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Börzel 1 Einleitung1 Die Europäisierung zählt neben dem Ausbau des (Sozial-)Staats und der Unitarisierung des Föderalismus zu den Haupttrends, welche die Entwicklung der Politik in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 kennzeichnen (Schmidt 1999: 365). Die zunehmend desolate Lage der öffentlichen Haushalte hat die Möglichkeiten einer Ausdehnung staatlicher Aufgaben sowie einer Zunahme der Staatsquote erheblich eingeschränkt. Das gilt besonders im Bereich der Sozialpolitik. Und unabhängig davon, ob einer Großen Koalition doch noch der Versuch einer umfassenden Reform des deutschen Föderalismus durch Entflechtung der Kompetenzen von Bund und Landern und mehr Wettbewerb zwischen den Ländern gelingt, hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner jüngsten Rechtssprechung zur 6. Novelle des Hochschulrahmengesetzes und zur Einführung von Studiengebühren deutlich gemacht, dass der Unitarisierung im Bundesstaat durchaus Grenzen gesetzt sind. Während zwei der Haupttrends vielleicht nicht umgekehrt, aber doch zumindest aufgehalten worden sind, schreitet die Europäisierung weiterhin voran. Deutsche Politik wird zunehmend von Brüssel bestimmt, auch wenn Berlin natürlich weiterhin ein gewichtiges Wort mitzureden hat. Daran ändert auch die gegenwärtige Krise nichts, in welche die Europäische Integration durch das französische und holländische Nein zum Verfassungsvertrag geraten ist. Dieser Beitrag zeigt, dass sich der Europäisierungstrend in der deutschen Politik fortsetzt und darüber hinaus die Trendentwicklung der Staatsauf(s)gaben sowie der Unitarisierung maßgeblich beeinflusst. Um zu bestimmen, inwieweit die Europäische Union in die deutsche Politik hineinregiert, untersucht der erste Teil zunächst das Ausmaß der Politikgestaltung auf europäischer Ebene. Es zeigt sich, dass die Europäisierung einzelner Politikbereiche durchaus unterschiedlich ausfällt und ein interessantes Puzzle ergibt, das sich nicht ohne weiteres mit der gängigen Unterscheidung zwischen positiver und negativer Integration lösen lässt. Im zweiten Teil werden dann die Auswirkungen der fortschreitenden Europäisierung auf die deutsche Politik analysiert. Dies kann nur überblickartig geschehen und muss angesichts der Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes unvollständig bleiben. Es lassen sich nichtsdestoweniger einige politikfeldübergreifende Muster erkennen, die wichtige Implikationen für die Entwicklung des deutschen Sozial- und Bundesstaates haben. ' Ich danke Thomas Risse für hilfreiche Kritik und Kommentare und Mark Püttcher für die hervorragende redaktionelle Unterstützung. 492_Tanja A. BOrzel 2 Die Europäisierung deutscher Politik — ein Interaktiver Prozess Der Begriff der Europäisierung wird in der Literatur unterschiedlich verwendet (für einen Überblick vgl. Börzel 2002a; Börzel/Risse 2003). Ursprünglich wurde damit die Entstehung und Entwicklung eigener Grovernance-Süiikturen auf der europäischen Ebene bezeichnet, d.h. von politischen, rechtlichen und sozialen Institutionen zur politischen Problemlösung, welche die Interaktionen zwischen den Akteuren formalisieren, und von Politiknetzwerken, die mit der Ausarbeitung durchsetzungsfähiger europäischer Regeln beschäftigt sind (Risse et al. 2001: 3). Da sich der Begriff der Europäisierung so jedoch kaum von dem der Europäischen Integration abgrenzen lässt, hat sich mittlerweile eine andere Definition durchgesetzt, die sich auf die Prozesse und Mechanismen, durch welche die europäischen Gove/vwwce-Strukturen zu innerstaatlichem Wandel führen können, bezieht (Eising 2005b; vgl. bereits Ladrech 1994). Schließlich lässt sich Europäisierung auch als interaktiver Prozess verstehen, der sowohl die Entstehung neuer Institutionen, politischer Prozesse und Politikprogramme auf der europäischen Ebene als auch deren Wirkung auf der mitgliedsstaatlichen Ebene umfasst (Olsen 1996; Olsen 2002; Kohler-Koch 2000). So wird Europäisierung auch in diesem Beitrag verstanden. Es geht also bei der Europäisierung deutscher Politik zum einen um die Frage, inwieweit Kompetenzen zur Politikgestaltung von der Bundesrepublik Deutschland auf die Europäische Union Ubergegangen sind, und zum anderen, inwieweit diese Kompetenzverlagerung auf Politikprogramme, Verwaltungsstrukturen und den Politikstil der Bundesrepublik Deutschland zurückwirken und diese verändern. 2.1 Der Europäisierungsgrad der Politik Die zunehmende Übertragung von Kompetenzen zur Politikgestaltung von der nationalen auf die europäische Ebene kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. Viele Darstellungen beginnen mit den Römischen Verträgen von 1957 und vernachlässigen dabei, dass die Europäisierung von Politik bereits 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) begann. Nachdem 1953 die Pläne für eine Europäische Politische Gemeinschaft gescheitert waren, welche die EGKS und die neu zu gründende Europäische Verteidigungsgemeinschaft unter einem gemeinsamen Dach hätte zusammenführen sollen, wurden weitere Europäisiemngsversuche in den Bereichen Sicherheit und Herrschaft (high politics) erst einmal aufgegeben. Sie konzentrierten sich ausschließlich auf die wirtschaftliche Integration (low politics). 1957 wurden die Europäische Atomgemeinschaft und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. In den darauf folgenden fünf Jahrzehnten gelang es den Europäischen Gemeinschaften, wie sie seit dem Fusionsvertrag 1968 hießen, ihre Politikkompetenzen im Bereich Wirtschaft und Wohlfahrt sukzessive auszudehnen. Die Einheitlich Europäische Akte von 1986 beschloss die Vollendung des Binnenmarktes, der keine 10 Jahre später mit dem Maastrichter Vertrag, der 1993 in Kraft trat, in einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) aufgehen sollte. Obwohl die WWU (1. Säule) mit der neu geschaffenen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (2. Säule) und der Zusammenarbeit in der Justiz- und Innenpolitik (3. Säule) unter dem Dach der Europäischen Union zusammengeführt wurde, hinkt die Europäisierung der Innen- und i j 22. Europäisierung der deutschen Politik?_493_ ! Außenpolitik nach wie vor hinterher. Aber auch in den anderen Politikfeldern finden sich erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Europäisierungsgrades. ! Die fortschreitende, gleichwohl differenzierte Europäisierung der Politik lässt sich mit I Hilfe eines ordinalen Indexes nachzeichnen. Studien zur Entwicklung der Zuständigkeiten I der EU für Politikgestaltung konzentrieren sich in der Regel auf die Kompetenzverteilung l zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten. Sie messen, welche Entscheidungen auf wel- I eher Ebene getroffen werden, wobei vorwiegend auf die tatsächlich verabschiedeten Poli- I tikprogramme abgehoben wird (Lindberg/Scheingold 1970; Schmitter 1996; Schmidt 2005; j Hooghe/Marks 2001). Entsprechende Angaben beruhen meist auf Expertenschätzungen, da i geeignete Daten kaum vorhanden sind. Der hier verwendete Index stellt hingegen auf die formalen Entscheidungsverfahren ab, wie sie in den Verträgen festgeschrieben sind (vgl. I ausführlich Börzel 2005c). Er unterscheidet zwischen Breite und Tiefe der Europäisierung. 1 Die Breite bezeichnet die Ebene, auf der die Zuständigkeit für Politikgestaltung angesiedelt ist.2 Gemessen wird die Breite über die Anzahl der Gegenstände in einem Politikfeld, die 1 unter die Gesetzgebungskompetenzen der EU fallen. Die Tiefe der Europäisierung bezieht I sich auf die Art und Weise, in der die EU ihre Gesetzgebungskompetenzen ausübt.3 Die .1 Operationalisierung erfolgt über den Grad der Einbeziehung supranationaler Akteure in den i EU-Willensbildungsprozess und über die Abstimmungsregeln im Rat (Abb. 22.1). Sie ist I den Arbeiten von Fritz Scharpf zu den institutionellen Entscheidungsverfahren und Gover- I nance-Modi in der EU entlehnt (Scharpf 2001; Scharpf2003). i Für jede der beiden Dimensionen wird eine fünfstufige Skala angelegt. Um eine diffe- ' renziertere Messung zu erreichen, sind auch Halbschritte vorgesehen. Tiefe und Breite sind ; in Abb. 22.2 getrennt aufgeführt.4 Die Darstellung in Abb. 22.2 kommt insgesamt zu ähnlichen Ergebnissen wie ver-,! gleichbare Studien (Hix 2004; Hooghe/Marks 2001; Donohue und Pollack 2001; Schmidt i 2005; Schmitter 1996; Lindberg/Scheingold 1970). Die Unterscheidung zwischen Tiefe und Breite erlaubt jedoch eine differenziertere Analyse und stellt damit zumindest teilweise die t Charakterisierung der EU als „regulativefn] Staat" (Majone 1994), in dem marktschaffende (negative) über marktkorrigierende (positive) Politik dominiert (Scharpf 1996a; Scharpf I 1996b), in Frage, ji i 2 Lindberg/Scheingold (1970) sprechen hier von level, 3 In Hinblick auf die zweite Dimension folgt dieser Beitrag nicht Lindberg und Scheingold. Sie bezeichnen mit icope die anfängliche Ausdehnung der EU-Zuständigkeiten auf ein neues Politikfeld. Dieser Aspekt ist in der Dimension der Breite bereits enthalten, da sie bei jeder Vertragsänderung gemessen wird, bei der die Mitgliedsstaaten neue Kompetenzen auf die EU übertragen (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung). * Ich danke Maike Gorsboth für ihren großartigen Einsatz bei der Analyse der diversen Vertragstexte und der Erstellung dieser Graphik. 494 Tanja A. Börzel Abbildung 22.1: Der Europäisierungsgrad der Politik Breite (Anzahl der Politikgegenstilnde, die unter die EU-Zuständigkeit fallen) 1 = ausschließlich nationale Zuständigkeiten (0% EU) Kompetenzen ftlr alle Politikgegenstande sind auf der nationalen Ebene angesiedelt 2 = gemeinsame Zuständigkeiten „ leicht" Kompetenzen ftlr die meisten Politikgegenstände sind auf der nationalen Ebene angesiedelt 3 = gemeinsame Zuständigkeiten „mittel" Kompetenzen sind zwischen der nationalen und der EU-Ebene aufgeteilt 4 = gemeinsame Zuständigkeiten „stark" Kompetenzen ftlr die meisten Politikgegenstände sind auf der EU-Ebene angesiedelt 5 - exklusive EU-Kompetenien (100% EU) Kompetenzen für alle Politikgegenstände sind auf der EU-Ebene angesiedelt liefe (Einbeziehung supranationaler Akteure in die Willensbildung und Abstimmungsregeln im Rai) 0 = keine Koordination auf EU-Ebene 1 = Intergovernementale Koordination (Europäischer) Rat als ausführendes und gesetzgebendes Organ, entscheidet emstimmig Kein Initiativrecht ftlr die Europäische Kommission Keine Beteiligung des Europäischen Parlaments Keine Rechtsaufsicht durch den Europäischen Gerichtshof 2 = Intergovernementale Kooperation (Europäischer) Rat als ausführendes und gesetzgebendes Organ, entscheidet einstimmig Initiativrecht für die Europäische Kommission gemeinsam mit dem Rat Konsultation des Europäischen Parlaments Begrenzte Rechtsaufsicht durch den Europäischen Gerichtshof , 3 = Gemeinsame Entscheidungsfindung I Ausschließliches Initiativrecht ftlr die Europäische Kommission Gemeinsame Gesetzgebung, bei der der Rat a) einstimmig entscheidet und das Europäische Parlament konsultiert (3.0) b) einstimmig entscheidet und das Europäische Parlament mitentscheidet ODER per Mehrheit entscheidet und das Europäische Parlament konsultiert (3.5) Rechtsaufsicht durch den Europäischen Gerichtshof 4 = Gemeinsame Entscheidungsfindung II Ausschließliches Initiativrecht für die Europäische Kommission Gemeinsame Gesetzgebung, bei der der Rat per Mehrheit entscheidet und das Europäische Parlament beteiligt ist über a) das Zusammenarbeitsverfahren (4.0) b) das Mitentscheidungsverfahren (4.S) Rechtsaufsicht durch den Europäischen Gerichtshof 5 = Supranationale Weisung Unilaterale Entscheidung der Europäischen Kommission/Europäischen Zentralbank Keine Beteiligung des (Europäischen) Rats und des Europäischen Parlaments Rechtsaufsicht durch den Europäischen Gerichtshof_ 22. Europäisierung der deutschen Politik? 495 Abbildung 22.2: Tiefe und Breite der Europäisierung der Politik Politikfeld 1958 1987 1993 1999 2003 VerfV Auswärtige Beziehungen GASP, EVP B 1 1,5 •2.S. r/v- T 0 0,5 13_ 13_ 1 .- Außenhandelspolitik B 2 ■ t -v - T ifi 1,5 tg . • Innen- und JustizDolitik Strafsachen/Innere Sicherheit B i ..... 1 2 . T 0 0 wmssm > Zivilsachen B l 1 • > „ 1 i T 0 0 Sozio-kulturelle Angelegenheiten UmweltSVerbraucherschutz Gesundheit und Siclierhelt um Arbeitsplan Aroeltsbezlehwigeii Kultur- und Bildungspolitik Sozialpolitik Forschung und Entwicklung 1,5 I 1,5 13 1 1)5 Erstens hat die EU ihre Kompetenzen zur „Gestaltung jenseits der Deregulierung" (Schmidt 1999: 387) kontinuierlich ausgeweitet. Wahrend die Römischen Verträge mit Ausnahme der Wettbewerbskontrolle keine nennenswerten marktkorrigierenden Kompetenzen für die 496 Tanja A. Böizel 22. Europäisierung der deutschen Politik? 497 europäische Ebene vorsahen, erlaubte die dynamische Auslegung der Verträge durch den Europäischen Gerichtshof in den 1960er und 1970er Jahren eine Ausdehnung der regulativen EU-Politik auf Bereiche wie den Umwelt- und Verbraucherschutz oder den Schutz der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz (vgl. Pollack 1994: 122-131; Stone Sweet/ Sandholtz 1997). Den Mitgliedsstaaten blieb lediglich, diesen „schleichenden Prozess der Kompetenzausweitung" (Pollack 1994) in der Einheitlichen Europäischen Akte zu kodifizieren. In den folgenden Vertragsänderungen von Maastricht, Amsterdam und Nizza wurden die marktkorrigierenden Kompetenzen der EU kontinuierlich ausgeweitet. Die Asymmetrie zwischen positiver und negativer Integration trifft - wenn Uberhaupt - vor allem auf den Bereich der prozessbezogenen Regulierung zu. Aber auch hier finden sich trotz gegensätzlicher Interessen der Mitgliedsstaaten wichtige EU-Politikprogramme, beispielsweise im anlagen- und produktionsbezogenen Umweltschutz.5 Zweitens beruht die Politik der EU keineswegs nur auf regulativer Politik. Es ist richtig, dass der Grad der Umverteilung von Wohlstand zwischen den Mitgliedsstaaten wesentlich geringer ausfällt als innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten mit ihren gewachsenen Sozialsystemen. Trotzdem verteilt die EU erhebliche Ressourcen (um). Die Gemeinsame Agrarpolitik6 und die Mittel aus den verschiedenen Strukturfonds machen mehr als 75% des EU-Haushaltes aus und tragen bis zu fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt einiger Mitgliedsstaaten bei (Hix 1998: 42). Mit der Osterweiterung und der Aufwertung der Europäischen Nachbarschaftspoiitik zu einem echten Instrument ihrer Außen- und Sicherheitspolitik hat die EU begonnen, erhebliche Ressourcen in so genannte kapazitätsbildende und stabili-tätsschaffende Maßnahmen zu investieren, die weit über die ursprunglichen Ziele ihrer Struktur- und Regionalpolitik hinausgehen (vgl. Börzel/Risse i.E.). Schließlich bemühen sich die Mitgliedsstaaten verstärkt um eine Abstimmung ihrer sozialstaatlichen Politiken sowie um eine koordinierte Beschäftigungspolitik, gerade weil die marktkomgierende Politik der EU die Umverteilungskapazitäten auf nationaler Ebene zunehmend einschränkt (siehe unten). Da die Politikkoordination unterhalb der Schwelle des Kompetenztransfers stattfindet, ist der Europäisierungsgrad nach wie vor beschränkt. Der Lissabon-Prozess zeigt jedoch, dass auch „weiche" Formen der Koordinierung nationale Politik beeinflussen können, obgleich die Wirkung natürlich schwächer ausfällt als in den europäisierten Bereichen (Zohlnhöfer/Ost-heim 2005; Urban 2003). Drittens hinkt die Europäisierung der Innen- und Außenpolitik (mit Ausnahme der Außenhandelspolitik) zwar immer noch den anderen Politikbereichen hinterher, aber das gilt eigentlich nur noch hinsichtlich der Tiefe der Europäisierung und hier wiederum nur für die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik (vgl. ausführlich Börzel 2005c). Bis zum Vertrag von Maastricht war die Zuständigkeit für die äußere und innere Sicherheit, die den Kern staatlicher Souveränität und des legitimen Gewairmonopols ausmacht, fest in den Händen der Mitgliedsstaaten verblieben. Es gab allerdings außerhalb des institutionellen Rahmens der EU eine ganze Reihe von Koordinations- und Kooperationsmechanismen (z.B. die TREVI-Gruppe, das Schengener Abkommen, die Europäische Politische Zusammenarbeit bis 1986). Im Rahmen der Zweiten und Dritten Säule des Maastrichter Vertrages 5 Ein prominentes Beispiel ist die europäische Luftreinhaltepolitik, die bis in die 1980er Jahre zurückreicht, vgl. Herilier ei al. 1994. 4 Zur EU-Agrarpolitik als ,,umfassende[n] und systemutische(n] Sozialpolitik" siehe Rieger (1996: 404-405); Sturm/Pehle(2005: 257-274). erhielt die EU zum ersten Mal Kompetenzen sowohl für die Außen- und Sicherheitspolitik als auch für die Innen- und Justizpolitik. Während die EU-Zuständigkeiten bereits relativ i breit angelegt waren, unterlag ihre Ausübung strikt intergouvernementalen Regeln und Verfahren und schloss explizit eine maßgebliche Beteiligung supranationaler Akteure aus. In den darauf folgenden Jahren haben die Verträge von Amsterdam und Nizza die Zustän-I digkeiten der EU in beiden Bereichen immer wieder verbreitert. So sieht der Amsterdamer ' Vertrag (Art, 61) die Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 1 vor, in dem sich EU-Bürger völlig frei bewegen können. Der Amsterdamer Vertrag über- nahm auch die so genannten Petersberger Aufgaben, die der EU zum ersten Mal eine eigenständige Rolle bei der Friedensschaffung und Friedenserhaltung außerhalb ihres Territoriums einräumen. Spätestens seit Nizza deckt die EU mit ihren Zuständigkeiten das Spekt-I rum der inneren und äußeren Sicherheit in seiner Breite ab. Während jedoch die Innen- und j Justizpolitik sukzessive „vergemeinschaftet", also supranationalen EntScheidungsprozessen unterworfen worden ist,7 bleibt die Außen-, Sicherheits- und vor allem die Verteidigungs-' politik fest in ihren intergouvernementalen Strukturen verankert. Die unterschiedliche Tiefe ' der Europäisierung bei vergleichbarer Breite in der Innen- und Außenpolitik gibt der Euro- ' paforschung ein Rätsel auf, das sich nicht ohne Weiteres theoretisch auflösen lässt, dem an I dieser Stelle jedoch nicht weiter nachgegangen werden kann (vgl. ausführlich die Beiträge I in Börzel 2006a). I Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Europäisierung nahezu das gesamte 1 Spektrum der Politik erfasst hat. Es gibt kaum einen Bereich, in dem die EU von ihren j Kompetenzen her nicht gestalterisch tätig werden könnte. Der Europäisierungsgrad variiert jedoch sowohl hinsichtlich der Breite als auch der Tiefe. In einigen - wenigen - Bereichen I wie der Steuer-, Kultur- und Bildungspolitik und m.E. auch der Energie- und Verkehrspoli- I tik ist der gesetzgeberische Spielraum der EU äußerst begrenzt und an intergouvemementa- i le Entscheidungsverfahren gebunden (geringe Breite und Tiefe)." In der Außen-, Si- cherheits- und Verteidigungspolitik sind die EU-Zuständigkeiten mittlerweile recht umfas-I send, der Souveränitätsverlust der Mitgliedsstaaten ist jedoch dadurch begrenzt, dass die I Kompetenzausübung strikt intergouvernementalen Regeln und Verfahren unterworfen ist I (beträchtliche Breite bei geringer Tiefe). In den Kernbereichen des Sozialstaates (Teilen der j Sozial- und Beschäftigungspolitik, Arbeitsbeziehungen) sowie der Forschungs- und Ent- wicklungspolitik verhält es sich genau umgekehrt. Hier ist die Breite der Europäisierung [ begrenzt, aber wenn die EU tätig werden darf, dann im Rahmen ihrer supranationalen Insti- tutionen (geringe Breite bei beträchtlicher Tiefe). In den meisten Bereichen ist die Europäi-I sierung jedoch stark ausgeprägt, sowohl hinsichtlich der Breite als auch der Tiefe. Dies gilt j für die gesamte regulative Politik (marktschaffend wie marktkorrigierend), aber auch für den Kern der redistributiven EU-Politik (Landwirtschaft und Strukturpolitik), die drei Vier- 7 Der Verfassungsvertrag QUptosl IV) sieht für den Bereich der Innen- und Justizpolitik größtenteils das normale Gesetzgebungsverfahren vor (ehemals Mitentscheidungsverfahren), einschließlich Bereichen der Zusammenarbeit im Strafrecht und im Strafvollzug. Für die Gegenstände, die intergouvernementalen Entscheidungsverfahren unterworfen bleiben, besteht die Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit. ' Für die Kultur- und Bildungspolitik würde sich das mit dem Inkrafttreten des Verfassungsveitrages vor allem hinsichtlich der Tiefe der Europäisierung ändern. In der Steuerpolitik bliebe der Status quo ante erhalten. Allerdings hat der EuGH in den letzten Jahren mit seiner Rechtsprechung wesentliche Teile der Steuergesetzgebung der Mitgliedsstaaten für gemeinschaflsrechtswidrig erklärt, so dass der Druck in Richtung Harmonisierung nationaler Vorschriften auf EU-Ebene zunimmt (O'Brien 2005). 498 Tanja A. Börzel 22. Europäisierung der deutschen Politik? 499 tel des EU-Haushalts ausmacht, sowie in zunehmendem Maße für die Innen- und Justizpolitik. Wie hat sich nun die zunehmende EuropBisierung auf die deutsche Politik ausgewirkt? 2.2 Europäisierung und Wandel der deutschen Politik Angesichts der über die letzten 50 Jahre zunehmenden Europäisierung wäre es verwunderlich, wenn Europa keine merklichen Spuren in der deutschen Politik hinterlassen hätte. Diese Spuren lassen sich anhand dreier Dimensionen nachverfolgen (vgl. Börzel 2005b; Börzel/Risse 2003): politische Programme (policy), politische Institutionen (polity) und politische Prozesse (politics). Es würde den Rahmen dieses Beitrages bei Weitem sprengen, die Europäisierung der deutschen Politik entlang aller drei Dimensionen nachzuzeichnen.9 Dem Schwerpunkt des Sammelbandes folgend wird der Fokus deshalb auf policy gelegt, wobei sich die anderen beiden Dimensionen in dem zugrunde gelegten /w/icy-Begriff in einigen Aspekten wiederfinden. Ein eng gefasster po/iey-Begriff konzentriert sich auf die substantiellen Inhalte (Ziele, Standards) und dem für die Umsetzung der Inhalte zugrunde gelegten Problemlösungsansatz, aus dem sich auch die anzuwendenden Politikinstrumente ergeben. In einer weiteren Fassung werden auch die Verwaltungsstrukturen innerhalb des jeweiligen Politikfelds sowie der dominante Regulierungs- oder Politikstil berücksichtigt (Radaelli 2003; Knill 2001). Es finden sich kaum Studien, die systematisch die Europäisierungswirkung auf die po-licies der Mitgliedsstaaten untersuchen.10 Die überwiegende Zahl der vorliegenden Arbeiten konzentriert sich auf ein oder maximal zwei Politikfelder in zwei bis vier Mitgliedsstaaten. Dabei haben die Umwelt-, Sozial- und Strukturpolitik überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und auch das Ländersample bleibt überwiegend auf die „drei Großen" - Deutschland, Frankreich und Großbritannien - beschränkt. Betrachtet man die Vielzahl der Untersuchungen in ihrer Gesamtheit, lässt sich jedoch für Deutschland eine recht deutliche Aussage treffen, die m.E. auch auf die anderen Mitgliedsstaaten übertragbar ist." Den nachhaltigsten Einfluss hat die Europäisierung auf die Politikinhalte, Politikinstrumente und Problemlösungsansätze ausgeübt. Dies gilt insbesondere für die regulative, marktkorrigierende Politik wie den Umweltschutz. Als einer der umweltpolitischen Vorreiter in Europa ist Deutschland weniger stark von der Einführung höherer Standards in den verschiedenen Bereichen der Umweltpolitik betroffen als z.B. die südlichen Mitgliedsstaaten oder Großbritannien, das lange als „dirty man of Europe" galt (vgl. Jordan/Liefferink 2004). Trotzdem musste auch die deutsche Umweltgesetzgebung beispielsweise im Wasserbereich oder beim Naturschutz immer wieder nach oben angepasst werden. Die weitestgehenden Veränderungen hat es jedoch im Bereich der Problemlösungsansätze und Politikinstrumente gegeben. Der von der Europäischen Kommission Ende der 1980er Jahre vollzogene Paradigmenwechsel in der Umweltpolitik, weg vom klassischen Modell der hierarchischen Steuerung (Gebote und Verbote) hin zu mehr Kontext- und Anreizsteuerung, 9 Für einen aktuellen Überblick mit weiterführender Literatur vgl. Anderson 2005, vgl. auch Sturm/Pehle 2005. 10 Eine Ausnahme für Deutschland ist Slurm/Pehle 2005. " Wobei die Europäisierungswirkung bei den südlichen Mitgliedsländern wesentlich stärker ausfallt, da die Europäisierimg mit ihrer politischen und wirtschaftlichen Transformation zusammenfiel. ging mit der Einführung neuer Politikinstrumente einher (Knill 2003), die kaum mit dem deutschen Problemlösungsansatz der vorbeugenden Regulierung Uber Gebote und Verbote in Einklang stehen und deshalb auch immer wieder auf den erbitterten Widerstand der deutschen Behörden getroffen sind (vgl. Börzel 2003; Sturm/Pehle 2005: 275-298). Dazu gehören Politiken mit einem integrierten, medienübergreifenden Ansatz wie die Umweltverträglichkeitsprüfung oder die Richtlinie zur Integrierten Vermeidung und Kontrolle von Umweltverschmutzung, sowie partizipative Instrumente wie die Umweltinformationsrichtlinie oder die Eco-Audit-Verordnung, die einen breiten Zugang der Öffentlichkeit zu umweltpolitischen EntScheidungsprozessen vorsehen. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in der regulativen Sozialpolitik beobachten, insbesondere was die Gleichstellung der Geschlechter in der Beschäftigungspolitik betrifft (Liebert 2003a; Liebert 2003b; Falkner et al. 2005). Die Richtlinien zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz, zum gleichen Entgelt oder zum Eltemurlaub haben zu weit reichenden Veränderungen in der deutschen Gesetzgebung geführt. Die EU hat beispielsweise das Nachtarbeitsverbot für Frauen gekippt und die Bundeswehr in allen Bereichen für Frauen geöffnet. Auch im Bereich der marktschaffenden regulativen Politik ist es aufgrund der Europäisierung zu einigen einschneidenden Reformen in Deutschland gekommen. Man denke nur an die Liberalisierung des Telekommunikationswesens, des Flug-, Bahn- und Straßengüterverkehrs, des Versicherungswesens oder der Elektrizitätsnetze (Schmidt 2003; Heritier et al. 2001; Eberlein/Grande 2000, Eising 2000).12 Die Europäisierung bedeutet hier einen Wandel des Problemlösungsansatzes von der staatlichen Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen hin zur Privatisierung, die allerdings wiederum staatlich reguliert ist (sog. Re-Regulierung). Anders als bei der marktkorrigierenden Politik macht die EU jedoch den Mitgliedsstaaten keine konkreten Vorgaben hinsichtlich der Re-Regulierung (Heritier und Thatcher 2002), so dass der Einfluss der Europäisierung indirekter ist und nicht die Einführung spezifischer Standards oder Politikinstrumente mit sich bringt. Im Bereich der (re-)distributiven Politik hat die Europäisierung lange Zeit keine nennenswerten Auswirkungen in Deutschland gehabt. Die Gemeinsame Agrarpolitik hat weitgehend den deutschen Präferenzen für ein protektionistisches System entsprochen, das hohe Preise für landwirtschaftliche Produkte garantiert sowie Strukturhilfen für bäuerliche Kleinbetriebe gewährt. Auch wenn sich die Agrarstruktur im wiedervereinigten Deutschland durch die Zunahme an bäuerlichen Großbetrieben gewandelt hat, ist die Bundesregierung zwar daran interessiert, den deutschen Finanzbeitrag zu reduzieren, sie lehnt aber nach wie vor eine grundlegende Agrarreform vor 2013 ab (Anderson 2005: 92-93). Während die Europäisierungswirkung in der Landwirtschaftspolitik nach wie vor begrenzt ist,13 hat die Wiedervereinigung in der Stnikturpolitik zu einem EU-induzierten innerstaatlichen Wandel geführt. Als Nettozahler hatte Deutschland zwischen 1979 und 1989 nur in begrenztem Maße von den verschiedenen Fonds profitiert. Spannungen ergaben sich vielmehr aus der wettbewerbsrechtlichen Komponente der Stnikturpolitik, vor allem seit sich die Europäische Kommission in den 1980er Jahren zunehmend bemüht hat, die Gewährung von Struk- 12 Bei der Liberalisierung und Deregulierung nationaler Märkte stellt sich allerdings das methodologische Problem, den Einfluss der Europäisierung von dem der Globalisierung zu trennen. Häufig stellt die Europäisierung nur eine Reaktion auf den zunehmenden Globalisierungsdruck dar (vgl. Schneider 2001; Hennis 2001). " Zu einer abweichenden Einschätzung vgl. Sturm/Pehle (2001: 176-187), die jedoch vor allem auf den Souveränitätstransfer abheben und sich auf die Anpassungsproblcme der deutschen Umweltpolitik beziehen. 500 Tanja A. Börzel 22. Europäisierung der deutschen Politik? 501 turhilfe auf Bundes- und Länderebene zu beschränken. Während Deutschland sich bisher -nicht zuletzt mit Verweis auf die verfassungsrechtliche Festlegung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (Art. 72 GG) - einem grundsätzlichen Politikwandel widersetzt hat, sind Art und Umfang von Strukturhilfen durch die EU erfolgreich eingeschränkt worden (Wolf 2005). Die Wiedervereinigung brachte hingegen grundlegende Veränderungen, vor allem in der deutschen Regionalpolüik (vgl. ausführlich Wachendorfer-Schmidt 2003: 273-385). Nachdem die Bundesregierung sichergestellt hatte, dass die neuen Bundesländer erhebliche Mittel aus Brüssel erhalten würden, mussten sich diese in das von der Kommission für die südlichen Kohäsionsländer entwickelte Politikprogramm einfügen (Conzel-mann 2000; Sturm/Pehle 2005: 317-334), dessen Prinzipien und Instrumente (z.B. Programming; Partnerschaftsprinzip) in den Alten Ländern aufgrund des relativ geringen Aufkommens an EU-Mitteln wenig Spuren hinterlassen haben (Kohler-Koch 1998). Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) vereint paradoxerweise die außerordentlich stark europäisierte Währungspolitik, mit der die Mitgliedsstaaten die Möglichkeit einer autonomen Geldpolitik aufgegeben haben, mit der Wirtschaftspolitik, bei der sich die Mitgliedsstaaten bis heute mit jeder Form der Souveränitätsabgabe schwer tun. Die Währungsunion, die seit 1999 in Kraft ist, wurde weitgehend nach dem deutschen Vorbild einer unabhängigen Notenbank und einer an Preisstabilität ausgerichteten Geldpolitik gestaltet. Auch der zur Durchsetzung der Maastrichter Konvergenzkriterien geschaffene Stabilitätsund Wachstumspakt wurde 1998 auf Drängen der damaligen Bundesregierung, die sich um die Haushaltsdisziplin der anderen Mitglieder sorgte, verabschiedet. Aufgrund der verhältnismäßig großen Passfähigkeit zwischen den Zielen und Instrumenten der WWU einerseits und der deutschen Wirtschafts- und Fiskalpolitik anderseits hätte die Europäisierung keine wesentlichen Änderungen für Deutschland mit sich bringen sollen (vgl. Sturm/Pehle 2005: 233-257). In den letzten vier Jahren hat Deutschland jedoch wiederholt die wirtschaftspolitischen Vorgaben der EU zur Gewährleistung der angestrebten wirtschaftlichen Konvergenz zwischen den Mitgliedsstaaten verletzt. Auch wenn die Bundesregierung dank der von ihr ursprunglich abgelehnten intergouvernementalistischen Entscheidungsverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts eine Verhängung der dort vorgesehenen Sanktionen bisher verhindern konnte, hat sich mit der Europäisierung der Reformdruck auf den deutschen Sozialstaat erhöht, was mittelfristig zu erheblichem innerstaatlichem Wandel beitragen könnte. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Europäisierung in allen Bereichen der deutschen Politik Spuren hinterlassen hat, das Ausmaß des innerstaatlichen Wandels aber variiert und insgesamt nicht so tief greifend ausfällt wie der verhältnismäßig hohe Europäi-sierungsgrad vielleicht hätte erwarten lassen. Selbst in stark europäisierten Bereichen wie der Umweltpolitik hat die Europäisierung zwar wichtige Veränderungen hervorgebracht, ohne jedoch einen grundlegendenpolicy-Wandel zu bewirken. EU-policies führten vielfach zu einer Anhebung von po/icy-Standards, die häufig auch mit der Einführung neuer Instrumente verbunden war. Traditionelle Problemlösungsansätze und Politikinstrumente wurden dadurch aber nicht verdrängt. Dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe: Erstens existiert selbst in der marktkorrigierenden regulativen Politik kein einheitliches Eü-Policy Modell, an das sich die Mitgliedsstaaten anpassen müssten. Die regulative Politik der EU gleicht vielmehr einem „Flickenteppich" (Heritier 1996), in dem verschiedene Problemlösungsansätze und Politikinstrumente oft in ein und demselben Politikpro- gramm kombiniert werden. Dies hängt damit zusammen, dass die Mitgliedsstaaten einen starken Anreiz haben, ihre eigenen policies auf die europäische Ebene „hoch zu laden". Je mehr eine EU Richtlinie oder Verordnung den nationalen Vorgaben entspricht, desto geringer sind die materiellen und politischen Anpassungskosten bei der Umsetzung. Gleichzeitig lassen sich Wetlbewerbsnachteile für die heimische Industrie (vor allem wenn es um Umwelt- und Sozialstandards geht) vermeiden bzw. Wettbewerbsvorteile im Sinne von ,first mover advantages" sichern (Heritier et al. 1994). Aufgrund der Dynamik und Komplexität von EU-Entscheidungsprozessen ist es jedoch keinem einzelnen Mitgliedsstaat gelungen, sein /W/cy-Modell vollständig und konsistent in den einzelnen Politikbereichen durchzusetzen. Es findet sich vielmehr ein Mix aus verschiedenen nationalen Ansätzen. Zweitens gehört Deutschland zu den Mitgliedsstaaten, die aufgrund ihrer politischen Macht und administrativen Kapazitäten viele EU-policies wesentlich mitbestimmt haben (Anderson 2005). So wurde die EU-Luftreinhalte- und Abfallpolitik in weiten Teilen nach deutschem Vorbild gestaltet (Börzel 2002c). Während sich der deutsche Ansatz in keinem j Politikfeld umfassend durchgesetzt hat, ist der deutsche Anteil am po/iV^-Flickenteppich der EU wesentlich größer als der anderer Mitgliedsstaaten. Die Rolle Deutschlands als einer ' der zentralen ,policy shapers" wird häufig auch auf die institutionelle Passfähigkeit zwi- I sehen dem Europäischen Mehrebenensystem und dem deutschen Bundesstaat mit seinen neo-korporatistischen Interessenvermittlungsstrukturen zurückgeführt (Bulmer 1997; Katzenstein 1997; vgl. Bulmer et al. 2000). Es ist sicherlich richtig, dass die außen- wie innenpolitische „Semisouveränität" (Katzenstein 1987) auch nach dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Wiedervereinigung die deutsche Außen- und Europapolitik bestimmt, weshalb sich Deutschland mit der Abgabe von Zuständigkeiten an die EU immer ' noch sehr viel leichter tut als Frankreich oder Großbritannien. Mit ihrer grundsätzlich inte- I grationsfreundlichen Haltung hat die deutsche Bundesregierung eine weitgehend konstruk- I tive Rolle bei der institutionellen Ausgestaltung und Weiterentwicklung der EU gespielt I und immer wieder einen entscheidenden Teil der damit einhergehenden Kosten übernom- I men. Strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem deutschen Bundesstaat und dem Europäi- schen Mehrebenensystem lassen sich sicherlich nicht von der Hand weisen (Scharpf 1985; ] Börzel 2005d). Ob dieser institutionelle Isomorphismus allerdings den deutschen Einfluss I im EU-Politikprozess erhöht, ist fraglich. Die deutschen Länder, die jeder Änderung der i EU-Verträge im Bundesrat zustimmen müssen, erweisen sich bei den Versuchen der Bun- , desregierung, eine Vertiefung der Europäisierung voranzutreiben, zunehmend als Bremser. • So ist die Ausdehnung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der Asyl- und Einwande-I rungspolitik im Amsterdamer Vertrag nicht zuletzt am Widerstand der deutschen Länder I gescheitert. Auch in der „Tagespolitik" der EU fällt es Deutschland aufgrund des hohen I Abstimmungsbedarfs mit innerstaatlichen Akteuren (Ländern, organisierten Interessen, ; verschiedenen Fachrrunisterien) nicht immer leicht, eine einheitliche Verhandlungsposition ) zu entwickeln und frühzeitig in den EntScheidungsprozess einzubringen bzw. flexibel an j die Dynamik des EU-Politikprozesses anzupassen (Sturm/Pehle 2005: 43-63). Obwohl die ' deutsche Außen- und Europapolitik seit den 1990er Jahren den Anspruch erweckt, „natio-i nale Interessen" offensiver zu verfolgen (Janning 1996; Le Gloannec 1998), hat sich dieses ! neue Selbstbewusstsein kaum in einem gewachsenen Einfluss auf EU-Politikergebnisse niedergeschlagen. Es scheint vielmehr so, dass Deutschland dabei ist, seine einstige Vorrei- • terrolle in einigen Bereichen einzubüßen, was allerdings weniger auf seine politischen Insti- 502 Tanja A. Bürzel 22. Europäisierung der deutschen Politik? 503 tutionen als auf seine wirtschaftlichen Probleme zurückzuführen ist (Wurzel 2004; Hellmann et al. 2005). Drittens setzt Deutschland EU-Politiken, die sich nicht als passfähig erweisen, immer wieder so um, dass der Status quo so weit wie möglich erhalten bleibt. Neue Problemlösungsansätze und Politikinstrumente werden in der Regel auf bestehende policies aufgesetzt, anstatt letztere anzupassen bzw. zu ersetzen. Dies beeinträchtigt nicht selten die korrekte Umsetzung und effektive Anwendung von EU-Richtlinien und Verordnungen und erklärt, weshalb Deutschland zu den Mitgliedsstaaten gehört, die sich verhältnismäßig häufig vor dem Europäischen Gerichtshof für Verstöße gegen EU-Recht verantworten müssen (Börzel 2001b). Alles in allem hat die Europäisierung die deutsche Politik über die Einführung neuer Inhalte, Politikinstrumente und Problemlösungsansätze verändert, aber nicht grundlegend gewandelt. Ähnliches gilt für Verwaltungsstrukturen und Politikstile, die hier nur kurz behandelt werden können. Verwaltungsstrukturen lassen sich anhand der Verteilung von Entscheidungskompetenzen zwischen verschiedenen Regierungsebenen (vertikale Dimension) einerseits und innerhalb einzelner Regierungsebenen (horizontale Dimension) andererseits charakterisieren (Knill 2001). Die deutschen Verwaltungsstrukturen zeichnen sich politikfeldUbergreifend durch ein relativ großes Maß an vertikaler und horizontaler Dezentralisierung aus. Deutschland ist zwar ein „unitarischer Bundesstaat" (Hesse 1962), in dem Gesetzgebungskompetenzen mehrheitlich auf der Bundesebene angesiedelt sind. Die Länder besitzen jedoch wichtige Zuständigkeiten bei der Umsetzung und verfügen über den Bundesrat in vielen Bereichen über ein Mrtentscheidungsrecht bei der Bundesgesetzgebung. Die daraus entstandenen Strukturen des kooperativen Föderalismus wurden sukzessive auf die Europapolitik übertragen (Börzel 2002d). Um eine effektive Umsetzung von EU-Politiken zu gewährleisten und die Länder für den Verlust ihrer europäisierten Alleinent-scheidungskompetenzen (z.B. in der Kulturpolitik) bzw. ihrer Mitspracherechte bei den auf die EU übertragenen Bundeskompetenzen zu entschädigen, wurde ihnen bei jeder Änderung der EU-Verträge weitergehende Mitwirkungsrechte im innerstaatlichen Willensbildungsprozess zu EU-Angelegenheiten eingeräumt. So sind die Länder vor allem in den stark europäisierten Bereichen an der Formulierung, Entscheidung und Umsetzung von EU-policies maßgeblich beteiligt. Die dazu notwendige vertikale Koordination wird über die formalen Gremien und informellen Netzwerke des Bundesrates und der Bund-Länder-Ministerkonferenzen geleistet. Die Europäisierung deutscher Politik hat zwar zu zahlreichen institutionellen Veränderungen, wie z.B. der Einrichtung einer Europa-Kammer des Bundesrates, geführt. Die Strukturen des kooperativen Bundesstaates bleiben davon jedoch grundsätzlich unberührt - im Gegenteil, die Europäisierung hat die Politikverflechtung weiter verfestigt (Börzel 2002b; Börzel 2001a). Die horizontale Verteilung von Europa-Kompetenzen auf der Bundesebene ist ebenfalls stark dezentralisiert. Das Ressortprinzip, das den Fachministerien eine relativ große Autonomie einräumt, findet auf der EU-Ebene seine Entsprechung in der sektoralen Ausdifferenzierung der EU-Entscheidungsprozesse in die verschiedenen Fachministerräte. Das Kanzleramt und die Bundesministerien haben mittlerweile alle eine Europaabteilung eingerichtet, welche die Vorbereitung, Entscheidung und Umsetzung von EU-policies begleitet und überwacht. Trotzdem, oder gerade deswegen, wird die deutsche Europapolitik oft als „sectorally disaggregated, weakly co-ordinated and, at times, highly disorganized" be- ' schrieben (Hyde-Price/Jeffery 2001: 707; Bulmer/Paterson 1987; Bulmer et al. 2000). Die I Bundesregierung unter Bundeskanzler Schiöder hat deshalb im Herbst 2000 die Koordina- tion der deutschen Europapolitik stärker zentralisiert und die Europaabteilungen innerhalb der Fachministerien gestärkt Die Europäisierung hat also zu einer gewissen Zentralisierung I gefühlt. Da EU-policies aber weitgehend „domestiziert", d.h. in die bestehenden Verwal- j tungsstrukturen und -prozesse zur Vorbereitung und Umsetzung nationaler policies integ- riert wurden, ist es zu keinem grundlegenden Wandel gekommen, i Der Politik- oder Regulierungsstil bezieht sich auf die Muster der Interessenvermitt- I hing, die sich in einem Politikfeld zwischen den öffentlichen Entscheidungsträgern und den gesellschaftlichen Zielgruppen herausbilden. Hier wird in der Regel zwischen einem hierar-' chischen, polarisierenden (adversarial) und einem kooperativen, konsensualen Politikstil i unterschieden (Richardson 1982;14 Knill 2001). Der deutsche Politikstil lässt sich grund- ) sätzlich als konsensorientiert beschreiben und trägt in einigen Bereichen korporatistische Züge (Katzenstein 1987; Dyson 2002). Dies schlägt sich ebenso in der öffentlichen Verwal-I tung nieder, die in der Literatur deshalb auch als „kooperative Verwaltung" bezeichnet wird ! (Benz 1984). Die Europäisierung eröffnet gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren ' zusätzliche Möglichkeiten, ihre Interessen Uber die Europäische Kommission in die Politik- formulierung einzuspeisen (Marks/McAdam 1996). Auch können sie auf die Umsetzung von EU-policies über den Rechtsweg Einfluss nehmen und Druck auf die Verwaltung ausüben, wenn diese die zur Einhaltung von EU-Recht notwendigen po/fcy-Reformen nicht durchführt (Börzel 2006b). Während Unternehmen und organisierte Interessen die EU-I Opporrunitätsstruktur durchaus nutzen und ihre Organisationsstrukturen entsprechend an- i gepasst haben (z.B. durch die Präsenz in Brüssel), spielen die formalen Konsultationsme- I chanismen und informellen Politiknetzwerke auf der nationalen Ebene nach wie vor eine I wichtige Rolle für die Interessenvertretung, auch und gerade in der Europapolitik (Eising I 2005a). Die Strategie der Europäischen Kommission, die Um- und Durchsetzung von EU- I policies vor allem im regulativen Bereich über breite Informations- und Mitwirkungsrechte I für Bürger und Organisationen in administrativen Prozessen zu steigern, stärkt vor allem die Position zivilgesellschaftlicher Interessengruppen, zumal es in Deutschland kein Verbandsklagerecht gibt. Die Akzentuierung von Mechanismen weicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstregulierung, wie sie die Kommission beispielsweise in der Umwelt- und I Sozialpolitik verfolgt, dient demselben Ziel. Da die entsprechenden Politikinstrumente i jedoch nicht systematisch eingeführt werden und ihre Umsetzung auf den Widerstand der ( deutschen Verwaltung stößt, haben sie bisher zu keinen nachhaltigen Veränderungen des deutschen Politikstils geführt. Bei den Verwaltungsstrukturen und dem Politikstil hat die Europäisierung weniger deutliche Spuren hinterlassen als bei Politikinhalten, Politikinstrumenten und Problemlösungsansätzen. Dieser Befund, der m.E. auch für andere Mitgliedsstaaten zutrifft, lässt sich j ohne weiteres mit Hilfe institutionalistischer Ansätze erklären. Zum einen geht von der Europäisierung kein unmittelbarer Anpassungsdruck auf nationale Verwaltungsstrukturen I und Politikstile aus. Die EU macht ihren Mitgliedsstaaten keine Vorgaben, wie sie ihre I Verwaltungen zu organisieren haben. Sie verpflichtet die nationalen Regierungen lediglich zur effektiven Um- und Durchsetzung von EU-policies, was in der Tat - gemeinsam mit " Richardson unterscheidet noch eine zweite Dimension - pro-akllv vs. reaktiv -, die sich aber auch unter den Problemlosungsansatz subsumieren lässt. 504_Tanja A, Börzel der Notwendigkeit zur Formulierung einer kohärenten Verhandlungsposition - zu einer Zentralisierung innerhalb der deutschen Verwaltung geführt hat. Die Einfuhrung von Problemlösungsansätzen und Politikinstrumenten, die auf gesellschaftliche Partizipation und Selbst-Regulierung anstelle hierarchischer Steuerung durch den Staat gerichtet sind, könnte Auswirkungen auf den deutschen Politikstil haben, der zwar konsensorientiert ist, der Verwaltung aber eine beherrschende Position einräumt. Da die EU selbst jedoch nach wie vor überwiegend hierarchisch steuert (Börzel 2005a), ist ein durch die Europäisierung induzierter Wandel in der nächsten Zeit eher unwahrscheinlich. Zum anderen sind Verwaltungsstrukturen und Politikstile sehr viel stärker institutionalisiert als po/icy-Standards, Politikinstrumente und Problemlösüngsansätze und deshalb resistenter gegenüber Wandel (Hall 1993). Die Einführung neuer Politikinstrumente und Problemlösungsansätze hat zwar die deutsche Politik erheblich geprägt, ohne sie jedoch in ihrem Kern zu verändern. 3 Europäisierung der deutschen Politik - viel Lärm um nichts? i Der vorliegende Beitrag hat gezeigt, dass die EU mittlerweile so gut wie in alle Bereiche j deutscher Politik hineinregiert. Sie hat dort auch zum Teil deutliche Spuren hinterlassen, , i ohne jedoch die deutsche Politik in ihrem Kern grundlegend zu wandeln. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Deutschland die Europäisierung aktiv mitgestaltet hat. Vieles, was aus j Brüssel kam und kommt, wurde nicht nur mit Zustimmung der Bundesregierung verab- , schiedet, sondern auch von deutscher Politik nachhaltig beeinflusst. Das gilt auch für die . Fälle, in denen HXS-policies erhebliche Veränderungen auf der nationalen Ebene erforder- i lieh machen. Deutsche Minister haben die EU immer wieder strategisch genutzt, um Re- | formen durchzusetzen, für die es an den innenpolitischen Mehrheiten fehlte (Schmidt 2003; j Wachendorfer-Schmidt 1999). Dies mag für die (Input-)Legitimität europäischer Politik ] problematisch sein. Andererseits hat die Europäisierung aber zu einer Reihe von Innovationen in der deutschen Politik geführt und ihre Problemlösungsfähigkeit in vielen Bereichen erhöht. Es würde zu weit führen, die Kosten (Verlust an demokratischer Legitimität und staatlicher Souveränität) und Nutzen (Gewinn an Effektivität) der Europäisierung zu disku- j tieren (vgl. Schmidt 1999). Es soll abschließend vielmehr noch kurz auf die Implikationen | der fortschreitenden Europäisierung für die anderen beiden Haupttrends in der deutschen ; Politik eingegangen werden. I Die Europäisierung der deutschen Politik hat zu einer Ausweitung des kooperativen Föderalismus im Bereich der europäischen Angelegenheiten geführt. Damit setzt die Europäisierung innenpolitischen Reform versuchen, die auf ein Zurückschneiden des unitarischen Bundesstaates durch Entflechtung und regionalen Wettbewerb setzen, klare Grenzen. i Wenn die Länder in den europäisierten Politikbereichen nicht zu „staatsnotariellen Ratifikationsämtern" (Lenz 1977) degradiert werden wollen, müssen sie ihre Mitwirkungsrechte im ,: EU-Politikprozess geltend machen, und das geht nur über die Kooperation mit der Bundes- ' regierung innerhalb der von Art. 23 GG vorgesehenen Verfahren. Bund und Länder müssen : I mit einer Stimme sprechen, wenn sie in einer EU mit 25 und mehr Mitgliedsstaaten Gehör i finden wollen. Die innerstaatliche Mitwirkung der Länder in europäischen Angelegenheiten hat sich bisher auch keineswegs als doppelte Politikverflechtungsfalle erwiesen. Während ] auf der europäischen Ebene Entscheidungsblockaden aufgrund regionaler Vetopositionen j 22. Europäisierung der deutschen Politik?_505 nicht aufgetreten sind, trägt die inlergouvernementale Zusammenarbeit von Bund und Ländern zu einem effektiveren Vollzug europäischer Entscheidungen auf der innerstaatlichen Ebene bei. Die .Kompensation durch Partizipation' hat sich also als institutionelle Lösung für ein Problem der Europäisierung - nämlich die Zentralisierung regionaler Kompetenzen und den mangelnden Vollzug Europäischen Rechts - bewählt. Die Ausdehnung des kooperativen Föderalismus auf die Europapolitik schreibt jedoch die Unitarisierungstendenzen im deutschen Bundesstaat fort. Das Gegenteil scheint für den Ausbau des Sozialstaates der Fall zu sein. Die Öffnung der nationalen Güter- und Finanzmärkte, die Deregulierungs- und Privatisierungsvorgaben der marktschaflenden regulativen Politik sowie die angebots- und geldwertorientierte Wirtschafts- und Währungsunion beschneiden die Möglichkeiten der Mitgliedsstaaten, eine aktive Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik zu betreiben (Scharpf 1996b; Scharpf 1999; Leibfried 1996). Die Chancen für eine europäische Sozialpolitik, welche die Handlungsverluste der nationalen Wohlfahrtsstaaten kompensieren würde, werden durchaus unterschiedlich bewertet.13 Aber auch wenn sich die Mitgliedsstaaten bisher einer Europäisierung weitgehend widersetzt haben, wirkt die EU schon längst in diese Bereiche deutscher Politik hinein. Neben der „negativen" Marktdynamik des Systemwettbewerbs und der „positiven", wenn auch weichen Koordinierung auf EU-Ebene hat der Europäische Gerichtshof mit seiner Rechtssprechung zum Verhältnis zwischen deutschem Sozial- und europäischem Marktrecht einige harte Parameter in Richtung Vermarktlichung, Privatisierung und Deregulierung der sozialen Sicherungssysteme gesetzt (Urban 2003). Schließlich verlangen die fiskalpolitischen Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zunehmend die Einbeziehung der sozialen Sicherungssysteme in die Bemühungen, die öffentlichen Haushalte zu disziplinieren. Ob dies letztendlich zu einem Abbau des Sozialstaates führt oder zu seinem Funktionswandel in einen „angebotspolitisch ausgerichteten Wettbewerbsstaat" (Urban 2003: 119), bleibt abzuwarten. In jedem Fall setzt die Europäisierung einem weiteren Ausbau des deutschen Sozialstaates klare Grenzen. 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