich kaum vorstellbaren Annahmen zu gelangen -ganz im Sinne des von Isokrates stammenden Mottos seiner allerersten Veröffentlichung von 1804: »Wir wissen, daß die Fortschritte in den Künsten und in allem anderen nicht durch die bewirkt werden, welche bei dem Bestehenden bleiben, sondern durch die, welche es verbessern und immer etwas umzustürzen wagen, was noch nicht recht ist.«3 Bernard Bolzano verstand sein Philosophieren nicht nur im moralischen oder sozialen Sinne als Beitrag zur Schaffung einer »besseren Welt«, sondern auch im theoretischen. In seinen Augen sind diese beiden Aspekte sogar notwendig miteinander verknüpft. Eine Möglichkeit, dies zu erkennen, bietet Bolzanos Vorstellung von Philosophie. Ausgehend von der Beobachtung, dass einerseits auch und gerade unter Philosophierenden umstritten ist, was unter Philosophie verstanden werden soll, dass andererseits aber wohl nicht alles als Philosophie anzusehen ist, bestimmt Bolzano jegliches Philosophieren als »ein Nachdenken, das [...] auf die Findung neuer Wahrheiten gerichtet« ist, und zwar von grundlegenden Wahrheiten. Philosophieren ist also »ein Nachdenken über Gründe und Ursachen, Folgen oder Wirkungen«, wozu Bolzano auch »die Erörterung der Bestandteile, 3 Vgl. Bernard Bolzano, Betrachtungen über einige Gegenstände der Elementargeometrie, Prag: Barth, 1804, abgedr. in: Bernard Bolzano, Geometrische Arbeiten, hg. von Jan Vojtěch [Schriften, 5], Prag: Královská Česká Společnost Nauk, 1948, 5-49, hier: 5. Das von Bolzano auf Griechisch wiedergegebene Motto wird hier zitiert nach: Isokrates, Evagoras, in: Isokrates, Werke, übers, von Adolph Heinrich Christian, Bd. 1, Stuttgart: Metzler, 1832, 97-136, hier: 111. aus denen ein in unserm Bewußtsein gegebener Begriff zusammengesetzt ist, und die Erforschung der Vordersätze, aus welchen wir uns selbst unbewußt ein Urteil ableiten, zählt«. In diesem Sinn philosophieren alle, die »über den objektiven Zusammenhang zwischen den Wahrheiten an sich oder auch zwischen den Dingen, die uns die Wirklichkeit darbietet, nachdenken«. Dementsprechend betont Bolzano: »Philosophiert muß also über [jede] und in jeder Wissenschaft werden.« Und es ist nicht nur eine bestimmte Personengruppe, die der Philosophen, die versucht, solche grundlegende Wahrheiten zu finden; vielmehr philosophiert jeder Mensch, der sich damit beschäftigt: »Wenn sich z.B. der Mathematiker die Frage vorlegt, nicht ob, sondern warum die Gerade unter allen zwischen denselben Grenzpunkten liegenden Linien immer die kürzeste sei: sofort erklären wir, daß er zu philosophieren beginne.«4 Bolzano weist damit auf jene Sicht von Philosophie voraus, wie sie im 20. Jahrhundert vor allem von den Mitgliedern und Nachfolgern des »Wiener Kreises« gepflegt wurde und wird, in deren Augen die Philosophie nicht mit den sich ausdifferenzierenden empirischen Wissenschaften beim Versuch konkurriert, bestimmte Gegebenheiten zu erklären, sondern auf andere Weise mit dem jeweiligen Stand der Bemühungen von Menschen verbunden ist, sich selbst und die Welt, in der sie leben, zu verstehen. Otto Neurath spricht mit Bezug darauf von einer »Orchestrierung der Wissenschaften«5; dieses Bild legt nahe, dass seine Rede von einer »Einheitswissenschaft« (d.h. vom einheitlichen Anspruch empirischer Überprüfbarkeit für wissenschaftliche Aussagen) nicht die Annahme einer einzigen Wissenschaft bedeutet, die einen solchen Anspruch erfüllt, geschweige denn den Ausschluss der Philosophie aus dem »Orchester der Wissenschaften«. 4 Bernard Bolzano, Was ist Philosophie? In: Bernard Bolzano, Philosophische Texte, hg. von Ursula Neemann, Stuttgart: Reclam, 1984, 21-49, hier: 25f. (Orig. 1849]. 5 Vgl. Otto Neurath, Die Orchestrierung der Wissenschaften durch den Enzyklo-pädismus des Logischen Empirismus, übers, von Hans Georg Zilian, in: Otto Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. 2, hg. von Rudolf Haller und Heiner Rütte. Wien: hpt, 1981, 997-1009 (Orig. 1946). Vielmehr bezieht Neurath den Ausdruck >Wissenschaft< auf das gesamte komplexe »Orchester« wissenschaftlicher Bemühungen um eine Erkenntnis der Welt, in dem auch die Philosophie ihren Part spielt. Diesen Überlegungen zufolge hat die Philosophie zwar »Sitz und Stimme« im »Orchester der Wissenschaften«, doch ist sie nicht eine Wissenschaft unter anderen, die so wie diese Behauptungen über die Welt aufstellt. Es ist also nicht Aufgabe von philosophisch Tätigen, ihre eigene, »philosophische« (von empirischen Erkenntnissen unabhängige] Theorie über einen bestimmten Gegenstandsbereich zu entwickeln; der Gewinn von Erkenntnissen ist vielmehr eine Angelegenheit empirischer Wissenschaften, aber nicht der Philosophie. Daraus folgt allerdings nicht, dass es philosophisch nichts zu sagen gäbe, was nicht bereits durch die empirischen Wissenschaften gesagt worden wäre. Ganz im Gegenteil ist gerade unter Voraussetzung des von Neurath vertretenen Wissenschaftsideals das »Orchester der Wissenschaften« nicht auf die Stimmen der empirischen Wissenschaften beschränkt; vielmehr steht auch den philosophisch Tätigen eine Reihe von Möglichkeiten offen, darin mitzuspielen, und zwar, indem sie im Sinne von Bolzano versuchen, neue, grundlegende Wahrheiten zu finden. Bolzanos Vorstellung vom Philosophieren als einer Tätigkeit, die im Rahmen der Wissenschaften auf das Finden neuer, grundlegender Wahrheiten gerichtet ist, entspricht nicht dem Bild des modernen Orchesters, das wegen der Komplexität der aufzuführenden Werke eines Dirigenten bedarf. Es wäre nicht nur anmaßend, den Philosophierenden just diese Rolle zuzuschreiben (während andererseits auch allzu bescheidene Rollenzuweisungen denkbar sind, etwa jene des Triangels); vielmehr wäre dies auch irreführend, denn die Suche der Philosophie nach Antworten auf die für die Wissenschaften grundlegenden Fragen entspricht eher der Rolle der Generalbassinstrumente in einem barocken Orchester; in Analogie zu diesen wird durch philosophische Tätigkeit also so etwas wie die »harmonische« Grundlage der wissenschaftlichen »Motivbildung« und »melodischen« Entwicklung geliefert. Zur Schaffung jener Grundlage, auf der die Wissenschaften ihre Theoriegebäude sicher aufbauen können, gehört in Bolzanos Augen auch die Klärung von Begriffen und Vorstellungen, worin Moritz Schlick letztlich die Aufgabe der Philosophie sieht.6 Aus Bolzanos verschiedenen Schriften können wir jedoch schließen, dass sich die philosophische Suche nach neuen, grundlegenden Wahrheiten nicht im Klären von Begriffen erschöpft, sondern dass dazu etwa auch folgende Tätigkeiten gehören: (i) Eine eminent wichtige philosophische Tätigkeit ist für Bolzano die systematische Behandlung von Problemen, d.h. der Versuch, mit möglichst wenigen Grundbegriffen und systematischen Unterscheidungen (sowie eventuell mit einer Reihe von Definitionen, Axiomen, Theoremen usw.] möglichst viel zu erklären - und dadurch auch neue, grundlegende Wahrheiten zu finden. Darin zeigt sich u.a., dass Bolzano wie viele seiner Zeitgenossen ein Systemphilosoph war, der danach strebte, seine grundlegenden theoretischen Überlegungen auf alle Wissensgebiete anzuwenden. Allerdings war Bolzano andererseits wohl mehr als seine Zeitgenossen ein systematischer und analytischer Philosoph; in dieser Hinsicht ist er weniger mit anderen »Weltweisen« seiner Zeit, sondern am ehesten mit Aristoteles vergleichbar. (ii] Neben der systematischen ist auch die systemische Betrachtung von Problemen eine wichtige philosophische Tätigkeit. Dazu gehört nicht zuletzt die Integration von Ergebnissen der in der Spezialisierung auseinander strebenden empirischen Wissenschaften, um so einen Gegenstandsbereich als ganzen zu erfassen bzw. zu überblicken. Indem dieser aus mehreren spezialisierten Perspektiven betrachtet wird, kann er in vielen Details genauer erfasst werden als bei einer undifferenzierten »ganzheitlichen« Sicht (wie sie jeweils ge- 6 Vgl. Moritz Schlick, Die Wende der Philosophie, in: Moritz Schlick, Gesammelte Aufsätze 1926-1936, Wien: Gerold, 1938, 31-39 (Orig. 1930). pflegt wird, ehe sich verschiedene, einem Gegenstandsbereich gewidmete Wissenschaften ausbilden); andererseits geht beim Blick auf die Einzelbilder die Übersicht über den Gegenstandsbereich als ganzen und den Zusammenhang seiner Elemente verloren. Darum ist Vermittlung bzw. Integration (d.h. eine aus Synthese erwachsende systemische und mithin in sekundärem Sinne ganzheitliche Sicht) notwendig. Wer sich darum bemüht, übt eine philosophische Tätigkeit aus, die den Bereich einzelner Disziplinen übersteigt bzw. Dinge betrifft, die mehreren oder gar allen davon gemeinsam sind. (iii) Zur philosophischen Wahrheitsfindung trägt im Sinne von Bolzano auch die Untersuchung der methodologischen, moralischen und anderen Normen sowie der Ziele bei, die den Wissenschaften zugrunde liegen. Wie Max Weber betont, wird danach in den Wissenschaften selbst nicht gefragt. So sei etwa die Aufgabe der Medizin die »Erhaltung des Lebens rein als solchen und der möglichen Verminderung des Leidens rein als solchen. [...] Ob das Leben lebenswert ist und wann? - danach fragt sie nicht.« Zwar sind die Fragen nach Sinn und Zweck sowie nach den Konsequenzen des Tuns keine Angelegenheit der empirischen Wissenschaften, doch sind sie (und die Antworten darauf) für deren Grundlagen überaus wichtig. Also ist es notwendig, sie zu stellen; wer dies tut, betreibt Philosophie - und kann den Wissenschaftstreibenden laut Weber helfen, »sich selbst Rechenschaß zu geben über den Sinn« ihres Tuns.7 Interessanterweise erwähnt Weber in diesem Zusammenhang nicht nur naturwissenschaftliche Disziplinen wie Medizin, Physik, Chemie oder Astronomie, sondern ausdrücklich auch die (empirische) Kunstwissenschaft: »Die Tatsache, daß es Kunstwerke gibt, ist der Ästhetik gegeben. Sie sucht zu ergründen, unter welchen Bedingungen dieser Sachverhalt vorliegt. Aber sie wirft die Frage nicht auf, ob das Reich der Kunst nicht vielleicht ein Reich diabolischer Herrlichkeit sei. [...] 7 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Max Weber, Schriften zur Wissenschaftslehre, hg. von Michael Sukale, Stuttgart: Reclam, 1991, 237-273, hier: 256f. (Orig. 1919). Danach also fragt sie nicht: ob es Kunstwerke geben solle.«8 Eine solche Frage zu stellen, ist laut Weber also eine philosophische Angelegenheit ebenso wie die Reflexion über den »Witz« ästhetischer Werturteile oder eine der anderen erwähnten Tätigkeiten, die letztlich alle der Klärung und mithin dazu dienen, die Grundlagen der Ästhetik als einer wissenschaftlichen Disziplin zu sichern, wie dies Bolzano in zwei Aufsätzen tatsächlich versucht.9 (iv) Wie das Motto der »Betrachtungen über einige Gegenstände der Elementargeometrie« zeigt, hielt Bolzano auch die »Erziehung« von Problemen für eine wichtige philosophische Tätigkeit, d.h. die immer wieder neu ansetzende Bearbeitung von Fragen, die noch »unreif« für die Untersuchung mit Methoden der empirischen Wissenschaften sind. In diesem Sinne gilt die Beschäftigung mit einem Problem so lange als philosophisch, bis dieses »reif« für die Behandlung durch eine empirische Theorie ist. Viele »klassische« Theorien (wie z.B. jene des Aristoteles über biologische und psychologische Zusammenhänge] sind in diesem Sinne philosophisch und stellten sich zu einem späteren Zeitpunkt, wenn das betreffende Problem durch »Erziehung« reif zu wissenschaftlicher Behandlung wurde, als verkappte empirische Theorien heraus. Durch philosophische Tätigkeiten werden demnach nicht Probleme endgültig gelöst, sondern die Grundlagen geschaffen, um sie schließlich lösen zu können. Sobald ein Problem (wissenschaftlich) gelöst werden kann, ist es - wie schon Bertrand Russell bemerkte - kein philosophisches mehr; vielmehr zeigt sich dann, dass es überhaupt kein philosophisches war 6 Ebd. Weber versteht unter Ästhetik dabei eine empirische Wissenschaft, 9 Vgl. Bernard Bolzano, Über den Begriff des Schönen. Eine philosophische Abhandlung, in: Bernard Bolzano, Untersuchungen zur Grundlegung der Ästhetik, hg. von Dietfried Gerhardus, Frankfurt/M.: Athenäum, 1972, 1-118 (Orig. 1843); Über die Einteilung der schönen Künste. Eine ästhetische Abhandlung, ebd., 119-173 (Orig. 1849). (sondern ein verkappt empirisches]. Das Problem ist dann »erwachsen« bzw. »reif« für die Behandlung mit anderen Methoden.10 (v) In Bolzanos Art des systematischen Philosophierens zeigt sich auch ein Merkmal der Suche nach grundlegenden Wahrheiten, das diese eher mit den Künsten als den Wissenschaften gemeinsam hat, nämlich das spielerische Erkunden von Möglichkeiten, das bis zu einem gewissen Grad frei von einem bestimmten Zweck ist. Wie Friedrich Schiller bemerkte, ist dies eine zutiefst menschliche Angelegenheit, denn der Mensch sei »nur da ganz Mensch, wo er spielt«, und umgekehrt gelte: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist«.11 Wie Schiller dazu weiter ausführt, wird der Spieltrieb »bestrebt sein, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet.«12 Mit anderen Worten trägt der Spieltrieb also nicht nur wesentlich zur Integration der Vielfalt menschlicher Anlagen und Erfahrungen bei; vielmehr setzt er auch Energien frei und ist mithin eine Grundlage von Kreativität. Wie Wittgenstein bemerkte, sind Philosophierende in dieser Hinsicht »wie kleine Kinder, die zuerst mit ihrem Bleistift beliebige Striche auf ein Papier kritzeln und dann den Erwachsenen fragen >was ist das?< - Das ging so zu: Der Erwachsene hatte dem Kind öfters etwas vorgezeichnet und gesagt: >das ist 10 Vgl. Bertrand Russell, Probleme der Philosophie, übers, von Erhard Bubser, 7. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978,136 [Orig. 1912). 11 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung der Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Friedrich Schiller, Erzählungen. Theoretische Schriften (Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 5), 9., durchges. Aufl., München: Hanser, 1993, 570-669, hier: 618 (15. Brief, Orig. 1795). 12 Ebd., 613 (14. Brief). Schillers Idee des Spiels wird von Bolzano, Über den Begriff des Schönen, a.a.O. (wie Anm. 9), 84ff. (§ 42), als zu vage kritisiert; für Bolzano ist »ein Spiel nur eine solche Tätigkeit«, die dazu dient, »uns die Langeweile zu vertreiben« (ebd., 85), während »vernünftige Menschen nur selten oder nie spielen« (ebd., 86). Dieser spezifische Sprachgebrauch schließt indes nicht aus, dass zur »Findung neuer Wahrheiten« auch das spielerische Erkunden von Möglichkeiten in anderem Sinne gehört. ein Mann<, >das ist ein Haus< u.s.w. Und nun macht das Kind auch Striche und fragt: was ist nun das?«13 Das spielerische Erkunden von Möglichkeiten ist mithin Ausdruck von Neugier und der Fähigkeit zum Staunen, die dem schöpferischen Tun von Menschen zugrunde liegt - nicht nur in ihrer Kindheit, sondern insbesondere auch dann, wenn sie sich diese (etwa als Künstler oder Philosophen) zeit ihres Lebens erhalten. Ein »schönes« Beispiel für einen solchen spielerischen Umgang mit theoretischen Phänomenen (wenn auch nicht im Sinne seiner eigenen Verwendung des Ausdrucks >Spiel<) bietet Bolzano, der bei der systematischen Suche danach, was an Künsten möglich ist, durch seine Neugier (und wohl zum eigenen Erstaunen) auch Künste entdeckte, an die weder er selbst noch sonst jemand bis dahin gedacht hatte14 und von denen bislang auch nur manche seit dem 20. Jahrhundert in der Kunstwelt verwirklicht wurden. 2. Das Finden neuer Wahrheiten und Künste durch systematisches Denken Bolzano sieht das Finden neuer, grundlegender Wahrheiten nicht nur programmatisch als Aufgabe der Philosophie, sondern er bemüht sich auch selbst mit seinem theoretischen und praktischen Wirken darum. So beschäftigt er sich in der Wissenschaftslehre, die eine »neue Darstellung der Logik« bieten soll, u.a. mit der »Erfindungskunst«, die er gegen Kants Einwände als Bestandteil der Logik betrachtet. Und zwar versteht er darunter einen »Inbegriff von Regeln, 13 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß, hg. von Georg Henrik von Wright unter Mitarb. von Heikki Nyman, Neubearb. des Textes von Alois Pichler, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994, 52f. (Bemerkung vom 27. Oktober 1931). 14 Durch seine »logische Klarheit und Voraussicht« erlaubt Bolzanos System von Künsten laut Sřeň, dass wir darin selbst »solche Kunstarten eingliedern«, die »Bolzano noch gar nicht kennen konnte«; vgl. Lubomír Sřeň, Bolzanos Beziehung zur Kunst, in: Lubomír Sřeň, Bildnisse Bolzanos (Bernard Bolzano-Gesamtausgabe, Reihe IV, Bd. 1], Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1986, 11-16, hier: llf. die bei der Erfindung neuer Wahrheiten zu beobachten sind. Dergleichen Regeln gibt es nun in der That; und wenn wir auch die meisten, ohne sie erst in Büchern kennen zu lernen, ja ohne uns ihrer nur deutlich bewußt zu seyn, befolgen; so dürfte ihre Sammlung dennoch nicht überflüßig seyn und wird [...] recht füglich in die Logik aufgenommen.«15 Freilich ist das philosophische Bemühen um »die Findung neuer Wahrheiten« nicht bloß auf die »Erfindungskunst«, d.h. die Heuristik, angewiesen. Wenn Bolzano vom Finden neuer Wahrheiten spricht, so meint er nämlich nicht nur deren Erfindung, sondern ebenso ihre Entdeckung,16 Und Bolzano geht noch einen Schritt weiter: Zwar liegt ihm in erster Linie an einem Nachdenken, bei dem zunächst »die Frage, deren Antwort man sucht, festgesetzt« wird, bei welchem also dem Finden neuer Wahrheiten die systematische Suche danach vorausgeht, doch schließt er damit nicht aus, »daß wir die glücklichsten Entdeckungen zufällig, d.h. bei einer Gelegenheit machen, da wir nichts weniger als auf sie ausgegangen« sind. Deshalb sollte man laut Bolzano »nie bloß darum, weil man so eben auf Entdeckungen einer 15 Bernard Bolzano, Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen undgrößtentheils neuen Darstellung der Logik, Bd. I, Sulzbach: Seidel, 1837, 40 (§ 9, 3. Anm.}; Neuausg. in der Bernard Bolzano-Gesamtausgabe, Reihe I, Bd. 11, 1. Teil, hg. von Jan Berg, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1985, 70. Zur Logik zählt Bolzano ebenso die Jatrik, die »Heilkunde des Verstandes«, die eine Menge von Regeln umfasst, »deren Beobachtung vor Irrthümern sichern kann«, und zudem betrachtet er die Logik gegen Kant als Organon, d.h. als Wissenschaft, »die anweiset, wie man bei der Bearbeitung einer jeden anderen Wissenschaft vorgehen solle« [ebd., 40f. bzw. 71). 16 Bolzano ist sich natürlich des Bedeutungsunterschieds der Ausdrücke >erfinden< und >entdecken< bewusst, doch gebraucht er »in Hinsicht auf Wahrheiten beide als gleichbedeutend«, und zwar aus folgendem Grunde: Wer »eine Wahrheit, welche ihm vorhin noch unbekannt war, zuerst erkannte, heißt mir sowohl der Entdecker als der Erfinder derselben. Das Eine ist passend, sofern die Wahrheit da ist, auch wenn sie Niemand erkannte; das Andere, sofern ihre Erkenntniß unter den Menschen erst mit demjenigen anfing, welchen wir eben deßhalb ihren Erfinder nennen.« Vgl. Bernard Bolzano, Wissenschaftslehre, a.a.O., Bd. III, 300, Anm. (§ 323); bzw. Bernard Bolzano-Gesamtausgabe, Reihe I, Bd. 13, 2. Teil, hg. von Jan Berg, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1990,120f., Anm. ganz anderen Art ausging, eine von selbst sich darbietende, bisher noch unbekannte Wahrheit verschmähen, d.h. ganz unbeachtet lassen, wenn sie doch überhaupt merkwürdig ist, oder das Aussehen hat, als ob sie zur Entdeckung anderer Wahrheiten, die merkwürdig sind, den Weg bahnen könnte.«17 Die mit der systematischen Wahrheitssuche einhergehende Möglichkeit, neue Wahrheiten [mitunter auch spielerisch] zu finden, ohne sie bewusst gesucht zu haben, wird von Bolzano nicht zuletzt auch in seinen Beiträgen zur Ästhetik genützt. Im Allgemeinen ist Bolzanos Zugang zu Kunst und Ästhetik dadurch geprägt, dass er wie kein anderer Philosoph bemüht war, die Grundlagen der Ästhetik zu sichern, und zwar dadurch, dass er die für diese Disziplin zentralen Begriffe des Schönen und der Kunst zu bestimmen und eine systematische Gliederung der schönen Künste durchzuführen versuchte. Von schönen Künsten spricht Bolzano dabei insofern, als es darum geht, künstlerisches Schaffen aus jener ästhetischen Perspektive zu betrachten, die er in seinem Aufsatz »Über den Begriff des Schönen« bestimmt hatte. Die Frage, welches Verhältnis Bolzano zu den Künsten hatte, ist dabei nicht eindeutig zu beantworten, allein schon deshalb, weil er sich zu diesem Thema unterschiedlich äußert: Zum einen erwähnt Bolzano am 29. August 1836 in einem Brief an seinen Schüler Michael Josef Fesl etwa den Plan, in die vom Reformkatholiken Benedikt Alois Pflanz herausgegebenen Freimüthigen Blätter über Theologie und Kirchenthum »nebst theologischen auch einige in die Philosophie, Ästhetik, Grammatik einschlagende Aufsätze einzurücken.«18 Nur wenige Wochen später, nämlich am 3. Oktober 1836, gesteht Bolzano jedoch Fesl in einem Brief, »daß er von Malerei >nicht das Geringste< versteht«. Aus " Ebd., 305f. (§ 325), bzw. 12Sf. 18 Bernard Bolzano, Wissenschaft und Religion im Vormärz. Der Briefwechsel mit Michael Josef Fesl 1822-1848, hg. von Eduard Winter und Wilhelm Zeil unter Mitarbeit von Liane Zeil, Berlin (DDR): Akademie, 1965, 163. Benedikt Alois Pflanz hatte 1836 Bolzano besucht; vgl. Dominik Burkard, Benedikt Alois Pflanz, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 7, Herzberg: Bautz, 1994, 423-427, hier: 424. dieser Äußerung schließt Hugo Bergmann, dass »unserem Autor die Fähigkeit« gefehlt habe, »in höherem Grade Freude an schönen Vorstellungen als solchen zu genießen.«19 Ein solcher Schluss ist indes nicht gerechtfertigt, selbst wenn jene Voraussetzung zutreffen sollte. Dass Bergmanns Urteil etwas voreilig sowie allzu allgemein ist, wird zudem nicht nur durch Bolzanos Beiträge zur Ästhetik belegt, sondern auch durch seine eigene dichterische Tätigkeit sowie dadurch, was er in seiner Lebensbeschreibung über die Beziehung zu Dichtung und Kunst in Kindheit und Jugend schreibt.20 Die Aufgabe, der sich Bolzano in seiner »Einteilung der schönen Künste« widmet, ist jedenfalls weniger von Vertrautheit mit Kunst geprägt als durch sein systematisches Denken.21 In gewissem Sinne 19 Hugo Bergmann, Das philosophische Werk Bernard Bolzanos, Halle/S.: Niemeyer, 1909, 114. Im bislang veröffentlichten (gekürzten) Briefwechsel fehlt diese »Selbstkritik«; vgl. Bernard Bolzano, Wissenschaft und Religion im Vormärz, a.a.O., 168f. Indes wird die Stelle auch von Sfen (seinen Angaben zufolge aus dem Manuskript) zitiert; vgl. Sren, Bolzanos Beziehung zur Kunst, a.a.O. (wie Anm. 14), 12. 20 Vgl. Bernard Bolzano, Lebensbeschreibung, Sulzbach: Seidel, 1836, 18; vgl. dazu auch Gregor Zeithammer, Biographie Bolzanos (Bernard Bolzano Gesamtausgabe, Reihe IV, Bd.2), hg. von Gerhard Zwerschke, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1997, 36, 41f., sowie Robert Zimmermann, Bolzano's Verhältniß zur Poesie. Eine Reliquie, in: Bohemia 22 (1849), Nr. 135-136, [3]-[4]. Zu Bolzanos Verhältnis zu den Künsten vgl. auch Otto Neumaier, »Der Liebling meines Herzens«. Bernard Bolzano und Friedrich Schiller, in: Siegrid Düll (Hg.), Götterfunken. Friedrich Schiller zwischen Antike und Moderne, Bd. 2: Begegnungen mit Schiller, Hildesheim: Olms, 2007, 203-218, bes. 204f. 21 Bei seiner »Einteilung der schönen Künste« stützt sich Bolzano weitgehend auf Wilhelm Hebenstreit, Wissenschaftlich-literarische Enzyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache, Wien: Gerold, 1843. Dieses in seiner Bibliothek enthaltene Werk wurde von Bolzano eingehend studiert. Davon zeugen etwa etliche Randbemerkungen; vgl. Jan Berg & Edgar Morscher (Hg.), Bernard Bolzanos Bibliothek, Teil II, Sankt Augustin: Academia, 2002, 187f. Bolzano übernimmt zudem aber auch explizit Hebenstreits [Enzyklopädie, a.a.O., XXIXf.) Unterscheidung von Künsten der äußeren und inneren Anschauung, die er freilich in seinem Sinne weiterentwickelt; vgl. Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O. (wie Anm. 9), 136 (§ 12). Inbesondere bezieht er von Hebenstreit aber seine Informationen über zeitgenössische Künste wie Kineorama, Fotografie oder Diorama - wobei er aus Hebenstreits Erwähnung der Namen lässt sich Bolzanos Ansatz als »rekombinatorische Ästhetik« bezeichnen, da er überlegt, was die einfachsten denkbaren Kunstformen sein könnten, um daraus dann verschiedene, zunehmend komplexe Arten von Kunst zu »basteln«. Die Bestimmung des Begriffs einer schönen Kunst erfordert laut Bolzano, »eine Übersicht von den gesamten Künsten, welche den Namen der schönen verdienen, zu liefern und den Begriff einer jeden gehörig festzustellen«. Zu diesem Zweck müssen wir laut Bolzano zunächst »einfache und zusammengesetzte Künste unterscheiden« und Kriterien dafür angeben, wann wir es mit einer einfachen bzw. zusammengesetzten Kunst zu tun haben. Bolzanos Vorschlag zufolge sind »nur solche Verrichtungen als zu einer einzigen Kunst gehörig anzusehen, die ihrer Natur nach nicht füglich getrennt, am wenigsten unter mehreren Individuen verteilt werden dürfen, zu welchen überdies die Anleitung in einem fortlaufenden Unterrichte erteilt werden muß, weil eines ohne das andere dabei entweder nicht verstanden oder nicht angewendet werden könnte«. Mit anderen Worten »gibt es so viele und so verschiedenartige einfache Künste, als viele und verschiedenartige Anleitungen zu einer künstlerischen Tätigkeit [...] getrennt, und wie selbständige Ganze bearbeitet werden können«.22 Ein Kriterium für die Einfachheit einer Kunst ist Bolzanos Vorschlag zufolge, dass ihr Träger »einfacher« Natur ist, d.h., wir haben es nur dann mit einer einfachen Kunst zu tun, wenn diese grundsätzlich von einem einzelnen Menschen ausgeübt werden kann; wenn für die Ausübung einer Kunst mehrere Menschen notwendig sind (oder wenn dafür mehrere Instrumente erforderlich sind, die ja prinzipiell >Daguerre< und >}ules Janin< fälschlich die Kunstformen »Daguerres und Janues« macht; vgl. dazu Hebenstreit, Enzyklopädie, a.a.O., 193, bzw. Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 160 (§ 33]. 22 Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 131 (§ 7], Dementsprechend unterscheidet Bolzano auch »so viele und so verschiedenartig zusammengesetzte Künste, als viele und verschiedenartige Anleitungen zu einer künstlerischen Tätigkeit [...] vereinigt werden, und erst in dieser Vereinigung sich als ein nützliches Ganze bezeugen können.« von verschiedenen Menschen verwendet werden können), so handelt es sich gemäß Bolzanos Kriterium um eine zusammengesetzte Kunst. Demzufolge sind nicht nur Theater, Film, Ballett, Tableaux vivants usw. zusammengesetzte Künste, sondern z.B. auch alle Formen von mehrstimmiger Musik, die nicht ein Mensch mittels eines Instruments erzeugen kann. Die singulare Trägerschaft allein genügt indes noch nicht, um die Einfachheit einer Kunst zu bestimmen. Vielmehr ist laut Bolzano für eine einfache Kunst zudem notwendig, dass sie durch eine einheitliche Anleitung gelehrt werden kann (wozu alles gehört, was für das vollständige Verständnis der fraglichen Kunst erforderlich ist, »weil eines ohne das andere dabei entweder nicht verstanden oder nicht angewendet werden könnte«). Diese Forderung ist so zu verstehen, dass Künste wie kleinste »selbständige Ganze bearbeitet werden können«; eine solche Selbständigkeit ist jedoch am ehesten dann gegeben, wenn sich die jeweilige Anleitung auf ein einziges Wahrnehmungs- bzw. Ausführungsorgan bezieht, d.h. dann, wenn auch die fragliche Kunst selbst im Wesentlichen ein Wahrnehmungsbzw. Ausführungsorgan betrifft. Tatsächlich spielt diese Überlegung für Bolzanos »Einteilung der schönen Künste« eine gewisse Rolle. Allerdings geht er dabei nur auf die Frage ein, inwiefern sich Künste durch Bezug auf die (äußeren oder inneren) Sinne (d.h. auf Organe, mit denen wir etwas sinnlich oder geistig erfassen) voneinander unterscheiden (lassen), jedoch nicht auf die Rolle von ausführenden Organen wie Mund, Händen oder Füßen. Bolzano nennt den Bezug auf einen Sinn indes auch nicht als Kriterium für die Einfachheit einer Kunst bzw. für die Klassifikation von Künsten, obwohl er bei seiner Übersicht der verschiedenen Künste in Anschluss an Hebenstreit sehr wohl von den jeweils beteiligten Sinnen ausgeht. Eine Möglichkeit, dies zu erklären, besteht in der Annahme, Bolzano habe die Einfachheit einer Kunst und der Anleitung dazu schlichtweg an die Bedingung geknüpft, dass dadurch jeweils ein Sinn affiziert wird, und dies habe ihm erlaubt, zunächst die Anleitung als Kriterium ins Spiel zu bringen, um sich danach (bei der Übersicht über die Künste) auf die einzelnen Sinne als das zu beziehen, was den Unterschied ausmacht. Freilich äußert sich Bolzano selbst nicht zu einem solchen Zusammenhang, weshalb die erwähnte Annahme (so naheliegend sie erscheinen mag) etwas spekulativ ist. Wenn eine Kunst zusammengesetzt ist, so liegt dies oft an einer Verbindung sinnlicher Momente mit gedanklichen Gegebenheiten. Ein naheliegender Weg, zu einfachen Künsten zu gelangen, ist demnach, von dieser Verbindung abzusehen. Und tatsächlich beginnt Bolzano seine Klassifikation der Künste damit, dass er Künste der äußeren Sinne (insbesondere für Auge und Ohr) von Künsten des bloßen Gedankens unterscheidet. Laut Bolzano muss jedes Kunstwerk (also das, was durch Kunst hervorgebracht wird) »etwas Wirkliches [...] sein, nicht aber braucht es ein in der äußeren Wirklichkeit bestehender Gegenstand zu sein, d.h. nicht eben ein Gegenstand, der mit den äußeren Sinnen wahrnehmbar ist. Denn auch unter den Hervorbringungen, die an sich genommen bloße Vorgänge in unserem Innern sind«, werden viele »als Kunstwerke angesehen«.23 Dabei ist auch zu bedenken, dass alle »Kunstwerke, welche in einem Gegenstande der äußeren Wirklichkeit bestehen, von ihrem Urheber, durch seine freie und absichtliche Tätigkeit unmöglich hervorgebracht werden könnten, wenn er in seinem Innern nicht erst eine sehr ausführliche Vorstellung von diesem Gegenstande zu erzeugen vermöchte. Und eben hierin, in der Erzeugung dieser Vorstellungen besteht [...] gewiß ein großer, zuweilen in der Tat der größte Teil seiner Kunst. Diese Vorstellung ist [...] schon an sich selbst ein Kunstwerk, bei dessen Hervorbringung der Künstler gar manche Regeln, mit mehr oder weniger deutlichem Bewußtsein befolgt.«24 Die Annahme, dass als einfachste Form von Kunst, die wir uns vorstellen können, die Kunst der bloßen Vorstellung anzusehen ist, ergibt sich zwingend aus Bolzanos Begriff von Kunst. Bolzano versteht nämlich unter schöner Kunst die Fähigkeit eines Menschen, 23 Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 134 (§ 11). 24 Ebd., 136 (§ 12). »gewisse dem Begriffe des Schönen unterstehende Gegenstände durch seine freie und absichtliche Tätigkeit auf die Art zu erzeugen, daß ihre schönen Beschaffenheiten eben die Folge seines zu diesem Zwecke gerade so und nicht anders eingerichteten Verfahrens bei ihrer Hervorbringung waren. Sie, diese Gegenstände selbst, nennen wir die (mehr oder weniger vollkommenen] Werke der schönen Kunst oder Kunstwerke.«25 Die Fähigkeit, etwas frei und absichtlich zu schaffen, das bestimmte ästhetische Merkmale aufweist, ist nun aber klarerweise im »Innern« eines Menschen zu suchen; sinnlich wahrnehmbare Werke sind allenfalls äußere Zeichen für seine Kunst. Das Werk, das aus jemandes Kunst hervorgeht, muss laut Bolzano jedoch nicht unbedingt in der »äußeren Wirklichkeit« bestehen, sondern es kann auch ein Vorgang in seinem Inneren sein. Die »reinste« bzw. einfachste Form der Ausübung einer Kunst liegt folglich dann vor, wenn dadurch etwas entsteht, das nur im Bewusstsein eines Menschen existiert. Ähnliches gilt auch für »Kunstwerke, welche in einem Gegenstande der äußeren Wirklichkeit bestehen«, d.h., für diese ist laut Bolzano genauso notwendig, dass ihr Urheber »in seinem Innern [...] eine sehr ausführliche Vorstellung von diesem Gegenstande« schafft, die selbst als Kunstwerk angesehen werden kann; in Bolzanos Sinne gibt es faktisch also gar keine einfache Kunst für einen äußeren Sinn, da (mit Ausnahme von spontanem Zeichnen, Tanzen oder Singen] stets Gedanken damit verknüpft sind. Bolzano ist anscheinend der erste und bislang einzige Theoretiker, der die Möglichkeit einer Kunst annimmt, deren Werke ausschließlich im Geiste eines Menschen existieren.26 Zwar bestimmen auch andere 25 Ebd., 123 [§ 2). 26 Bolzano (ebd., 136) erwähnt zwar, dass bereits Hebenstreit »sich dieser Ansicht bemächtigt« habe, doch geht es diesem um einen anderen (von Bolzano ebenfalls erkannten) Punkt, nämlich dass »das musikalische Kunstwerk [...] so wenig, wie die dramatische Dichtung, in der Aufführung [besteht], sondern in der Composition« -diese kann indes sehr wohl ein sinnlich konzipiertes (und in einer wahrnehmbaren Partitur notiertes) Werk sein; vgl. Hebenstreit, Enzyklopädie, a.a.O. (wie Anm. 21), 543. Philosophen den »geistigen Gehalt« als das, was viele Gegenstände zu Kunst-Werken macht, doch geht es diesen Autoren gewöhnlich »nur« darum, dass die Kunst an solchen Werken in der sinnlichen Vergegenwärtigung des geistigen Gehalts bestehe, d.h. darin, dass der Künstler das Geistige in den sinnlich wahrnehmbaren ästhetischen Merkmalen des Werks adäquat »repräsentiert«.27 Erst in der Kunst des 20. Jahrhunderts findet sich die Vorstellung von allein geistig existierenden Werken. Ein Beispiel dafür ist etwa das Unsichtbare Projekt, das die Künstler Robert Irwin und James Turrell 1969 gemeinsam mit dem Techniker Edward Wortz verwirklicht haben: Dieses Werk besteht (vereinfacht gesagt) darin, dass die beteiligten Künstler in einer Reihe von Wahrnehmungsexperimenten zu bestimmten inneren Erfahrungen gelangten, die für alle anderen Menschen jedoch unsichtbar sind; das Unsichtbare Projekt kann also dem Anspruch der am Projekt beteiligten Künstler gemäß nur von ihnen selbst »wahrgenommen« bzw. vorgestellt werden.28 Die Idee eines nur geistig existierenden Werkes verficht neben anderen Künstlern z.B. aber auch H.C. Artmann mit seiner Vorstel- 27 Bolzano vertritt diese These ebenfalls; wir finden sie aber insbesondere bei Hegel, wobei dieser das Geistige sogar so sehr betont, dass er der Ästhetik nur »die schöne Kunst« als »ihr Gebiet« zuweist, also »das Naturschöne« aus der ästhetischen Betrachtung verbannt, weil »das Kunstschöne höher stehe als die Natur. Denn die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit, und um soviel der Geist und seine Produktionen höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um soviel ist auch das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur«; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, hg. von Rüdiger Bubner, Bd. 1, Stuttgart: Reclam, 1971, 37f. (Orig. 1835). Der Vorstellung von Bolzano kommen hingegen die Ansichten von Konrad Fiedler (1841-1895) und Hans Heinrich Eggebrecht (1919-1999) sehr nahe, denen zufolge die von Künstlern geschaffenen Werke letztlich geistige Prozesse sind, von denen wir immer nur »Momentaufnahmen« in Form materialisierter Objekte wahrnehmen können; vgl. dazu Otto Neumaier, Künstlerisches Schaffen als kognitiver Prozess, in: Peter Gendolla & Jörgen Schäfer (Hg.), Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft, Bielefeld: Transcript, 2005, 257-277. 28 Vgl. Douglas Davis, Vom Experiment zur Idee. Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Zeichen von Wissenschaft und Technologie, übers, von Wilhelm Höck, Köln: DuMont, 1975, 201-207 (engl. Orig. 1973). ]/\<\ lung vom »poetischen Act«, der zufolge »man Dichter sein kann, ohne irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben«.29 Die »Künste des bloßen Gedankens« sind indes, wie Bolzano selbst bemerkte, »mit der großen Unvollkommenheit behaftet, daß ihre Hervorbringungen, weil sie kein äußeres Dasein besitzen, auch keine Kunstwerke von der Art sind, welche schon unmittelbar, wie sie in unserem Gemüte uns vorschweben, zur allgemeinen Kenntnis und zum Genüsse anderer gelangen können.«30 Um intersubjektiv beurteilen zu können, ob jemand durch Kunst geistig existierende Werke schafft, benötigen wir also ein »äußeres« Kriterium. Als solches genügt nicht der von Artmann angesprochene »Wunsch, poetisch handeln zu wollen«, denn wir müssen auch Grund zur Annahme haben, dass ein »poetischer Acteur« einen solchen Wunsch verspürt. Vielmehr benötigen wir ein sinnlich wahrnehmbares Zeichen für den künstlerischen Gedanken.31 Diesen Überlegungen zufolge kommen mit Bezug auf den Grad der Einfachheit nach den Künsten des bloßen Gedankens solche Künste ins Spiel, deren Werke darauf gerichtet sind, einen einzigen äußeren Sinn (oder sogar nur einen Aspekt der Wahrnehmung eines bestimmten Sinnes] anzusprechen. Diese Künste weisen freilich de facto von vornherein auch ein gewisses Maß an Komplexität auf, und zwar aus folgendem Grund: So wie für Bolzano Kunstwerke, die nur in jemandes Vorstellung existieren, eine theoretische Möglichkeit darstellen, die praktisch jedoch wegen des Problems der intersubjektiven Erfassbarkeit kaum zur Geltung kommt, so hält er auch Künste, deren Werke bloß einen einzigen Sinn wie das Auge oder das Ohr 29 Vgl. H.C. Artmann, acht-punkte-proklamation des poetischen actes, in: H.C. Artmann, ein lilienweißer briefaus lincolnshire. gedickte aus 21 jähren, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1969, 8 (Orig. 1953). 30 Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 139 (§ 17). 31 Zur Frage, inwiefern das Unsichtbare Projekt entgegen dem Anspruch der Künstler doch intersubjektiv erfassbar ist, vgl. Otto Neumaier, Die Kunst des bloßen Gedankens, in: Edgar Morscher (Hg.), Bernard Bolzanos geistiges Erbe für das 21. Jahrhundert, Sankt Augustin: Academia, 1999,411-438, hier: 426ff. ansprechen, zwar für theoretisch möglich, aber praktisch für eine vernachlässigbare Größe. Zumindest die Werke der »größten Meister« enthalten nämlich seiner Überzeugung nach durchwegs einen mehr oder weniger starken Bezug auf Vorstellungen bzw. Gedanken im Allgemeinen.32 Die beobachtbaren Gegebenheiten des künstlerischen Schaffens verleihen dieser Annahme tatsächlich ein hohes Maß an Plausibilität. Insbesondere sprechen dafür die Werke von Künsten, die sich in neuerer Zeit entwickelt haben (wie etwa die monochrome und überhaupt die gegenstandslose Malerei): Viele davon sind in Bezug auf Bolzanos Kriterien für Künste der äußeren Sinne einfach, bringen aber (wie etwa die »Schwarzen Quadrate« eines Kasimir Malewitsch) auf komplexe Weise geistige Gegebenheiten ins Spiel. Bei seiner Klassifikation von Künsten, deren Hervorbringungen auf einen der äußeren Sinne gerichtet sind, kommt der systematische Ansatz von Bolzanos Überlegungen besonders deutlich zum Tragen, indem er nicht nur mit Bezug auf den jeweils angesprochenen Sinn, sondern auch anhand des Kriteriums, ob bleibende oder vorübergehende Werke entstehen, eine Vielfalt von einfachsten Künsten analysiert und durch deren Kombination komplexere Künste synthetisiert.33 Diese Künste werden von Bolzano (wie bereits erwähnt) in 32 So ist Musik nach Ansicht von Bolzano gewöhnlich eine Vereinigung der Kunst des Schaffens von Tönen mit der des Anregens von Gedanken, d.h. der Poesie, wobei er betont, »daß sich die größten Meister der Tonkunst selten mit einer Hervorbringung, bei der dies nicht geschehen wäre, begnügt. Poetische Elemente - mehr oder weniger - enthalten alle größeren musikalischen Kompositionen, und selbst in der einfachsten Melodie, die ein solcher Meister wert fand, unter seinem Namen der Welt zu überliefern, werdet ihr Spuren einer Poesie nachweisen können«; vgl. Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 149 (§ 26). Ähnlich betont Bolzano, »daß alle optischen Künste kaum etwas leisten könnten, das einen höheren Wert erstiege, als wenn sie zur Unterstützung eines Kunstwerkes des Gedankens auf [...] unmittelbare Weise mitwirken«; ebd., 161 (§ 35). 33 Vgl. ebd., 158f. (§ 32). Eine detaillierte und differenzierte Darstellung von Bolzanos Klassifikation findet sich bei Kurt Blaukopf, Die Ästhetik Bernard Bolzanos. Begriffskritik, Objektivismus, »echte« Spekulation und Ansätze zum Empirismus, Sankt Augustin: Academia, 1996, bes. 61-87. erster Linie als theoretische Möglichkeiten unterschieden; insbesondere geht es ihm ja auch darum festzustellen, welche menschlichen Fähigkeiten zur freien und absichtlichen Hervorbringung von schönen Gegenständen einfache, aber selbständig existierende Künste bilden können. Zwar sind etwa die bildenden Künste laut Bolzano gewöhnlich »morphochromatisch«, d.h. auf Gestalten und Farben bezogen, doch unterscheidet er zwei Arten, bei denen jeweils nur eine dieser beiden Möglichkeiten ins Spiel kommt, nämlich die morphischen Künste, die nur auf die Darstellung von Gestalten, ohne wesentlichen Bezug auf Farben, gerichtet sind, und die chromatischen Künste, bei denen es im Wesentlichen um den ästhetischen Umgang mit Farben geht.34 Beide Möglichkeiten werden in der bildenden Kunst für sich ausgeschöpft: Während die »morphischen« Künste auch schon zu Bolzanos Zeit gepflegt wurden35, bringt er die chromatische Kunst, die nur auf »die Macht der Farben« vertraut, als eine faszinierende Möglichkeit ins Spiel, deren Reize wir bei angemessener »Ausbildung unserer geistigen Kräfte« zu schätzen wüssten: »Und so sollte man, meine ich, die Erfindung einer Art Augenmusik noch immer nicht als eine ganz unmögliche Sache verwerfen.«36 Dass eine solche »Augenmusik« 34 Vgl. dazu Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 151-158 (§§ 28-31). 35 Bolzano (ebd., 155ff., § 30) verweist z.B. selbst auf verschiedene graphische und plastische Techniken. Es ist aber überlegenswert, ob dabei etwa auch an die von Goya, einem der größten Koloristen seiner Zeit, nach 1820 in seinem Haus »Quinta del Sordo« gemalten »Schwarzen Bilder« wegen ihres Verzichts auf Farbigkeit (dem sie ihre Expressivität verdanken) zu denken ist. 36 Bolzano (ebd., 153f., §29) verweist dabei - wohl in Anlehnung an Hebenstreit (Enzyklopädie, a.a.O., 66) - auf ein Farbenklavier von Louis Bertrand Castel, nicht aber auf Stifter, der bereits fragte, ob »man nicht auch durch Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge von Lichtern und Farben eben so gut eine Musik für das Auge wie durch Töne für das Ohr ersinnen« könne; vgl. Adalbert Stifter, Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842, in: Adalbert Stifter, Kleine Schriften. Briefe (Werke, hg. von Uwe Japp und Hans Joachim Piechotta, 4), Frankfurt/M.: Insel, 1978,188-196, hier: 196. Dabei ist denkbar, dass Bolzano Stifters Essay über die »Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842« kannte, der vom 14. bis 16. Juli 1842 in der (für Bolzano wohl zugänglichen) Wiener tatsächlich keine »ganz unmögliche Sache« ist, beweist jedoch die Entwicklung der Kunst, insbesondere durch jene Vielfalt an abstrakten Bildern, in denen es nicht um die Darstellung irgendwelcher Gegenstände geht, sondern um den »inneren Klang« der Farben.37 Bolzano lässt es jedoch nicht bei der Annahme einer Kunst bewenden, die nur auf Farben gerichtet ist, sondern er erwägt sogar die Möglichkeit von Kunstwerken, die nur aus einer Farbe bzw. einem Ton bestehen.38 Wohl ohne Bolzanos Abhandlung zu kennen, hat nun im 20. Jahrhundert nicht nur eine ganze Legion von Künstlern monochrome Bilder geschaffen, sondern es ist auch Musik entstanden, die nur aus einem einzigen, lange angehaltenen Ton besteht.39 Der »Grad des Wohlgefallens« an solcher Musik würde jedoch nach Ansicht von Bolzano »stets nur ein niederer bleiben«, nicht nur durch »das fortwährende einerlei«, sondern auch deshalb, weil derlei Werke »nicht als etwas Zweckgemäßes erscheinen«40, also den Eindruck von Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode erschien; darauf deuten etwa Anklänge in der Formulierung der Möglichkeit einer solchen Augenmusik hin. 37 Vgl. dazu etwa Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 10. Aufl., Bern: Benteli, 1980, bes. Kap. V (Orig. 1912). Kandinsky hat zudem eine weitergehende »Analyse der malerischen Elemente« versucht, die auch Möglichkeiten von bildenden Künsten ins Spiel bringt, die noch einfacher sind als die von Bolzano mit Bezug auf die äußeren Sinne berücksichtigten; vgl. Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, 8. Aufl., Bern: Benteli, 1986 [Orig. 1926). 38 Die Möglichkeit von »Erscheinungen einer Farbe, die keine Gestalt darbietet, die also das ganze Gesichtsfeld des Sehers in völliger Gleichförmigkeit anfüllt«, erwähnt Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 153 (§ 29). Ebenso könnte laut Bolzano ein Musikstück aus »Tönen bestehen, die während der ganzen Zeit, da wir zuhören, mit immer gleicher Stärke, in gleicher Höhe und Reinheit fortdauern und auf das Genaueste zusammenstimmen«, ja, es wäre sogar möglich, »daß selbst ein einzelner Ton« mit einem Wohlgefallen angehört wird, »wie wir es bei der Betrachtung des Schönen empfinden«; ebd. 143 (§ 21). 39 Yves Klein schuf z.B. 1960 eine Symphonie monotone, bei der neun Musiker 20 Minuten lang ein und denselben Ton zu spielen haben - gefolgt von 20 Minuten Stille. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Idee zu einem solchen Werk einem bildenden Künstler kam, der auch durch monochrome Bilder bekannt ist. 40 Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 143 (§ 21). Analoges gilt laut Bolzano (ebd. 153, § 29) für ein monochromes Bild, während er »ein bloßes Zufälligkeit oder Beliebigkeit vermitteln, obwohl sie Ausdruck eines künstlerischen Willens und Könnens sind. Selbst wenn manche Leute Bolzano in seiner Kritik an allzu einfachen Kunstwerken beipflichten mögen, hat ihn die Kunstgeschichte doch widerlegt: Nicht nur haben sich einige monochrome Bilder als anerkannte Kunstwerke durchgesetzt, sondern es scheint auch möglich zu sein, gelungene Werke dieser Art von anderen zu unterscheiden, deren Reiz tatsächlich »nur ein niederer« ist. Bolzano liefert uns jedoch selbst jene Gründe, mit denen dies erklärt werden kann, nämlich einerseits den Bezug auf Vorstellungen und andere Gedanken, der bei solchen Werken tatsächlich ein große und jeweils andere Rolle spielt, andererseits aber den Hinweis darauf, dass »auch eine einzige Farbe, welche sich über eine gegebene Fläche [...] ausbreitet und in allen Punkten derselben ganz gleichmäßig aufgetragen ist«, ein Gegenstand ist, der »eine große Zahl von einander unabhängiger Teile und Einrichtungen« hat, an denen wir auf eine Weise Gefallen finden können, die »ein Wohlgefallen am Schönen genannt werden dürfe.«41 Demnach scheint sich Bolzano nicht nur in Bezug auf den ästhetischen Wert monochromer Bilder geirrt zu haben, sondern sogar sich selbst zu widersprechen, da er ihnen eine Mannigfaltigkeit abspricht, die er andernorts als ein Merkmal einfarbiger Flächen anerkennt, das rechtfertigt, diese als schön anzusehen.42 Zumindest der zweite Vorwurf lässt sich indes widerlegen, indem wir Bolzanos zentrale These nochmals betrachten: Demnach verdienen »die Erscheinungen einer Farbe, die keine Gestalt darbietet, die also das ganze Gesichtsfeld des Farbenspiel ohne Gestalten«, also eine Augenmusik, durchaus für ästhetisch reizvoll hält. 41 Bolzano, Der Begriff des Schönen, a.a.O. (wie Anm. 9), 42 (§ 19). Dasselbe gilt auch für einen »Ton, der mehrere Sekunden lang mit vollkommener Reinheit und mit gleicher [...] Stärke anhält.« 42 Wie die monochromen Bilder etwa von Robert Rauschenberg oder Robert Ryman zeigen, wirken die einfarbigen Flächen durchaus lebendig was freilich vor allem daran liegt, dass die Farbe nicht »ganz gleichmäßig aufgetragen ist.« Bei neueren, teils industriell gefertigten Bildern ist dies zwar der Fall, doch kommen dort andere Möglichkeiten ins Spiel, wie die Elemente eines Ganzen sich aufeinander beziehen. Sehers in völliger Gleichförmigkeit anfüllt, [...] um eben dieses Mangels an aller Mannigfaltigkeit schwerlich wohl die Benennung [...] eines echten Kunstwerkes.«43 Diesem Urteil können wir uns kaum verschließen, da ein solches »Werk« (selbst wenn es in sich subtil gegliedert sein sollte) letztlich von nichts zu unterscheiden wäre, sondern unsere einzige Erfahrung ausmachte - was darauf hinausliefe, dass wir gar keine Erfahrung machten, also auch nicht die Erfahrung eines Kunstwerks. Kunstwerke und die Erfahrungen, die wir damit machen, sind jedoch nicht von dieser Art: Auch die einfachsten davon sind zeitlich oder räumlich begrenzt und stehen dadurch zumindest zu ihrer zeitlichen oder räumlichen Umgebung in einer Relation, aus der ästhetische Merkmale resultieren.44 Bei einer anderen von Bolzano ins Auge gefassten Kunst müssen wir bis zu einem gewissen Grad spekulieren, wie weit seine Vorstellung ging. Und zwar hat Bolzanos Klassifikation der Künste auch Platz für Bilder, »welche sich vor den Augen des Zuschauers verwandeln.« Viele davon wissen laut Bolzano »mit den optischen Kunstwerken, die in veränderlichen Erscheinungen bestehen, noch irgendein poetisches Element zu verbinden«, wobei sich sogar die Frage stellt, ob dem Künstler »denn nicht die Verwandlungen selbst Anlaß zu manchem poetischen Gedanken« bieten.45 Davon ausgehend meint Blaukopf, dass eine solche Frage »den Zeitgenossen Bolzanos [...] phantastisch erscheinen mochte«, dass sie jedoch »dem mit dem Film 43 Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 153 (§ 29); meine Hervorhebungen. Ein analoger Fall läge vor, wenn wir über lange Zeit (oder gar während unseres Lebens) nur einen einzigen Ton hörten. 44 Nicht nur die erwähnten monochromen Bilder korrespondieren mit ihrer jeweiligen Umgebung, sondern z.B. auch Kleins Symphonie monotone. Diese weist als ganze nicht nur Relationen zwischen ihren Elementen Klang und Stille auf, sondern sie steht zudem auch in Beziehung zur Aktion Anthropométhe de la Periode bleue, die Yves Klein am 9. März 1960 gleichzeitig mit der Aufführung der Symphonie in der Pariser Galérie Internationale d'Art Contemporain durchführte. 45 Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 159f. (§§ 32f.), 165 (§ 37). Wie bereits in Anm. 32 erwähnt, meint Bolzano mit dem »poetischen Element« stets den Bezug auf einen Gedanken. vertrauten Leser von heute so selbstverständlich« sei, »daß wir den überraschenden prognostischen Charakter dieser Argumentation hier wohl gar nicht erläutern müssen.« Nach Ansicht von Blaukopf hat also in Bolzanos Klassifikation »selbst die Kunst des >Laufbildes<, wie man den Film in seiner Entstehungsphase nannte«, ihren Platz.46 Bolzano selbst spricht freilich nicht explizit von Laufbildern. Als Beispiele für Künste, deren Werke sich vor den Augen der Zuseher verwandeln, nennt er vielmehr zum einen Mimik und Pantomime (d.h. eine Kunst der Darstellung »ganzer Verhandlungen zwischen mehreren Menschen, durch bloße Mienen und Bewegungen«), Aufzüge, Tänze, Reitkünste, Feuerwerke usw., zum anderen aber »Kineo-ramen, Phantasmagorien, Anamorphosen, Dioramen, Daguerres und Janues, Autoramen u.a.«47 Anders als etwa eine rein »chromische« Kunst waren alle diese Künste zur Zeit Bolzanos bekannt. Durch den Zusatz >u.a.< deutet Bolzano zwar an, dass seine Aufstellung nicht vollständig ist, und er spricht in seinen Überlegungen auch vieles von dem an, was den Film ausmacht; da er nicht ausdrücklich von »Laufbildern« oder etwas Ähnlichem spricht, liegt es letztlich jedoch an uns, ob wir bereit sind, seinen Überlegungen auch einen »überraschenden prognostischen Charakter« hinsichtlich der Filmkunst zuzugestehen. Auch wenn Bolzanos Klassifikation der Künste mit diesen Darlegungen alles andere als erschöpfend behandelt wurde, dürfte klar geworden sein, dass sich »unser Autor« nicht nur große Verdienste um eine systematische Klassifikation der Künste erworben hat, sondern dass viele seiner Überlegungen auch erstaunlich aktuell sind bzw. durch die Entwicklung der Kunst auf beeindruckende Weise bestätigt wurden. Angesichts dessen wäre es mehr oder weniger 46 Blaukopf, Die Ästhetik Bernard Bolzanos, a.a.O. (wie Anm. 33), 83f. 47 Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 159f. (§§ 32f.), bezieht sich dabei, wie erwähnt, zumindest zum Teil auf Hebenstreit. Für die Annahme, dass Bolzano nicht alle diese Künste aus eigener Anschauung gekannt hat, spricht der Umstand, dass er auch die Daguerreotypie (also die Fotografie) zu den Künsten zählt, deren Bilder sich vor den Augen der Zuseher verändern. kleinlich, Bolzano vorzuwerfen, dass seine Klassifikation auch Lücken aufweist, auch wenn es keines allzu großen Aufwandes bedarf, um solche zu entdecken. So ist es klarerweise möglich, Künste auch anhand weiterer, von Bolzano nicht diskutierter Kriterien zu unterscheiden, z.B. mit Bezug darauf, welche unserer psychischen Vermögen (Erinnerung, Phantasie, logisches Denken usw.) sie anregen, oder etwa dahingehend, ob additive oder subtraktive Techniken angewendet werden.48 Auch lässt sich geltend machen, dass viele Künste, die in der Zwischenzeit auf den Plan getreten sind und sich durchgesetzt haben (wie z.B. Installationen oder die »soziale Plastik« eines Joseph Beuys), in Bolzanos Klassifikation beim besten Willen nicht auffindbar sind. Dagegen lässt sich allerdings mit Recht einwenden, dass manche Kriterien, die wir zusätzlich anwenden könnten, lediglich die von Bolzano vorgenommenen Unterscheidungen noch weiter führten und dass insbesondere ein wesentlicher Punkt nahezu aller (nicht nur neuer) Künste, nämlich ihre konzeptuelle Grundlage, von Bolzano ebenso scharfsichtig erkannt wurde wie die Tatsache, dass eine vollständige und endgültige Klassifikation der Künste wegen deren Wandelbarkeit unmöglich ist. Wie Bolzano betont, dürfen wir nämlich nie glauben, dass wir »alle Künste [...] ausgedacht hätten« oder dass wir »bei dem Höhepunkte der für den Menschen erreichbaren Vollkommenheit angelangt wären.«49 Andererseits erlegt sich Bolzano einen theoretischen Verzicht aufj der ungerechtfertigt erscheint, nämlich die Annahme, dass wir »unter den Künsten, welche uns Gegenstände liefern, die das Bedürfnis« der 48 Die bekanntesten Beispiele dafür sind Plastiken und Skulpturen. Wie ich andernorts gezeigt habe, spielen beiderlei Techniken aber auch in der Malerei eine Rolle; vgl. Otto Neumaier, Aus dem Leben der Bilder, in: Otto Neumaier, Vom Ende der Kunst. Ästhetische Versuche, Wien: Noema Press, 1997, 147-170, hier: 149-152. Dass sie auch für andere künstlerische Disziplinen wie Musik oder Film relevant sind, zeigt sich etwa darin, dass Tarkowskij seinen filmischen Ansatz als »Bildhauerei aus Zeit«, seine Filme also als Skulpturen bezeichnet; vgl. Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und zur Poetik des Films, Korr. Ausg. der 2. Aufl., Frankfurt/M.-Berlin: Ullstein, 1988,130ff. (Orig. 1985). 49 Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 167 (§ 39). (nicht nur] von Bolzano so genannten »niederen Sinne« des Riechens, Schmeckens und Tastens »befriedigen oder für Ergötzung sorgen, [...] keine eigentlich schöne Kunst zu suchen haben.«50 Die Begründung dafür gibt Bolzano bereits 1843 in seiner Abhandlung »Über den Begriff des Schönen«, wo er betont, dass uns nur die beiden höheren Sinne, »der des Gesichtes und der des Gehörs [...,] Vorstellungen von sinnlicher Schönheit zuführen. Die Vorstellungen, welche die unteren Sinne, namentlich der des Geruches und der des Geschmackes vermitteln, sind viel zu einförmig, als daß sich bei ihrer Zusammenstellung oder Aufeinanderfolge eine Regel beobachten ließe, deren Entdeckung uns durch die Fertigkeit unserer hierbei an den Tag gelegten Geisteskräfte ein Vergnügen verursachen könnte.«51 Gegen diese Annahme lässt sich u.a. Folgendes einwenden: Selbst wenn Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn gegenüber dem Gesichtsund dem Gehörssinn als »niedere« Sinne anzusehen wären, würde daraus weder folgen, dass sie von der Ästhetik außer Acht gelassen werden könnten, noch, dass in diesen Bereichen »keine eigentlich schöne Kunst zu suchen« wäre. Dies wäre nur dann der Fall, wenn bei den von diesen Sinnen vermittelten Eindrücken keinerlei ästhetische Merkmale wie Proportionen, Harmonien, Dissonanzen usw. wahrgenommen werden könnten. Zwar mögen (warum auch immer) die Geruchs-, Geschmacks- und Tastempfindungen vieler Menschen we- 50 Ebd., 141 (§ 19). 51 Bolzano, Über den Begriff des Schönen, a.a.O., 37f. (§ 16), teilt diese Ansicht mit vielen Philosophen - mit Ausnahme etwa von Hume oder Nietzsche: So lobt etwa Hume den »guten Gaumen«, der »nicht durch kräftige Gewürze auf die Probe gestellt« wird, »sondern durch eine Mischung kleiner Ingredienzien«; vgl. David Hume, Über die Regel des Geschmacks, übers, von Friedrich Herborth, in: Jens Kulenkampf (Hg.), Materialien zu Kants >Kritik der Urteilskraft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974, 43-63, hier: 52 (Orig. 1757). Und Nietzsche preist die Nase als »das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht«; vgl. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli & Mazzino Montinari, Bd. 6, München: dtv, Berlin-NewYork: de Gruyter, 1980,55-161, hier: 75 (Orig. 1889). niger gut entwickelt sein als ihre optischen und akustischen Wahrnehmungen, doch bedeutet dies nicht, dass die von jenen Sinnen vermittelten Eindrücke schlichtweg »einförmig« sind.52 So können wir z.B. nicht nur ertasten, ob ein Gegenstand eben, glatt, weich und kalt ist (oder nicht), sondern wir können auch ertasten, wie sich verschiedene Eindrücke zueinander verhalten, also ästhetische Merkmale feststellen. Ebenso ist es möglich, Proportionen, harmonische und andere Verhältnisse zwischen verschiedenen Geruchs- oder Geschmacksqualitäten (wie auch das Verhältnis zwischen Geruch und Geschmack einer Speise oder eines Getränks] zu erfassen. Demnach ist die Voraussetzung falsch, die Bolzano zur Ablehnung von Künsten der »unteren« Sinne bewegt. Schwerer wiegt vielleicht noch, dass sich Bolzano selbst widerspricht, da er im selben Atemzug betont, er wolle mit jener Ablehnung nicht »dem Wert dieser Künste zu nahe treten«, zumal »eine darunter, die Kochkunst, alle Beachtung verdienen werde, sobald sie nur ihre wahre Bestimmung erkennen und derselben nachkommen, d.h. sich die Aufgabe setzen wird, die Menschen zu belehren, wie sie nicht nur wohlschmeckende, sondern auch der Gesundheit förderliche Nahrungsmittel bereiten können, auf eine Weise, wobei die möglichst geringste Menge brauchbarer Stoffe zerstört wird.«53 Zwar ist gegen eine gesunde Ernährung 52 Selbst im Fall, dass die »unteren Sinne« weniger gut entwickelt sind, besteht die Möglichkeit, sie durch Übung bzw. Erfahrung zu verbessern, wie insbesondere auch Hume betont; vgl. Hume, Über die Regel des Geschmacks, a.a.O., 52. Zu diesen und anderen Gründen für eine stärkere Berücksichtigung der »unteren Sinne« in der Ästhetik vgl. Otto Neumaier, Ästhetische Gegenstände, Sankt Augustin: Academia, 1999,181ff. 53 Bolzano, Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 141f. (§ 19), stellt die Kochkunst damit in den Dienst eines guten (und wohl auch eines schönen) Lebens, dem er mit der Kalobiotik eine eigene Kunst zuweist, die wohl die komplexeste aller von ihm erwähnten Künste ist; vgl. Bolzano, ebd., 122f. (§ 1), 127f. (§ 5.) Ebenso gesteht Bolzano, Über den Begriff des Schönen, a.a.O., 43 (§ 19) zu, »daß man, wie uns das Beispiel der Köche und Wohlschmecker zeigt, durch bloßes Verkosten Getränke und Speisen samt ihren zugehörigen Bestandteilen zu unterscheiden vermag.« Das hindert ihn jedoch nicht zu behaupten, dass das Riechen und das Schmecken nur »einförmige Eindrücke« vermittelten. Bei der Annahme der Lebenskunst oder ebenso wenig einzuwenden wie gegen einen sparsamen Umgang mit Ressourcen; allerdings bringt Bolzano damit Gesichtspunkte ins Spiel, die für eine Klassifikation der Künste aus ästhetischer Perspektive irrelevant sind. Hätte Bolzano sich stattdessen vorurteilsfrei und konsequent an seine eigenen ästhetischen Einteilungskriterien gehalten, so hätte er nicht umhin können, auch den Künsten der »unteren« Sinne eine gewisse Rolle zuzugestehen und insbesondere der Kochkunst auch aus ästhetischer Sicht jene Beachtung zu schenken, die sie seinen eigenen Ausführungen zufolge verdient.54 3. Utopie gegen Utopie Auch wenn Bolzano weder alle künstlerischen Entwicklungen vorhersehen konnte noch mit seinen Kriterien für die Klassifikation der »schönen Künste« alle Möglichkeiten ausschöpfte, die Menschen offen stehen, um ihre Fähigkeiten zum Schaffen von Werken im ästhetischen Sinne einzusetzen, hat er doch mit seinen systematischen Überlegungen zweifellos eine Utopie dessen entworfen, was alles als Kunst in Frage kommt. Dabei hat er durch systematisches Denken nicht nur Künste gefunden, an die sonst niemand dachte, sondern dadurch auch zu einem besseren Verständnis dessen beigetragen, was aus ästhetischer Perspektive unter Kunst zu verstehen ist. Auf Kalobiotik bezieht sich Bolzano übrigens auf Schriften, die der Wiener Hofsekretär Wilhelm Freiherr von Puteani unter dem Pseudonym Wilhelm Bronn in den 1830er und 40er Jahren zu diesem Thema veröffentlichte und von denen er eine besaß; vgl. Jan Berg & Edgar Morscher [Hg.), Bernard Bolzanos Bibliothek, Teil II, Sankt Augustin: Academia, 2002, 89; zur Identität von »Wilhelm Bronn« vgl. Peter Stachel, Die Schönheitslehre Bernard Bolzanos, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Band 5: Sprache, Literatur und Kunst, Wien 2003, 499-518, hier: 502, Anm. 11. 54 Tatsächlich spielt die Koch-Kunst, d.h. die Kunst, Speisen auf eine Weise zuzubereiten, dass ihre Geruchs- und Geschmacksqualitäten zu einem Ganzen komponiert werden, das sich durch bestimmte ästhetische Merkmale auszeichnet, in vielen Kulturen eine wichtige Rolle. Andererseits ist das Kochen seit einiger Zeit auf vielfältige Weise in der bildenden Kunst bedeutsam, wie etwa die künstlerischen Ansätze von Daniel Spoerri, Järg Geismar, Rirkrit Tiravanija oder Matthew Ngui zeigen. diese Weise gelangt Bolzano zu einem bemerkenswert weiten ästhetischen Begriff von Kunst. Andererseits versucht Bolzano, diesen ästhetischen Begriff von Kunst zu begrenzen, indem er mit Bezug auf die Frage, ob es gerechtfertigt ist, ein »schönes Kunstwerk« zu schaffen, moralische Kriterien heranzieht. Und zwar ist laut Bolzano zweierlei zu bedenken: »Bald ist die Sache, um die es sich handelt, viel zu unwichtig und vorübergehend, als daß wir uns nicht lächerlich machen würden, wenn wir erst nachsinnen wollten, wie sie den Regeln des Schönen anzupassen wäre, bald ist es im Gegenteil etwas so Folgenreiches, und der Zeit zur Überlegung ist uns so wenig einberaumt, daß wir uns sogar versündigten, wenn wir erst an jene Frage dächten.«55 Wie Bolzano dazu ausführt, werden wir z.B. nicht ästhetisch überlegen, »mit welchen zierlichen Bewegungen wir etwa einem ins Wasser gestürzten [sie!] nachspringen«, sondern wir werden versuchen, ihn zu retten - und so unsere moralische Pflicht erfüllen; ebenso wenig könne die Kunstlehre vorschreiben, »mit welchen Gebärden und Worten wir den unendlichen Schmerz, der uns beim Hinscheiden eines unserer Lieben ergreift, ausdrücken mögen.«56 Ein Kunstwerk zu schaffen und als solches zu betrachten, ist in Bolzanos Augen also nur dann angebracht, wenn es dabei um einen Gegenstand geht, »zu dem wir uns Zeit lassen können, dem wir überdies einen solchen Fortbestand zu sichern und eine solche Mitteilbarkeit an andere zu verschaffen wissen, daß sich erwarten läßt, ihn werden früher oder später der Menschen mehrere mit um so größerem Vergnügen und Nutzen betrachten, je mehr schöne Einrichtungen wir ihm gegeben haben.«57 Bolzano unterscheidet mithin (vielleicht als einziger Philosoph) klar die Frage, wodurch ein Gegenstand im ästhetischen Sinn als Kunstwerk zu bestimmen ist, von der Frage, ob es mit Bezug auf mo- 55 Über die Einteilung der schönen Künste, a.a.O., 128 (§ 5). 56 Ebd., 129 (§ 5). 57 Ebd., 128 (§ 5). raiische Kriterien angemessen ist, einen so bestimmten Gegenstand auch als Kunstwerk zu schaffen bzw. zu betrachten. Zwar ist es stets möglich, dass wir die Kunst, etwas zu schaffen, ästhetisch betrachten, doch ist diese Perspektive in Bolzanos Augen ihrerseits Gegenstand der moralischen Beurteilung, da es bei allem menschlichen Handeln letztlich um die »sittliche Zuträglichkeit« bzw. um »die größtmögliche Summe des allgemeinen Wohles« geht. Wie schon Robert Zimmermann bemerkt hat, unterliegt für Bolzano das künstlerische Schaffen ebenso dem »obersten Sittengesetz« wie jedes andere menschliche Handeln.58 Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, zumal die in der Verfassung verankerte Freiheit der Kunst lediglich bedeutet, dass Kunstschaffende autonom in Bezug auf die Wahl ihrer ästhetischen Ziele und der Mittel zu deren Erreichung sind, jedoch nicht, dass es ihnen frei steht, Beliebiges zu tun, unabhängig davon, ob andere Menschen (oder auch nicht-menschliche Wesen) davon betroffen sind.59 Eine andere Frage ist freilich, ob ästhetische Überlegungen in jedem Fall moralischen Prinzipien unterzuordnen sind. Was Bolzano über die moralischen Aspekte künstlerischen Schaffens schreibt, erweckt den Eindruck, dass ihm - trotz seiner differenzierten Betrachtung von Kunst - die Moral insgesamt viel wichtiger war als die Kunst Davon zeugt etwa nicht zuletzt jene durch einen moralischen Ansatz geprägte Utopie, an der er zur gleichen Zeit schrieb wie an seinen Beiträgen zur Ästhetik, d.h. sein »Büchlein vom besten Staate«. Darin finden wir etwa die Annahme, dass in dem seinen Vorstellungen entsprechenden »besten Staate« keine dramati- 58 Vgl. Zimmermann, Bolzano's Verhältniß zur Poesie, a.a.O. (wie Anm. 20), [3]. Bolzanos »oberstes Sittengesetz« lautet bekanntlich: »Wähle von allen dir möglichen Handlungen immer diejenige, die, alle Folgen erwogen, das Wohl des Ganzen, gleichviel in welchen Teilen, am meisten befördert«; vgl. Bernard Bolzano, Lehrbuch der Religionswissenschaft, Bd. I, Sulzbach: Seidel, 1834, 236; Neuausg. in der Bernard Bolzano-Gesamtausgabe, Reihe I, Bd. 6, 2. Teil, hg. von Jaromír Loužil, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1995, 19 (§ 88). 59 Vgl. dazu Otto Neumaier, Kann denn Terror Kunst sein? In: Alexander Hieke & Otto Neumaier (Hg.), Philosophie im Geiste Bolzanos, Sankt Augustin: Academia, 2003, 257-282, hier: 277f. sehen Stücke aufgeführt würden, weil dies »ein Verstoß gegen den guten Geschmack« und »eine der Sittlichkeit gefährliche Übung« sei. In diesem Zusammenhang wendet sich Bolzano auch gegen Leute, »die eine Ehre darin suchen, daß sie die Kunst besitzen, etwas Anderes zu scheinen, als sie in Wirklichkeit sind.«60 Diese Bemerkung legt nahe, dass Bolzano (wohl aufgrund der Befürchtung bzw. Erfahrung, dass Menschen »schauspielerische« Mittel einsetzen, um einen falschen Anschein zu erwecken) den durch die dramatische Kunst erweckten Schein von Wirklichkeit als eine Form der Lüge missversteht. Interessanterweise richtet Bolzano diese Kritik bloß gegen das Theater, obwohl die künstlerische Darstellung nicht nur allgemein von der alltäglich erfahrbaren Wirklichkeit abweicht, sondern z.B. auch Maler wie Rembrandt mit manchen ihrer Selbstporträts ebenso die Kunst unter Beweis stellen, »etwas Anderes zu scheinen, als sie in Wirklichkeit sind.« Zudem wendet Bolzano gegen das Theater ein, »daß die viele Zeit, welche die spielenden und das Spiel unterstützenden Personen darauf verwenden müssen, das Einstudieren der Rollen, die Dekorationen u.s.w. ein viel zu großer Aufwand seien für eine Wirkung, die durch ein wenig Einbildungskraft viel vollkommener als durch dies Alles erreicht werden kann.«61 Diese Annahme wirft u.a. folgende Probleme auf: (i) Wenn Bolzano betont, jeder Mensch könne etwa durch das Lesen eines Theaterstücks mit seiner Phantasie selbst jene ästhetische Wirkung erzielen, die von dessen Aufführung ausgeht, so spricht er sich nicht prinzipiell gegen ästhetische Aspekte des Lebens im »besten Staate« aus; um jene Wirkung zu erreichen, muss die Phantasie jedoch recht hohe ästhetische Ansprüche erfüllen. Deshalb ist zu überlegen, ob das Theater nicht sogar mit Bezug auf den für Bolzano so wichtigen Nutzen Vorteile bietet, ganz davon abgesehen, dass Bolzano Theaterstücke als Lesestoff missversteht. 60 Vgl. Bolzano, Das Büchlein vom besten Staate, a.a.O. (wie Anm. 1), 111. 61 Ebd. (ii) Bolzanos Ablehnung des Dramas widerspricht seiner Forderung, dass »der Sinn für die Hervorbringungen der schönen Künste, der Dicht- und Redekunst, der Maler- und Bildhauerkunst, der Tonkunst u.s.w. [...] in einem zweckmäßig eingerichteten Staate möglichst gepflegt« werden solle, da »diese Künste, gehörig angewandt, nicht nur sehr viel zur Verannehmlichung unseres Lebens durch die Genüsse, welche sie uns darbieten, beitragen können, sondern auch auf die Bildung und Veredlung unserer Gefühle und unseres Herzens einen sehr wohltätigen Einfluß nehmen können und sollen.«62 Folglich geht es weniger um eine Verbannung des Dramas aus dem »besten Staate« als darum, dieses ebenso wie die anderen Künste »gehörig anzuwenden«, um die Gefühle der Menschen zu bilden bzw. zu »veredeln«. Auf den ersten Blick scheint es, dass Bolzano bei solchen Gedanken - nicht zuletzt bei der Unterordnung des künstlerischen Schaffens unter das »oberste Sittengesetz« - durch Schillers Vorstellung von der »Wahrheitslehre« der Dichtkunst beeinflusst ist. Bolzano kannte und schätzte ja Schillers Antwort auf die Frage »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?«, die später unter dem Titel »Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet« bekannt wurde. Schiller schreibt darin, »die höchste und letzte Forderung, welche der Philosoph und Gesetzgeber einer öffentlichen Anstalt« wie dem Theater gegenüber erheben können, sei die »Beförderung allgemeiner Glückseligkeit. Was die Dauer des physischen Lebens erhält, wird immer sein erstes Augenmerk sein; was die Menschen innerhalb ihres Wesens veredelt, sein höchstes. Bedürfnis des Tiermenschen ist älter und dringender - Bedürfnis des Geistes vorzüglicher und unerschöpflicher.«63 Ähnlich wie nach ihm Bolzano sieht Schiller dabei nicht nur die »Beförderung allgemeiner Glückse- 62 Ebd., 110. 63 Friedrich Schiller, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? In: Friedrich Schiller, Erzählungen. Theoretische Schriften, a.a.O. (wie Anm. 11), 818-831, hier: 819 (Orig. 1793). ligkeit« (differenziert nach physischen und geistigen Bedürfnissen] als Ziel künstlerischen Schaffens, sondern knüpft er dieses auch an moralische Bedingungen. Laut Schiller ist es nämlich ein »Verbrechen gegen sich selbst, Mord der Talente, wenn das nämliche Maß von Fähigkeit, welches dem höchsten Interesse der Menschheit würde gewuchert haben, an einem minder wichtigen Gegenstand undankbar verschwendet wird.«64 Auf den ersten Blick stützen solche Parallelen zwischen Schiller und Bolzano Robert Zimmermanns Einschätzung, dieser habe jenen wegen dessen Verbindung von Kunst und Moral geschätzt, nicht zuletzt wegen des Strebens nach Wahrheit und Klarheit, das für Bolzano eine höchst moralische Angelegenheit war; wer sich nicht darum bemüht, kann nämlich in den Köpfen der Menschen enormen Schaden anrichten, der sich wiederum auf ihr Handeln auswirkt und damit das allgemeine Wohl beeinträchtigt. Deshalb fanden die »eben im Schwünge befindlichen Werke der romantischen Schule« laut Zimmermann wenig Gnade in Bolzanos Augen, und es konnte vorkommen, dass er sie »mit Unwillen zur Seite schob. Es ist nichts klar Gedachtes darin, war sein gewöhnlicher Ausspruch. Das nebelhafte Ge-fühlsschwärmen, die ausschweifende Ironie, die weitgetriebene Spielerei mit Wort und Reim, hinter welcher sich mehr unklare und entnervende Empfindung als fruchtbarer Gedanke verbarg, wohl auch das schlechte Ende, welches Mehre dieser Schule in römischer Glaubensverzückung nahmen, widerte ihn an, der sich frühzeitig gewöhnt hatte, alle seine Gedanken zur größtmöglichen Deutlichkeit zu erheben und sie um einen feststehenden Mittelpunkt zu koncen-triren, als welchen er ihre sittliche Zuträglichkeit und hemmenden oder fördernden Einfluß auf die größtmögliche Summe des allgemeinen Wohles ansah. Was nicht auf das Letztere irgendwie Bezug 64 Ebd., 820. Ähnlich urteilt Bolzano, man sei bei der Beurteilung der »neuen Hervorbringungen in der Kunst [...] nicht allzu nachsichtig im besten Staate; sondern denkt mit Horaz, daß eine mittelmäßige Arbeit kein anderes Schicksal verdiene, als der Vergessenheit übergeben zu werden«; vgl. Bolzano, Das Büchlein vom besten Staate, a.a.O., 111. nahm, und darauf Rücksicht nehmen konnte, hielt er für nicht wichtig genug, um edle Kräfte und Mittel der Kunst daran zu verschwenden.«65 Allem Anschein nach hat Bolzano jedoch nicht nur Schiller wegen seiner moralischen Grundhaltung sehr geschätzt, sondern wurde er seinerseits durch die Lektüre von Schillers poetischen Schriften zu seiner moralischen Sicht der Kunst angeregt oder zumindest darin bestärkt. Selbst wenn Bolzano und Schiller einer Meinung waren, dass künstlerisches Schaffen kein Selbstzweck sei, sondern ein Mittel zu einem höheren, moralischen Zweck, folgt daraus andererseits wiederum nicht, dass ihre Ansichten über die moralischen Voraussetzungen und Ziele der Kunst identisch sind. Vielmehr weichen ihre Auffassungen in mindestens dreierlei Hinsicht voneinander ab: (i) In einem Gedicht, das Bolzano vermutlich 1837 zu Ehren Schillers schrieb66, rühmt er am Dichter: »Bessern wolltest du stets und zu wackerem Wirken entflammen!« Selbst wenn Schiller dies wollte, folgt daraus nicht, dass seines Erachtens die Kunst auf eine moralische Besserung der Menschen zielt. Wäre dem so, würde die Kunst nämlich ihr Ziel weit verfehlen, wenn »Eigenliebe und Abhärtung des Gewissens« ihre Wirkung vereiteln, wenn »sich noch tausend Laster mit frecher Stirne vor ihrem Zerrspiegel behaupten, tausend gute Gefühle vom kalten Herzen des Zuschauers fruchtlos zurückfallen«. Aber »wenn wir auch diese große Wirkung der Schaubühne einschränken, wenn wir so ungerecht sein wollen, sie gar aufzuheben -wie unendlich viel bleibt noch von ihrem Einfluß zurück? Wenn sie die Summe der Laster weder tilgt noch vermindert, hat sie uns nicht mit denselben bekannt gemacht? - Mit diesen lasterhaften, diesen Toren müssen wir leben. Wir müssen ihnen ausweichen oder begegnen; wir müssen sie untergraben oder ihnen unterliegen. Jetzt 65 Zimmermann, Bolzano's Verhältniß zur Poesie, a.a.O., [3]. 66 Laut Zimmermann schrieb Bolzano dieses Gedicht »für das in Stuttgart erscheinende Schillers=Album«, doch wurde es »durch einen Zufall am Abgang gehindert«; vgl. Zimmermann, ebd., sowie Neumaier, »Der Liebling meines Herzens«, a.a.O. (wie Anm.20),205ff. aber überraschen sie uns nicht mehr. Wir sind auf ihre Anschläge vorbereitet. Die Schaubühne hat uns das Geheimnis verraten, sie ausfindig und unschädlich zu machen. Sie zog dem Heuchler die künstliche Maske ab und entdeckte das Netz, womit uns List und Kabale umstrickten.«67 Wenn von einem Ziel der Kunst gesprochen werden kann, so ist dies in Schillers Augen also höchstens insofern der Fall, als sie uns alle »Dinge des Lebens« vor die Sinne führt, sie uns dadurch bewusst macht und uns so hilft, (besser) mit ihnen umzugehen. (ii) Laut Zeithammer und Zimmermann schätzte Bolzano Schillers Dichtkunst vor allem wegen ihres »didaktischen Charakters«.68 Wie gerade gezeigt, mag zwar Schiller als Autor mit seiner Dichtung didaktische Ziele verfolgt haben, doch heißt das nicht, dass die Dichtung selbst »didaktischen Charakter« hat bzw. dass er jene Ziele darin durch eine eindeutig erkennbare Lehre vermittelt hätte. Ein solches Unterfangen liefe wohl dem dramatischen Gespür des Autors zuwider, dem eher daran lag, menschliche Konflikte in ihrer Komplexität darzustellen. Schiller tat also in seinen Schauspielen allenfalls das, was er in den theoretischen Texten darüber schrieb, nämlich uns mit allem Menschlichen vertraut zu machen - auf dass wir selbst damit umgehen. Dafür stehen dem Theater »das ganze Reich der Phantasie und Geschichte, Vergangenheit und Zukunft [,..] zu Gebote. Kühne Verbrecher, die längst schon im Staub vermodern, werden 67 Schiller, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? A.a.O. (wie Anm. 63], 826. Im gleichen Sinne schreibt Henri Beyle, genannt Stendhal, im 19. Kapitel des Zweiten Buches seines Romans Rot und Schwarz: »Ach, Monsieur, ein Roman ist ein Spiegel, der eine Landstraße entlangspaziert. Mal spiegelt er das Blau des Himmels wider, mal den Schlamm der Drecklöcher auf der Straße. Und der Mann, der den Spiegel auf seinem Rücken trägt, wird von Ihnen der Unmoral beschuldigt! Sein Spiegel zeigt den Schlamm, und Sie beschuldigen den Spiegel! Beschuldigen Sie lieber die Landstraße mit ihren Drecklöchern oder noch besser den Beamten von der Straßenaufsicht, der zuläßt, daß das Wasser faulig wird und ein Dreckloch entsteht«; vgl. Stendhal, Rot und Schwarz. Chronik aus dem 19. Jahrhundert, hg. und übers, von Elisabeth Edl, München: Hanser, 2004, 474 (frz. Orig. 1830], 68 Vgl. Zeithammer, Biographie Bolzanos, a.a.O. (wie Anm. 20), 195, sowie Zimmermann, Bolzano's Verhältniß zur Poesie, a.a.O., [4]. durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr Gedächtnis.«69 Aber »nicht bloß auf Menschen und Menschencharakter, auch auf Schicksale macht uns die Schaubühne aufmerksam und lehrt uns die große Kunst, sie zu ertragen. Im Gewebe unsers Lebens spielen Zufall und Plan eine gleich große Rolle; den letztern lenken wir, dem erstem müssen wir uns blind unterwerfen. Gewinn genug, wenn unausbleibliche Verhängnisse uns nicht ganz ohne Fassung finden, wenn unser Mut, unsre Klugheit sich einst schon in ähnlichen übten und unser Herz zu dem Schlag sich gehärtet hat.«70 (iii) Wenn Bolzano an Schiller u.a. das Streben nach Wahrheit schätzte, so war er darin durchaus gerechtfertigt, doch stellt sich die Frage, ob Schillers Vorstellung von Wahrheit Bolzanos philosophischem Wahrheitsbegriff genügt. Tatsächlich verwendet Schiller selbst gelegentlich den Ausdruck >Wahrheit<, doch tut er dies weniger in theoretischem als in praktischem Sinne, etwa wenn er schreibt: »Eine merkwürdige Klasse von Menschen hat Ursache, dankbarer als alle übrigen gegen die Bühne zu sein. Hier nur hören die Großen der Welt, was sie nie oder selten hören - Wahrheit; was sie nie oder selten sehen, sehen sie hier - den Menschen.«71 Mit »Wahrheit« ist hier wohl gemeint, dass die »Großen der Welt« auf der Bühne nicht ein einseitiges, ihnen schmeichelhaftes Bild der Welt zu sehen bekommen, sondern ein umfassendes bzw. vielfältiges. So hehr dieser Gedanke ist, so hängt er doch nur lose mit einem philosophischen Wahrheitsbegriff zusammen (ganz davon abgesehen, dass er wohl kaum für jedes Theaterstück gilt, sondern eher Schillers »begeistertem Herzen« entspringt). 69 Schiller, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? A.a.O., 823. ™ Ebd., 827. 71 Ebd., 828. Demzufolge hat Schiller mit seinen theoretischen Überlegungen zwar Bolzanos moralischen Zugang zur Kunst beeinflusst, doch entspricht sein künstlerisches Schaffen in vieler Hinsicht nicht Bolzanos Kriterien. Dies erscheint auch kaum möglich, da sich Bolzanos Betrachtungen über Kunst - zumindest im Rahmen seiner moralisch begründeten Staatsutopie - weniger an deren Gegebenheiten und Möglichkeiten orientieren als am philosophischen Ziel des Wahren und Guten. Aus moralischer Sicht mag die Annahme durchaus plausibel sein, dass die »Künste, gehörig angewandt, nicht nur sehr viel zur Verannehmlichung unseres Lebens durch die Genüsse, welche sie uns biethen, beytragen können, sondern auch auf die Bildung und Veredlung unserer Gefühle und unseres Herzens einen sehr wohlthätigen Einfluß nehmen können und sollen.« Deshalb werden im besten Staate Bolzanoscher Prägung nicht nur »alle wahrhaft gelungenen Werke der Dichtkunst, die also eben darum auch sittlich seyn müssen, allenthalten verbreitet«, sondern wird auch »für die Erhaltung schätzbarer Gemälde« sowie für die Aufführung musikalischer Werke gesorgt, »die etwas Erhabenes haben, oder durch sanfte Rührung unser Herz bessern können.«72 Aus solchen Worten spricht nicht nur der Ethiker, sondern auch der Aufklärer Bolzano, der sich die im 18. Jahrhundert weit verbreitete Forderung des »prodesse et delectare« zu eigen gemacht hat. Selbst wenn wir es mit Bolzano für sinnvoll halten, der »schönen Kunst« insofern Grenzen zu setzen, als wir fragen, ob etwas, das im ästhetischen Sinne ein Kunstwerk sein kann, aus moralischer Sicht auch geschaffen werden soll, empfiehlt sich jedoch eine gewisse Vorsicht in Bezug auf seine Forderung, dass die Kunst schlichtweg einen moralischen Zweck habe bzw. dass es Aufgabe der Künstler sei, die Menschen in moralischer Hinsicht zu erziehen. Gegen diese Annahme wandte bereits Goethe ein: »Die Musik aber, so wenig als irgend eine Kunst, vermag auf Moralität zu wirken, und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen verlangt. Philosophie und Religion 72 Bolzano, Das Büchlein vom besten Staate, a.a.O., 110. vermögen dieß allein; Pietät und Pflicht müssen aufgeregt werden, und solche Erweckungen werden die Künste nur zufällig veranlassen.«73 Goethe hält es mit Recht für eine Anmaßung, von Kunst schlichtweg zu erwarten oder gar zu fordern, dass sie eine moralische Wirkung auf die Menschen ausübe. Wenn Bolzano dennoch derlei moralische Forderungen erhebt, so ist dies wohl so zu erklären, dass seine Utopie vom besten Staate wie jene von Piaton auf moralisches Handeln baut. Zu den Bedingungen, die notwendig sind, um diese Utopie zu verwirklichen, gehört also insbesondere, dass alle Beteiligten in Übereinstimmung mit dem obersten Sittengesetz handeln - auch die Kunstschaffenden. Indes ist fraglich, ob die Gesamtheit der Künste, die Bolzano in seiner ästhetischen Utopie durch systematisches Denken findet, mit diesen moralischen Ansprüchen verträglich ist, ob so gesehen also (wie Bolzano wohl annahm) mit der »besseren« zugleich eine »schönere« Welt geschaffen wird - oder ob es (zumindest in mancher Hinsicht) notwendig ist, sich für eine davon zu entscheiden.74 73 Johann Wolfgang von Goethe, Nachlese zu Aristoteles Poetik, in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, I. Abt., Bd. 41, Tl. 2, Weimar: Bühlau, 1903, 247-251, hier: 251 (Orig. 1827]. 74 Für Kritik und andere wertvolle Anregungen danke ich Wolfgang Künne und Kurt Strasser.