302 Teil 3 Die antiken Quellen sind ungesichert und widersprechen sich. Zudem wechselten sie im Verlauf der Kaiserzeit anscheinend wiederholt ihre Gestalt und erschienen vermutlich sehr unregelmäßig. In gewissen Zeiten enthielten sie nur amtliche Veröffentlichungen und richteten sich an Geschäftsleute. Dann wiederum scheinen sie auf Kreidetafeln (in albo) veröffentlicht und zum Abschreiben bereitgestellt worden zu sein. Überliefert ist kein einziges Exemplar, sondern nur chronikartige Auszüge, die Ehrungen festhielten.17 Auch die Vorläufer der Avisen, die handschriftlichen Zeitungen, unterschieden sich von der modernen Presse. Zwar besaßen die den persönlichen Briefen beigelegten Nachrichten-Zettel halböffentlichen Charakter, weil sie von vornherein zur Weitergabe gedacht waren. Noch mehr Öffentlichkeit kann den handschriftlichen Zeitungen der Postmeister zugeschrieben werden. Doch bei aller inhaltlichen und phänomenologischen Ähnlichkeit mit den Berichten über politische Nachrichten, Kuriositäten und Wunderzeichen unterschieden sich die handschriftlichen Zeitungen von den gedruckten Avisen und Relationen in einem wesentlichen Punkt: Sie richteten sich nicht an ein breites Publikum - wenn von den wenigen Ausnahmen abgesehen wird, bei denen handschriftliche Zeitungen in Druck gegeben wurden. Am ehesten wird man daher z.B. die Öffentlichkeit der Fuggerzeitungen mit den exorbitant teuren Wirtschaftsinformationsdiensten der Gegenwart vergleichen dürfen. Jene sprachen wie diese ein hochqualifiziertes, sehr zahlungskräftiges und damit sehr kleines und elitäres Publikum an.18 Es wäre technisch kaum realisierbar gewesen, statt mit einer in 200-400 Auflage produzierten gedruckten Wochenzeitung in entsprechender Auflagenhöhe das Publikum mit einer handschriftlichen Ausgabe zu erreichen. Ein einzelner Schreiber hätte allein das Schreibvolumen nicht bewältigt. Wenn er sich dennoch daran versucht hätte, wäre dies zu Lasten der Aktualität gegangen. Die Verteilung auf viele Skribenten hätte das Unternehmen enorm verteuert. Ob das entsprechend zahlungskräftige Publikum groß genug gewesen wäre, sei dahin gestellt. Die handgeschriebenen Zeitungsbriefe erlebten in Gestalt der Korrespondenzen durch das neue Medium Zeitung einen enormen Nachfrageschub. Doch von selbst konnten sie, anders als die Avisen, ihr Publikum nicht ausweiten. Darum ließe sich angebotsseitig argumentieren, dass die Handschriftenkultur 17 Acta Diuma, in: Neuer Pauly, Bd. 1, Sp. 89-91. Acta Diurna, in: Paulys Realenzyklopädie, Neue Bearbeitung, Bd. 1.1, Sp. 290-295. Mayer, N.: Acta diurna? in: ZW 15/1939, Nr. 10, S. 528-536. Riepl, W.: Nachrichtenwesen, S. 394-405. 18 Kostete der Bezug von Korrespondenzen die Kunden, deutsche Regenten, Mitte des 16. Jahrhunderts noch bis zu 400 Th, so sanken die Preise bis 1600 leicht auf 100 bis 300 Th. Für 100 Th. konnten damals in Holstein 17 Pferde beschafft werden. Kleinpaul, J.: Hofnachrichtendienst, in: ZW 2/1927, Nr. 8, S. 115-117. Meyer, H.-F.: Zeitungspreise, S. 22. Steinhausen, G.: Entstehung der Zeitung, in: ABG, 1928, 65. Jg., Nr. 4, S. 59f. Bücher, K.: Zeitungskunde, S. 78f. Körber, E.B: Öffentlichkeiten, S. 138f. Zusammenfassung und Ausblick 303 nicht eine Abfolge von zunächst unperiodischen, dann halbjährlichen und schließlich Wochen- und Tagespublizistik erfordert hätte. Die Avisen aber haben sich — vermutlich über den Preis — ihr Publikum selber geschaffen und die Sphäre des Herrenmediums alsbald verlassen. Nachdem der Buchdruck erst einmal in der Welt war und Drucker mit ihren Maschinen Geld verdienen wollten, stellten sie nämlich alsbald fest, dass sie ihre Druckerei nur dann auslasten konnten, wenn sie mit neuen Produkten in ökonomische Nischen vordrangen: Nur vom Druck hochpreisiger Bibeln ließ sich auf die Dauer nicht wirtschaftlich leben. Schon die Drucker des 15. Jahrhunderts bemühten sich daher um Akzidenzaufträge, schon Gutenberg druckte Ablassbriefe und 1455 den „Türkenkalender". Die Erfindung neuer Medien war so besehen eine selbstgenerierte Auslastungsverbesserung der Offizin.19 Dies Argument scheint nur auf den ersten Moment modernistisch, denn es bietet die plausibelste Erklärung für das Auftauchen von „Newen Zeitungen" und späteren Medienformen. Johann Carolus argumentierte nicht nur damit, dass der Druck schneller als das Abschreiben vonstatten ging, sondern indirekt auch mit der Auslastung der neuerworbenen Druckerei, als er dem Straßburger Rat sein Druckprivileg schmackhaft machen wollte. Die Auslastung als Antrieb für die Diversifizierung neuer Medienformen wäre unter den Bedingungen der Handschriftenkultur kaum vorstellbar gewesen. Denn jede Ausweitung der Produktion unter den Bedingungen der Handschriftenkultur bedeutete die Einstellung neuer Mitarbeiter und verursachte neue Kosten. Eine Fixkostendegression, also die relative, anteilige Verbilligung der fest anfallenden Kosten durch ihre Umlage auf eine größere Zahl von Endprodukten hätte sich in wesentlich geringerem Umfang eingestellt. Es fehlte also der betriebswirtschaftliche Antrieb zu der erfolgten Diversifizierung der Medienformen: Tabelle 3.1-5: Funktionelle Charakteristika der neuen Pressemedien Aktualität Periodizität Publizität Universalität neue Zeitung/ Flugblatt Ereignisgeschehen klein, E.-Bekannt-gabe groß keine, aber unregelmäßige Kontinuität insgesamt groß/ Einzelmedium gering insgesamt groß/ Einzelmedium meist gering Flugschrift Diskussionsaktualität groß keine, aber Abfolge von Aussage, Antwort, neue Erwiderung geringer als neue Zeitung insgesamt groß, geringer als neue Zeitung/ Einzel-medium gering Messrelation geringer als neue Zeitung halbjährlich/ jährlich geringer als neue Zeitung größer als neue Zeitung Kapp, F.: Geschichte des Buchhandels I, S. 281 f.