Der erlebte Raum* Herrn Professor Brednow zum 60. Geburtstag. Von O. F. B o 11 n o w , Tübingen Inhalt 1. Fragestellung 1 2. Vertikalachse und Horizontalebene 2 3. Der feste Boden 3 4. Der Nullpunkt 4 5. Das Haus 5 6. Tür und Fenster 6 7. Weite, Fremde und Ferne 7 8. Raum, Platz, Stelle, Ort 10 9. Der gestimmte Raum 12 1. Fragestellung Das menschliche Zeiterleben und, mit ihm aufs engste zusammenhängend, die zeitliche Verfassung des menschlichen Lebens selbst, hat in den letzten Jahrzehnten die Aufmerksamkeit des Philosophen wie auch des Mediziners in hohem Grade auf sich gelenkt. Die grundlegenden Ansätze, die in B e r g s o n s Begriff der durée gegeben waren, erhielten in Heideggers Untersuchungen über die „Zeitlichkeit“ des menschlichen Daseins einen entscheidenden neuen Anstoß. Besonders von psychiatrischer Seite ist vieles beigetragen worden, was über den speziellen medizinischen Bereich hinaus auch für das allgemeine Verständnis des menschlichen Lebens von großer Wichtigkeit ist. Es sei nur auf die bedeutenden Forschungen B i n sw a n g e r s und M i n k o w s k i s hingewiesen. Demgegenüber fällt auf, daß die entsprechende Frage nach den Formen des räumlichen Erlebens und der auf den Raum bezogenen Struktur des menschlichen Daseins bisher sehr viel weniger in das Blickfeld des philosophischen Nachdenkens getreten ist. Wohl findet sich, wenn man auf die Fragestellung einmal aufmerksam geworden ist, eine Fülle von einzelnen Anregungen und auch ausgedehnteren Untersuchungen, vorwiegend übrigens von medizinischer Seite, aber es fehlt, soweit ich sehe, bisher noch ganz der Versuch einer systematischen philosophischen Untersuchung. In einem gewissen Grade ist diese Bevorzugung der zeitlichen Problematik sogar verständlich; denn die Zeit scheint dem Menschen irgendwie näher zu liegen, enger mit seinem eigenen Leben verbunden und insofern „subjektiver“ zu sein. In diesem Sinn kann man den Begriff der durée bei B e r g s o n ja weitgehend mit „Leben“ überhaupt übersetzen. Der Raum liegt irgendwie „draußen“, er ist dem Menschen ferner und insofern „objektiver“. Darum sollte man überhaupt die Formen menschlicher Zeitlichkeit und Räumlichkeit nicht zu schematisch parallelisieren. Trotzdem bleibt auch beim Raum die Frage nach den Formen menschlichen Erlebens und nach der Bedeutung dieser räumlichen Strukturen für den Aufbau des menschlichen Lebens. Schon daß die Sprache die Mehrzahl geistiger Vorgänge „metapho- * Erschienen in der Zeitschrift für die gesamte Innere Medizin, 11. Jahrg., Heft 3, 1956. Die Zeitungsspalten wurden ohne Seitenzahlen abgelegt. 2 risch“ im Leitfaden räumlicher Zusammenhänge verdeutlicht, sollte auf die Wichtigkeit der räumlichen Grundlagen des menschlichen Lebens hinweisen. Wir sprechen vom „erlebten Raum“ in Anlehnung an den von M i n k o w s k i geprägten Begriff des temps vécu, wenn auch mit einem gewissen Zögern, weil in der deutschen Übersetzung die Gefahr einer subjektiven Einengung gegeben ist; denn es handelt sich nicht nur um das Erlebnis des Raums, sondern mehr um den Raum, insofern er im menschlichen Leben erfahren wird und in seinem Aufbau die Form des menschlichen Lebens bestimmt. Aber vom „gelebten Raum“ kann man in der deutschen Sprache schlecht sprechen, die – trotz der gelegentlichen, schon halb dichterischen Wendung „ein Leben leben“ – das Verbum „leben“ nicht mit einem Akkusativobjekt verbinden kann. Einfach aber von „Lebensraum“ zu sprechen, geht nicht gut an, weil dieser Begriff schon zu sehr im verengten Sinn eines bloß äußerlich gegebenen Spielraums für das Leben gebräuchlich geworden ist. Ein paar erste Vorbemerkungen zum Aufbau dieses erlebten Raums sollen hier versucht werden, wenn auch nur zaghaft angesichts der Weite des sich hier eröffnenden Feldes und unter bewußter Beschränkung auf einige wenige allereinfachste Grundzüge.1 2. Vertikalachse und Horizontalebene Wie man das Eigenwesen der subjektiven, d. h. der konkret-erlebten Zeit zuerst dadurch deutlich machte, daß man sie an der objektiven, an den Uhren gemessenen, der physikalischen Zeit abhob, so mag es für das erste Stück des Weges erleichternd sein, den konkret erlebten Raum vom abstrakten Raum der Mathematiker und Physiker zu unterscheiden. Wenn wir uns hier zur Einfachheit auf den normalen dreidimensionalen euklidischen Raum mit einem rechtwinkligen kartesischen Koordinatensystem beschränken, so treten zwei entscheidende Unterschiede gleich beim ersten Hinblick hervor. Zunächst: der mathematische Raum hat keinen „natürlichen“ Nullpunkt, die Wahl des Nullpunktes ist völlig willkürlich, und man kann beliebig durch bloße Verschiebung (Translation) von einem zum anderen übergehn. Und zweitens: auch Achsenrichtungen sind entsprechend willkürlich, und man kann durch eine beliebige Drehung des Achsensystems (Rotation) von einem zum andern hinüberwechseln. Schon dieser einfache Hinweis genügt, um einen wesentlichen Unterschied des erlebten Raums sichtbar werden zu lassen: weder der Nullpunkt noch die Achsenrichtungen sind hier willkürlich. Es gibt vielmehr einen natürlichen Nullpunkt, gegeben durch den erlebenden Menschen selber, und es gibt ein natürliches Achsensystem, gegeben durch seine Lage auf der Erde. Ich beginne zunächst mit dem zweiten. Hier ist durch den menschlichen Leib selber ein natürliches Achsensystem gegeben, das sich in den Richtungspaaren von oben und unten, vorn und hinten, rechts und links ausdrückt (vgl. dazu E. J ü n g e r, Körperbau und Sprache). Doch besteht auch zwischen diesen Richtungspaaren ein Unterschied: Die Richtung von oben und unten ist durch die aufrechte Stellung des Menschen selber gegeben. Auch wenn ich mich ins Bett lege, kann ich zwar gleichnishaft das Kopfende des Bettes als „oben“ bezeichnen. Das Verständnis dessen, was eigentlich oben ist, wird dadurch nicht berührt. Es bleibt durch die Richtung der Schwerkraft bestimmt. Es ist das Richtungspaar des Aufrechtstehens und Hinfallens, des Steigens und Niedersinkens. Die Richtung von oben und unten bleibt in diesem Sinne objektiv gegeben. Eine Fülle übertragener Bedeutungen setzen schon bei diesem einfachen Gegensatz von „oben“ und „unten“ ein, doch soll von denen vorläufig noch nicht die Rede sein. 1 Weil die vorliegende Skizze, um zur rechten Zeit zu kommen, auf einem Urlaub geschrieben werden mußte, ohne die Möglichkeit, die üblichen bibliothekarischen Hilfsmittel zu gebrauchen, mußte auf Schrifttumsangaben ganz verzichtet werden. Sie hätten ohnehin den Rahmen dieses ersten Entwurfs gesprengt. 3 Anders dagegen steht es mit den Richtungsgegensätzen vorn und hinten und rechts und links. Vorn ist, was in Richtung meines Gesichts oder allgemein meines Körpers vor mir liegt. Aber ich kann mich drehen, und dann wird, was vorher vorn war, jetzt beispielsweise hinten – oder rechts – oder irgendeine beliebige Richtung dazwischen. Aber wenn ich mich umdrehe, dann drehe ich nicht meinen Raum im Sinn meines körpergebundenen Koordinatensystems mit mir herum, sondern ich drehe mich „im“ Raum. Der Raum, obgleich auf mich bezogen, erhält schon darin eine eigentümliche, von meinem gegenwärtigen Zustand unabhängige Gegenständlichkeit. Ausgezeichnet ist also im menschlich bezogenen Raum nur die horizontale Ebene, nicht aber eine bestimmte Richtung in ihr. Vertikale Achse und horizontale Ebene bilden also zunächst das einfachste Schema des konkreten menschlichen Raums. Durch Entfernung und Richtung, in Polarkoordinaten also, ist alles in diesem Raum bestimmt. 3. Der feste Boden Aber natürlich ist auch dieses Schema noch viel zu abstrakt und nur als erste Verdeutlichung im Unterschied zum mathematischen Raum zu verstehen. Die Horizontalebene ist nämlich kein abstraktes Orientierungsschema, sondern sie bezeichnet eine sehr massive Realität. Es ist der Boden, auf dem ich mich befinde und der mir in meinem Leben einen festen Stand gibt. Er teilt den Raum in zwei sehr ungleichartige Hälften: das eine ist der Erdraum, in den ich (praktisch) nicht eindringen kann, weil die Festigkeit der Erde mir Widerstand bietet. Das andere ist der Luftraum, in den ich (praktisch) ebenfalls nicht eindringen kann, nur aus dem entgegengesetzten Grund: Weil die Widerstandslosigkeit der Luft mich jederzeit wieder zum Erdboden zurückfallen läßt. An die Grenzfläche zwischen diesen beiden Bereichen, an die Erdoberfläche, ist der Mensch mit seinem Leben gebunden. Das geringe Maß, in dem er sich von dieser entfernen kann, indem er auf Bäume steigt oder in Höhlen kriecht, indem er Häuser und Türme errichtet oder Brunnen und Bergwerke aushebt, ja selbst indem er sich im Flugzeug zeitweilig über die Erdoberfläche erhebt, kann nichts daran ändern, daß der Mensch grundsätzlich an den zweidimensionalen Raum der Erdoberfläche gebunden ist, so wie der Atlas sie abbildet. Von einem Leben in planetarischen Räumen, selbst wenn die Möglichkeit dazu gegeben sein sollte, können wir uns einfach keine Vorstellung machen. Dabei ist noch ein anderer Unterschied zwischen der oberen und der unteren Raumhälfte zu beachten: Nach unten hin ist der Blick durch die Undurchsichtigkeit der Erde begrenzt, nach oben hin aber ermöglicht der freie Luftraum die verschiedenen Blickrichtungen. Es ist also ein Halbraum, der sich meinem Blick erschließt, der nach oben hin durch das Himmelsgewölbe begrenzt ist (einer abgeplatteten Schale, wie es dem Blick erscheint) und der durch den Horizont als ein endlicher Raum um den Menschen als seine Mitte zusammengeschlossen ist. Diese Erdoberfläche aber hat in ihrem materiellen Charakter eine ausgezeichnete Bedeutung. Auch wenn sie nicht im mathematischen Sinn als Horizontalebene zu bestimmen ist, auch wenn es auf ihr Berge und Täler gibt und sich der Mensch in gewissem Ausmaß über sie erheben kann, das ändert nichts an der fundamentalen Tatsache, daß der Mensch einen festen Boden unter den Füßen braucht und daß die Solidität dieses Bodens die Grundlage abgibt, die alle Sicherheit des menschlichen Lebens erst ermöglicht. Fehlt dieser Grund, so stürzt er ab, und fehlt er auch nur zum Teil, wenn sich dicht neben ihm der Abgrund auftut, am steilen Absturz im Gebirge oder am ungeschützten Rand eines hohen Turmes, so faßt ihn der Schwindel, der die Folge einer solchen gefährdeten Grundlage des Stehens ist. Er meint seinen Halt zu verlieren, zu stürzen, ins „Bodenlose“ zu fallen; es ergreift ihn eine namenlose Angst, und er stürzt wirklich, wenn es ihm nicht gelingt, rechtzeitig wieder einen rettenden Halt zu finden. Dieses (von Z u t t so stark betonte) Phänomen ist fundamental für das Verständnis des menschlichen Lebens; denn dieses räumliche Schema gilt zugleich im „übertragenen“ Sinn 4 für die gesamte Situation des Menschen; nur an seinem Leitfaden kann sich der Mensch überhaupt eine Situation (eine „Lage“) vorstellen. Wenn K i e r k e g a a r d die Angst allgemein als „Schwindel der Freiheit“ bezeichnet, so ist darin angelegt, daß alle Angst am Leitfaden dieser bestimmten Angst, nämlich der Angst, ins Bodenlose zu fallen, begriffen wird. Vielleicht ist selbst die Todesangst nur an diesem räumlichen Schema zu verstehen. Aber das gilt noch in einem anderen Sinn. Auch wenn man sagt, daß ein Kind „schwindelt“, wenn es unbegründete Phantastereien erzählt, oder wenn im Wirtschaftsleben ein „Schwindelunternehmen“ wie ein Kartengebäude zusammenbricht, so ist das alles nur von diesem selben Schema aus zu begreifen. „Luftschlösser“ nennen wir darum auch die Gebilde, die wir ohne reale Grundlage in unsern Träumen errichten. Auch die Philosophie ist ständig in der Gefahr, diesen „festen Boden“ unter den Füßen zu verlieren, und sie braucht den „Mut zur Trivialität“, zunächst bei diesen einfachen Bestimmungen zu verweilen, um sie in ihrer ganzen Tragweite auszumessen. Überall bietet das Räumliche die Grundlage zum Verständnis auch der geistigen Welt. Auch der soeben im übertragenen Sinn gebrauchte Begriff der „Grundlage“, ja allgemeiner des „Grundes“ selbst in seiner logischen Bedeutung ist von hier aus entwickelt und muß von hier aus begriffen werden. 4. Der Nullpunkt Ich widerstehe den Versuchungen, diesen im Wesen des Menschen selber angelegten „Metaphern“ zu früh nachzugehn, und halte mich zunächst an das rein räumliche System, soweit es sich im menschlichen Leben auswirkt. Dazu ist noch einmal an den früheren Punkt anzuknüpfen, wo von dem „natürlichen“ Nullpunkt des erlebten Raums die Rede war. Es mag naheliegend erscheinen, diesen Ausgangspunkt als den Nullpunkt des augenblicklichen Anschauungsraums, im wesentlichen also des Sehraums, zu bestimmen, als den Punkt also, von dem her in jedem Augenblick die Bestimmungen vorn und hinten, rechts und links, oben und unten ihren Sinn bekommen, und die Psychologie hat ihn in diesem Sinn in der Gegend der Nasenwurzel lokalisiert. Das bestimmt meine jeweilige und im übrigen veränderliche Stellung im Raum, aber noch nicht den Mittelpunkt meines Raums selbst. Man muß hier noch einmal auf die eigentümliche Doppelseitigkeit zurückkommen. Auf der einen Seite spannt sich der Raum um den Menschen aus, aber auf der andern Seite bewegt der Mensch seinen Raum nicht in dem Sinn mit sich, wie beispielsweise die Schnecke ihr Haus mit sich herumträgt, sondern der Mensch bewegt sich „im“ Raum, wo er sich bewegt und der Raum feststeht. Und dennoch ist der Raum wieder nicht subjekt-unabhängig gegeben, sondern auch wenn ich mich „in“ ihm bewege, bildet er zugleich ein bestimmtes subjektbezogenes Bezugssystem. Wir sagen im natürlichen Sprachgebrauch, daß ich fortgehe und zurückkehre, und alle meine Bewegungen im Raum vollziehen sich in diesem als selbstverständlich vorausgesetzten System von Fortgehen und Zurückkehren. Die Sprache wendet diese Begriffe an, auch wenn sie sich im täglichen Leben kaum ein klare Vorstellung davon macht, worauf dieses „fort“ und „zurück“ bezogen sind. Es heißt, daß ich mich von meinem Ruhepunkt entferne, daß diese Entfernung aber als vorübergehend begriffen und danach die Ausgangslage wiederhergestellt wird. Es ist also zu unterscheiden zwischen meinem jeweiligen Aufenthalt und dem Ort, an den ich „gehöre“. Er ist die bleibende Ruhelage im Verhältnis zum zufälligen Wechsel. Die Frage ist, wo dieser unausdrücklich mitgedachte Ruhepunkt gelegen ist. Dies aber ist im einzelnen sehr verschieden und kann zunächst nur relativ bestimmt werden. Wenn ich im Cafe von „meinem Platz“ aufstehe, um mir (beispielsweise) eine Zeitung zu holen, so kehre ich an meinen vorher eingenommenen Sitzplatz zurück. Dieser ist, solange ich 5 nicht weiter denke, der (relative) Bezugspunkt. Anderseits bin ich vielleicht von meinem Zimmer fortgegangen, um hier schnell eine Tasse Kaffee zu trinken, und ich kehre danach dann in mein Zimmer zurück. Von dorther gesehen ist der bisherige Bezugspunkt jetzt seinerseits ein ekzentrisch gelegener vorübergehender Aufenthalt, und das Zimmer ist so der Mittelpunkt meiner Gänge in die Stadt. Aber das Zimmer kann seinerseits ein Hotelzimmer sein, in dem ich mich einige Tage aufhalte, oder eine Studentenbude, die ich für ein Semester gemietet habe. Ich bin zu irgendwelchen Zwecken „verreist“ gewesen und kehre aus der „fremden“ Stadt in die eigene Wohnung, in die eigene Familie zurück. Ich bin „von Hause“ fortgegangen, und ich bin „nach Hause“ zurückgekehrt, ich bin, wie man sagt, „heimgekehrt“. Für die Kinder, solange sie noch nicht selbständig sind, ist es im allgemeinen das Haus ihrer Eltern. Aber auch wenn der Mensch sein eigenes Haus und seine eigene Familie hat, ist damit kein absoluter Endpunkt gegeben. Vielleicht fühlt er sich nicht wohl, wo er gegenwärtig wohnt, und sehnt sich zurück nach seinem früheren Wohnort, den er leichtfertig aufgegeben hat oder hat aufgeben müssen. Dahinter liegt irgendwie dunkel die Heimat der Kindheit. Aber auch damit ist kein absoluter Nullpunkt gegeben. Die Heimat kann ihm fremd geworden sein, und er kann sich seitdem eine „neue Heimat“ geschaffen haben. Oder er kann sich auf dieser Erde überhaupt heimatlos fühlen und nach einer „ewigen Heimat“ sehnen. Er kann aber auch in einem übertragenen Sinne sich selber verlorengehen und aus der Selbstentfremdung zu seinem eigensten Wesen zurückkehren: Wie wir es auch nehmen, überall ist in den Beurteilungen von „fort“ und „zurück“ auf ein bestimmtes Bezugssystem verwiesen, aber es ist ein verwickeltes und in seiner Ordnung nur undeutlich empfundenes System, in dem sich nicht einfach ein eindeutiger Nullpunkt herausheben läßt, in dem sich aber doch die „Wohnung“ des Menschen als bevorzugter Bezugspunkt heraushebt, an dem alle anderen, kurzfristigeren oder langfristigeren Aufenthaltsorte orientiert sind. Die Doppelbewegung des „fort“ und „zurück“ bekommt damit einen ganz konkreten praktischen Charakter, der sich von dem mathematischen Raumschema her gar nicht begreifen läßt: Der Mensch geht fort, um irgend etwas in der Welt zu besorgen, um irgendein Ziel zu erstreben, kurz, um irgend etwas zu tun, und wenn er es getan hat, wenn er sein Ziel erreicht hat (oder auch in seinem Vorhaben gescheitert ist), dann kehrt er an seinen Ausgangspunkt als an seine Ruhelage zurück. Es ist also der Wechsel von Tat und Ruhe, der sich in dieser Pendelbewegung ausdrückt. 5. Das Haus Diese Ruhelage, so wie sie mit der gewöhnlichen Wohnung des Menschen gegeben ist, bezeichnen wir mit dem Begriff des Hauses, weil in ihm das Phänomen in seiner größten Reinheit verwirklicht ist. Es braucht sich dabei unter modernen Verhältnissen selbstverständlich nicht um ein selbständiges, dem Menschen gehörendes Haus zu handeln, es kann auch eine Mietswohnung unter vielen andern im selben Hause, ja es kann ein bloßes möbliertes Zimmer sein. Ein solches Haus ist nicht nur ein gewisser Nullpunkt im Sinn eines ausdehnungslosen Punktes, sondern es ist ein ganzer ausgedehnter Bereich, der durch Mauern und Wände und durch ein Dach von der übrigen Welt abgetrennt und dadurch als das eigene herausgehoben ist. Das Haus ist darum nicht nur der Bezugspunkt, von dem her sich das konkrete Weltbild des Menschen aufbaut, es ist zugleich der Schutz vor den Unbilden der Witterung, wie auch vor den Angriffen der Menschen. Bei seinen Geschäften in der Welt muß sich der Mensch den damit notwendig verbundenen Gefahren aussetzen, aber wenn er seine Geschäfte verrichtet hat, kehrt er in den Schutz seines Hauses zurück, denn hier kann er sich sicher fühlen. Der Mensch braucht, um überhaupt leben zu können, einen solchen abgeschlossenen Bereich der Geborgenheit. Der Wechselrhythmus von Fortgehen und Heimkehren ist darum zugleich der 6 Wechsel von Übernahme der Gefährdung und Rückkehr zur Sicherheit, von Bergung und Un- geborgenheit. Die Existentialisten haben bekanntlich die Situation des ungeborgenen Menschen, schutzlos ausgeliefert einer „unheimlichen“ und drohend auf ihn einstürzenden Welt, mit einer solchen letzten Schärfe herausgearbeitet, daß von daher gesehen das bloße Streben nach einer Geborgenheit schon als Flucht vor der wirklichen, unbehebbaren Bedrohung erschien und die Angst zum tiefsten Grundgefühl allen menschlichen Lebens wird. Der ruhelose Wanderer, ja der in der Welt heimatlos gewordene gehetzte Flüchtling war so recht eigentlich das Bild des existentiellen Menschen, schon der Gedanke an Haus und Heimat erschien als Verrat an seinem eigentlichen Menschsein. Aber dieses Bild ist ebenso einseitig wie verhängnisvoll, und das einzige Ergebnis einer solchen Auffassung ist ein zielloses Abenteurertum oder eine stille Verzweiflung. In Wirklichkeit kann der Mensch so überhaupt nicht leben. Er braucht eine Stelle in der Welt, wo er sich am Boden festklammern kann, denn sonst wird er widerstandslos getrieben. Er braucht in irgendeinem Sinn einen „Schlupfwinkel“, in den er sich zurückziehen kann, einen abgegrenzten Raum, der ihm Schutz bietet und in dem er sich gegen die ihn bedrohenden chaotischen Mächte zur Wehr setzen kann. Das ist der Sinn der „Zitadelle“, die S a i n t-E x u p é r y gegen den Angriff der Wüste errichten wollte. Immer geht es darum, daß der Mensch einen endlichen Raum braucht, den er als seinen eigenen, vertrauten und übersehbaren aus dem großen unendlichen, unübersehbaren und bedrohlichen Raum herausschneidet und durch Mauern und Zäune zu sichern versteht2 . Das Haus ist so die Stätte der Geborgenheit, die der Mensch braucht, um seinen Frieden zu finden und sich überhaupt in seinem Wesen entfalten zu können. Der Mensch findet in sich selber seine eigene Mitte nur dann, wenn er irgendeinen Raum hat, wo er nicht immer beansprucht wird, wo er in Ruhe gelassen wird und so, wie die Sprache treffend sagt, „zu sich selber“ kommen kann. Er braucht ein „zu Hause“, wo er im wirklichen wie im übertragenen Sinne, „bei sich“ sein kann. Das französische „chez soi“ hebt diese Doppelheit von „zu Hause“ und „bei sich“ sehr glücklich heraus. Dieses „Bei-sich-Sein“ ist eine ungeheuer wichtige Bestimmung: Der Mensch ist nicht mehr „außer sich“ in dem ganzen Nebensinn des Aufgeregten und dem Affekt Preisgegebenen, er sammelt sich in sich selber, kommt „zu sich“ und kann so erst in seinem Wesen sicher ruhen. Gegenüber dem heute vor allem betonten ekstatischen Hinausgreifen in die Welt wird hier der Mensch auf sich zurückbezogen, und so müßte man vermuten, daß die Ausbildung eines „Selbstbewußtseins“ und einer gewissen „Innerlichkeit“ an das Vorhandensein eines solchen abgegrenzten eigenen Bereichs gebunden ist. Von pädagogischer Seite hat neuerdings L a n g e v e l d darauf aufmerksam gemacht, wie sehr schon das kleine Kind nach seinem „geheimen Ort“ (endroit secret) strebt, der durch einen ganz eigentümlichen Raumcharakter des Geheimnisvollen gekennzeichnet ist, und wie wichtig die Belassung für seine ganze weitere Entwicklung ist. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist noch hinzuzufügen, daß der eigene Raum nicht der des isolierten einzelnen Menschen ist. Es ist vielmehr der „Wohnraum“, in dem er mit seiner Familie lebt, und M i n k o w s k i hat neuerdings darauf hingewiesen, daß gerade die „Wohnlichkeit“ des Wohnraums, das also, was ihm den Charakter des Bergenden gibt, nur aus dem liebenden Zusammenleben der Menschen hervorgeht. 6. Tür und Fenster. Aber wiederum wäre es eine verhängnisvolle Überspitzung, wollte man das Problem der ge- 2 Ich darf hier auf die das Haus betreffenden Stücke meines Buches: Neue Geborgenheit, das Problem einer Überwindung des Existentialismus, Stuttgart 1955, und das dort angegebene weitere Schrifttum verweisen. 7 lebten Räumlichkeit auf die Ausbildung des schützenden Hauses reduzieren und darüber die Lebensbedeutung des außerhalb des Hauses gelegenen Bereichs vernachlässigen. Das hieße, gegenüber der existentiellen Überspitzung aus der These in die Antithese verfallen. Deshalb wurde von Anfang an die Spannung zwischen „Haus“ und „Beruf“ so stark betont. Wichtig ist, daß der Mensch zwar sich – zeitweilig – in seinem Haus abschließen kann, aber nicht in seinem Haus eingeschlossen ist. Wäre dies der Fall, so würde das Haus zum Gefängnis. In Wirklichkeit legt sich das Gefühl, eingeschlossen zu sein, als ein quälender und fast unerträglicher Druck auf den Menschen, und schon das kleine Kind strebt danach, sich loszumachen, wenn es festgehalten wird. M c D o u g a l l hat geradezu von einem Entfesselungstrieb gesprochen. So ist es wichtig, daß das Haus seine Öffnungen besitzt und seine Wandungen einen eigentümlich „semi-permeablen“ Charakter tragen: Sie lassen zwar keinen Fremden von außen gegen den Willen des Bewohners hinein, aber sie lassen den Bewohner selber jederzeit hinaus. Indem wir immer wieder versuchen, von den einfachsten, ganz selbstverständlich scheinenden räumlichen Gegebenheiten auszugehn und diese dann zugleich in ihrer tieferen Bedeutung zu begreifen, so darf man auch hier an der einfachen Tatsache nicht vorübergehn, daß ein Haus nicht nur Mauern und Dach, sondern auch Türen und Fenster hat. Die Tür öffnet das Haus für den Verkehr mit der Welt, läßt die Menschen hinaus- und hineingehn. Das ganze Wechselverhältnis von Fortgehen und Zurückkehren vollzieht sich durch die Tür. Aber indem ich die Tür zugleich verschließen kann, sichere ich mich gegen ein unerwünschtes Eindringen. Fast noch aufschlußreicher aber sind die Fenster, denn durch sie vollzieht sich das Wechselverhältnis von Drinnen und Draußen nicht in der realen Bewegung des Gehens, sondern im bloßen Sehen, aber so, daß dabei der „semipermeable“ Charakter der Umgrenzung am reinsten herauskommt. Schon die einfachste Hütte hat das „Guckloch“, jede Burg ihren „Ausguck“, von dem man, von außen nicht zu sehen, von innen her beobachten kann, was draußen vor sich geht. Besonders indem man noch mit Vorhängen und Gardinen den Blick von außen abschirmt, ermöglicht man hier ein Sehen, ohne selber gesehen zu werden: Die Welt liegt offen vor dem Fenster ausgebreitet, man sieht hinaus in die Welt, aber was drinnen ist, liegt im Dunkeln, man sieht nicht hinein in das Haus. Aber das Fenster hat darüber hinaus noch eine andere Funktion in den räumlichen Bezügen: nicht nur das Licht hineinzulassen, was im Augenblick nicht interessiert, sondern mit dem Blick in die Welt zugleich die Orientierung in der Welt zu ermöglichen. Man sieht durch das Fenster ins Freie, Himmel und Horizont, und man sieht mit seiner Hilfe den eigenen Innenraum hineingestellt in die äußere Welt. Der Bezug zur Horizontalebene und Vertikalachse, der sonst nur unanschaulich im Fußboden und dem Stehen der Dinge darauf gegeben ist, weitet sich jetzt zur wirklich ausdrücklichen Gegebenheit. Daher auf der einen Seite die Geschlossenheit und die Geborgenheit im nächtlich erleuchteten Raum, daher auf der andern Seite zugleich das drückende eines Bunkerraumes oder einer durch unmittelbar gegenüberliegende Hauswände verstellten Aussicht. Erst durch das Fenster nimmt der Mensch teil an unendlichem Horizont und Freiheit. 7. Weite, Fremde und Ferne So überlagert sich dem Richtungssystem, das durch Horizontalebene und Vertikalachse gegeben ist, eine zweite Gliederung nach der Entfernung: Es gibt deutlich geschieden den näheren Bereich des Hauses und den ferneren Bereich außerhalb seiner Mauern, die beide zum menschlichen Leben gehören, beide eine ganz bestimmte Funktion in ihm zu erfüllen haben, und wir hoben deshalb schon nachdrücklich das große Spannungsverhältnis zwischen beiden hervor. Beide Räume gehen nicht stetig ineinander über, sondern sind durch einen scharfen 8 Schnitt, eben die begrenzende Hauswand, getrennt. Trotzdem sind beide Bereiche auch in sich noch mannigfach gegliedert. Auch innerhalb des Hauses gibt es noch einmal so etwas wie einen Mittelpunkt, in urtümlichen Zeiten durch den Herd und heute noch etwa durch das gemeinsame Wohnzimmer gegeben, um den sich dann das häusliche Leben konzentriert, doch wollen wir dieser Gliederung hier nicht weiter nachgehen. Trotzdem bleibt der grundsätzliche Sprung bestehen, und es ist nicht viel anders als mit dem Verhältnis des Menschen zu seinem Leib: Wenn sich auch innerhalb des Leibes zentrale und periphere Teile unterscheiden lassen, so bleibt doch die grundsätzliche Grenze. Was innerhalb der Leibesoberfläche liegt, das bin ich, und erst jenseits der Haut fängt eigentlich der Raum an. An der Entfernung zur Haut bestimmt sich, wie weit ein Ding von „mir“ entfernt ist. So ist auch das Haus gewissermaßen ein erweiterter, künstlich geschaffener Leib, und erst jenseits seiner Wände fängt eigentlich die Außenwelt an. Aber auch in dem Außenraum gibt es noch einmal wieder eine entsprechende Gliederung. Es sondern sich gewissermaßen konzentrische Bereiche: über die eigene Wohnung, über das mit mehreren Familien geteilte Haus und die unmittelbaren Bezüge der Nachbarschaft auf der Straße schließlich zur Stadt, die ja in früheren Zeiten ebenfalls mit Mauern und Toren abgegrenzt war und schon insofern als ein erweitertes Haus gelten kann, und darüber hinaus in immer weitere Bereiche. Das Ich selber weitet sich so in Stufen in seine Welt hinein, und es gibt eine abgestufte Gliederung des Raumes zwischen der Nähe und dem Entfernten. Der Mensch stößt aus der Begrenztheit des Hauses vor in die Unendlichkeit der Welt. Aber auch dabei wiederum sondern sich sehr verschiedenartige Möglichkeiten, die nicht in dem Raum als solchem, sondern in dem menschlichen Bezug zum Raum, eben dem „erlebten Raum“, entspringen und die darum mit einem mathematischen Raummodell grundsätzlich nicht mehr erfaßt werden können. Wir versuchen sie mit den Begriffen der Weite, der Fremde und der Ferne zu fixieren. Der Gegenbegriff der Weite ist die Enge. Ein Anzug, ein Schuh kann eng oder weit sein, ebenso aber auch ein Wohnraum. Man fühlt sich in der Aussicht durch einen zu nahe rückenden Neubau beengt, und andererseits weitet sich der Blick, wenn man aus einem engen Tal in die Ebene hinaustritt. Es gibt die drückende Enge ärmlicher Verhältnisse, aber auch die beklagenswerte Enge eines geistig beschränkten Horizonts. Enge geht immer auf die Behinderung der freien Bewegung durch eine sie allseits beschränkende Hülle. Eng ist ein Kleidungsstück, wenn es sich um den Körper spannt, und eng kann darum auch ein Haus sein, wenn es dem Menschen keinen Entfaltungsspielraum mehr gibt. Darum empfindet der Mensch die beengenden Räume als einen Druck, sucht sie zu sprengen und in die befreiende Weite vorzustoßen. Weite ist immer die Offenheit eines Bewegungsfeldes, in dem sich nichts mehr dem menschlichen Expansionsdrang, seinem erobernden Ausgriff in den Raum, entgegenstellt. Daher die Weite einer unendlichen Landschaft. Die Straßen, als Mittel der Raumüberwindung, führen in die Weite. Immer ist dabei die Weite, als möglicher Entfaltungsraum, bezogen auf die menschliche Aktivität, auf den Menschen als das Zentrum eines expansiven, eines zentrifugalen Dranges. Ganz anders ist es im Verhältnis des Menschen zur Fremde, die wir doch, ihrer inneren Beziehung wegen, hier anschließen müssen. Der Gegensatz zur Fremde ist das Bekannte und Vertraute, ist allgemein das „Eigene“. Es gibt fremde Menschen, fremde Sitten und Gebräuche, fremde Länder. Fremd ist immer das „andere“, das dem eigenen Wesen widerspricht, was man nicht kennt, was einen beunruhigt und insofern in der eigenen Sicherheit erschüttert. Aber „die Fremde“ ist dann noch im besonderen ein räumlicher Bereich. Man kann in die Fremde gehn und in der Fremde leben müssen. Aber im Unterschied zur Weite, in die der Mensch von sich aus strebt, ist die Fremde etwas, was den Menschen gegen seinen Willen überfällt und in das er hinausgestoßen wird. Er kann in der Fremde leben müssen, weil er aus 9 der Heimat vertrieben ist, oder er kann auch von sich aus in die Fremde gehn, weil sein Beruf ihn zwingt oder weil er in fremden Ländern Neues lernen will (wie früher der wandernde Handwerksbursche). Immer ist die Fremde das bedrohliche Medium, in dem er sich unsicher fühlt und einsam, ausgeschlossen aus dem Leben der andern. Darum heißt es bei E i c h e n- d o r f f: „Wer in die Fremde will wandern, der muß mit der Liebsten gehn, es jubeln und lassen die andern den Fremden alleine stehn.“ Aber die Fremde ist nicht nur das räumlich Entfernte, es offenbart seine den Menschen überfallende Gewalt dadurch, daß es von sich aus in den umhegten Bereich eindringt. Auch ins eigne Haus können fremde Menschen und Mächte eindringen, und das eigne Leben kann einem fremd werden. Und wieder etwas völlig anderes ist die Ferne. Wir müssen uns hüten, wenn wir diesen Begriff in seiner vollen Lebensbedeutung verstehen wollen, ihn im Sinn eines großen Abstands zu neutralisieren. Im Unterschied zur Weite, in die der Mensch aktiv vorstoßen kann, im Unterschied zur Fremde, in die er verstoßen wird, ist die Ferne etwas Verlockendes, von dem er sich, selber passiv, angezogen fühlt und nach dem er sehnsüchtig verlangt. Es gibt eine Sehnsucht in die Ferne, wie sie die Romantiker mit süßen Tönen immer wieder dargestellt haben. Die blauen, am Horizont verdämmernden Berge verkörpern sinnbildlich diese Ferne. Aber im Unterschied zur Fremde, die dem Menschen noch erreichbar ist und in der er sich, oft sehr gegen seinen Willen, befinden kann, kann der Mensch nie in der Ferne sein; die Ferne ist wesensmäßig unerreichbar und weicht vor ihm zurück, wie der Horizont, wenn er sich ihr nähern will. Es bleibt die unerfüllbare Sehnsucht nach der geheimnisvoll lockenden Ferne. Darum kann sich der Mensch auch fern der Heimat fühlen, kann nach der fernen Geliebten verlangen. Fern heißt immer unerreichbar. Und dennoch sehnt sich der Mensch, und es lockt ihn die Ferne. Es muß also ein tief innerliches, für den Menschen in seinem Wesen bezeichnendes Lebensverhältnis in diesem Bezug zur Ferne ausgedrückt sein. Aber wenn H e i d e g g e r den Menschen ein „Wesen der Ferne“ genannt hat, so ist das Wort, wie er es genannt hat, mißverständlich. Denn es kommt darin gerade nicht das ekstatisch ausgreifende, das titanische, eine Welt erobern wollende Wesen des Menschen zum Ausdruck, sondern ganz im Gegenteil ein sehnsüchtiges Verlangen, ein Angesogen-Werden von der Ferne. Es gibt gradezu ein „Heimweh nach der Ferne“. Denn im Unterschied zur Fremde, die Fremde bleibt, ist es die Erfüllung des eignen Wesens, was die Menschen in der Ferne ersehnen. Darum ist es bezeichnend, wie sich bei den Romantikern die Sehnsucht in die Ferne (am deutlichsten bei N o v a l i s) mit dem „geheimnisvollen Weg nach innen“ verbindet, wie es das letzte Ziel dieser Sehnsucht ist, „nach Hause“ zurückzukehren. Heimweh und Sehnsucht in die Ferne sind im letzten dasselbe; denn es ist das innerste Wesen des Menschen selber, das die Menschen in der geheimnisvollen Ferne suchen, weil es ihnen im Getriebe des nüchternen Alltags verlorengegangen ist. Die Ferne ist zugleich der Ursprung, von dem wir leben, und die Sehnsucht in die Ferne ist zugleich Heimweh nach den zeitenfernen Tagen der Kindheit. In diesem tieferen Sinn ist der Mensch in der Tat ein Wesen der Ferne. Aber das bedarf noch einer wesentlichen Ergänzung. Auch die Fremde führte letztlich auf die Selbstentfremdung des Menschen und den von daher gesehenen Verlust seines eigenen Wesens zurück. Auch hier entsteht das wesentliche Problem der Aufhebung der Selbstentfremdung und der Rückgewinnung des eigenen Wesens. Das ist, wie wir wissen, das tiefe Problem bei H e g e l wie bei M a r x, nur mit dem wesentlichen Unterschied, daß jetzt an die Stelle der Rückkehr zum Ursprung der dialektische Prozeß einer Überwindung dieser Entfremdung tritt. Damit aber wandelt sich das bloße Verlangen zur sittlichen Forderung, die an 10 den Menschen gestellt ist. Aber das führt schon zu stark über den bloß räumlichen Bereich hinaus. 8. Raum, Platz, Stelle, Ort Der beschränkte „Raum“, der an dieser „Stelle“ zur Verfügung steht – wir kommen auf die Bedeutung der in Anführungszeichen gesetzten Worte sogleich zurück –, zwingt dazu, sich für die Fortführung der Problematik mit zwei Ansätzen zu begnügen, die die Fruchtbarkeit der sich hier eröffnenden Möglichkeiten wenigstens ahnen lassen. Der eine geht davon aus, daß die Orientierung am mathematischen Raum, so wichtig sie für die Herausarbeitung gewisser Wesenszüge des erlebten Raums sein kann, doch einen andern wesentlichen Zug verdeckt; denn sie legt nahe, den Raum als eine Art von übergreifendem Bezugssystem zu verstehen, in dem sich die Menschen und die Dinge, kurz „in“ dem sich die ganze Außenwelt befindet. Als gäbe es wie selbstverständlich den einen umgreifenden Raum, so wie K a n t zur Begründung des Anschauungscharakters davon ausging, daß die verschiedenen „Räume“, soweit man überhaupt davon sprechen kann, nur als Teile des einen, wesensmäßig einzigen Raums begriffen werden könnten. Diese durch den mathematischen Raumbegriff nahegelegte Auffassung entspricht aber nicht der natürlichen Auslegung, wie sie im alltäglichen Sprachgebrauch enthalten ist; und wie sooft empfiehlt es sich auch hier als heuristisches Prinzip, zunächst einmal vom unreflektierten Verständnis der Sprache auszugehn. Wir verzichten dabei in diesem ersten Entwurf auf die Hilfe der sprachgeschichtlichen Hinweise und beschränken uns rein auf den gegenwärtigen lebendigen Sprachgebrauch. Eines fällt dabei sogleich auf: die Sprache verwendet das Wort „Raum“ selten mit dem bestimmten Artikel. Das geschieht einmal bei dem in der Mathematik geprägten Raumbegriff, „dem“ euklidischen Raum etwa, aber davon wollen wir als einem Ergebnis eines späten reflektierten Denkens zunächst einmal absehn. Sonst ist „der Raum“ immer ein bestimmter vom Menschen gebauter Wohnraum: ein Arbeitsraum, ein Schlafraum, ein Versammlungsraum usw. Immer handelt es sich um einen abgeschlossenen Raum, als Teil eines von Menschen gebauten Hauses, das für einen bestimmten Zweck bestimmt ist. Raum ist also der Oberbegriff für Zimmer, Kammer, Saal usw. Man spricht auch allgemein von „Räumlichkeiten“. Sehr bezeichnend ist das Beispiel vom Versammlungsraum: Findet nämlich die Versammlung unter freiem Himmel statt, so spricht man nur von einem „Platz“ oder einem „Ort“ der Versammlung. Raum ist also immer etwas Geschlossenes. Wenn wir aber annehmen, daß auch dieses schon ein verhältnismäßig abgeleiteter Sprachgebrauch ist, so bieten sich als bezeichnend die sprachlichen Wendungen an, in denen „Raum“ auffälligerweise immer ohne (bestimmten oder unbestimmten) Artikel gebraucht wird. Man spricht von „Raum brauchen“ und „Raum haben“, von „sich Raum schaffen“ usw. So heißt es in der Weihnachtsgeschichte, daß sie das Christkind in eine Krippe legten, weil sie "sonst keinen Raum in der Herberge“ hatten, oder im bekannten Wort, daß „Raum in der kleinsten Hütte“ ist. Oder man spricht im zugehörigen Adjektiv von „geräumigen“ Vorratskammern. Immer heißt hier also Raum: zur Verfügung stehender, nicht schon anderweitig „fortgenommener“ Raum, Raum also, in dem man sich „frei“ bewegen, in dem man sich "ausbreiten“ kann. Raum ist im weitesten Sinn der "Spielraum“ einer Bewegung. Enge und Weite sind seine ursprünglichen Bestimmungen. Sehr aufschlußreich sind hierfür auch die verbalen Bildungen. „Räumen“ heißt einen bisher innegehabten Raum aufgeben. So räumt der geschlagene Gegner das Schlachtfeld. So räumt der ausziehende Mieter seine Wohnung, indem er durch die Mitnahme seiner Möbel Raum schafft, den jetzt ein neuer Mieter einnehmen kann. So schafft der „Räumungsverkauf“ beim Händler Platz für neue Waren. In etwas andere Richtung gehen die Wendungen vom „Ein- 11 räumen“ und „Aufräumen“. Man räumt ein neues Zimmer, einen neuen Schrank oder ein Kommode (kaum aber noch eine Wohnung) ein, das bedeutet, daß man einen beschränkten Raum dadurch durchorganisiert, daß man jedem Ding darin, das bisher an einer beliebigen „Stelle“ herumlag, seinen bestimmten „Platz“ zuweist, an den es fortan hingehört. Man räumt auf, indem man das im nachlässigen Gebrauch wahllos Zerstreute an seinen Platz zurückstellt oder legt und dadurch in der beengenden Unordnung endlich wieder Raum gewinnt, daß man, wie man nachlässig sagt, wieder „Luft“ bekommt. Darum kann umgekehrt auch wieder ein zu sorgfältig aufgeräumter Ort „leer“ und ungemütlich aussehen. Auch von einem Menschen sagt man, er sei „aufgeräumt“, wenn er nicht durch quälende Gedanken bewegt und insofern „heiter“ ist. Wir hatten bisher, ohne besonders darauf hinzuweisen, schon verschiedentlich von „Platz“ und „Stelle“ in einer Weise gesprochen, die sich eng mit Raum berührte. Es ist an der Zeit, hier den Unterschied herauszuheben, um von dieser Seite zum Verständnis dessen, was Raum ist, beizutragen. Auf den ersten Blick scheint hier gar kein Problem zu liegen: „im Raum“ gibt es bestimmte „Plätze“, „Stellen“ und – um auch diesen Begriff gleich mit hineinzunehmen – „Orte“. So war ja schon von dem Platz und der Stelle die Rede, die jedem Ding beim Einräumen zugewiesen wird. D i l t h e y ist gelegentlich davon ausgegangen, daß die vom Menschen durchgestaltete Außenwelt uns als „objektiver Geist“ verständlich ist, weil menschliches Zwecksetzen, beispielsweise in der Anordnung der Sitzgelegenheiten in einem Raum, der Baumreihen auf einem Platz usw., jedem Ding seine bestimmte Stelle zugewiesen hat. Aber ganz so einfach liegen in unserm Zusammenhang die Dinge nicht; und es ist sehr bezeichnend, daß Platz und Raum in manchen Wendungen sehr nahe aneinanderrücken. Man schafft Platz für etwas, man "macht Platz“, damit ein anderer Mensch vorübergehen kann. Wo liegt hier der Unterschied zwischen „Platz machen“ und „Raum schaffen“? Raum kann ich gewinnen, Platz aber kann ich nur dadurch machen, daß ich meinen Platz zugunsten des anderen aufgebe. So macht etwa im Berufsleben die ältere Generation der jüngeren Platz, wenn sie ihr die Arbeitsplätze überläßt und sich selber in den Ruhestand zurückzieht. Hier wird kein Platz gewonnen, sondern nur der vorhandene Platz wird anders besetzt. Das gilt zugleich im allgemeinen Sinn: der Platz ist das umgrenzte Raumstück, in das etwas grade hineingeht, das ausgefüllte Volumen, bis an seine Grenze. Raum dagegen ist mehr, greift schon darüber hinaus, Raum bedeutet zugleich darüber hinaus den Spielraum einer Bewegung. In diesem Sinne können wir schon jetzt unterscheiden: Platz brauchen auch die Dinge, aber Raum braucht nur der Mensch; Platz ist etwas innerweltlich Verfügbares, Raum dagegen gehört zur transzendentalen Konstitution eines Subjekts. Das wird noch deutlicher, wenn wir die andere Bedeutung mit hinzunehmen, wo Platz als ein bestimmter Platz verstanden wird: etwas steht an „seinem Platz“, es gibt Plätze beispielsweise im Theater, es gibt Sitz- und Stehplätze, man nimmt seinen Platz ein, überhaupt, man „nimmt Platz“, wenn man sich hinsetzt. Im Unterschied zur Unbestimmtheit des Raums ist der Platz immer bestimmter Platz, Platz von jemand oder von etwas. Immer ist dabei Platz der vom Menschen geschaffene und für diesen Zweck gestaltete Platz, beispielsweise der Marktplatz, als der von Gebäuden freigelassene Raum für die betreffenden Geschäfte, der Umschlagplatz usw. Es ist die menschliche Weltgestaltung, die diesen Platz als Platz schafft. In der Wüste beispielsweise, im Hochgebirge, in unbewohnten und unwirtlichen Gegenden gibt es keine Plätze. Auch der Platz ist also, wenn auch in ganz anderer Weise als der Raum, korrelativ auf den Menschen. Der Platz ist also die einem Menschen oder einem Ding zugewiesene Stelle im menschlich durchgestalteten Raum oder auch, im übertragenen Sinn, in der menschlichen Lebensordnung überhaupt. Alles hat in ihr, um es noch einmal zu sagen, seinen Platz. Platz berührt sich hier aufs engste mit „Stelle“. Etwas befindet sich an seinem Platz, an einer bestimmten Stelle. Beides bezeichnet die Lage im Raum. Und doch mit einem sehr bezeichnenden Unterschied. Etwas kann sich an seinem Platz oder nicht an seinem Platz befinden. 12 Der Platz ist diesem Ding vom Menschen zugewiesen. Dagegen kann es sich an einer beliebigen, zufälligen Stelle befinden. Zwei Menschen treffen sich an einer beliebigen Stelle im Raum. So gibt es eine Stelle am Körper, beispielsweise die von Kriemhild markierte Stelle, wo Siegfried verwundbar war. Oder auch ein Apfel kann eine faule „Stelle“ haben. Pflanzen findet man in der Natur an bestimmten Stellen, d. h. an bestimmten Standorten, daher manche seltenere auch nur „stellenweise“, d. h. an manchen Stellen und an manchen wieder nicht. Von daher kann der Begriff der Stelle dann auch auf andere Bezugssysteme übertragen und funktionalisiert werden. So kann die „Stelle“, die ein Mensch hat, gradezu die Funktion in dem beruflichen Ordnungsganzen bedeuten. Jemand sucht eine „Stelle“ beispielsweise als Buchhalter, und in der Zeitung sind ganze Seiten von Stellungsangeboten. Trotzdem ist auch hier wieder der Unterschied deutlich: Wenn jemand auf einer „Stellenvermittlung“ einen „Arbeitsplatz“ findet, so bedeutet „Platz“ in einem unbestimmten Sinn, daß er „untergebracht“ ist und sein Geld verdient, die „Stelle“ aber die bestimmte Leistung, die er zu erfüllen hat. Nahe mit Stelle verwandt ist wiederum der „Ort“, und man wird manchmal schwer eine Grenze ziehen können, so wenn man zwar von „Unfallstelle“, aber von „Tatort“ spricht. Doch scheint sich heute die Bedeutung mehr im Sinne der „Ortschaft“ festgelegt zu haben. Von der sehr interessanten sprachgeschichtlichen Herkunft sehen wir auch in diesem Fall ab, ebenso von der Bedeutung im Bergwesen oder als „geometrischer Ort“. So spricht man von einer Ortsangabe, einer Ortszeit, einem Ortsverzeichnis usw. Immer bezeichnet Ort hier den menschlichen Wohnort, die bestimmte Stelle auf der Erdoberfläche, an der er sich befindet. Diese Abgrenzungen des Sprachgebrauchs sollten den Sinn haben, damit zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was in der ursprünglichen Sprachauslegung unter Raum verstanden wird. So weit sich auch die Begriffe manchmal begegneten, so hebt sich doch das eine klar heraus: Raum ist nichts, was als ein Volumen gemessen werden kann. Raum ist immer der "freie“ Raum, innerhalb dessen sich etwas bewegen kann. Raum ist in diesem Sinne Spielraum für etwas. Dinge können also keinen Raum einnehmen, sondern nur einen Raum wegnehmen, indem sie für die Unterbringung von etwas anderem „im Wege“ sind. Raum ist in diesem Sinn der „Zwischenraum“ zwischen den Dingen. Aber auch hier muß man sich hüten, diesen Zwischenraum (statisch) als den Abstand zu fassen, der sich in Zentimetern ausmessen läßt. Er bedeutet vielmehr, wie wir schon sagten, die „Luft“, die durch den Abstand für die Bewegung gelassen wird. Raum im strengeren Sinne aber kann nur der Mensch haben, und alle Dinge haben nur Raum, insofern sie dem Menschen Raum lassen. Raum also ist im ursprünglichen Sinn Lebensraum für den Menschen, und zwar nicht abstrakt als der mathematisch bestimmbare Raum, in dem sich das Leben vollzieht, sondern als der konkrete Entfaltungsraum, der für das Leben zur Verfügung steht und der nach den subjektiv-relativen Bestimmungen der Enge und Weite gemessen wird. An diesen ursprünglichen Raumbegriff muß darum auch alle Untersuchung des erlebten Raums orientiert bleiben. Umgekehrt aber: indem so der Raum als der „Rahmen“ bestimmt wird, innerhalb dessen sich eine Bewegung vollzieht, wird es verständlich, daß sich von hier aus auch übertragene Raumbegriffe ausbilden können. So spricht man heute im funktionalisierten Sinn gern vom Raum der Wirtschaft, vom Raum der Politik, vom Raum der Literatur usw. und meint damit immer den umgreifenden Rahmen, innerhalb dessen sich jeweils das Spiel der bestimmten Bewegungen und Gestaltungen vollziehen kann. 9. Der gestimmte Raum Wenn Enge und Weite eines Raums als die eines Spielraums menschlichen Lebens auf dieses 13 Leben zurückbezogen sind, dann ist es deutlich, daß sie sich nicht abstrakt an irgendeinem allgemeingültigen Maßstab bestimmen lassen, sondern daß sie sich ändern je nach der Verfassung des menschlichen Lebens, wie umgekehrt auch der besondere Charakter des konkreten umgebenden Raums auf das Leben selber zurückwirkt. Es ist eine doppelseitige Bestimmtheit: der Charakter des Raums wirkt auf die Gemütsverfassung des Menschen, und diese wiederum wirkt ihrerseits zurück auf den Charakter des Raums. Jeder konkrete Raum, in dem sich ein Mensch befindet, hat als solcher schon seinen bestimmten Stimmungscharakter, seine sozusagen „menschlichen“ Qualitäten, und diese bedingen unter anderem dann auch als einfachste Bestimmungen seine Enge oder Weite. Daß schon die Farben den Raum enger oder weiter machen, ist bekannt. Sie wirken überhaupt in unwiderstehlicher Weise auf die Stimmungslage des Menschen. Das Dämmrige eines Kirchenraumes stimmt die Menschen feierlich, auch wenn darin kein Gottesdienst geschieht. Dunkle Wolken und schwarze Regenwolken haben etwas Niederdrückendes und Lastendes, selbst wenn sie „in Wirklichkeit“ dem Menschen einen reichlichen Spielraum bieten. Sie werfen den Menschen auf sich selber zurück und wenden ihn nach innen. Nie hätte E i c h e n d o r f f s „Taugenichts“ seine Mühle an einem trüben Regentag verlassen, und nicht etwa darum, weil das Wandern bei Regen beschwerlicher wäre, sondern weil überhaupt nur bei Bonne die Ferne lockt und trübe Wolken die Welt sehr viel enger abschließen. Und umgekehrt: der heitere Himmel ändert mit seinem Eindruck verlockender Weite den ganzen inneren Zustand des Menschen. Er schließt sich auf, er wendet sich nach draußen, und schon die Bewegungen gewinnen einen ganz neuen Charakter des in den Raum hinein Ausgreifenden. Das gilt in der hervorgehobenen Wechselwirkung, ja, in der unteilbaren Einheit von Innen und Außen, auch vom Menschen her gesehen. Um den Gequälten zieht sich der Raum zusammen, und alles wird ihm eng, so daß er überall anstößt. Schon der zur Erde gesenkte Blick läßt den freien Horizont gar nicht wirksam werden und schneidet ein sehr enges Stück Raum heraus. Sobald aber der Mensch wieder die Augen hebt, weitet sich für ihn auch der Raum. Das Kraftbewußtsein des freudig gehobenen Zustands umspannt sehr viel größere Weiten. N i e t z s c h e hat es vor allem am dionysischen Rausch hervorgehoben, B i n s w a n g e r hat als erster das Problem des „gestimmten Raums“ in Angriff genommen. Das wechselnde Verhältnis zeigt sich schon bei der einfachsten Raumbestimmung, schon bei der scheinbar rein quantitativ zu fassenden Entfernung. An klaren Abenden, nach vorhergegangenen Regenfällen, rücken die entfernten Berge und Häuser sehr viel näher heran, liegen „zum Greifen“ nahe da. Im Dunst wiederum, besonders gegen die Sonne gesehen, werden sie fortgerückt. Alles das ist bekannt; es braucht nur daran erinnert zu werden. Aber umgekehrt wirkt auch der Stand des Menschen auf die empfundene Entfernung. Mond und Sterne liegen nur für den theoretisch reflektierenden Menschen unendlich weit entfernt; für den natürlichen Menschen haben sie überhaupt keine Entfernung, diese ganze Frage ist sinnlos, denn die Vorstellung einer Entfernung entsteht überhaupt erst beim Versuch ihrer Überwindung. Auch die fernen Berggipfel, die das „Panorama“ eines Alpentals abschließen, haben für den genießenden Betrachter noch keine Entfernung. Sie sind bloßer „Anblick“, nicht anders, als ob sie auf dem Bilde gemalt wären. Erst der in Gedanken gefaßte Plan ihrer Besteigung rückt sie in den Bezug möglicher Entfernungen. Wenn ich mich so aber im Gelände bewege, mit den wechselndem Schwierigkeiten des Geländes kämpfend, dann wiederum sind „nahe bei“ und „weit weg“ Bestimmungen, die ganz von dem jeweiligen Stand meiner eigenen Kräfte abhängen. Bei Müdigkeit dehnen sich die Entfernungen, die für den Ausgeruhten dann wieder zusammenschrumpfen. Für den Gesunden und Kräftigen sind sie anders als für den Kranken. Darum ist es durchaus richtig (und nicht etwa ein kindlicher Primitivismus), die Entfernungen nach der Zeit zu messen, die man zu ihrer Überwindung braucht. Im erlebten Raum liegt das Nachbardorf eben zwei Stunden und nicht etwa 9 km entfernt, und wenn der benachbarte Berggipfel zwei Stunden entfernt ist, kann nach Kilometern ein sehr anderer Betrag herauskommen. 14 Das alles wird noch sehr viel deutlicher, aber auch sehr viel verwickelter, wenn wir zu den qualitativen Raumcharakteren übergehen und diese nicht von einem bloßen untätigen Betrachter, sondern vom wirklichen, im Raum handelnden und im Raum lebenden Menschen her auffassen. Nicht nur die Entfernungen, sondern auch der ganze Charakter des Raums ändert sich, je nachdem ich beispielsweise als müßiger Wanderer, in mich versunken, dem Wiesenpfad folge oder im Auto, um in einer entfernten Stadt zur festgesetzten Stunde meine Geschäfte zu verrichten, die lange Straße benutze. Hier gewinnt der Raum einen ganz prägnanten Richtungscharakter, ja schmilzt im extremen Fall zur rein eindimensionalen Strecke mit einer diffus mitempfundenen seitlichen Landschaft zusammen, während für den planlos streifenden Wanderer selbst die Himmelsrichtungen verschwinden und die Windungen seines Weges gar nicht bemerkt werden. Interessant ist hier als extremer Grenzfall der Raum des tanzenden Menschen, in dem nach S t r a u s’ vorbildlichen Analysen die Richtungscharaktere überhaupt aufhören und die gesamte Struktur des erlebten Raums sich grundlegend ändert. So muß man allgemein die Struktur des von menschlicher Zweckbestimmung durchorganisierten Handlungsraums von dem ganz andersartigen Raumcharakter unterscheiden, den der Mensch im zweckfreien gelösten Ruhezustand erfährt. Die Härte des Widerstandes, die sich dem handelnden Ausgriff entgegenstellte und die ihrerseits ein erfolgreiches Handeln erst ermöglichte, verschwindet, die Dinge wurden nachgiebiger und geben dem Menschen mehr Platz. Das zeigt sich schon am einfachsten Beispiel: Wo der Mensch heftig wird, da sperren sich die Dinge, er stößt überall an, und der Raum wird eng um ihn, der für den Geduldigen weit genug war. Selbst das Nadelöhr verengt sich, wenn der Mensch beim Einfädeln die Geduld verliert, während umgekehrt der „geduldigen Schafe“ nach dem bekannten Sprichwort „viele in einen Stall“ gehen. Das gilt allgemein vom Lebensraum menschlichen Zusammenwohnens. Wo Menschen sich aneinander „reiben“, wird jeder Raum zu eng, während umgekehrt, nach dem schon einmal angeführten Zitat, „Raum in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar“ ist. Das bedeutet nicht nur, daß die Liebenden auch mit wenig zufrieden sind, sondern das heißt im tieferen Sinne, daß der Raum selber für sie ein anderer wird, daß sie nach B i n s w a n g e r s überzeugenden und durch ein reiches Belegmaterial gestützten Untersuchungen3 , im Zustand des „liebenden Miteinanderseins“ im wörtlichsten Sinne sich erst den Raum erschaffen, den sie dann mit ihrem Leben erfüllen4 . Das Problem des erlebten Raums eröffnet also nach den verschiedensten Richtungen hin Perspektiven, denen im einzelnen nachzugehen sich lohnen würde. Einiges davon hoffe ich in späteren Untersuchungen vorzulegen. 3 L. Binswanger, schon in seiner Arbeit über die Ideenflucht, Zürich 1933, und dann im umfassenderen Zusammenhang in seinem großen Buch, „Grundformen und Erkenntnis des menschlichen Daseins“, Zürich 1942. Die Arbeit über das Raumproblem in der Psychopathologie (1932) jetzt in: Vorträge und Aufsätze Bd. II, Bern 1955. 4 In meinem schon genannten Buch über die „Neue Geborgenheit“ habe ich die Behandlung des „festlichen Raums“ versucht und bin in diesem Zusammenhang auf das genannte Schrifttum etwas näher eingegangen.