3.7 Die europäische Ausrichtung der Interessenpolitik Die Architekten des europäischen politischen Systems hatten von Anbeginn an versucht, einen „natürlichen Ort" zu schaffen, an dem die Interessen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den europäischen Einigungsprozess eingebracht werden sollten. Durch die Römischen Verträge wurde hierzu als beratendes Gremium der Wirt-schafts- und Sozialausschuss (WSA) ins Leben gerufen. Der WSA besteht gemäß Art. 257 EG-Vertrag aus „Vertretern der verschiedenen Gruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, insbesondere der Erzeuger, der Landwirte, der Verkehrsunternehmer, der Arbeitnehmer, der Kaufleute und Handwerker, der freien Berufe und der Allgemeinheit." Die Mitglieder des WSA werden auf der Grundlage von Vorschlagslisten, die von den mitgliedstaatlichen Regierungen eingereicht werden, vom Rat ernannt. Die Regierungen ihrerseits räumen den entsprechenden Interessenorganisationen in der Regel ein Vorschlagsrecht ein. Auf Deutschland entfallen 24 der insgesamt 344 Sitze im WSA. Auch wenn die Mitglieder des WSA sich intern in drei Gruppen organisieren - Arbeitgeber, Arbeitnehmer und „sonstige Interessen" -, ist die Effizienz des Gremiums durch seine interne Interessenhetero-genität äußerst begrenzt (Wessels 2003: 799). Die Stellungnahmen, die der WSA an Kommission und Rat und nach den Beschlüssen der Regierungskonferenz von Amsterdam auch an das Europäische Parlament richtet, beeinflussen die Entscheidungsprozesse inhaltlich meist nur marginal. Für das eigentliche Anliegen der im WSA vertretenen Gruppen, spezifische Interessenpolitik auf europäischer Ebene zu betreiben, ist das in Gestalt des WSA formalisierte, institutionelle Mitwirkungsangebot zudem denkbar ungeeignet. Die organisierten Interessen präferieren deshalb eindeutig die direkte Beeinflussung der europäischen Entscheidungsträger. Die Frage, welchen Stellenwert die Interessenvertretung gegenüber den Institutionen der Europäischen Union für die Arbeit ihrer jeweiligen Organisation hat, wird von der Mehrzahl der deutschen Verbandsfunktionäre mit „sehr wichtig" bzw. „wichtig" beantwortet. Die Bedeutung, die dem „EU-lobbying" zugemessen wird, variiert allerdings politikfeldspezifisch. Am ausgeprägtesten ist sie in der Agrar-, der Wirtschafts- und der Finanzpolitik, in den Politikfeldern also, die von einem vergleichsweise hohen Vergemeinschaftungsgrad gekennzeichnet sind. Schon seit den frühen fünfziger Jahren gibt es europäische Verbände. Das klassische Muster eines „Euroverbandes" ist der transnationale Verband nationaler Verbände. Die Frage nach der Relevanz der Mitarbeit in diesen europäischen Verbandszusammenschlüssen für die verschiedenen deutschen Interessengruppen wird von den Verbandsfunktionären ebenfalls der Intensität der europäischen Vergemeinschaftung der jeweiligen Politikfelder entsprechend beantwortet (Se-baldt 1997: 191ff.). Die Tatsache, dass vor allem Verbandsvertreter, die im Agrar- und im Wirtschaftssektor agieren, der Mitarbeit in den europäischen Verbänden eine überdurchschnittlich große Bedeutung zuschreiben, interpretiert Sebaldt (1997: 194) als Reaktion auf die „Spielregeln", die seiner Ansicht nach im politischen System der EU gelten: „Da Institutionen der EU in der Regel nur europäische Verbände als Gesprächspartner akzeptieren, muss den deutschen Interessengruppen an einer solchen Kooperation naturgemäß sehr gelegen sein." Zwar ließe sich diese Sichtweise durch den Hinweis stützen, dass der europäische Organisationsgrad deutscher Verbände mit über 90 % überdurchschnittlich hoch liegt (Kohler-Koch 1992: 94), doch führt sie gleichwohl in die Irre, weil sie implizit voraussetzt, dass die Mitgliedschaft in einem europäischen Verband die einzige Möglichkeit für nationale Interessenträger zur unmittelbaren Beeinflussung der in der Europäischen Union wirkenden Akteure sei. Auch wenn das Entscheidungssystem der EG/EU von seiner vertragsmäßigen Konstruktion her durchaus auf eine intensive Zusammenarbeit vor allem der Europäischen Kommission mit den europäischen Verbandsföderationen hin angelegt ist, gehört auch die eigene unmittelbare Repräsentation auf europäischer Ebene von jeher zu den Strategien nationaler Verbände: „Der Zusammenschluss zu europäischen Verbandsföderationen war immer nur eine Ergänzung der eigenen Interessenvertretung in der europäischen Politik und in keinem Fall mit dem Verzicht auf eigenständige transnationale Aktivitäten verbunden" (Kohler-Koch 1992: 100). Organe der EG suchen von sich aus häufig den Kontakt nicht nur mit den Euroverbänden, son- 152 153 dem auch mit nationalen Organisationen (Schloz 1994: 82). Es ist nicht ungewöhnlich, dass einzelne europäische Verbände von der Kommission bewusst umgangen werden, weil diese entweder strategische Vorteile in einer Koalition mit nationalen Verbänden sieht, die es ihr erleichtern, ihre Politik im Rat durchzusetzen (Kohler-Koch 1992: 102), oder weil sie von den europäischen Dachverbänden nicht mit den Detailinformationen versorgt werden kann, derer sie zur Vorbereitung bestimmter Rechtsetzungsakte bedarf (Eichener 2000: 277). Beide Seiten - der supranationale Akteur „Kommission" und die nationalen Interessengruppen - fahren also eine Doppelstrategie. Sie gilt es ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, dass in Brüssel mit zunehmender Tendenz auch einzelne Großunternehmen als „direct lobbyists in their own right" (Coen 1997: 91) agieren. Platzer (2002: 409) spricht von „über 200" multinationalen Konzernen, die eigene Verbindungsbüros in Brüssel unterhalten. Die Analyse der Europä-isierungsdimensionen deutscher Interessenpolitik auf die Mitwirkung der nationalen Verbände in den europäischen Verbandszusammenschlüssen zu beschränken, würde also eine in mehrfacher Hinsicht unzulässige Verengung der Untersuchungsperspektive bedeuten. Gleichwohl bietet es sich an, zunächst auf die Entwicklung der europäischen Verbände und die Mitarbeit deutscher Organisationen in ihnen ein-zugehen, denn die erwähnte Doppelstrategie ist erst als Reaktion auf verschiedene Unzulänglichkeiten transnational organisierter Verbände entstanden. Die Etablierung der ersten europäischen Verbände erfolgte als Reaktion auf die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Im Jahr 1951 gründeten die nationalen Stahlverbände der sechs EGKS-Staaten den „Club der Stahlhersteller", zwei Jahre später folgten die bergbaulichen Verbände, die sich im „Studienausschuss des westeuropäischen Kohlebergbaus" zusammenschlossen (Platzer 2002: 411). Den entscheidenden Impuls zum Aufbau europäischer Verbandsorganisationen lieferte jedoch erst die Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahr 1957. In diesem Jahr wurden elf, in den beiden Folgejahren zusammen 92 „Euroverbände" geschaffen (Kohler-Koch 1992: 93). In den ersten zehn Jahren des Bestehens der EWG wurden insgesamt bereits 255 derartige Zusam- menschlüsse ins Leben gerufen (Platzer 2002: 411). Die Angaben über die Zahl der europäischen Verbände unterscheiden sich zum Teil beträchtlich. Während beispielsweise Platzer (1999: 412) von „über 400" europäischen Verbänden ausgeht, spricht Dieckmann (1998: 212) schon fiir das Jahr 1994 von exakt 637, während Grande (2003: 50) sich der Schätzung anschließt, es gebe sogar etwa 1400 Interessenvereinigungen auf europäischer Ebene. Einigkeit besteht allerdings darüber, dass die Hochphase der Gründung europäischer Verbandszusammenschlüsse bereits Ende der sechziger Jahre abgeschlossen war. Etwa die Hälfte der gegenwärtig existierenden Euroverbände ist also bereits älter als 30 Jahre. Erster und wichtigster Adressat für die versuchte Einflussnahme auf die europäische Rechtsetzung ist aufgrund ihres Initiativmonopols und ihrer „Prozessführerschaft" über den gesamten Entscheidungs-prozess hinweg die Europäische Kommission (Hull 1993: 83). Auch wenn das in der Öffentlichkeit weit verbreitete Vorurteil von der „Brüsseler Megabürokratie" das Gegenteil nahelegt, ist die Kommission administrativ unterentwickelt und leidet an personeller Unterausstattung. Nur etwa ein Viertel der Kommissionsbeamten ist an den eigentlichen Politikformulierungsprozessen beteiligt. Die starke Stellung der Kommission im legislativen Verfahren einerseits und ihre Ressourcenschwäche andererseits erklären ihre traditionelle Offenheit gegenüber organisierten Interessen. Weil die Kommission auf das Fachwissen der betroffenen Gruppen unverzichtbar angewiesen ist, beginnt sie „legislative Initiativen üblicherweise regelrecht mit der Suche nach organisierten Interessen", wobei sie nicht nur strategische Konzepte, sondern durchaus auch fertig ausgearbeitete Textentwürfe erwartet, die nicht selten unveränderten Eingang in die späteren Richtlinien oder Verordnungen finden (Eichener 2000: 271). Die Suche der Kommission nach organisierten Interessen beschränkt sich keineswegs auf die Einladung zu informellen Gesprächsrunden zu Beginn von Gesetzgebungsinitiativen, sondern war und ist in vielen Fällen wesentlich grundsätzlicherer Natur. In Bezug auf die Gestalt der nationalen Verbändelandschaft hat Czada (1991) darauf aufmerksam gemacht, dass ein Merkmal, das Historiker für die Formierung der ersten Interessenorganisationen im frühen 19. Jahrhundert herausgearbeitet haben, auch für die Staat-Verbände-Beziehun- 154 155 gen der Gegenwart gilt: Regierung und Verwaltung treten nicht selten als „Organisatoren gesellschaftlicher Interessen" auf, das heißt, die Gründungsinitiative kam und kommt mitunter „von oben", also vom Staat, und nicht „von unten" aus der Gesellschaft. Hätte der Staat -so Ulimann (1988: 61) - nicht die Führung übernommen sowie personelle, organisatorische und finanzielle Hilfestellung gegeben, wäre ein Großteil der frühen deutschen Verbände kaum je entstanden. Dieser Befund gilt für die Entstehung verschiedener europäischer Verbände in ganz ähnlicher Weise. Als einer der einflussreichsten Verbände auf europäischer Ebene gilt das „Comite' des Organisations Professionelles Agricoles". Es handelt sich dabei um den Zusammenschluss nationaler Bauernverbände, der unter der Abkürzung COPA bekannt ist. COPA wurde am 6.9.1958 anlässlich einer Konferenz gegründet, auf welcher die Grundlagen für die Einführung der gemeinsamen Agrarpolitik erarbeitet wurden. Die Initiative zur Gründung des damaligen Sechserverbandes ging, wie führende Repräsentanten des Verbandes selbst wiederholt bekundeten, nicht etwa von den nationalen Bauernverbänden, sondern von der Europäischen Kommission aus (Burkhardt/Schumann 1978: 214). Doch nicht nur in der Frühphase der europäischen Integration leistete die Kommission „Geburtshilfe" für Euroverbände. Sie wurde immer dann aktiv, wenn ihr die in bestimmten Sektoren jeweils bestehende Verbandsstruktur aus aktuellen Anlässen unzureichend erschien. So wurde etwa angesichts der europäischen Stahlkrise während der ersten Hälfte der siebziger Jahre deutlich, dass die seinerzeit vorhandenen Überkapazitäten bei der Stahlproduktion abgebaut werden mussten. Die Kommission wollte hierfür die Vereinbarung von Produktionsquoten und Preisabsprachen ermöglichen, sah sich aber aufgrund der unübersichtlichen Interessenlage nicht imstande, ein entsprechendes Programm zu entwickeln. Deshalb rief der für industrielle Angelegenheiten zuständige Kommissar Davignon die Stahlproduzenten im EG-Raum auf, einen Dachverband zu bilden. Es lässt sich in diesem Fall geradezu von einem „Sponsoring" eines europaweiten Kartells durch die Komission sprechen (Streeck/Schmitter 1994: 187), die im Jahr 1977 zur Gründung der „European Confede-ration of Iron and Steel Industries" (EUROFER) führte. Prämiert wurde dieser Zusammenschluss von der Kommission mit der korpo-ratistischen Einbindung des neuen Verbandes in die europäische Stahlpolitik (Nollert 1996: 657). Aus demselben Zeitraum datiert der Versuch, die Interessenlandschaft im Bereich der Ökologie, in welchem eine Vielzahl von Umweltschutzgruppen um Einfluss konkurrierte (Hull 1993: 89), neu zu strukturieren. Die Gründung des „European Environmental Bureau" (EEB), dem heute nach eigenen Angaben 134 Nicht-Regierungsorganisationen aus 25 Ländern angehören, im Jahr 1976 ging ebenfalls auf die Initiative der Kommission zurück (Dieckmann 1998: 214). Die Kommission hat aus verschiedenen Gründen ein Interesse daran, gestaltend auf die Brüsseler Verbändelandschaft einzuwirken. Ganz allgemein wertet sie funktionstüchtige Euroverbände als Beitrag zur Verschiebung der Machtbalance von der nationalen zur supranationalen Ebene (Eichener/Voelzkow 1994: 14). Des Weiteren ist sie an einer überschaubaren, klar strukturierten Interessenlandschaft mit möglichst wenigen, dafür aber repräsentativen Verbänden interessiert. Auch ist die Kommission bemüht, die Ungleichgewichtigkeit der in Brüssel vertretenen Interessen zu korrigieren. Weil über 50 % der europaweit organisierten Verbände industrielle Produzenteninteressen repräsentieren (Kohler-Koch 1992: 95; Dieckmann 1998: 214), versucht sie, die traditionell schwachen Interessen etwa im Verbraucher- und Umweltschutz nicht nur durch Unterstützung bei der Gründung transnationaler Verbände zu fördern, sondern gibt auch Zuschüsse zur Finanzierung der laufenden Arbeit (Eising 2001: 469; Grande 2003: 51). So erhielt nach Angaben der zuständigen Generaldirektion der Europäischen Kommission das Europäische Umweltbüro für das Jahr 2003 von der Kommission Zuschüsse in Höhe von knapp 761.000 Euro; gleichzeitig wurden die europäische Vereinigung von Friends of the Earth mit 419.000 Euro und das „European Policy Office" des World Wide Fund for Nature mit knapp 618.000 Euro gefördert. Die Kommission fördert verschiedene Umweltorgani-sationen, die auf EU-Ebene tätig sind, gleichzeitig. Insgesamt umfasst die Liste der geförderten UmWeltorganisationen 28 Vereinigungen (ABL.EU 2003/C 147/05). Dies zeigt, wie schwierig es ist, das von ihr angestrebte Ziel anerkannter „zentraler" Euroverbände zu realisieren, die in der Lage sind, „gefilterte" Stellungnahmen zu liefern, wel- 156 157 che von (national) divergierenden Interessenprofilen bereits befreit sind. Die Kommission sieht zwar in Euroverbänden, die national unterschiedliche Interessen harmonisieren und den intern gefundenen gemeinsamen Nenner glaubhaft repräsentieren können, ihre „natürlichen Verbündeten" (Platzer 1997: 69), findet sie allerdings nicht immer. Obwohl sich die Zahl der europäischen Verbände seit den siebziger Jahren mehr als verdoppelt hat (Dieckmann 1998: 212), bleiben solche „natürlichen Bündnisse" also eher rar, und wo sie Zustandekommen, sind sie nicht sonderlich wirkungsmächtig. Der Grund für diese Diskrepanz ist darin zu suchen, dass es den nationalen Interessenträ-gern zwar relativ leicht fällt, der Gründung europäischer Dachverbände zuzustimmen, weil sie sich von ihnen bestimmte Dienstleistungen vor allem in Form von Informationen versprechen. Über die Handlungsfähigkeit des jeweiligen Euroverbandes ist damit jedoch noch nichts gesagt. Die große Mehrzahl der europäischen Verbandsföderationen leidet unter einer Vielzahl von Problemen, die es nach wie vor gerechtfertigt erscheinen lassen, sie als ineffiziente „Papiertiger" zu qualifizieren (Pijnenburg 1998: 303). Die angesprochenen Probleme schlagen sich darin nieder, dass den Euroverbänden von ihren nationalen Mitgliedern in aller Regel nur höchst unzureichende Handlungsressourcen zugestanden werden. Sichtbares Resultat dessen ist die dürftige Personalausstattung der Brüsseler Repräsentanzen, die von den europäischen Verbänden unterhalten werden. Im Durchschnitt kommen auf die Vertretung eines Euroverbandes 3,5 hauptamtliche Mitarbeiterstellen, • den Regelfall bilden aber noch immer „Ein-Personen-Büros" mit einer halbtags tätigen Sekretärin. Seltene Ausnahmen von dieser Regel sind zum Beispiel der europäische Bauernverband COPA, die Dachorganisation der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE) und der Europäische Verband der Chemischen Industrie (CEFIC), die jeweils mehr als 50 Mitarbeiter beschäftigen (Dieckmann 1998: 213). Der geringe Personalbestand ist indes lediglich der äußerlich sichtbare Ausdruck eines wesentlich grundsätzlicheren Problems im Verhältnis der Euroverbände zu ihren Mitgliedsorganisationen aus den Nationalstaaten. Es nimmt seinen Ausgang darin, dass die unter dem „Dach" eines europäischen Verbandes vereinten Interessenträger - vor allem derjenigen aus dem im weitesten Sinne ökonomischen Bereich - untereinander nach wie vor in einem Konkurrenzverhältnis stehen, denn sie kämpfen um Marktanteile. Die Aussage, europäische Verbände seien lediglich imstande, „Positionen auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners" zu vertreten (Eichener 2000: 260), lässt sich also dahingehend präzisieren, dass sie für die Kommission als Verhandlungspartner in aller Regel überhaupt nur dann interessant sind, wenn wettbewerbsneutrale Maßnahmen bzw. Rechtsetzungsakte der Europäischen Gemeinschaft zur Debatte stehen (Platzer 1996: 128), und das ist in den Politikfeldern mit hohem Vergemeinschaftungsgrad in den seltensten Fällen gegeben. Europäische Verbände taugen deshalb allenfalls als „Defensivmechanismen über die Grenzen hinweg", wenn auf europäischer Ebene Maßnahmen ins Auge gefasst werden, von denen sich alle Verbandsmitglieder ungeachtet ihrer nationalen Herkunft gleichermaßen Nachteile erwarten (Hartmann 1998: 244). Aber auch in dieser Funktion unterliegen die Euroverbände einer zweifachen Handlungsrestriktion. Erstens ist eine mitgliedstaatlich „neutrale" Verteilung von ökonomischen Nachteilen wie zum Beispiel von Auflagen zur Arbeitssicherheit nur dann gegeben, wenn vorher bereits ein gleiches Ausgangsniveau in Form europaweit einheitlicher Standards galt. Hinzu kommt, zweitens, dass Defensivtaktiken, die auf die Sicherung des Status quo gerichtet sind, nicht mehr die Kommission zum Adressaten haben, sondern zwangsläufig auf den Rat zielen müssen. Zum Rat aber haben Interessengruppen - auch europäische - schlicht keinen Zugang. Das europäische Verbandsdilemma besteht zusammengefasst also darin, dass die Euroverbände schon je für sich, wenngleich in unterschiedlicher Intensität, heterogene Interessen vertreten, weshalb sie von ihren Mitgliedern kein Mandat erhalten, Entscheidungen zu treffen bzw. Vereinbarungen einzugehen, die für ihre Mitgliedsverbände verpflichtend wären. Ohne Verpflichtungsfähigkeit gegenüber ihren Mitgliedsorganisationen aber sind die Beiträge, welche die europäischen Verbände für die Politikformulierung leisten können, für die politisch administrativen Akteure der EU weitgehend wertlos (Eichener 2000: 260f.). 158 159 Für die Analyse des politischen Systems der Europäischen Union bedeutet dieser Befund, dass sich korporatistische Arrangements, bei denen Euroverbände förmlich in die Entscheidungs- und Implementationsprozesse eingebunden sind, nur in Ausnahmefallen durchgesetzt haben bzw. durchsetzen werden (Grande 2003: 58). Neben dem Bereich industrieller Normung ist vor allem die Gemeinsame Agrarpolitik korporatistisch durchsetzt. Dies zeigt sich daran, dass der europäische Dachverband der Bauernverbände COPA offiziell in den beratenden Ausschüssen der Kommission vertreten ist und dort bis zur Hälfte der Mitglieder stellt (Eichener 2000: 264). Die Homogenität der (Produzenten-)Interessen im Agrarbereich erlaubt den nationalen Bauernverbänden, in einem Ausmaß „Handlungsvollmachten" an ihren europäischen Dachverband zu delegieren, das in anderen Wirtschaftsbereichen völlig unrealistisch erscheint. Dies ist der Grund, warum etwa der in Art. 139 EG-Vertrag verankerte „Soziale Dialog" zwischen dem Europäischen Industrie- und Arbeitgeberverband UNICE, dem europäischen Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft CEEP und dem Europäischen Gewerkschaftsbund EGB bis heute weitgehend folgenlos blieb (Dieckmann 2000: 289; Eising 2001: 464f.). Die gewerkschaftliche Interessenvielfalt, die bedingt ist durch die Konkurrenz der nationalen Gewerkschaften um Arbeitsplätze einerseits, und das fehlende Mandat für UNICE für verbindliche Vereinbarungen andererseits, blockieren die Verhandlungen. Faktisch können sowohl EGB als auch UNICE als europapolitische Akteure vernachlässigt werden (Hartmann 1998: 245; 248). Ohne funktionsfähigen „Tripartismus" gibt es aber keinen Korpora-tismus. Deshalb lässt sich das europäische System der Interessenvermittlung am treffendsten noch immer als „disjointed pluralism" beschreiben (Streeck/Schmitter 1994: 215). In diesem mittlerweile kaum mehr überschaubaren System nehmen die deutschen Interes-senträger - Verbände wie einzelne Unternehmen - jeweils unterschiedliche Strategien gleichzeitig wahr. „Gegenwärtig ist nahezu das gesamte Spektrum nationaler Interessenorganisationen, von den Fach-, Branchen- und Dachverbänden der Wirtschaft, über die Agrar-, Umweltschutz- und Verbraucherverbände bis hin zu den Wirtschafts- und Wohlfahrtsverbänden in europäischen Verbänden organisiert" (Platzer 2002: 409). Mit ihrem Bei- tritt zu den jeweiligen europäischen Verbandsföderationen erfüllen die nationalen Interessengruppen die oben skizzierten Erwartungen der Europäischen Kommission, die grundsätzlich auf eine EU-weite Interessenaggregation gerichtet sind. Wegen des Primats, das dem Binnenmarktprojekt sowie der Wirtschafts- und Währungsunion für die europäische Integration zukommt, stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Ausrichtung und der Effizienz von Euroverbänden für wirtschaftspolitische Interessenträger in besonderem Maße. Es ist daher nur natürlich, dass die nationalen Wirtschafts- und Industrieverbände ihre Strategien nicht nur auf eine erhöhte Wirksamkeit der multilateralen Verbandsabstimmung in ihrem Bereich abstellen, sondern mindestens in gleichem Maße auch darauf, dieselbe einer größtmöglichen Kontrolle zu unterwerfen (Kohler-Koch 1990: 226). Wer in einem europäischen Verband „das Sagen hat", entscheiden neben der Bereitschaft und der Initiative zur Mitgestaltung der europäischen Politik primär zwei Kriterien: Die Stellung der durch den jeweiligen Verband repräsentierten Branche auf dem internationalen bzw. europäischen Markt und/oder der finanzielle Beitrag, den die jeweilige nationale Organisation für ihren Euroverband zu leisten fähig und willens ist. So ist beispielsweise die deutsche Lederindustrie ihrer italienischen und spanischen Konkurrenz hoffnungslos unterlegen und hat dementsprechend geringen Einfluss auf die Politik des europäischen Verbandes der Lederindustrie, während sich die Situation für die optische und feinmechanische Industrie genau umgekehrt darstellt. Der Anteil von etwa 50 % der deutschen Produzenten auf dem europäischen Markt beschert dem „Verband der deutschen feinmechanischen und optischen Industrie" eine Führungsrolle in der europäischen Organisation (Schloz 1994: 88). Schon aufgrund seiner bloßen Mitgliedsstärke kommt auch dem Deutschen Bauernverband auf europäischer Ebene innerhalb des COPA eine tragende Rolle zu, die auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass der Vorsitzende des DBV auch dem europäischen Dachverband vorsteht. Auch für den Deutschen Gewerkschaftsbund gilt, dass er innerhalb des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) einen Führungsanspruch geltend machen kann, weil er die Hauptlast seiner Finanzierung trägt (Hartmann 1998: 247). 160 161 Aber auch wenn es einem nationalen Verband gelingt, innerhalb der für ihn „einschlägigen" europäischen Verbandsföderation einen gewissen Führungsanspruch durchzusetzen, ist damit die Effizienz des europäischen „lobbying" allein deshalb noch nicht gesichert, weil die Politik der Euroverbände zwangsläufig auf Kompromissen beruht, denen spezifisch nationale Interessenlagen häufig zum Opfer fallen (Schloz 1994: 190). Deshalb betreiben nationale Interessenorganisationen unabhängig von und parallel zu ihrer Mitgliedschaft in den europäischen „Verbänden der Verbände" ihre eigene Europastrategie (Eising 2001: 462; Lahusen 2003: 308). Vorreiter bei der Einrichtung eigener Vertretungen am Sitz der Gemeinschaftsorgane waren der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), die ihre Brüsseler Büros bereits im Jahre 1958 bezogen. War die unmittelbare Präsenz nationaler Verbände ursprünglich auf derartige Dachverbände beschränkt (Kohler-Koch 1992: 107), so ist sie heute auch für die wichtigen Branchen- und Fachverbände (nicht nur) der deutschen Wirtschaft die Regel. In Brüssel finden sich mittlerweile etwa fünf Mal so viele nationale Interessengruppen wie europäische Verbände (Dieckmann 1998: 211). Der Selbstdarstellung der BDI-Vertretung bei der Europäischen Union, die im Internet zu finden ist (http://www.bdi-online.de), kann man entnehmen, dass allein in dem Gebäude, in dem der BDI residiert, dreizehn weitere deutsche Verbandsvertretungen untergebracht sind, darunter der Verband der Automobilindustrie (VDA), der Verband der Chemischen Industrie (VCI), der Bundesverband der Deutschen Entsorgungswirtschaft (BDE) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Eine Befragung von Repräsentanten deutscher, französischer und britischer Wirt-schaftsverbände erbrachte das Ergebnis, dass nur noch 18 % der nationalen Interessenorganisationen eine rein nationale Strategie verfolgen (Quittkat/Kohler-Koch 2000: 44). Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund hat sich, wenn auch spät, der Einsicht gebeugt, dass eine ausschließlich über einen europäischen Dachverband organisierte Interessenvertretung wenig Erfolg verspricht. Seit dem Jahr 1997 unterhält auch der DGB eine eigene Vertretung in Brüssel (Platzer 2002: 409). Die nationalen Verbände haben einen besseren und leichteren Zugang zur Europäischen Kommission als verschiedentlich unterstellt wird. So berichtet etwa Schloz (1994: 153f), dass deutsche Verbände durch die Aufnahme nicht-deutscher Mitglieder aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union versucht hätten, die „strengen Vorgaben für die Einstufung als Euro-Verband" durch die EG-Lobbyliste zu umgehen. Sollten solche Versuche deutscher Verbände, sich ein „europäisches Mäntelchen" umzuhängen, tatsächlich durch die vermeintliche Erkenntnis motiviert gewesen sein, anders keinen Zugang zur Europäischen Kommission gewinnen zu können, war die Strategie überflüssig. Denn auch wenn die Kommission in ihrer 1992 veröffentlichten „Mitteilung über einen offenen und strukturierten Dialog zwischen der Kommission und den Interessengruppen", die auch heute noch Gültigkeit hat, betont, dass sie den Kontakt mit europäischen Verbänden bevorzuge, macht sie dort gleichzeitig auch deutlich, dass sie sich zu einer Gleichbehandlung aller, also auch nationaler, Interessengruppen verpflichtet sieht2. Dies liegt durchaus in ihrem Eigeninteresse, weil viele der europäischen Dachverbände, auch wenn sie tatsächlich ein aggregiertes Meinungsbild zu präsentieren in der Lage sind, die „Fachlichkeitserwartungen" der Kommission nicht erfüllen können (Hartmann 1998: 245). Es sind letztlich nur die nationalen Verbände, die Einblick in die Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten bieten können: „Ihre Position ist immer dann von Interesse, wenn die genaue Kenntnis der Sachlage in den jeweiligen Mitgliedstaaten erforderlich ist, um [...] mögliche Widerstände für die Umsetzung der europäischen Gesetzgebung auf nationaler Ebene auszuräumen" (Quittkat/Kohler-Koch 2000: 45). Getragen werden die nationalen Wirtschaftsverbände in letzter Instanz von einzelnen Unternehmen. Für Großunternehmen, die auf internationalen Märkten agieren, gilt seit langem, dass sie eine ausschließlich über Branchenverbände vermittelte Repräsentanz im industriellen Dachverband, die, bis es zur Interessenvertretung auf europäischer Ebene kommt, noch eine dritte, die transnationale Verbandsebene durchlaufen muss, als wenig angemessenes Organisationsprin- 2 http://europa.eu.int/comm/secretariat.general/sge/lobbies/communication/ groupint_en.htm 162 163 zip betrachten (Kohler-Koch 1990: 229). Sie drängten deshalb auf eine ihrer wirtschaftlichen Bedeutung angemessene Reorganisation der Euroverbände, um dort ihre jeweils spezifischen Interessen besser zur Geltung bringen zu können. In Reaktion auf die vielfältigen Fu-sions- und Transnationalisierungsprozesse hat sich eine Vielzahl europäischer Verbände seit den achtziger Jahren diesen Forderungen gebeugt und lässt neben nationalen Verbänden aUch einzelne Konzerne als Mitglieder zu (Pijnenburg 1998: 304). Ein besonders signifikantes Beispiel liefert der Europäische Verband der Chemischen Industrie CEFIC. Er weist eine duale Führungsstruktur auf (Platzer 1996: 126)» die seit dem Jahr 2000 neben nationalen Chemieverbänden aus 16 Staaten 37 transnationale Konzerne umfasst. Zählt man den Aventis-Konzern, der aus einer Fusion der deutschen Hoechst AG mit der französischen Rhone-Poulenc S.A. hervorging, trotz des offiziellen Firmensitzes in Straßburg noch zu den deutschen Konzernen, sind sieben deutsche Chemieunternehmen Vollmitglieder des CEFIC. Die „großen Drei" der deutschen Chemie — BASF, Bayer und Aventis — gehören zu den Direktmitgliedern des CEFIC, denen das größte Gewicht für die Formulierung der Verbandspositionen zugesprochen wird (Hartmann 1998: 126). Auch der europäische Verband der Automobilindustrie (ACEA) lässt einzelne Konzerne als unmittelbare Mitglieder zu. Neben Volkswagen und DaimlerChrysler, denen eine besonders starke Stellung im ACEA attestiert wird, finden sich als deutsche Direktmitglieder auch die Firmen BMW, Porsche und MAN. Die europäischen Verbände lassen sich für die Sonderinteressen einzelner Großkonzerne allerdings nur begrenzt instrumentalisieren. So ist beispielsweise eine gemeinsame Position der europäischen Automobilhersteller in Bezug auf die Einführung neuer Umweltnormen nur in Ausnahmefällen herstellbar. Von der Heranführung von europäischen Normen an in Deutschland bereits etablierte Standards beispielsweise können sich die deutschen Konzerne Kostenvorteile versprechen. Hier ist, wie beispielhaft an den Kontroversen um die Einführung des Katalysatorautos abgelesen werden kann (Holzinger 1994: 171ff.), ein Arrangement mit den französischen und italienischen Automobilproduzenten so gut wie ausgeschlossen, weshalb die Politik des „go it alone" einzelner Konzerne seit längerem hoch im Kurs steht (Hartmann 1998: 244). Die Brüsseler Unternehmensrepräsentanten haben wesentlich mehr persönliche Kontakte mit Mitarbeitern der Europäischen Kommission sowie mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments und des Rates als die Vertreter nationaler Verbände, wobei anzunehmen ist, dass ihnen der Zugang zur Kommission leichter fällt als zu Rat und Parlament (Bouwen 2002: 383). Zwei Gründe sprechen für die Offenheit der europäischen Organe gegenüber den Großkonzernen: Ihre unmittelbare Entscheidungsgewalt über Investitionen und den Erhalt von Arbeitsplätzen sowie ihre im Vergleich zu den Dachverbänden ausgeprägte Fähigkeit zur schnellen Reaktion auf neue Entwicklungen (Kohler-Koch/Quittkat 1999: 5). Die Investitionen in eigene Brüsseler Repräsentanzen lohnen sich ganz offenbar, und zwar nicht nur wegen des unmittelbaren Zugangs zu den Gemeinschaftsorganen, sondern auch, weil sie die Bildung von „Ad-hoc-Koalitionen" zwischen verschiedenen Konzernen mit gleichgerichteten Interessen erleichtern (Pijnenburgl998). Es wäre allerdings verfehlt, das verstärkte Interesse der nationalen Verbände und Konzerne an einer Beeinflussung der europäischen EntScheidungsprozesse gleichzusetzen mit einer ausschließlich auf die Gemeinschaftsorgane bezogenen Strategie. Nach wie vor existiert auch die Option, die europäische Politik mittels „lobbying" der nationalen Regierung zu beeinflussen (Lahusen 2003: 308). Diese Strategie kann sich, weil nationale Regierungsvertreter von der Kommission trotz ihres Initiativmonopols informell häufig schon in der Frühphase der Brüsseler Entscheidungsprozesse konsultiert werden, durchaus auch als mehr oder weniger konstruktive „Mitarbeit" an der europäischen Rechtsetzung darstellen (Hartmann 1998: 240). Typischerweise aber wurde und wird der Weg über die nationale Regierung dann gewählt, wenn sich abzeichnet, dass ein Richtlinien- oder Verordnungsentwurf der Kommission nicht mehr beeinflussbar erscheint und eine „Nicht-Entscheidung" aus der Sicht des jeweiligen Interes-senträgers zur günstigeren Alternative wird (Streeck/Schmitter 1994: 194). Solange es wegen des faktischen Einstimmigkeitsprinzips im Rat generell ausreichte, nur die jeweils „eigene" Regierung davon zu überzeugen, ihr Veto einzulegen, beschränkten sich zumindest die am 164 165 Status Quo orientierten Wirtschaftsinteressen in Bezug auf die europäischen Politiken weitgehend darauf, ihre erprobten Kontakte zur Regierung zur Durchsetzung von Verhinderungsstrategien zu nutzen (Coen 1997: 93). Seit der Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Rat hat die Bedeutung des „EU-lobbying via Berlin" zwar abgenommen, wird jedoch im „Notfall" noch immer praktiziert, und zwar auch dann, wenn im Rat nicht einstimmig entschieden wird (Tenbücken 2002: 163f). Ein besonders spektakuläres und deshalb mittlerweile viel zitiertes Beispiel hierfür lieferte die Intervention des VW-Chefs Ferdinand Piech gegen die bereits unterschriftsreife Altauto-Richtlinie der EU bei Bundeskanzler Gerhard Schröder im Frühjahr 1999. Erfolgreich war dieser Vorstoß letztlich deshalb, weil der Kanzler nicht nur bereit war, durch eine entsprechende Weisung an den widerstrebenden Umweltminister den Koalitionsfrieden zu riskieren, sondern auch, die Regierungen Großbritanniens und Spaniens durch entsprechende Zugeständnisse für die erforderliche Sperrminorität im Rat zu gewinnen (Hurrelmann 2001: 153ff.). Das „mushrooming" der Verbindungsbüros einzelner Konzerne und nationaler Fachverbände in Brüssel seit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte (Kohler-Koch/Quittkat 1999: 6) legt allerdings davon Zeugnis ab, dass das Erzwingen europäischer „non-decisions" auf dem Umweg über die nationale Regierung bei Mehrheitsentscheidungen ein riskantes Unterfangen ist, das heute lediglich noch als ultima ratio gelten kann und das zudem nur den Interessen-trägem offensteht, die über bewährte Einflusskanäle zu „ihren" Ministerien oder gar unmittelbar zum Regierungschef verfügen (Eichener 2000: 266). Bislang war die Rede lediglich von der Beeinflussung des Brüsseler „Alltagsgeschäfts", also von Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen. Den Interessengruppen geht es aber nicht nur darum, dass das sekundäre Gemeinschaftsrecht in ihrem Sinne ausgestaltet wird. Selbstverständlich haben sie auch ein Interesse daran, auf dem „super-systemic-level" der Europäischen Union (Peterson 1995: 72) mitzuspielen, auf dem es vor allem im Rahmen von Regierungskonferenzen um zukunftsträchtige Leitentscheidungen geht. Diesbezüglich bemühen sich zwar auch die nationalen Verbände und ihre europäischen Föderationen darum, Gehör zu finden. Seitens der Wirtschaft und hier insbesondere der europäischen Großkonzerne aber begnügt man sich nicht mit den traditionellen, verbandsmäßig organisierten Formen der Einflussnahme. Seit Beginn der achtziger Jahre ist an deren Seite mit dem „European Roundtable of Industrialists" (ERT) eine Organisation getreten, die im einschlägigen politikwissenschaftlichen Schrifttum bisher kaum Beachtung fand, obwohl sie die Programmentwicklung und Agenda der Gemeinschaft so „unmittelbar und nachhaltig beeinflusst" (Platzer 2002: 414), dass man ihr zu Recht eine „herausragende Stellung" fur die Politikformulierung der Europäischen Union zugeschrieben hat (Nollert 1996: 659; ähnlich auch Green Cowles 1995: 225). Die Gründung des ERT geht auf die Initiative des Volvo-Vorstandsvorsitzenden Per Gyllenhammar zurück, der sich aus verschiedenen Gründen für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen europäischen Großunternehmen engagierte. Bei der Installierung des ERT wurde er nachdrücklich vom seinerzeitigen Industriekommissar Etienne Davignon unterstützt (Nollert 1996: 659). Bis heute sind personelle Verflechtungen mit (ehemaligen) Mitgliedern der Kommission eines der Strukturmerkmale der Organisation. So wird etwa die Societe' Generale de Belgique im ERT durch jenen Etienne Davignon vertreten. Derzeit (Stand: 9/2004) sind der Selbstdarstellung des ERT zufolge (http://www.ert.be) 46 Vorstandsvorsitzende bzw. andere fuhrende Repräsentanten der größten europäischen Konzerne aus 18 Staaten - darunter die Nicht-EU-Mitgliedstaaten Norwegen, Schweiz und Türkei - Mitglieder in der Organisation. Aus Deutschland sind auf diese Weise derzeit folgende Unternehmen im ERT repräsentiert: Bayer, Bertelsmann, E.ON, Lufthansa, SAP, Siemens, Telekom, Thyssen-Krupp und Volkswagen. Seit dem Jahr 2001 hat Gerhard Cromme (Thyssen-Krupp) den Vorsitz des „Roundtable" inne. Wichtigstes Ziel des ERT ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft auf den Weltmärkten. Er nimmt für sich in Anspruch, das Binnenmarktprogramm der im Jahr 1990 ins Amt gekommenen Delors-Kommission entscheidend geprägt und die Politiker aus den Mitgliedstaaten dazu bewegt zu haben, sich auf ein Datum festzulegen, zu dem das Binnenmarktprojekt abgeschlossen 166 167 sein sollte. Auf halbjährlichen Treffen mit führenden Regierungsvertretern aus allen Mitgliedstaaten gelang es dem ERT-Gremium, auch den Umsetzungsprozess des Binnenmarktprojekts systematisch zu beeinflussen (Platzer 2002: 414). ERT-Initiativen jüngeren Datums beziehen sich auf die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung, die Reform der Bildungspolitik, die Zusammenarbeit von Industrie und Politik im Klimaschutz und auf den sog. Lissabon-Prozess, der die EU zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt machen soll (http://www.ert.be). Der Einfluss, den der „Roundtable" auf die Politik der Europäischen Union zu nehmen imstande ist, gründet zweifellos auf seinen enormen finanziellen, personellen und informationellen Ressourcen und der geballten Wirtschafts- und Investitionsmacht, die er repräsentiert. Von daher ist er eine Ausnahmeerscheinung, die allerdings in anderer Hinsicht als paradigmatisch für die jüngere Entwicklung der europaorientierten Interessenpolitik gelten kann. Sie vollzieht sich ganz wesentlich an den herkömmlichen nationalen Verbänden und ihren europäischen Zusammenschlüssen vorbei und verlagert sich zunehmend auf einzelne Großunternehmen, die ihre Interessen, je nach Bedarf, entweder im Alleingang oder in konzertierter Aktion zu vertreten suchen. Die Konsequenz besteht in einer ausufernden und sich weiter differenzierenden Brüsseler Interessenlandschaft, einer „Vereinzelung" der Interessenrepräsentation auf europäischer Ebene. Das seit längerem im Entstehen begriffene Überangebot der Interessenrepräsentation gegenüber den Gemeinschaftsorganen und die daraus resultierende, kontinuierlich wachsende Unübersichtlichkeit derselben (Lahusen/Janta 2001: 208) könnte durchaus dazu führen, dass das „Euro-lobbying" sich zumindest in einigen Sektoren selbst lahmlegt (Dieckmann 1998: 259). Vor allem aber bietet es keine Gewähr für die Beseitigung der Asymmetrie in der Brüsseler Interessenpolitik. Trotz der oben geschilderten Förderung der europäischen Vertretung „allgemeiner" Interessen durch die Kommission ist die Hoffnung der in den nationalen Arenen traditionell unterrepräsentierten und benachteiligten Interessengruppen auf eine Beeinflussung der nationalen Gesetzgebung in ihrem Sinne durch europäische Vorgaben, auf Europa als „zweite Chance" also (Mazey/Richardson 1993: 16), bislang unerfüllt geblieben. Dieser Befund gilt nicht nur für das Verhältnis ökonomischer Interessen gegenüber denen etwa der Umwelt- und Verbraucherschützer, sondern auch für den ökonomischen Bereich selbst, in welchem die Belange kleiner und mittlerer Unternehmen auf europäischer Ebene kaum berücksichtigt werden. Solange die Kommission einen gleichberechtigten Kontakt zu allen Interessengruppen zwar weiter propagiert, sich gleichzeitig in vielen Fällen aber nur für die technische Expertise einzelner Firmen öffnet (Dieckmann 2000: 290), werden diese Ungleichgewichte die Glaubwürdigkeit der EU-Politiken auch weiterhin beschädigen. Diesen Asymmetrien zum Trotz lässt sich für das gesamte Spektrum der organisierten Interessen in Deutschland generalisierend festhalten, dass seine Europäisierung weit fortgeschritten ist. Die Mitgliedschaft deutscher Verbände und Unternehmen in europäischen Dachverbänden hat in diesem Prozess gegenüber dem unmittelbaren Eurolobbying sichtlich an Bedeutung verloren. Der Begriff Europäisierung ist hinsichtlich der Interessenpolitik wörtlich zu nehmen, denn die nationalen Interessenträger sind auf europäischer Ebene unmittelbar präsent und werden — wie es in der Politiknetzwerkthese thematisiert wird - formal und informal, wenngleich in unterschiedlicher Intensität, in die politisch-administrativen Entscheidungspro-zesse eingebunden. Literatur Bouwen, Pieter (2002): Corporate lobbying in che EU: the logic of access, in: Journal of European Public Policy 9(3), S. 365-390. Burckhardt, Barbara/Schumann, Wolfgang (1978): Die transnationalen Verbandszusammenschlüsse der Landwirtschaft und des Handels, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 9(2), S. 200-214. Coen, David (1997): The Evolution of the Large Firm as a Political Actor in the European Union, in: Journal of European Public Policy 4(1), S. 91—108. 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