Otto Friedrich Bollnow DER BERGENDE RAUM * Während die Frage nach der inneren Zeitlichkeit des menschlichen Daseins die Aufmerksamkeit der Philosophen in den letzten Jahrzehnten in hohem Mass beschäftigt hat und sich darüber hinaus auch in ihren Auswirkungen auf die verschiedenen Nachbarwissenschaften, von der Literaturwissenschaft bis zur Psychopathologie, als überaus fruchtbar erwiesen hat, ist die Frage nach der räumlichen Verfassung des menschlichen Lebens, oder einfacher, aber mit einer gewissen Akzentverschiebung ausgedrückt, die Frage nach dem vom Menschen gelebten und erlebten Raum, bisher auffallend wenig beachtet worden. Erst in letzter Zeit mehren sich die Beiträge zu dieser Fragestellung und erweisen sich ebenfalls als überaus fruchtbar. Aber immer noch gehen diese Anregungen mehr von den benachbarten Einzelwissenschaften aus, die aus ihrer eignen Problematik heraus zu einer solchen allgemeineren Fragestellung gedrängt werden, nicht von der Philosophie selber, und sie haben darum bisher auch noch keine zusammenfassende philosophische Behandlung gefunden. Auch die hier vorgelegten Betrachtungen sind noch nicht als ein Versuch zu einer solchen umfassenden systematischen Darstellung zu verstehen, sondern als ein weiterer Versuch, der von einer bestimmten unmittelbar interessierenden Fragestellung aus in die allgemeinere Struktur des konkreten menschlichen Lebensraums vorzudringen versucht. Sie knüpfen dabei an eine Fragestellung an, die ich im April 1961 in der Internationale School voor Wijsbegeerte in Amersfoort entwickelt habe. 1 [49/50] Wenn wir die innere Gliederung des konkreten erlebten Raums erfassen wollen, dürfen wir nicht an den mathematisch-physikalischen Raumbegriff denken, den wir gewöhnlich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit als den Raum schlechthin zu betrachten pflegen. Dieser ist durch seine Homogeneität gekennzeichnet. Kein Punkt ist vor dem andern ausgezeichnet, jeder beliebige kann zum Mittelpunkt des Bezugssystems gewählt werden, und von jedem her erstreckt sich der gleiche strukturlose Raum bis in die Unendlichkeit. Ebenso ist auch keine Richtung vor der andern ausgezeichnet, und jede beliebige kann zur Koordinatenachse gemacht werden. Der erlebte Raum dagegen hat ein natürliches vorgegebenes Richtungssystem, in dem die Vertikalachse die beherrschende Rolle spielt. Er hat vor allem einen natürlichen Mittelpunkt, der durch den darin lebenden Menschen bestimmt ist und auf den alle seine Bewegungen im Raum bezogen sind. Dieser Mittelpunkt ist nicht mit seinem jeweiligen Aufenthalt zu verwechseln, und nur weil er davon verschieden ist, hat der Mensch die Möglichkeit, sich aus dieser Mitte seines Lebensraums zu entfernen und wieder zu ihr zurückzukehren. Diese doppelt gerichtete Dynamik des Fortgehens und Zurückkehrens bestimmt als eine Urpolarität jede Bewegung des Menschen in seinem Raum, und zwar in einer jeweils verschiedenen Weise von den Bewegungen innerhalb des Zimmers bei der täglichen Arbeit bis zu den grossen Reisen in der Welt. Es ist erstaunlich, wie stark das Bedürfnis nach einem gewohnten Platz, von dem als einer festen Mitte der Mensch seine Umgebung betrachtet, schon in den kleinsten Verhältnissen vorhanden ist. Selbst wo kein Grund besteht, einen bestimmten Platz vor einem anderen zu bevorzugen, etwa im Gasthaus oder im Hörsaal oder während der Dau- * Erschienen in: Duitse Kroniek, 14. Jg. 1962, S. 49-62. Die Seitenumbrüche der Erstausgabe sind in den fortlaufenden Text eingefügt. 1 Zwei Vorträge, gehalten am 15. und 16. April an der Internationale School voor Wijsbegeerte in Amersfoort, in denen ich den Aufsatz „Der erlebte Raum“, Universitas, 15. Jahrg. 4. Heft, 1960, S. 397 ff. zu erweitern versucht habe. 2 er einer Konferenz um den Besprechungstisch herum, streben die Menschen unwillkürlich nach dem einmal eingenommenen Platz zurück und werden unruhig, wenn sie diesen ohne Notwendigkeit wechseln müssen. Sehr viel stärker wirkt sich dies natürlich im grossen in der Bindung an Haus und Heimat aus. Jede dieser beiden Bewegungen, die des Fortgehens wie die des Zurückkehrens, hat ihren eigentümlichen Gefühlston, aus dem sie in ihrer Lebensfunktion erst richtig durchsichtig wird. Das Fortgehen von der Mitte ist ein Vorstossen in die Weite des Raums, von einem Gefühl der überquellenden eignen Kraft getragen. Man kann seine Grundgestimmtheit am ehesten als die einer morgendlichen Frische, einer Bereitschaft zum wagenden Einsatz bezeichnen. Dem entspricht bei der entgegengesetzten Bewegung der Rückkehr zum Ursprung das abendlich gestimmte Bedürfnis nach Ruhe, die Sehnsucht nach dem gewohnten Aufenthalt, und es stellt sich alsbald ein Gefühl wohligen Behagens ein, wenn der Mensch zu diesem zurückgekehrt ist. Es sind also zwei polar aufeinander bezogene Formen eines den Menschen erfüllenden Glücks- [50/51] gefühls: die Lust an der frei sich entfaltenden Tätigkeit und das Behagen wiedergewonnener Ruhe. Diese Aufgabe, allem menschlichen Lebensverhalten einen festen Rückhalt zu geben, kann die Mitte des erlebten Umweltraums aber nur dann erfüllen, wenn sie nicht ein blosser Mittelpunkt im mathematischen Sinn ist, sondern selber wieder ein Raum, ein bestimmter engerer Raum, der sich durch eine deutliche Begrenzung aus dem grösseren, im Unbestimmten verfliessenden Raum heraushebt. Und so sondert sich im Gesamtraum ein engerer Bereich, ein Innenraum, in dem der Mensch wohnt und weilt und in dem er nach allen ausgreifenden Bewegungen wieder seine Ruhelage findet, von einem weiteren Bereich, einem Aussenraum, in den der Mensch von dieser Mitte aus vordringen und aus dem er sich dann auch wieder zurückziehen kann. In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, dass schon rein sprachgeschichtlich das Wort Raum ursprünglich einen solchen engeren, begrenzten Raum im Sinne eines bergenden Hohlraums bezeichnet. So bemerkt das Grimmsche Wörterbuch 2 als die ursprüngliche Bedeutung des Verbums „räumen“: einen Raum, d. h. eine Lichtung im Walde schaffen, behufs Urbarmachung oder Ansiedlung. Indem es die verschiedenen etymologischen Zusammenhänge zusammenzufassen versucht, kommt es auf eine Grundbedeutung des Wortes Raum „als einen uralten Ausdruck der Ansiedler, der zunächst die Handlung des Rodens und Freimachens einer Wildnis für einen Siedelplatz bezeichnete, ... dann den so gewonnenen Siedelplatz selbst.“ Entsprechend bemerkt der Kluge-Götze 3 , dass die verschiedenen Wörter der alten germanischen Sprachen, die alle als Substantivierung aus einem gemeingermanischen Adjektiv im Sinne von „geräumig“ hervorgegangen seien, so viel wie „Raum, freier Platz, Sitzplatz, Bett“ bedeuten, also alle einen solchen aus der übrigen Welt ausgesparten gewohnten Aufenthaltsraum bezeichnen. Ich habe in Vorträgem, die ich ebenfalls im April 1961 auf Einladung der Niederländischdeutschen Gesellschaft in Utrecht, Rotterdam und Amsterdam gehalten habe 4 , das vom Men- 2 Deutsches Wörterbuch von W. und J. Grimm. 3 Friedrich Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Alfred Götze. 11. Aufl. Berlin und Leipzig 1934. 4 Drei Vorträge über die Bedeutung des Hauses für den Menschen, gehalten auf Einladung der NiederländischDeutschen Gesellschaft am 18. April in Rotterdam, am 25. April in Utrecht und am 27. April in Amsterdam. Ich habe dort Gedanken ausgeführt, die ich zuerst in dem Kapitel „Der Sinn des Hauses“ in einem Buch: Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existenzialismus, 2. Aufl. Stuttgart 1960, niederländische Übersetzung unter dem Titel Nieuwe Geborgenheid, verdaalt door T. J. Langeveld-Bakker, Utrecht 1958, entwickelt hatte. 3 schen gebaute Haus mit [51/52] seinen schützenden Mauern und seinem bergenden Dach, mit seinen Türen und Fenstern, die als vermittelnde Glieder den Verkehr mit einer Aussenwelt vermitteln, als den Urtyp eines solchen engeren Raums herauszuarbeiten versucht, der dem Menschen Sicherheit und Geborgenheit ermöglicht, und ich glaube in der Tat, dass dem Haus auf diese Weise eine grundlegende Funktion für den Aufbau des gesamten menschlichen Lebens zukommt. Aber das Haus mit seinen verschiedenen Zimmern, mit seinem Dachboden und seinem Keller, ist seinerseits wiederum ein verhältnismässig umfangreiches und in sich reich gegliedertes räumliches Gebilde, so dass sich an ihm die Frage wiederholt, ob man nicht noch innerhalb des Hauses die gesuchte Mitte des erlebten Raums noch genauer bestimmen kann. Wenn man auf einfache ländliche Verhältnisse zurückgeht und sich insbesondere die antike Welt vor Augen hält, so gibt es dort eine solche gemeinsame Mitte des Hauses. Das ist schon im ganz wörtlichen Sinn verstanden der Herd, der damals in der Mitte des Hauses stand und der damals noch eine unmittelbare sakrale Bedeutung hatte, der Herd als Altar, und der auch heute noch einen gewissen Rest dieser sakralen Bedeutung behalten hat. Haus und Herd werden so von der Sprache in einer geläufigen Verbindung zusammengenommen. „Eigner Herd ist Goldes wert“, sagt das Sprichwort, und auch Schiller spricht von „des Herdes Heiligtum“. Der Herd ist gleichbedeutend mit dem eignen Haushalt. Selbst wenn man in übertragener Bedeutung von einem Krankheitsherd spricht, ist damit diese Ausgangsstellung und der eigentliche Sitz der Krankheit bezeichnet. In dem Masse aber, wie in den modernen Wohnungen die Küche zum Nebenraum zusammengeschrumpft ist, zu dem ausser der Hausfrau und allenfalls dem Dienstpersonal niemand mehr Zutritt hat, hat der Herd auch diese Stellung als Mittelpunkt des Hauses verloren, bis er schliesslich auch äusserlich als moderner Elektroherd sogar auf die symbolkräftige sichtbare Flamme verzichten musste. In einem gewissen Mass ist dann der Esstisch an seine Stelle getreten. Er ist jetzt der Ort, an dem sich und um den sich zu regelmässigen Zeiten die ganze Familie versammelt. Auch der Tisch hat diese symbolische Bedeutung in manchen sprichwörtlichen Wendungen gefestigt. So gilt, seine Füsse unter den Tisch eines Hauses zu strecken, auch heute noch vielfach als Ausdruck der Herrschaft des Hausherrn, inbesondere des Familienvaters gegenüber seinen noch unselbständigen Kindern. Herd und Tisch waren in dieser Weise Symbole der gemeinsamen Mitte der Familie. In dem Masse aber, in dem sich das gemeinsame Leben der Familie aufspaltet und das der einzelnen Glieder an Selbständigkeit gewinnt, entsteht die Frage, wo jetzt für den einzelnen Menschen innerhalb des Hauses diese bestimmende Mitte zu suchen sei, auf die alle einzelnen Wege innerhalb und ausserhalb des Hauses bezogen sind. Ich [52/53] glaube nun, dass die Mitte mit dem Bett bezeichnet ist. Das Bett ist der Ort, von dem sich der Mensch am Morgen zu seinem Tagewerk erhebt und an den er abends nach getaner Arbeit wieder zurückkehrt. Jeder Tageslauf beginnt (unter normalen Umständen) im Bett und endet wieder im Bett. Und ebenso ist es mit dem Menschenleben im ganzen: Es beginnt im Bett, und es endet (wieder normale Lebensumstände vorausgesetzt) wieder im Bett. Im Bett also schliesst sich der Kreis, der des Tages wie der des Lebens. Hier kommt der Mensch im tiefsten Sinn zur Ruhe. Von hier aus ergibt sich die Aufgabe, die Bedeutung des Betts für den Aufbau des menschlichen Lebens und inbesondre des vom Menschen gelebten und erlebten Raums zu untersuchen. Dabei ist erstaunlich, in einem wie geringen Mass das Bett bisher das menschliche Nachdenken gereizt zu haben scheint. Wer von den Dichtern hat es in würdiger Weise gerühmt? Wer von den Denkern hat es in seiner Bedeutung für das menschliche Leben zu ergründen versucht. Es sind nur wenige Belege, die einem hier begegnen, und auch diese sind schwer zu finden, weil sie meist in andern Zusammenhängen versteckt vorkommen. Es ist schon eine 4 Ausnahme, wenn Weinheber, auf den wir noch zurückkommen müssen, das Bett in wirklicher Ergriffenheit besingt: Heiliger Hausrat Bett! Still wird, der dich bedenkt 5 . Diese geringe Beachtung liegt offenbar nicht nur an der Unscheinbarkeit dieses stillen Möbelstücks, sondern auch an seiner Heimlichkeit. Es gehört einem „intimen“ Bereich des Lebens an, von dem man nicht viel spricht. Ausser in den Möbelhandlungen, in denen es schamlos zur Schau gestellt wird, gehört es einem privaten Bereich des Hauses an, der als solcher von dem übrigen Haus noch einmal wieder abgesondert ist. Das Schlafzimmer ist auch den Besuchern meist verschlossen. Und so ist es bezeichnend, dass die Sprache eine Menge von Decknamen gebildet hat, um das direkte Aussprechen des Worts zu vermeiden. Man bezeichnet es als „Klappe“ , als „Falle“, als „Nest“, als die „Buntkarierten“ usw. Dahin gehören auch die weiteren in Trübners Wörterbuch angegebenen Umschreibungen: nach Bethlehem oder nach Bettingen gehen (von Bett), nach Posen (von den Federposen), nach Liegnitz (von Liegen) usw. Als einziges von den gebräuchlichen Möbelstücken verfügt das Bett über eine solche Fülle von Umschreibungen. Schon dies ist ein Hinweis dafür, dass es einem Bereich angehört, den man nicht gern mit seinem Namen ausdrücklich zu nennen wagt. [53/54] Hinzu kommt natürlich erschwerend die erotische Bedeutung des Betts. Zu leicht stellen sich frivole Erwartungen ein, wenn von einer „Philosophie des Betts“ die Rede ist, und darum sei gleich zu Anfang klar betont, dass diese Seite hier nicht mitgemeint ist. Einen ersten Hinweis auf die Lebensfunktion des Betts geben wiederum die sprachgeschichtlichen Zusammenhänge. Man vermutet für das Wort Bett eine indogermanische Urbedeutung im Sinn von „in den Boden eingewühlte Lagerstelle, im Boden ausgehobene Schlafgrube“ (Trübner). In diesem Sinn gibt es ja auch ein Flussbett oder - was sprachlich auf dasselbe Wort hinauskommt - ein Gartenbeet. Das ist in unserem Zusammenhang insofern interessant, als sich damit das Wort Bett in seiner Urbedeutung unmittelbar mit derjenigen von Raum berührt, die, wie wir zu diesem Zweck schon vorbereitend hervorgehoben hatten, so viel wie die aus dem Waldesdickicht herausgeschlagene Lagerstätte, die Rodung bedeutete. Das scheint auf einen tieferen inneren Zusammenhang hinzuweisen: Das Bett wiederholt gewissermassen in kleinerem Masstab dieselbe Funktion, die der gerodete Lagerplatz im grossen hatte: einen umschliessenden Raum der Geborgenheit zu schaffen, einen ausgehöhlten Raum, in dem sich der Mensch frei bewegen kann. Bedeutsam ist übrigens auch, dass das Wort „Weile“ sich eng mit dieser Grundbedeutung berührt. Die Philologen bringen es in Zusammenhang mit den altnordischen Wörtern hvila gleich Bett und hvild gleich Ruhe: Das Bett also als der Ort, wo man im eigentlichen Sinn weilt und verweilt, d. h. seinen gewohnten Aufenthalt hat. Hier ist nicht der Ort, auf die vielschichtige Kulturgeschichte des Betts näher einzugehen 6 . Wir gehen ohne nähere Differenzierung von den Wohnsitten der modernen europäischen Kultur aus. Aber es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass das Bett, wie wir es heute verstehen, ein Holzgestell mit darin befindlichen Kissen, erst jung ist. Es ist erst spät aus dem Süden nach Mittel- und Nordeuropa gekommen. Und die meisten aussereuropäischen Völker, auch z.B. die Kulturen des fernen Ostens, kennen es überhaupt nicht. Auch die alten Germanen schliefen auf Tierfellen, und erst später kamen bei ihnen Schlafbänke an den Wänden der Wohnräume hinzu. Seitdem aber hat sich die südländische Bettform so sehr durchgesetzt, dass seit dem Mittelalter das Bett ohne Bettgestell nur noch eine Angelegenheit der Armen 5 Josef Weinheber. Sämtliche Werke, 2. Bd. Salzburg 1954, S. 281 f. 6 Das Buch von Mary Eden und Richard Carrington. The Philosophy of the Bed, Hutchinson, London, 1961, war mir leider noch nicht zugänglich, ich habe mich an die leichter erreichbaren Nachschlagewerke halten müs- sen. 5 oder der Büsser war. Und es sei nur im Vorübergehen kurz daran erinnert, dass das Bedürfnis, sich innerhalb des Hause im Bett einen besonderen Raum vollendeter Abgeschiedenheit zu schaffen, zur Ausbildung verschiedener bezeichnender Bettformen geführt hat. Man trennte es gern durch Vorhänge ab oder [54/55] sonderte durch einen auf Pfosten gelagerten Betthimmel noch ausdrücklich einen besonderen Bettraum ab, ja man verlegte das Bett überhaupt in verschliessbare Schränke und Kojen. Bezeichnend für das Verlangen des Menschen, im Bett einen unerschütterlichen festen Halt innerhalb der Welt zu gewinnen, ist offensichtlich ein in früheren Zeiten weit verbreiteter Brauch fest eingebauter, also unverrückbarer Betten. Ein schöner Beleg dafür ist der Bericht Homers über das Bett des Odysseus. Als Penelope, um ihn zu prüfen, die Bemerkung fallen lässt, sie habe in seiner Abwesenheit sein Bett an einen andern Ort bringen lassen, antwortet Odysseus: Weib, da sagst du mir gar bittere Kränkung. Wer denn stellte mein Bett mir anders? Selbst wer es verstände, Täte es nur mit Müh; ihm müsste denn einer der Götter Nahn, um leicht an anderen Platz das Lager zu bringen. Aber keiner der lebenden Menschen, so stark er auch wäre, Hübe es leicht hinweg. Denn ein gewaltiges Zeichen Trägt das künstliche Bett 7 . Und er berichtet, wie er einen fest im Boden verwurzelten Stamm eines Ölbaums genommen und aus ihm, nachdem er die Krone abgeschlagen und den Stamm sorgfältig geglättet habe, den Grundpfosten seines Betts geschaffen und um diesen herum erst das weitere Schlafgemach gebaut habe. Wirklich unverrückbar im Boden verwurzelt, so ist hier der Pfosten des Betts die feste Achse der Welt, zu der der Held nach langen Irrfahrten endlich zurückkehrt, ein grossartiges Symbol für diesen unverrückbaren Bezugspunkt. Überall verleiht das Bett mit seiner Wärme und seiner Behaglichkeit dem Menschen ein Gefühl des Friedens und der Geborgenheit. „Es ist der sprichwörtlich geborgene Aufenthalt“, heisst es im Trübnerschen Wörterbuch, und es zitiert aus dem Schwäbischen das Sprichwort: „Wer sich fürchtet, der ist im Bett nicht sicher“, d. h. der fühlt sich selbst an diesem sichersten Ort noch unsicher. So habe ich starke Männer gekannt, die sich einfach ins Bett flüchteten, wenn ihnen die Schwierigkeiten des Lebens über den Kopf zu wachsen drohten. Wenn der Mensch sich die Bettdecke über den Kopf zieht, erlebt er etwas Ähnliches, wie er es fälschlich dem Vogel Strauss nachsagt. Aber es ist billig, mit blossem Spott über solche Formen der Selbsttäuschung hinwegzugehen. Das Problem liegt tiefer. Es hängt mit der notwendigen Lebensfunktion zusammen, die das Bett als Raum der Geborgenheit im menschlichen Leben zu erfüllen hat. Thomas Mann zitiert einmal aus den Lebenserinnerungen Tolstois die Stelle, wo er von [55/56] dem Schmerz spricht, den er empfand, „als das Ende der Kindheit sich dadurch bezeichnete, dass er aus der Obhut von Frauen zu seinen älteren Brüdern... in das untere Stockwerk übersiedelte“. Hier heisst es: „Ich trennte mich schwer von dem Gewohnten (seit Ewigkeit Gewohnten). Ich war betrübt, ... weniger weil ich mich von Menschen, der Pflegerin, den Schwestern, der Tante, als weil ich mich von meinem kleinen Bett trennen musste, mit seinem Vorhang, seinen Kissen, und mir bangte vor dem neuen Leben, in das ich eintrat“ 8 . Das Bett wird hier also zu innerst als der Ort empfunden, in dem sich die verlässliche Festigkeit des Lebens verdichtet. 7 Homer. Odyssee, 23. Buch, Vers 183 - 189. 8 Thomas Mann. Goethe und Tolstoi. Fischer-Bücherei S. 58. 6 Diese grosse, die innere Ruhe vermittelnde Bedeutung des Betts auch im Leben des erwachsenen Menschen hat Weinheber in schönen Versen treffend herausgehoben: Kranksein, Leiden und Kampf kommen zu dir. Machs gut! Und du lösest den Krampf, träufelst Heilung ins Blut; gibst uns, die von dem Ziel abirrn und schwanken im Wind, selig ein schmales Gefühl, dass wir geborgen sind 8a . Im Bett also löst sich die Bedrängnis des Lebens in einem, wie es hier einschränkend heisst, „schmalen Gefühl“ der Geborgenheit, „schmal“ nur insofern, als diese Geborgenheit nur für die Dauer der Nacht gewonnen wird und danach wieder ein neuer Tag mit neuen Gefährdungen wartet. Derselbe Wesenszug, der hier bei Weinheber in dichterischer Form ausgesprochen ist, wird zugleich von der Seite einer phänomenologisch-psychologischen Beobachtung bestätigt. So heisst es bei van den Berg für den gesunden Menschen – im Unterschied zu der ganz anderen Situation des Kranken –: Für ihn ist das Bett das Attribut der Nacht. Er findet sich aufgenommen jeden Abend mit der gleichen Süsse“, und weiterhin: „Für den gesunden Schläfer ist die Welt Schweigen, schweigende Erwartung, dass alles gut werden wird“ 9 . Und Linschoten betont: „Es [56/57] ist ... ein Wesenszug der Geborgenheit, der mir (zu ergänzen: im Bett) das Einschlafen ermöglicht“ 10 . Darum müssen wir jetzt weiter fragen, was es ist, das innerhalb der vom Menschen gestalteten Umwelt ausgerechnet dem Bett diese ausgezeichnete Bedeutung eines Orts letzter Geborgenheit zuweist. Es kann nicht einfach darauf beruhen, dass das Bett der Ort zum Schlafen ist; denn um schlafen zu können, muss sich der Mensch schon zuvor im Gefühl der Geborgenheit befinden. Es muss schon vorher mit dem Vorgang des Sich-hinlegens selber zusammenhängen; denn im Bett liegt der Mensch, während er sich im sonstigen Leben, wenn auch mit verschiedenen Abwandlungen, sich aufrecht verhält. Um das zu verstehen, muss man notwendig das Verhältnis zwischen dem aufrechten Stehen (oder Gehen) und dem blossen Liegen mit einbeziehen. Diesen Gegensatz zwischen Stehen und Liegen kennt zwar schon das Tier, aber erst in der aufrechten Haltung des Menschen, d. h. im Übergang von dem vierbeinigen zu dem zweibeinigen Gang, tritt er in der vollen Schärfe hervor (doch wollen wir hier bei diesem Unterschied nicht weiter verweilen). Um zu verstehen, was es bedeutet, dass der Mensch sich in seinem Bett hinlegt, müssen wir zunächst zu erfassen versuchen, was es bedeutet, dass er aufrecht steht. Wenn der Mensch sich hinlegt, um einschlafen zu können, so ist das nicht einfach eine Bewegung innerhalb des Raums, wobei der Raum feststünde und nur der Mensch sich in ihm bewegte, sondern es ändert sich dabei von Grund auf das Verhältnis des Menschen zum Raum und damit (im Sinn unsrer einleitenden Bemerkungen) der erlebte Raum selbst. Das beruht auf dem tiefgreifenden Unterschied zwischen dem Stehen bezw. dem Sich-aufrecht-verhalten 8a siehe Anm. 5. 9 J. H. van den Berg. „Garder le lit“, essai d’une psychologie du malade, in: Situationen. Beiträge zur phänomenologischen Psychologie und Psychpathologie, hrsg. v. J. H. van den Berg, F. J. J. Buitendijk, M. J. Langeveld, J. Linschoten. Utrecht-Antwerpen 1954, S. 83 f. 10 J. Linschoten. Over het inslapen. Tijdschr. Pilos. 1952, in deutscher Fassung: Über das Einschlafen. Psychologische Beiträge. 2. Bd. 1955, S. 274. 7 und dem Liegen. Das Stehen erfordert immer eine beständige Anspannung, um dem Zug der Schwerkraft Widerstand leisten zu können. Dabei wäre im einzelnen noch zu unterscheiden zwischen dem vierbeinigen Stehen des Tiers und der aufrechten Haltung des Menschen, sowie beim Menschen wiederum zwischen den verschiedenen Formen des Stehens, Sitzens, Sich-bückens usw., doch soll von all diesen Unterschieden hier nicht weiter die Rede sein. Wir sprechen in einem allgemeinen Sinn von einer aufrechten Haltung des Menschen. Bei diesem Begriff müssen wir etwas verweilen; denn bei genauerer Betrachtung ist überhaupt nur die aufrechte Haltung eine „Haltung“ im strengen Sinn. Beim Stehen muss der Mensch sich im wörtlichen Sinn halten, er muss sich in beständiger Anstrengung aufrecht erhalten, und das ist immer eine eigene Leistung gegenüber den natürlichen Kräften der Schwere. Das aufrechte Stehen ist also eigent- [57/58] lich ein immer erneutes Sich-aufrichten, das jeden Augenblick neu den Kräften der Schwere abgerungen wird. Diese Haltung ist nicht als etwas nur Körperliches zu begreifen, sondern sie bedingt und durchdringt das gesamte Verhältnis des Menschen zu seiner Welt. Linschoten, der in seiner schon herangezogenen Arbeit über das Einschlafen diese Dinge weit verfolgt hat und auf den wir uns hier weitgehend stützen, betont: „ Haltung deutet nicht nur auf die Körperstellung, sondern auf das Benehmen der Person, das wir innere Haltung nennen könnten“ 11 . In der aufrechten Haltung realisiert sich der Mensch in seiner Freiheit und stellt sich frei seiner Umwelt entgegen. In der aufrechten Haltung hat der Mensch zur Welt einen deutlichen Abstand. Die Welt wird ihm zum Gegenstand, der Raum um ihn herum zum Feld seines freien Überblicks. Das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Welt kennzeichnet also den Menschen in seiner aufrechten Haltung. Hans Lipps hat in seinem Buch über „die Menschliche Natur“ 12 den Begriff der Haltung in einem allgemeineren, das, was Linschoten als „innere Haltung“ versteht, noch ausweitenden Sinn entwickelt, und ich habe, daran anknüpfend, in meinem Buch über „Das Wesen der Stimmungen“ 13 diesen Begriff in einen umfassenden anthropologischen Zusammenhang einzuordnen versucht. Im Unterschied zur Stimmung, die den Menschen überkommt und ihn und seine Welt gleichmässig durchzieht, ist die Haltung ganz allgemein eine bestimmte innere Formung, die sich der Mensch gegeben hat und die dann auf sein ganzes Verhältnis zur Welt, zu den andern Menschen und allgemein zu den Fragen des Lebens zurückwirkt. Im Unterschied zum unreflektierten „Verhalten“ in der Welt setzt die Haltung immer schon ein ausdrückliches Verhalten zu sich selbst und damit eine innere Freiheit voraus, in der er sich selbst dem natürlichen Zustand gegenüberstellen kann. Und eben dies ermöglicht dann auch der Welt gegenüber einen klaren Abstand. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zum Tier. Das Tier hat keine Haltung, weil es noch „das ungebrochene Verhältnis zu seiner Natur“ 14 ) hat. Die Haltung setzt immer Selbstbewusstsein und damit den Abstand, die Spannung zur Welt voraus 15 . „Haltung haben“, sagt Lipps, „bedeutet überlegene Distanz; sich selbst wahrt man darin“ 16 .[58/59] Dies Verständnis der Haltung ist jetzt entscheidend für das Verständnis dessen, was beim Sich-Hinlegen mit dem Menschen geschieht. Es scheint nämlich ein Wesenszusammenhang 11 A. a. O., S. 279. 12 Hans Lipps. Die menschliche Natur. Frankfurt a. M. 1941, S. 18 ff. 13 O. F. Bollnow. Das Wesen der Stimmungen, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1956, S. 154 ff. Die betreffenden Partien sind erst in der 2. Aufl. von 1943 eingefügt. 14 Lipps. Die menschliche Natur, a. a. O., S.19. 15 Das Wesen der Stimmungen, a. a. O., S. 156. 16 Lipps. Die menschliche Natur, a. a. O., S. 23. 8 zu bestehen, demzufolge auch die innere Haltung nur zusammen mit der leiblichen Haltung aufrecht erhalten werden kann, d. h. dass der Mensch nur in der Gespanntheit seiner aufrechten Haltung auch innerlich Haltung haben kann, dass er aber liegend die Möglichkeit einer inneren Haltung verliert. In diesem Sinn heisst es bei Linschoten, wenn auch bei ihm gleich auf die folgende Stufe, auf das Einschlafen bezogen: „Einschlafen heisst die Haltung preisgeben. Das gilt nicht nur für den Leib, sondern für die Person als Ganzheit“ 17 . Das bedeutet für unsern Zusammenhang, dass beim liegenden Menschen das Spannungsverhältnis zur Welt verloren geht, also genau das, was wir als bezeichnend für die äussere wie für die innere Haltung hervorgehoben hatten. Das heisst, auf unser konkretes Problem angewandt: Der im Bett liegende Mensch hat ein andres Verhältnis zum Raum, oder besser: er hat einen andern Raum als der sich aufrecht bewegende. Das gilt schon in einem ganz äusserlichen Sinn: Wenn in der gewöhnlichen Welt des sich aufrecht bewegenden Menschen die Entfernung der Dinge vom Menschen und ihre Ordnung untereinander durch ihre Erreichbarkeit bestimmt ist, d. h. durch die (virtuelle) Bewegung, die notwendig wäre, um sie zu ergreifen, so rücken sie für den, der im Bett liegt, in eine sehr viel grössere Ferne, weil er sie, ohne das Bett zu verlassen, nicht mehr erreichen kann; und dies erfordert immer einen erheblichen inneren Kraftaufwand. Ich kann mich hier noch einmal auf die schon erwähnte Arbeit van den Bergs beziehen, in der er diese Veränderung der Umwelt folgendermassen schildert: „Die Welt hat sich verkleinert auf die Ausmasse meines Schlafzimmers, besser noch: meines Betts. Denn selbst wenn ich nur die Füsse auf die Erde setze, habe ich den Eindruck, in eine unbekannte Zone einzudringen. Mich zur Toilette zu begeben wird zu einer Art von ungewohnter Exkursion ... Wenn ich von dort zurückkomme, habe ich in dem Augenblick, wo ich mir die Decke über den Kopf ziehe, das Gefühl, wieder zu Hause zu sein“ 18 . Das gilt aber zugleich auch in einem allgemeineren Sinn. Nicht nur die Dinge sind wie fortgerückt, in eine ferne Welt, die mir nicht nur schwer erreichbar ist, sondern die mich auch nichts mehr angeht, sondern auch die Anforderungen, die die Welt an mich stellt, dringen nur noch verworren, wie aus unbestimmter Ferne, auf mich ein. Sie gehen mich nicht mehr unmittelbar an, und die Sorgen, die mich eben noch so sehr bedrängten, sind jetzt schon leichter geworden. Selbst das Telephon läutet anders, wenn ich im Bett bin. Ich fühle mich nicht mehr zur [59/60] ständigen Bereitschaft verpflichtet, auf jeden Anruf auch antworten zu müssen, ich kann es ruhig läuten lassen und freue mich, wenn es von allein wieder aufhört. Und so ist es ganz allgemein. Ich fühle mich im Einklang mit einer warmen und wohligen Umgebung. Wie ich im leiblichen Sinn durch keinen harten Gegenstand zum Widerstand gezwungen werde, so brauche ich auch allgemein meinen Willen nicht anzuspannen. Ich bin wieder eins mit meiner Welt. Und daher stammt das Gefühl einer unendlichen Geborgenheit, das mich im Bett umfängt. „Du träufelst Heilung ins Blut“, hiess es bei Weinheber, und das trifft genau den Tatbestand. Ich brauche mich der Welt nicht mehr in ständig wacher Aufmerksamkeit gegenüberzustellen, immer voller Misstrauen, und jeden Augenblick bereit, auf ihren Angriff zu reagieren. Ich kann mich wirklich fallen lassen. Ich kann jetzt einschlafen oder, wie es in der treffsicheren Bildhaftigkeit der Sprache heisst, „in Schlaf fallen“. Hier kann ich voll mit Linschoten übereinstimmen, wenn er feststellt: „Es ist der ... Wesenszug der Geborgenheit, die mir das Einschlafen ermöglicht“ 19 , und eben diese Geborgenheit wird dem Menschen durch das Bett er- 17 Linschoten. Über das Einschlafen, a. a. O., S. 279. 18 Van den Berg, a. a. O., S. 70. 19 Linschoten, a. a. O., S. 274. 9 möglicht, weil nur in ihm sich die Spannung zur Welt zu einem Gefühl sanften Getragenseins löst. Von hier aus erfassen wir am tiefsten die notwendige Funktion des Betts im Zusammenhang des menschlichen Lebens. Gewiss kommt der Schlaf nicht nur im Bett; er kann den Menschen auch sonst im Zustand der Erschöpfung überfallen. Aber das ist nur ein jähes Abbrechen der Aufmerksamkeit, weil die Kraft zum Wach-sein nicht mehr ausreicht, nicht der wahre, erlösende Schlaf, dem sich der Mensch im Gefühl des wohligen Behagens willig überlässt, jener Schlaf, den auch Egmont als glückliche Erfüllung preist: „Süsser Schlaf! Du kommst wie ein reines Glück ungebeten, unerfleht am willigsten. Du lösest die Knoten des strengen Gedankens, vermischest alle Bilder der Freude und des Schmerzens, ungehindert fliesst der Kreis innerer Harmonien, und eingehüllt in gefälligen Wahnsinn, versinken wir und hören auf, zu sein“ 20 . Vom Schlaf her betrachtet gewinnt die These vom Bett als der Mitte des erlebten Raums noch einen tieferen Sinn. Schon in der Dunkelheit, aber noch im Zustand des Wachens, zieht sich der Raum für den Menschen sehr viel enger zusammen. Der nächtliche Raum wird nicht mehr von der gesehenen Distanz her in seiner vollen Weite aufgespannt. Darum hat der Mensch in ihm auch nicht die Freiheit einer sicher ausgreifenden Bewegung. Er hüllt ihn sehr viel enger ein, er lastet gradezu unmittelbar auf seiner Körper-Oberfläche, und nur unsicher tastend [60/61] kann er in ihn einzudringen versuchen 21 . Darüber hinaus aber geht der .Vorgang des richtigen Einschlafens. Wie sich in allen Änderungen des menschlichen Bewusstseins zugleich auch die Form des erlebten Raums mit wandelt, so fällt der Mensch mit der Preisgabe des Bewusstseins vollends aus dem umgebenden Raum heraus. Das ist alles andre als ein nur dichterisch zu verstehendes Bild, es ist eine konkrete Erfahrung, die man in den Vorgängen des Einschlafens und des Aufwachens selber machen kann, die man sich nur selten bewusst macht, weil diese Vorgänge sehr schnell verlaufen und sich durch ihr eignes Wesen gewöhnlich der scharfen Beobachtung entziehen. Linschoten hat in seiner schon genannten Arbeit diese Vorgänge sehr sorgfältig analysiert und die eignen Beobachtungen durch aufschlussreiche dichterische Zeugnisse bestätigt. Der Leib löst sich auf, so beschreibt er diesen Vorgang; wir verlieren die Kenntnis unsrer Körperlage. Wie die Welt uns dabei entgleitet, so löst sich auch unser Ich auf und versinkt in einer namenlosen Tiefe. Der Schlaf ist, nach Linschoten, als die „Rückkehr des Erlebens zum tiefsten See- lengrund“ 22 zu begreifen. Was uns im gegenwärtigen Zusammenhang am Vorgang des Einschlafens besonders interessiert, ist die Erfahrung, dass die Seele dem umgebenden Raum entgleitet und in einen raumlosen Zustand zurücksinkt. Den umgekehrten Vorgang beobachten wir dann, wenn der Mensch im Erwachen aus der Tiefe dieses Grundes in die vertraute Räumlichkeit zurückkehrt. Er findet sich nämlich zunächst in einem Zustand völliger Raumlosigkeit, und erst danach baut sich um ihn in mehreren Schritten der vertraute Raum wieder auf. Wir verdanken Marcel Proust eine sehr subtile Analyse dieser meist in Sekundenschnelle ablaufenden Vorgänge. „Wenn ich mitten in der Nacht aufwachte“, so schreibt er, „war ich nicht nur ohne eine Ahnung, wo ich mich befand - ich wusste im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war; ich hatte nur in aller Unreinfachheit 20 J. W. Goethe. Gedenkausgabe, hrsg. v. E. Beutler. 6. Bd., Zürich 1954, S. 99 f. 21 Vgl. dazu E. Minkowski. Le Temps Vécu. Etudes phénoménologiques et psychopathologiques. Paris 1933, vor allem S. 392 ff. und M. Merleau-Ponty. Phénoménologie de la perception. Paris 1945, vor allem S. 332 ff. 22 Linschoten, a. a. O., S. 71. 10 [?] das Gefühl des Daseins, wie es zittern mag im Innersten der Kreatur“ 23 . Fehlen des Raumbewusstseins und Fehlen des Selbstbewusstseins entsprechen einander in, wie es scheint, notwendiger Entsprechung. Diese Beobachtungen werden sehr schön durch entsprechende Feststellungen des Grafen Dürckheim bestätigt: „Jeder erinnert sich an Augenblicke des Erwachens, in denen ihm ,alle Orientierung’ fehlt. Hiermit meint man nicht die Orientierung als das Bescheidwissen, wo [61/62] man sich eigentlich befindet, sondern denkt an jene eigentümlichen Fälle, in denen man erwacht, vielleicht in einer unglücklichen Stellung, und sich für einen Augenblick überhaupt nicht ,zurecht hat’. Man weiss nicht, wo oben und wo unten ist ... Es sind Augenblicke eines seltsam unzentrierten Im-Nichts-Hängens. Es ist ein gewichtsloser, körperloser, raumloser, weder in sich gefestigter noch gerichtet dahinfliessender Gesamtzustand ohne Raumbewusstsein und – bedeutsamerweise ohne eigentliches Selbstbe- wusstsein“ 24 . Proust macht darauf aufmerksam, dass man im Aufwachen oft nicht weiss, wo man sich befindet, dass man zunächst zwischen mehreren Zimmern, die man einmal bewohnt hat, schwankt. Durch das Ausstrecken des Arms sucht man sich zu vergewissern, an welcher Seite des Betts man eine feste Wand hat. Erst allmählich, mit dem Einsetzen der Erinnerung, findet man sich im „richtigen“ Zimmer wieder in dem man abends eingeschlafen war, und rücken in ihm die Gegenstände „an ihren annähernd richtigen Platz“ 25 ). Erst das volle Tageslicht, „weiss und berichtigend wie ein Kreidestrich“ 26 ). bringt das bis dahin annähernd Geordnete auf seinen definitiv richtigen Platz. So ist das Bett nicht nur die Mitte des erlebten Raums in dem Sinn, dass es innerhalb eines als fest gedachten Raums den Mittelpunkt bezeichnet, von dem des morgens alle Wege ausgehen und zu dem sie des abends wieder zurücklaufen. Es bezeichnet in einem tieferen Sinn die Stelle des Ursprungs, von dem sich aus dem Schlaf heraus der Raum des wachen Bewusstseins jedesmal neu aufspannt und in die er im Einschlafen wieder zurückgenommen wird. 23 Marcel Proust. Auf den Spuren der verlorenen Zeit. I. Der Weg zu Swann, übertragen von R. Schottländer. Berlin 1925, 1. Bd. S. 10. 24 Graf Karlfried von Dürckheim. Untersuchungen zum gelebten Raum. Neue Psychologische Studien, 6. Bd. München 1932, S. 400. 25 Proust, a. a. O., S. 15. 26 Proust, a. a. O., S. 263.