OTTO FRIEDRICH BOLLNOW Probleme des erlebten Raums ∗ Weil mein Thema, „der erlebte Raum“, vielleicht nicht ohne weiteres verständlich ist oder zum mindesten nicht gleich in seiner Tragweite einleuchtet, beginne ich mit ein paar erläuternden Worten. Wenn wir, ohne viel nachzudenken, von Raum sprechen, so denken wir gewöhnlich an den mathematischen Raum, im einfachsten Fall als euklidischen Raum, wie er uns von der Schulzeit her vertraut ist. Seine bestimmende Eigenschaft ist seine Homogenität, seine schlechthinnige Gleichförmigkeit: Kein Punkt ist vor dem andern ausgezeichnet; jeden kann man durch willkürliche Setzung zum Koordinatenmittelpunkt machen. Auch keine Richtung ist vor der andern ausgezeichnet; jede beliebige kann man als Koordinaten-Achse wählen. Der Raum ist indifferent gegenüber den Dingen, die ihn erfüllen – oder auch nicht erfüllen. Und so erstreckt er sich ohne innere Gliederung bis in die Unendlichkeit. Unter erlebtem Raum verstehe ich demgegenüber die Art und Weise, wie der konkrete Umwelt-Raum dem Menschen erscheint. Und meine Behauptung geht dahin, daß dieser erlebte Raum ganz anders ist als der mathematische Raum, daß er nämlich eine reiche und interessante innere Gliederung aufweist, nur daß wir diese Gliederung in der Regel nicht bemerken, weil unser Blick dafür durch die uns selbstverständlich gewordene mathematische Raumvorstellung verdeckt ist. Besser wäre es vielleicht noch, von einem gelebten Raum zu sprechen, um damit auszudrücken, daß es sich hier nicht bloß um psychologische Aspekte des Raums handeln soll, um bloße Erlebnisweisen, sondern um den wirklichen Raum, in dem wir leben, mit seinen wirklichen Gliederungen, ja im Grunde um den eigentlich wirklichen Raum, dem gegenüber der mathematische Raum nur ein nachträgliches Abstraktionsprodukt ist. Nur schweren Herzens verzichte ich auf die Bezeichnung „gelebter Raum“, weil man im Deutschen das Zeitwort „leben“ nicht gut mit einem Akkusativ-Objekt verbinden kann und ich grundsätzlich jede philosophische Terminologie für unzulässig halte, die sich in einen Gegensatz zum natürlichen Sprachgebrauch stellt. So bleibe ich bei der sprachlich korrekten, aber sachlich nicht die volle Tragweite des Problems ausdrückenden Bezeichnung vom „erlebten Raum“. Es ist erstaunlich, wie wenig das Problem des erlebten Raums bisher die Aufmerksamkeit der Philosophen auf sich gelenkt hat. Zwar hat das Problem der erlebten Zeit oder allgemeiner der zeitlichen Verfassung des menschlichen Daseins von Bergson und Simmel bis zu Heidegger und Sartre die Philosophen in einem solchen Maße beschäftigt, daß man es gradezu als das philosophische Grundproblem der letzten Jahrzehnte bezeichnen kann. Es hat sich darüber hinaus auch in den verschiedenen Einzelwissenschaften von der Psycho- [3/4] pathologie bis zur Literaturgeschichte als überaus fruchtbar erwiesen. Demgegenüber ist die Frage nach der räumlichen Verfassung des menschlichen Lebens oder einfacher dem erlebten Raum auffallend wenig beachtet worden. Einige an sich hoch interessante Ansätze in den Einzelwissenschaften, von der Religionsgeschichte bis zur Psychologie, haben noch kaum die Aufmerksamkeit der Philosophen erregt und haben vor allem noch nicht zum Versuch einer umfassenden systematischen Darstellung geführt. Auch mein heutiger Vortrag hat sich nicht so weitreichende Aufgaben gestellt. Sein Ziel ist bescheidener. Ich will nur einige Perspektiven herausheben, die mir geeignet erscheinen, an ihnen die Fruchtbarkeit der Fragestellung deutlich zu machen, wobei ich mir Mühe gebe, möglichst wenig von dem zu wiederholen, was ich ∗ Wilhelmshavener Vorträge. Schriftenreihe der Nordwestdeutschen Universitätsgesellschaft Heft 34, S. 3-28. Die Seitenumbrüche des Erstdrucks sind in den fortlaufenden Text eingefügt. 2 schon in einigen anderen vorbereitenden Aufsätzen entwickelt habe, auf die ich hier zur Ergänzung verweise1. * Ein gutes Hilfsmittel, uns von den heute weitgehend selbstverständlich gewordenen Raumvorstellungen der modernen Naturwissenschaft zu befreien, ist ein Blick in den Zusammenhang der abendländischen Philosophie, in dem zuerst das Problem des Raums und der Zeit – schon hier also in der für die Folgezeit leitend gebliebenen Verknüpfung der beiden Fragen – systematisch behandelt ist. Das ist in der „Physik“ des Aristoteles. Nachdem er im zweiten Buch von der Bewegung und im dritten Buch von dem Unbegrenzten, dem apeiron, gesprochen hat, beginnt er im vierten Buch mit der Behandlung des Raums. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, den sehr differenzierten Erörterungen des Aristoteles im einzelnen nachzugehen. Ich hebe nur drei Gedanken heraus, die mir für unser eigenes Problem von besonderer Bedeutung zu sein scheinen. Das eine ist, daß der Raum „eine eigene Kraft hat“, indem sich jedes in ihm zu seinem natürlichen Ort bewegt. Der Raum ist bei ihm nicht homogen, sondern er ist gegliedert nach seinen „Arten“ (den eidē), als die Aristoteles das Oben und das Unten, das Vorn und das Hinten, das Rechts und das Links anführt, von denen er sich aber in seinen Erörterungen (aus einsehbaren Gründen) auf das Oben und Unten beschränkt. Von Natur aus hat alles seinen eigentümlichen Ort, dem es zustrebt, wenn es nicht durch fremde Einflüsse daran gehindert wird. Das Feuer drängt nach oben und die Erde nach unten. [4/5] Ich sehe hier ab von der Übersetzungsschwierigkeit, die das griechische Wort topos macht, das wir hier mit Raum wiedergegeben haben, obgleich es eigentlich den Ort, die Stelle bezeichnet, während wir den leeren, freien Raum im Griechischen richtiger mit chora übersetzen würden; denn bei der zweiten Bemerkung, die ich zu machen habe, wird eben diese Übersetzung mit Ort wieder fragwürdig, und es zeigt sich, daß Aristoteles unter dem Namen des topos doch die Fragestellung behandelt, die wir sinngemäß mit dem Begriff des Raums bezeichnen. Er spricht nämlich davon, der topos sei „die Grenze des umfassenden Körpers“, in diesem Sinn „gleichsam ein Gefäß und ein Umfassendes“, so daß der topos wie eine äußere Haut ist, die sich um die Dinge schmiegt – und das wäre im Deutschen wieder mit „Ort“ kaum wiederzugeben. (Ich erwähne diese Schwierigkeiten, um deutlich zu machen, wie verschieden das Phänomen des Raums in den verschiedenen Sprachen gefaßt wird, wie wenig also die bestimmte, uns selbstverständlich gewordene Auffassung schon von Natur aus vorgezeichnet ist.) In diesem Sinn ist also für Aristoteles der Raum etwas, was sich von außen her um die Dinge herumlegt, aber nicht durch die Dinge hindurchgeht. Raum ist, wie ein Gefäß, ein auszufüllender Hohlraum. Aristoteles sagt: „Derjenige Körper, der außerhalb seiner einen ihn umfassenden Körper hat, ist in einem Raum.“ Unabhängig also von den Körpern, von den konkret zu erfüllenden Gefäßen hat der Begriff des Raums keinen Sinn. Daraus ergibt sich endlich das Dritte, was ich für den Fortgang besonders heraushebe, weil es für den Unterschied zu unserem Raumbegriff besonders bezeichnend ist. Das Himmelsgewölbe im ganzen, das sich die Griechen im sog. Ptolemeischen Weltbild als eine kristallene Scha- 1 Der erlebte Raum. Zeitschr. f. d. ges. Innere Medizin, 11. Jahrg., 3. Heft, 1956. Tür und Fenster. Die Sammlung, 15. Jahrg. S. 49 ff. 1959. Der erlebte Raum. Universitas, 15. Jahrg. S. 397 ff. 1960. Der bergende Raum. Duitse Kroniek, 14. Jahrg. S. 49 ff., sowie in: Neue Geborgenheit, Stuttgart 1955, 2. Aufl. 1958, das Kapitel: Der Sinn des Hauses, S. 160 ff. Sonst habe ich, um den Charakter des in Wilhemshaven gehaltenen Vortrags zu wahren, auf Anmerkungen und Quellennachweise verzichtet und werde sie in einem später erscheinenden Buch nachtragen. 3 le vorstellten, befindet sich nicht mehr im Raum, weil es ja nicht mehr von einem anderen umschlossen wird. Raum im weitesten Sinn ist also „die äußerste und den bewegbaren Körper berührende ruhende Grenze des Himmelsgewölbes“. Das bedeutet: Raum als solcher ist notwendig endlicher Raum, ein Hohlraum, nämlich der Bereich des Himmelsgewölbes. Darüber hinaus zu fragen, ist sinnlos. * Nachdem wir so mit einem kurzen Blick auf Aristoteles die durch den modernen physikalischen Raumbegriff bedingten festen Vorstellungen schon ein wenig aufgelockert haben, sind wir vorbereitet, in einer unvoreingenommeneren Weise das zu betrachten, was im natürlichen Verständnis der deutschen Sprache mit dem Wort Raum bezeichnet wird; denn die Betrachtung des natürlichen Sprachgebrauchs erweist sich immer wieder als ein vorzügliches Mittel, hinter [5/6] die Verfestigung behindernder Theorien auf die theoretisch noch unverfälschte Wirklichkeit zurückzugreifen. Wir sehen dabei von vorn herein ab von dem abgeleiteten wissenschaftlichen Sprachgebrauch, in dem von „dem“ Raum als einer menschlichen Anschauungsform, von den euklidischen und nichteuklidischen Räumen gesprochen wird. Wir sehen aber ebenfalls ab von dem heute weitverbreiteten Sprachjargon, der den Begriff Raum in einem unbestimmt übertragenen und im einzelnen schwer faßbaren Sinn verwendet, indem sie von einem wirtschaftlichen, einem politischen oder auch von einem dichterischen Raum spricht und darunter allgemein so etwas wie einen Sachzusammenhang versteht, innerhalb dessen sich die betrachteten Erscheinungen abspielen. Wir nehmen vielmehr das Wort noch im unmittelbaren kräftigen natürlichen Sprachgebrauch, der von solchen Unarten noch unbelastet ist. In diesem Sinn fällt es auf, daß das Wort Raum, mit dem bestimmten oder unbestimmten Artikel versehen, im Deutschen nur in der Bedeutung von einem Raum als dem Teil eines Hauses vorkommt, also als Oberbegriff, der die Zimmer, Kammern, Küche und die anderen „Räumlichkeiten“ umfaßt. Raum bezeichnet hier also die Einheiten, aus denen die Wohnung zusammengesetzt ist. Raum in diesem Sinn ist ein durch Zwischenwände abgetrennter selbständiger Teil eines Hauses, der wiederum verschiedenen Zwecken dienen kann. Man spricht so von Wohnräumen, Büroräumen, Nebenräumen usw. Sehr bezeichnend ist das Beispiel des Versammlungsraums: Findet die Versammlung nämlich unter freiem Himmel statt, so spricht man zwar vom Platz oder Ort der Versammlung, aber nicht vom Raum, womit besonders deutlich wird, daß der Raum hier immer einen Teil eines Gebäudes, d. h. etwas von der Umwelt Abgeschlossenes, einen Hohlraum bedeutet. Dieser Sprachgebrauch ist übrigens in anderen Sprachen nicht in der gleichen Weise vorhanden. Wenn im Französischen etwa von einer pièce die Rede ist, so ist damit die uns interessierende Frage schon durch den Sprachgebrauch ausgeschaltet. Wir können darum diese Bedeutung des Wortes auch hier beiseite lassen. Sonst aber kommt das Wort Raum – ohne Artikel gebraucht – vor allem als Bestandteil bestimmter fester Wendungen vor, und an diese werden wir uns zuerst halten müssen, wenn wir begreifen wollen, was die wissenschaftlich unbelastete Sprache mit dem Wort Raum im Auge hat. In diesem Sinn spricht man etwa davon, daß man „Raum hat“ oder „Raum braucht“, um sich auszubreiten. So heißt es beispielsweise in der Weihnachtsgeschichte, daß man das Christkindlein in eine Krippe legen mußte, weil „sonst kein Raum [6/7] in der Herberge“ war. So heißt es in dem viel zitierten Wort, daß für ein glücklich liebend Paar „Raum auch in der kleinsten Hütte“ sei, ein tief gesehener Tatbestand, auf den wir noch in anderem Zusammenhang zurückkommen müssen. Immer heißt hier Raum: zur Verfügung stehender, nicht anderweitig in Anspruch genommener Raum, also Raum, in dem man sich frei bewegen kann. 4 Man spricht so auch im übertragenen Sinn davon, daß man Gedanken und Empfindungen, beispielsweise einem Verdacht, Raum gewährt. Raum ist also im weitesten Sinn der „Spielraum“ einer Bewegung, der „Zwischenraum“ zwischen den Dingen, Enge und Weite sind die ursprünglichen Bestimmungen dieses Raums. Der Raum wird knapp, so daß man sich in ihm beengt fühlt, oder der Raum ist reichlich vorhanden, so daß man verschwenderisch damit umgehen kann. Die sog. Unendlichkeit des Raums kommt hier noch gar nicht in den Blick, weil es gar keinen Sinn hat, von Raum zu sprechen, soweit er nicht durch ein konkretes Lebensbedürfnis auch ausgefüllt werden kann. Der Raum reicht nie weiter als die konkret zu erfüllende Reichweite des Lebens. Man kann wenig oder viel Raum haben, aber unendlich viel Raum haben kann nur soviel bedeuten: mehr Raum haben, als man je für sich in Anspruch nehmen kann. * Diese Auffassung bestätigt sich, wenn wir auch die Hinweise, die sich aus der Sprachgeschichte ergeben, für unsere Deutung heranziehen; denn auch die Sprachgeschichte erweist sich immer wieder als ein geeigneter Leitfaden für den Ansatz der sachlichen Interpretation. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß schon rein sprachgeschichtlich das Wort Raum einen solchen engeren, begrenzten Raum im Sinne eines Hohlraums bezeichnet und dabei von Anfang an auf ein darin wohnendes menschliches Leben bezogen ist. So verzeichnet das Grimmsche Wörterbuch als die ursprüngliche Bedeutung des Verbums „räumen“: „einen Raum, d. h. eine Lichtung im Walde schaffen, behufs Urbarmachung oder Ansiedlung.“ Und indem es die verschiedenen etymologischen Zusammenhänge zusammenzufassen versucht, kommt es auf eine Grundbedeutung des Wortes Raum „als einen uralten Ausdruck der Ansiedler, der zunächst die Handlung des Rodens und Freimachens einer Wildnis für einen Siedelplatz bezeichnete ... dann den so gewonnenen Siedelplatz selbst“. Das Wort Raum entwickelt sich also aus der ganz konkreten Tätigkeit, die für ein menschliches Wohnen Raum schafft, und [7/8] wir werden vermuten können, daß dieser Ansatz fruchtbar bleibt, wenn wir in einem allgemeineren Sinn die räumliche Verfassung des menschlichen Lebens zu analysieren versuchen. Ganz entsprechend bemerkt auch das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache von Kluge-Götze, daß die verschiedenen Wörter der alten germanischen Sprachen, die alle als Substantivierungen aus einem gemeingermanischen Adjektiv im Sinne von „geräumig“ hervorgegangen seien, soviel wie „Raum, freier Platz, Lagerstätte, Sitzplatz, Bett“ bedeuten, also alle einen aus der übrigen Welt ausgesparten gewohnten Aufenthaltsraum bezeichnen. Der Hinweis auf Sitzplatz und Bett bereichert das Bild, indem er verstärkt den Charakter des bergenden Hohlraums hervorhebt, der als solcher gegen ein anderes, ihn Umgrenzendes, aber nicht mehr als Raum Bezeichnetes abgegrenzt wird. In einem ähnlichen Sinn spricht man auch von dem Laderaum eines Schiffs. Auch hier ist es die Vorstellung von einem rings eingeschlossenen, für menschliche Zwecke zur Verfügung stehenden Platz. Fassen wir zusammen, so stimmt das aristotelische Raumverständnis weitgehend mit den Anschauungen überein, die sich auch heute noch – wenn auch in der Regel unbemerkt – im natürlichen Sprachbewußtsein niedergeschlagen haben. Wenn wir zunächst den einen, uns hier vor allem wichtigen Punkt herausheben, so bedeutet das: Der Raum ist zunächst als ein Hohlraum vorgestellt, der den Spielraum menschlicher Bewegungen umschließt. Wir können geradezu von einer Höhlenvorstellung des Raums sprechen. Und das heißt zugleich, daß der natürliche Raum mit unreflektierter Selbstverständlichkeit als endlicher Raum vorgestellt wird. 5 * Ich hebe sogleich noch einen zweiten Punkt heraus, obgleich wir uns heute mit ihm nur am Rande beschäftigen wollen: Zum natürlichen Raumbewußtsein gehört es, daß der Raum als menschlicher Lebensraum eine natürliche Mitte hat. Jedes Volk betrachtet, solange es in ungebrochener Selbstverständlichkeit lebt, sein eigenes Gebiet als die Mitte der räumlichen Gliederung und setzt in ihm den „Nabel der Welt“ an, mag dies nun bei den Juden der Tempel in Jerusalem oder bei den Chinesen der Palast des Himmelskaisers in Peking oder wie auch immer sein. Selbst von gewissen Nomadenvölkern wird in diesem Sinn berichtet, daß sie an jedem neuen Ort, an dem sie sich niederließen, zunächst mit dem Zeltpfahl die Mitte der Welt neu errichteten, die die menschliche Welt mit dem überirdischen und dem unterirdischen Bereich verbindet. [8/9] Antike Weltkarten können diese Vorstellung gut verdeutlichen: Griechenland bildet die Mitte, darum lagern sich die anderen Länder, und das Ganze wiederum wird vom Okeanos umflossen und zusammengehalten. Ähnlich kehrt diese Anschauung beim römischen Weltreich wieder, und noch heute sind in Italien alle Straßen – noch die alten Straßen des römischen Imperiums – auf Rom als die deutlich bewußte Mitte der Welt bezogen. Jeder Kilometerstein bezeichnet, ohne daß es einer näheren Angabe bedürfte, die Entfernung von Rom. Im Mittelalter erweitern sich zwar die Grenzen, aber das Prinzip, die Lagerung der Welt um eine mit Rom bezeichnete Mitte bleibt erhalten: Rom als das Zentrum der Christenheit. Das aber ändert sich mit der beginnenden Neuzeit. Wir können geradezu von einer Revolution des Raumbewußtseins sprechen; denn die Geschlossenheit eines den Menschen bergend umfangenden endlichen Raums bricht jetzt auseinander und öffnet sich in die bis dahin ungeahnte Weite der Unendlichkeit. Wir können hier aus diesem verwickelten, sich in mehreren Stufen durch Jahrhunderte hinziehenden Vorgang nur einige bezeichnende Züge herausheben. Auf der einen Seite vollzog sich diese Veränderung durch die Fahrten des Kolumbus und die Entdeckung Amerikas wie überhaupt durch die Erweiterung der bis dahin bekannten Welt im Zeitalter der Entdeckungen. Wir müssen uns einmal vergegenwärtigen, was dies für das Raumgefühl der neuen Zeit bedeutete; denn es war ja nicht nur, daß zu den bekannten Ländern neue, bisher unbekannte hinzugefügt worden wären, sondern es war eine radikale Veränderung des gesamten Raumgefühls. Es war die Eröffnung ganz neuer Welten. Es waren die Weiten des Ozeans, die zu unaufhaltsamem Vordringen in die offenen Horizonte verlockten, wo man sich vorher ängstlich an die Küsten gehalten hatte. Dieses berauschende Gefühl der Weite lag zugrunde, wenn Karl V. sich rühmte, daß in seinem Reich die Sonne nicht unterginge. Das ist auch der große Hintergrund, wenn in den synoptischen Darstellungen unendlich vieler barocker Deckengemälde die Vierzahl der damals bekannten Kontinente dargestellt wurde. Diese Entdeckungen waren ebenso begeisternd wie schwindelerregend; denn mit der Entdekkung der Weite verband sich notwendig eine Relativierung in der räumlichen Orientierung überhaupt. Man konnte jetzt nicht mehr mit der gleichen naiven Sicherheit den Sitz des eigenen Volkes für die Mitte der Welt halten. Sobald sich die Erdoberfläche zur Kugel gerundet hatte, gab es auf ihr keine ausgezeichnete Mitte mehr; kein Land war vor dem anderen ausge[9/10] zeichnet. Darum konnte der Rausch der Weite nur vorübergehend verdecken, daß mit den neuen Entdeckungen der sichere Halt einer Mitte verlorengegangen war und die Stellung des Menschen auf der Erde hoffnungslos relativiert war. Damals beginnt, mit Sedlmayr zu sprechen, in einem ganz unmittelbaren räumlichen Sinn der „Verlust der Mitte“. Freilich hat es lange gedauert, bis die letzten Konsequenzen aus der Tat des Kolumbus gezogen wurden. Die fremden Kontinente blieben lange noch als Kolonien auf Europa als die ei- 6 gentliche Mitte bezogen, und erst in unseren Tagen erleben wir, wie der Vorrang Europas verlorengeht und sich der europäische Gesichtspunkt in eine wirkliche Weltgeschichte auflöst. * Tiefer aber noch greifen die Veränderungen, die sich im astronomischen Bereich, im himmlischen Raum vollzogen und die mit der Entdeckung des Kopernikus bezeichnet sind. Wir hatten schon kurz darauf hingewiesen, wie das Weltgefühl des Ptolemeischen Systems das eines geschlossenen Raums blieb, letztlich einer großen Höhle, wenn auch in der vollkommensten, der kugelförmigen Gestalt. Die äußerste der Sphären, die des Fixsternhimmels, war zugleich die Grenze der Welt. Die Kopernikanische Entdeckung bedeutet aber nicht einfach eine Veränderung des Koordinatensystems: daß der Mittelpunkt von der Erde in die Sonne verlegt wurde, sondern sie sprengte zugleich den bisherigen Fixsternhimmel. Hinter ihm taten sich neue Weiten, neue Welten auf, weiter noch als die, die Kolumbus entdeckt hatte. Giordano Bruno hat diese neuen Möglichkeiten mit begeisterndem Schwung ergriffen. So heißt es bei ihm in dem einen Gedicht, das er seinen „Zwiegesprächen vom unendlichen All und den Welten“ – schon der Titel ist bezeichnend – vorangestellt hat: Die Schwingen darf ich selbstgewiß entfalten, nicht fürcht ich ein Gewölbe von Kristall (nämlich den Fixsternhimmel des Ptolemeus), wenn ich der Äther blauen Duft zerteile, und nun empor zu Sternenwelten eile, tief unten lassend diesen Erdenball. Wir haben einen oft abgebildeten Holzschnitt dieser Zeit, wo der Mensch mit seinem Kopf durch diese Kristallkugel hindurchstößt und jetzt in das offene Universum neuer Welten hineinsieht. Wir lassen [10/11] noch einmal Giordano Bruno sprechen, um uns das überwältigende Gefühl zu verdeutlichen, das den Menschen bei diesen neuen Ausblicken überkommen mußte. So spricht er an anderer Stelle von „jenen prächtigen Gestirnen und leuchtenden Körpern, die ebensoviel bewohnte Welten, gewaltige Lebewesen und hocherhabene Gottheiten sind, nicht sehr verschieden von derjenigen, die wir bewohnen“. Wir müssen diesen Rausch der Unendlichkeit vor dem großen Hintergrund seiner Zeit sehen. Wir müssen immer im Auge behalten, daß die entstehende Naturwissenschaft und die künstlerische Welt des Barocks, die beide hier einsetzen, nur zwei Seiten einer und derselben geistigen Bewegung sind. Das ausgreifende Unendlichkeitsstreben der Zeit berauscht sich an den Perspektiven, die das astronomische Denken eröffnet. Man schwelgt in den himmlischen Räumen, und es ist bezeichnend, daß man hier von unendlichen Räumen spricht, nicht vom endlichen Raum, wie es das geometrische Denken nahelegen würde. „Unendliche Räume“, „himmlische Räume“: wie sich in den großartigen Palästen dieser Zeit ein Zimmer nach dem anderen im Durchschreiten auftut, so öffnen sich dem Gedankenflug immer neue Räume. Aber wie bei den Entdeckungen auf der Erde, so hat auch die Unendlichkeit des Raums zugleich eine andere und weit gefährlichere Seite. Ihre Weite bedeutet zugleich eine Leere. Und wo der Schwung der ersten Begeisterung nachläßt, da macht sich in der Ernüchterung ein Gefühl der Verlorenheit bemerkbar, der Verlorenheit in diesem leeren Raum. Nur wenige Jahrzehnte später ist es Pascal, dieser typische Vertreter des barocken Denkens mit seiner spannungshaften Lehre von der Größe und dem Elend des Menschen, der diese letzte Verlorenheit empfindet. „Das Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern“, so schreibt er in seinen Pensées. Hier haben wir nicht nur die Kehrseite von Giordano Brunos pantheisti- 7 schem Enthusiasmus, sondern zugleich die Stelle, wo sich die Konsequenzen dieser Revolution bis in unsere Zeit hinein auswirken, und wir begreifen, daß der Hinweis auf diese Zusammenhänge nicht nur ein interessanter geistesgeschichtlicher Exkurs war, dem wir uns mit ungetrübter Freude hätten hingeben können, sondern daß er unmittelbar in die brennenden Fragen der Gegenwart hineinführt. * Fassen wir unter diesem Gesichtspunkt noch einmal zusammen, so haben die Taten des Kolumbus wie die des Kopernikus dem Menschen zwar neue Räume erschlossen, indem sie den abgeschlossenen [11/12] Hohlraum aufbrachen und in die Unendlichkeit hinein öffneten, aber sie haben damit zugleich die natürliche Sicherheit des menschlichen Wohnens auf dieser seiner Erde unterhöhlt. Der Mensch hat keinen festen Stand mehr, weil es in seinem Raum keine bleibende Mitte mehr gibt. Wenn ich auch die einzelnen Stufen des weiteren Weges hier nicht verfolgen kann, so sei doch so viel wenigstens angedeutet, daß von hier aus eine notwendige Entwicklung bis zur Heimatlosigkeit des modernen Menschen hinüberführt, des „unbehausten Menschen“, mit Holthusen zu reden, zum modernen Existentialismus, der ja dadurch gekennzeichnet ist, daß er in der Punktualität seines zugespitzten Existenzbegriffs sich keinen Raum mehr zu integrieren vermag und so als ewiger Flüchtling im leeren Raum schwebt. Vor diesem Hintergrund begreifen wir die Aufgabe für unsere Gegenwart, dem Menschen wieder einen festen Halt auf der Erde zu schaffen, ihn neu auf der Erde heimisch zu machen. Wir begreifen Heideggers Wort, daß der Mensch das Wohnen erst wieder lernen müsse. Ich habe in meinem Buch „Neue Geborgenheit“ ausführlich entwickelt, wie wichtig in der Struktur des erlebten Raums die Scheidung ist zwischen einem engeren Raum, einem Innenraum als einem Raum der Geborgenheit, und einem weiteren Raum, einem Außenraum, kurz zwischen der geschlossenen Welt des Hauses und der weiten Welt da draußen, und daß die seelische Gesundheit des Menschen davon abhängt, daß beide Seiten zueinander in einem richtigen Gleichgewicht stehen. Die Entdeckung der unendlichen Weiten hat das Verständnis für die Wichtigkeit des Hauses verkümmern lassen. Und hier, in der Neubegründung eines Raums der Geborgenheit, in dem der Mensch wieder seine Geborgenheit findet, liegt eine entscheidende Aufgabe für unsere Zeit, wenn sie ihre Menschlichkeit bewahren will. Nachdem der Mensch in der neuzeitlichen Entwicklung im Rausch der Unendlichkeit die Verwurzelung im Unendlichen verloren hat, kommt es darauf an, die Sicherheit des Wohnens neu zu begründen. Im Verständnis der Lebensbedeutung des Hauses kann die philosophische Erhellung des erlebten Raums hierzu ihren Beitrag liefern. Das soll gewiß nicht heißen, daß der Mensch sich als Spießer in seinem Haus verkriechen müsse, sondern daß beide Seiten, der Ausgriff in die Weite wie die Sicherheit des Hauses, in ein richtiges Gleichgewicht gebracht werden. * Das war der eine Gedanke, den ich hier entwickeln wollte. Mit ihm verschlingt sich ein zweiter. Ich versuche dazu, den erlebten Raum noch von einer anderen Seite zu bestimmen, und beginne wieder mit [12/13] ein paar allgemeinsten Bestimmungen, so allgemein, daß wir in der Regel achtlos darüber hinweggehen, weil sie uns so selbstverständlich, so keiner Frage bedürftig erscheinen. Schon in der unmittelbaren sinnlichen Anschauung ist uns der erlebte Raum als ein endlicher Raum gegeben. Die Reichweite unserer Sinne ist begrenzt, und das in ihnen Gegenwärtige schließt sich jederzeit zu einer anschaulichen Ganzheit zusammen. Die 8 Grenze dieser uns anschaulich gegenwärtigen Welt aber ist der Horizont, und dieser gewinnt damit für den konkret erlebten Raum eine konstitutive Bedeutung. Was ist also ein Horizont? Wir bestimmen ihn in der Regel als die gedachte Linie, mit der das Himmelsgewölbe auf der Erdoberfläche aufruht. Aber er ist eine gedachte Linie besonderer Art. Auch Längen- und Breitengrade sind ja gedachte Linien. Aber sie haben trotzdem ihren bestimmten Ort auf der Erdoberfläche. Man kann sie fixieren, wie man in Mainz etwa den 50. Breitengrad im Straßenpflaster der Hauptstraße markiert hat. Den Horizont dagegen kann man niemals erreichen. Wohl lockt er zum Vorwärtsdringen mit seinen fernen Türmen und blauen Bergen. Aber was man erreicht, sind immer nur die Gegenstände am Horizont, nie der Horizont selbst. Er weicht zurück und bleibt immer gleich fern. Er ist mit dem Menschen gegeben als die einheitsbildende Grenze seines Raums. Er ist in dieser Weise ein wesentliches Moment des menschlichen In-der-Welt-Seins und insofern Ausdruck der menschlichen Endlichkeit. Ein unendlicher Geist, wenn wir ihn uns einmal konstruieren, würde keinen Horizont kennen, weil er an keine Grenze gefesselt ist. Er würde den Raum in seiner Unendlichkeit gleichmäßig überschauen. Ein Horizont ergibt sich erst für ein Wesen, das an eine bestimmte Stelle im Raum und mit ihr an eine bestimmte Situation gefesselt ist, für ein Wesen, so können wir vielleicht am kürzesten sagen, das in seinen Raum verschränkt ist. Zugleich mit dem Horizont ist notwendig auch eine Perspektive gegeben. Dahin gehört nicht nur die Linearperspektive mit ihren Verkürzungen, mit der scheinbaren Verkleinerung der fernen Gegenstände, sondern auch die Verdeckung der ferneren Gegenstände durch davor befindliche, durch die Auflösung der fernen Gegenstände im Dunst, die sog. Luftperspektive, kurz alles, was die Dinge innerhalb des Raums um einen bestimmten Ausgangspunkt nach den Verhältnissen der Nähe und der Ferne ordnet und damit zugleich eine Ordnung nach den Bezügen des unmittelbar Lebenswichtigen und des Belangloseren schafft. Auch die Perspektive ist mit der Gebundenheit an eine bestimmte Stelle im Raum notwendig gegeben. Der Mensch [13/14] kann zwar diesen seinen Standpunkt verändern, aber dann tritt er nur aus einer Perspektive in die andere, er entgeht nicht der Perspektivität aller räumlichen Gegebenheit. Horizont und Perspektive, wechselseitig aufeinander bezogen, sind so konstitutiv für die menschliche Räumlichkeit im Sinne einer Verschränktheit des Menschen in seinen konkreten Raum. Dabei ist zu beachten, daß die Perspektivität grundsätzlich in jeder beliebigen räumlichen Richtung gilt, daß sie dagegen in ausgezeichneter Bedeutung auf den Horizont bezogen ist. Hier laufen auch in der Malerei die Fluchtlinien zusammen, und der Horizont bekommt damit noch eine andere Bedeutung, die wir bisher noch unbeachtet gelassen hatten: Er bezeichnet die waagerechte Ebene, die Ebene, auf die jeder senkrechte Stand, jede Gliederung nach oben und unten bezogen ist. Der Horizont vermittelt damit zugleich die Orientierung im Raum in bezug auf die entscheidende Mittelachse, die von oben und unten. Was im Zug der Schwerkraft nur unbestimmt empfunden wird, das wird im Anblick des Horizonts unmittelbar sicht- bar. * Gegen die Behauptung, daß sich menschlicher Raum nur innerhalb eines Horizonts ausbilden kann, ergibt sich allerdings der Einwand, daß uns der Horizont ja nicht immer gegeben ist. Wir sehen ihn nur, soweit er nicht durch andere Gegenstände verdeckt ist, in seiner Reinheit also (was sich der Flachländer nur selten klarmacht) überhaupt nur auf dem Meer oder in der Ebene. Schon wo sich Berge erheben, ist der Horizont verdeckt (denn man kann nicht einfach die obere Begrenzungslinie eines Bergrückens als Horizont bezeichnen), und bei Vermessun- 9 gen muß man sich darum eines künstlichen (Quecksilber-)Horizonts bedienen. Aber man muß noch sehr viel weiter gehen. Zu den Behinderungen des Blicks durch konkrete Gegenstände treten die Behinderungen, die durch atmosphärische Verhältnisse bedingt sind. Der Horizont ist selten ganz klar. Er verschwimmt im Dunst der Ferne und verschwindet in der Dämmerung, bei Nacht oder bei Nebel ganz. Der Horizont kann also in ganz verschiedenem Grade sichtbar sein, und es gibt auch das, was ich kurz „horizontlose Räume“ nennen möchte. Diese erscheinen mir besonders geeignet, einige interessante Fragen des erlebten Raums zu verdeutlichen. Ich möchte daher hier einigen Beispielen für diese horizontlosen Räume ein wenig genauer nachgehen. Schon der Nebel zeigt eine solche veränderte Welt, eine Welt ohne Horizont, und das bedingt eine ganz andere Befindlichkeit des Menschen im Raum. Die Dinge verlieren ihre Greifbarkeit, sie entgleiten ins Unfaßbare und gewinnen gerade [14/15] dadurch eine neue Bedrohlichkeit. Sie tauchen auf aus dem Nebel und versinken wieder, und beides plötzlich, ohne daß ich sie habe kommen und wieder gehen sehen. Ich kann mich also auf ihre Annäherung nicht vorbereiten. Plötzlich stehen sie vor mir, gefährlich nahe. Es gibt in dieser Welt keine allmähliche Abstufung der Entfernungen, sondern es gibt nur eine ganz eng begrenzte Nahzone, hinter der sich sogleich das weiße Nichts auftut. Ein Zuhörer machte mich darauf aufmerksam, daß man im Ostfriesischen von einer „kleinen Welt“ spricht, wenn man diesen Zustand im Nebel im Auge hat. Die Beschränkung auf eine kleine Nahzone kommt darin sehr schön zum Ausdruck. Darum trifft mich, was mir im Nebel begegnet, sogleich in der Nähe einer unmittelbar drohenden Berührung, eines direkten Zusammenstoßes. Die gewöhnliche „Vor-sicht“. in der ich die Dinge an mich herankommen lasse, ist hier unmöglich geworden und muß durch eine um so größere Wachsamkeit ausgeglichen werden. Hermann Hesse hat diese Erfahrung einmal ergreifend als Erlebnis menschlicher Einsamkeit geschildert: „Das ist immer wunderlich ergreifend zu sehen, wie der Nebel alles Benachbarte und scheinbar Zusammengehörige trennt, wie er jede Gestalt umhüllt und abschließt und unentrinnbar einsam macht. Es geht auf der Landstraße ein Mann an dir vorbei, er treibt eine Kuh oder Ziege oder schiebt einen Karren oder trägt ein Bündel ... Du siehst ihn herkommen und sagst grüß Gott, und er dankt; aber kaum ist er an dir vorbei und du wendest dich um und schaust ihm nach, so siehst du ihn alsbald undeutlich werden und spurlos ins Graue hinein verschwinden.“ Die Einsamkeit wird dadurch noch bedrückender, daß die andere Welt zwar noch hörbar, aber nicht mehr sichtbar ist: „Du hörst in nächster Nähe Menschen und Tiere, die du nicht sehen kannst, gehen und arbeiten und Rufe ausstoßen. Alles das hat etwas Märchenhaftes, Fremdes, Entrücktes, und für den Augenblick empfindest du das Symbolische darin erschreckend deutlich. Wie ein Ding dem andern und ein Mensch dem andern, er sei, wer er wolle, im Grunde unerbittlich fremd ist, und wie unsere Wege immer nur für wenige Schritte und Augenblicke sich kreuzen und den flüchtigen Anschein der Zusammengehörigkeit, Nachbarschaft und Freundschaft gewinnen.“ Hesse bringt dies Erlebnis auf die bekannten Verse: Seltsam, im Nebel zu wandern! Einsam ist Busch und Stein kein Baum sieht den andern, jeder ist allein ... [15/16] Seltsam, im Nebel zu wandern! Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den anderen, jeder ist allein. 10 Vielleicht ist es schon eine besondere Auslegung Hesses, wenn er darin so sehr die menschliche Einsamkeit heraushebt. Wenn wir uns an das unmittelbar Gegebene halten, das in seinen Sätzen so deutlich hervortritt, so ist es mehr das eigentümlich bedrängende Aufgehängtsein im leeren Raum. Und dieses ist wiederum um so bedrängender, je heller, je weißer der Nebel wird, so daß sich über alle mögliche Gefährdung hinaus ein Gefühl der Wesenlosigkeit, eines Schwebens im leeren Raum aufdrängt. Bedrängender noch als das Schweigen der unendlichen Räume, von dem Pascal sprach, wird hier die Leere unmittelbar aufsässig. * Ähnlich gespensterhaft schildert Stifter im „Bergkristall“ den Weg zweier Kinder durch den dicht fallenden Schnee. „Es war rings um sie nichts als das blendende Weiß, überall das Weiß, das aber selber nur einen immer kleineren Kreis um sie zog, und dann in einen lichten, streifenweise niederfallenden Nebel überging, der jedes weitere verhüllte und verzehrte, und zuletzt nichts anderes war als der unersättlich niederfallende Schnee.“ Der Verkleinerung der Welt auf einen kleinen Umraum ist hier deutlich ausgesprochen. Und sehr scharf getroffen ist dann die Fortsetzung: „Es war wieder nichts um sie als das Weiß, und ringsum war kein unterbrechendes Dunkel zu schauen. Es schien eine große Lichtfülle zu sein, und doch konnte man nicht drei Schritt vor sich sehen; alles war, wenn man so sagen darf, in eine einzige weiße Finsternis gehüllt, und weil kein Schatten war, so war kein Urteil über die Größe der Dinge, und die Kinder konnten nicht wissen, ob sie aufwärts oder abwärts gehen würden, bis eine Steilheit ihren Fuß faßte und ihn aufwärts zu gehen zwang.“ Es ist wieder das Gefühl eines Schwebens im leeren Raum, dem Raum des Nebels vergleichbar, und doch in eigentümlicher Weise wieder davon verschieden. Stifter spricht von einer „großen Lichtfülle“, von einer „einzigen weißen Finsternis“. Der Schiläufer im Gebirge kennt diese Erfahrung. Es ist die übergroße Helligkeit, die „weiße Finsternis“, verbunden mit der Unmöglichkeit, irgend etwas Bestimmtes zu erkennen, die den Menschen viel mehr dem bedrängenden Nichts ausliefert, als je die schwarze Finsternis der Nacht es vermöchte. Es ist eine völlige Entstofflichung der Umwelt. Der Mensch hat das Gefühl, ins Nichts abstürzen zu müssen, weil er nichts Festes [16/17] um sich sieht, an das er sich halten könnte. Er meint zu schweben und ins Nichts zu fallen. Dabei sind wiederum noch Stufen zu unterscheiden, je nachdem es sich bloß um die Entkörperlichung im trüben Schneefall handelt oder ob zugleich ein wirklicher Nebel hinzukommt, der durch die intensive Sonnenstrahlung von oben zu der genannten weißen Lichtfülle gebracht wird. Es ist wiederum ein völlig horizontloser Raum, und wie es hier sehr deutlich hervorgehoben wird, ist dadurch die Grundlage der menschlichen Orientierung, die Unterscheidung von senkrecht und waagerecht, zwar nicht ganz aufgehoben (denn sie bleibt in dem Gefühl der Schwere), aber doch in einer beunruhigenden Weise unsicher gemacht. Man sieht keine Höhenunterschiede, man sieht keine Grenze von Himmel und Erde, und erst wenn der vorsichtig vorantastende Fuß größere Höhenunterschiede wahrnimmt, erst wenn die Bewegung des Gehens in ein Steigen übergeht, merkt man an der veränderten Muskelempfindung, daß das Gelände ansteigt. * Ähnlich wie beim Nebel liegen auch die Verhältnisse, wenn die Dämmerung hereinbricht und sich schließlich zur vollen Finsternis der Nacht verdichtet. Die beiden Erscheinungen verbinden sich oft, denn gerade die Zeit der Dämmerung ist es ja, zu der in besonderem Maß der 11 Nebel aufsteigt. Nur hat dieser aus der Dämmerung aufsteigende und im Dunkeln verschwindende Nebel einen ganz anderen Charakter als der von der vollen Helligkeit des Lichts durchflutete. Es ist nicht mehr so sehr das Gefühl eines zehrenden Nichts, das gewissermaßen am Menschen saugt, so daß er glaubt, ins Leere fallen zu müssen, sondern im Gegenteil etwas bedrohlich auf ihn Eindringendes. Wo die Grenzen zwischen Wahrnehmung und Sinnentrug verschwinden, entsteht eine nie zu fassende, ständig im Wandel befindliche, gespenstisch drohende Welt. Jeder im Halbdunkel verschwimmende Busch verwandelt sich in eine bedrohliche Gestalt. Überall lauert eine in ihrer Ungreifbarkeit stets gegenwärtige Gefahr, und ein Gefühl tiefer Verängstigung ergreift den Menschen. In Goethes „Erlkönig“ hat diese gespenstische Wirkung der Dämmerung ihren dichterischen Ausdruck gefunden. Der Nebelstreif, der in den dürren Blättern säuselnde Wind, die alten grauen Weiden genügen, um eine solche unheimliche und gefährliche Welt aufzubauen. Bei Goethe ist überhaupt diese bedrohliche Kraft der Dämmerung in verschiedenen Gedichten gut formuliert worden. So heißt es beispielsweise in den „Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten“: [17/18] Dämmrung senkte sich von oben, schon ist alle Nähe fern ... Alles schwankt ins Ungewisse, Nebel schleichen in die Höh; schwarzvertiefte Finsternisse widerspiegelnd ruht der See. Wichtig ist auch hier wieder das Zusammenschrumpfen der Umgebung zu einer „kleinen Welt“: „Schon ist alle Nähe fern.“ Die engere Umweltzone verengt sich um den Menschen, weil das bisher noch nahe Scheinende in die Ferne gerückt ist. Oder schärfer zugespitzt vielleicht noch in „Willkommen und Abschied“: Schon stand im Nebelkleid die Eiche, ein aufgetürmter Riese, da, wo Finsternis aus dem Gesträuche mit hundert schwarzen Augen sah. Die „hundert schwarzen Augen“ der Finsternis sind ein treffender Ausdruck dieser Unheimlichkeit, die aus der verdämmernden Welt über den Menschen herfällt. Er fühlt sich hilflos einem Blick ausgeliefert, der ihn zwar sieht, aber den er selber nirgends fixieren kann. Die Nacht schuf tausend Ungeheuer, so heißt es hier weiter, die Erzeugnisse der menschlichen Furcht. * Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß diese selbe Dämmerung dem Menschen auch ganz anders und sehr viel weniger bedrohlich erscheinen kann. So spricht Matthias Claudius in dem bekannten Mondgedicht von „der Dämmrung Hülle“, in der die Welt „so traulich und so hold“ sei. Die Verkleinerung der Welt zu einem engeren Bereich durch den Fortfall der ferneren Zonen wird auch hier empfunden, aber in dem Maße, wie diese in der Dunkelheit verschwinden, verschwindet mit ihnen auch die feindlich drohende Welt, während der engere Umkreis jetzt, von keinen äußeren Mächten mehr bedroht, als eine bergende Hülle, geradezu als zum Menschen zugehörig empfunden wird. Es ist eine einschlafende Welt, die auch den Menschen zum Einschlafen einlädt. 12 So vollendet sich die Dämmerung endlich in der Dunkelheit der Nacht. Hier tritt im Unterschied zur zehrenden Weite des Nebels auch der bergende Charakter in seiner vollen Ausprägung hervor. Novalis hat das in seiner ganzen Größe gesehen. So heißt es bei ihm in den „Hymnen an die Nacht“: [18/19] Sie trägt dich mütterlich ... Im endlosen Raum zergingst du, wenn sie dich nicht hielte, dich nicht bände. Der Mensch wird gehalten von der ihn umhüllend tragenden Nacht. Und wenn die Nacht gewiß auch, im Unterschied zur übersichtlichen Klarheit des Tages, dunkel und voller Geheimnisse ist, so sind es jetzt nicht mehr die Anzeichen drohender Gefahren, vor denen der Mensch jederzeit auf der Hut sein müßte, sondern es ist der Ausdruck tragender Gründe, die ihn halten. Der Mensch ist dem Herzen der Welt näher als am Tage. Und insofern ist dann, wieder mit Novalis gesprochen, die Nacht „unendlicher Geheimnisse schweigender Bote“ und „der Offenbarungen mächtiger Schoß“. Der Mensch tritt zurück in eine urtümlichere, den Untergründen des Lebens noch nähere Form seines Daseins, doch können wir diese überaus wichtige Perspektive hier leider nicht mehr weiter verfolgen. * Unter den horizontlosen Räumen nenne ich noch ein anderes Beispiel, weil es uns zugleich in eine andere wichtige Fragestellung hinüberführt, den Wald. Im Unterschied zu den bisher betrachteten Beispielen handelt es sich hier nicht um eine Behinderung der Sichtbarkeit durch dazwischentretende Medien, durch Nebel oder durch Dunkelheit (oder doch nur in einem beschränkten Maß durch ein gewisses Waldesdunkel, das sich mit dem verschwommenen Rauschen der Bäume verbindet). Die Dinge sind in ihren Formen durchaus deutlich zu erkennen; es ist vielmehr die Behinderung des Blicks durch die Dinge selbst, durch die Baumstämme und Sträucher, durch die Zweige und Blätter, die den Menschen in einen engen Bereich, fast wie in eine Art von Innenraum, einschließen. Der Blick dringt nur wenige Meter in den Wald ein und verliert sich dann zwischen den Baumstämmen. Der Wald hat insofern eine Art von Zwischenstellung zwischen dem Innen- und dem Außenraum. Auf der einen Seite ist er kein freier Raum mit seiner echten Weite. Er hat keinen Ausblick und hat vor allem keinen Horizont mit seinem klaren Abschluß. Der Mensch ist eingeschlossen in die Umhüllung des Waldes, wie eingetaucht darin. Aber dieses Eingeschlossensein ist sehr viel anders und gewissermaßen materieller, weil es ja keine bloße Behinderung der Sichtbarkeit durch Nebel und andere unfaßbare Medien ist, sondern eine Behinderung der Bewegungsfähigkeit selbst durch materielle Dinge wie Bäume und Sträucher. Auf der anderen Seite sind es keine [19/20] festen Mauern, die eine undurchdringliche Grenze bezeichnen. Der Mensch ist an einen engen Raum gebunden, ohne daß dieser eine feste, angebbare Grenze hätte. Er kann sich in einem gewissen Grade frei bewegen. Er kann durch den Wald hindurchgehen. Aber sobald er nach der einen Seite in ihn eindringt, entgeht er dadurch nicht der Gefangenschaft seines Blicks und gewinnt nicht das Freie, sondern der enge, übersehbare Bereich wandert mit wie ein Schatten. Er wird die Enge nicht los, sondern bleibt in sie einge- schlossen. Verwirrend ist dabei, daß keine Richtung vor der anderen ausgezeichnet ist. Darum verliert der Mensch leicht seine Orientierung, wenn er sich nicht von den durch den Wald hindurchführenden Wegen leiten läßt, und auch diese führen ihn nicht sicher, weil der Mensch ihren unübersichtlichen Windungen ausgeliefert ist und in ihnen keine feste Richtung bewahren 13 kann. Auch auf den Wegen wird er blind geführt. Der Mensch verirrt sich darum leicht im Walde. Das kann geradezu etwas Beunruhigendes haben. Der Mensch hat nie das sichernde Feld des freien Blicks. Hinter jedem Gebüsch kann ein Feind lauern. Die Dämmerung, d. h. die halbe Klarheit, gehört mit zum Wesen des Waldes, und damit überträgt sich auch auf ihn, was wir vorhin bei der Dämmerung festgestellt hatten. Die einzelnen Dinge lösen sich auf in einem alles durchflutenden unbestimmten Medium. Und das verbindet sich im Bereich des Hörbaren wiederum mit dem Rauschen, in dessen Unbestimmtheit die einzelnen Stimmen sich zu einem verdämmernden Gesamteindruck zusammenschließen. Eichendorff hat dies in seinen Gedichten immer wieder neu ausgesprochen: Im Walde, in dem Rauschen, ich weiß nicht, wo ich bin, heißt es sehr treffend in der romantisch-pantheistischen Erfahrung des Aufgenommen-seins in einem umfassenden Ganzen. Aber diese Wirkung kann sich, wo der romantische optimistische Lebensenthusiasmus verlorengegangen ist, auch bis zur Unheimlichkeit steigern, und der Wald wird, nicht anders als vorhin die Dämmerung, als eine übergewaltig drohende Macht empfunden, die (wie der tropische Urwald so manche Städte einer früheren Kultur wieder verschlingt) alle menschliche Raumgestaltung wieder verschlingt. Der Wald hat viel Gewalt, heißt es bei Bergengruen, der noch ein unmittelbares Empfinden für diese elementaren Mächte hat. [20/21] * Mit diesen horizontlosen begrenzten Räumen ist im Grunde schon der Übergang zum Innenraum vollzogen, und ich habe mit Absicht das Beispiel des Waldes angeführt, weil mir hier gewisse Parallelen zu einer bestimmten Form des Innenraums, nämlich zum barocken Innenraum gegeben zu sein scheinen, denen ich etwas nachgehen möchte. Ich gehe hier nicht auf die Frage ein, seit wann überhaupt ein Innenraum als ein Raum, d. h. als ein Raum-Körper, bewußt gestaltet worden ist. Das scheint erst seit der frühen Renaissance der Fall zu sein. Ich erwähne es in diesem Zusammenhang nur, weil hier im menschlich gestalteten Raum eine ähnliche Wendung vor sich gegangen zu sein scheint, wie wir sie zuvor im astronomischen Bereich verfolgt hatten: Die Auflösung des umgrenzten und übersehbaren Raums in die unendliche Perspektive, das Auseinanderbrechen des geschlossenen Hohlraums. Wenn wir an die Bauten der Frührenaissance denken, etwa an die kühlen, klaren Raumgebilde Brunelleschis, in denen oft durch anders farbige Säulen und Gebälk die scharfen Konturen dieses Raumkörpers noch schärfer hervorgehoben werden, so daß sie mit kristallener Klarheit vor dem Auge stehen, so ist dieses eine Extrem bezeichnet. Man könnte aber ebenso an das Pantheon in Rom und die Arena in Verona denken, in denen im selben Sinn ein bewußt gestalteter Raumkörper da ist, nur in diesem Fall nicht durch scharfe Kanten begrenzt, sondern als konturloser, kurvig ausgehöhlter Raum. Von diesen begrenzten und übersehbaren Innenräumen der Renaissance und ihr verwandter Zeiten heben sich jetzt wiederum die ganz andersartigen Innenräume des Barocks ab, und wir stoßen auf die Aufgabe, die in der Kunstgeschichte herausgearbeiteten und auf ihrem Gebiet ganz selbstverständlich gewordenen Ergebnisse auf ihren Ertrag für das Verständnis des Raumerlebens hin zu betrachten. Man kann den barocken Raum etwas paradox am ehesten als einen unbegrenzten Innenraum bezeichnen. Das soll bedeuten, daß das, was im allgemeinen das Wesen des Innenraums aus- 14 macht, die klar begrenzende Wand, hier bewußt verschleiert und für den Raumeindruck zum Verschwinden gebracht wird. Die Mittel, deren sich die barocken Architekten dabei bedienen, sind bekannt. Die in der Renaissance klar betonten Grenzen der Raumteile sind durch sie über schneidenden plastischen Schmuck verschleiert, die abschließende Wand wird für den Blick unsichtbar, weil dieser durch Säulen und andere Architekturteile sich verwirrt fühlt, wenn er durch ein Gewirr von vor- und zurückspringenden Teilen hindurchsieht, von Durchblick zu Durchblick, so daß er schließlich nicht mehr weiß – und [21/22] nicht mehr fragt –, ob hinter all diesen Durchblicken überhaupt noch etwas Festes zu finden ist. Durch die unübersehbare Folge der Überschneidungen und Durchblicke löst sich der fest gefügte Raum auf in ins Unendliche führende Perspektiven. Dazu dient das bewußte Spiel mit den Illusionen, der verschwenderische Gebrauch reflektierender Spiegel. Unbetretbare Räume dienen oft nur der optischen Illusion einer unendlichen Ferne. Es sei als letzte Steigerung dieser Möglichkeit nur an die irreale Weite erinnert, aus der in Weltenburg der silbern glänzende Sankt Georg hervortritt – oder hervorreitet, gleichsam im Augenblick der Körperwerdung einer zuvor unkörperlichen Erscheinung ergriffen, wo, wie Pinder sagt, „alles zum mystischen Traume wird, wo ein silberner Sankt Georg aus einer lichten Tiefe her in den dämmernden Altarraum hineinreitet“. Ähnlich schildert es auch Dehio: Im engen Presbyterium herrscht nicht mehr Dämmerung, sondern volles Dunkel. Der Schluß ist ganz vom Hochaltar eingenommen. Aufgebaut wie ein Triumphbogen. In der Mitte aber nicht ein Bild, sondern eine leere Öffnung, und durch diese sehen wir wieder hinaus in einen Raum von unbestimmter Form und Größe, eine unendlich fern erscheinende Lichtwelt wogender Gestalten. Vielleicht wäre die illusionäre Wirkung weniger stark, käme nicht noch ein Kunstmittel besonderer Art hinzu. Mitten in der Öffnung stehen nämlich drei überlebensgroße Standbilder: der Ritter St. Georg zu Pferd, von vorn gesehen, links der sich bäumende Drache, rechts die entfliehende Königstochter. Diese Gestalten befinden sich noch in der dunklen Region; aber Lichtreflexe dringen von hinten ein und gleiten über die goldene Rüstung und das silberne Pferd, so daß dem Eindruck plastischer Rundung nichts abgeht und zugleich eine Vermittlung zwischen dem Dunkel vorn und der Helligkeit hinten gegeben ist.“ Ich habe die meisterhafte Darstellung der Kunsthistoriker im ausführlichen Wortlaut wiedergegeben, um diese Raumwirkung ganz anschaulich werden zu lassen (besser als jede Abbildung es vermöchte): Der Innenraum löst sich auf ins Unendliche, ohne dabei aufzuhören, Innenraum zu sein. Ja, das Seltsame ist, daß diese bewegte Unendlichkeit des Raums, diese Grenzenlosigkeit, dieser Übergang vom begrenzten Raum zur unräumlichen Unendlichkeit, diese Durchdringung von Endlichem und Unendlichem so nur am Innenraum erfahren werden kann. Denn der Außenraum wird gerade dort, wo sich in ihm die volle Weite auftut, am unendlichen Horizont des Meeres, klar und überschaubar. So ist es zu verstehen, daß sich das Unendlichkeitsstreben des Barocks gerade am Innenraum vollendet, während der Außenbau vielfach verhältnismäßig unscheinbar dahinter zurückbleibt. [22/23] Damit aber hört der barocke Innenraum, z. T. auch der weltliche Prunkraum, auf, Innenraum im eigentlichen Sinn zu sein. Es fehlt ihm – in ähnlicher Weise übrigens auch schon beim gotischen Kirchenraum –, was das Wesen des Innenraums gegenüber dem Außenraum ausmacht, das eigentlich Bergende, das dem Menschen der Außenwelt gegenüber einen festen Halt gibt. Aber das liegt, richtig verstanden, auch gar nicht in seiner Funktion; denn der Kirchenraum ist eben kein Wohnraum, selbst der weltliche Prunkraum ist nicht Wohnraum im eigentlichen Verstande und kann daher auch gar nicht den Charakter der Wohnlichkeit haben. Das würde gar nicht in seiner Aufgabe liegen. Und so ist es auf der anderen Seite wiederum bezeichnend, daß selbst im blühendsten Barock der eigentliche Wohnraum diese Bewegung nur in einem sehr geringen Umfang mitmacht. Er bleibt auch hier klar und überschaubar, ein 15 in sich geschlossener Raum, in den man sich zurückziehen und in dem man sich sammeln kann. * Ich breche den ausführlicher durchgeführten Gedankengang an dieser Stelle ab, weil ich noch zwei weitere Aspekte wenigstens andeuten möchte, die mir besonders geeignet scheinen, die Fruchtbarkeit der Frage nach dem erlebten Raum weiter deutlich zu machen. Nachdem wir den umgebenden Raum bisher im wesentlichen als ein einheitliches Ganzes behandelt hatten, wollen wir jetzt noch wenigstens einen kurzen Blick auf seine innere Struktur werfen. Einen günstigen Zugang zu dieser weiterführenden Frage finden wir, wenn wir uns fragen, was im konkreten, lebensmäßigen Sinn die Entfernung zwischen zwei Stellen im Raum bedeutet. Diese konkrete Entfernung ist nämlich nicht mit dem abstrakten, geometrischen Abstand gleichzusetzen, sondern wird durch vielerlei Umstände, befördernde wie behindernde, mitbedingt. Man kann sich das Problem vielleicht dadurch klarmachen, daß man sich fragt: wie groß ist die lebensmäßige Entfernung zwischen einem Punkt an der Wand meiner Wohnung, die diese von einer Wohnung des Nachbarhauses trennt, zu dem entsprechenden Punkt auf der anderen Seite der Wand, also in der Nachbarwohnung? Mathematisch wird es, je nach der Wandstärke, etwa ein halber Meter sein. Konkret genommen ist es aber sehr viel weiter; denn um an diesen Punkt zu gelangen, muß ich mein Zimmer verlassen, mein Haus verlassen, über die Straße zum Nachbarhaus gehen, und wenn ich nicht zufällig mit diesem Nachbarn gut bekannt bin, wird dieser bei meiner Bitte ein so verständnisloses Gesicht machen, daß ich ihn lieber gar nicht erst frage. Das bedeutet: ein mathematisch ziemlich naher Punkt ist praktisch sehr viel weiter entfernt, praktisch überhaupt unerreichbar. Und so baut sich die [23/24] Struktur des von mir erlebten Raums nach den „Kraftlinien“ meiner konkreten Lebensbezüge auf. Und es wäre sehr interessant, einmal das Bild dieser „Kraftlinien“ meiner täglichen Lebensumgebung aufzuzeichnen. Lewin hat zur Bezeichnung dieser Verhältnisse den Begriff des hodologischen Raums geprägt. Herkommend von dem griechischen Wort hodos = der Weg, meint dieses Wort den durch die gangbaren Wege gegliederten konkreten Raum. Die Entfernungen in diesem Raum, die „hodologischen Entfernungen“, werden durch den Kraftaufwand gemessen, der nötig ist, um die betreffende Stelle zu erreichen. Dabei spielen nicht nur die unüberwindbaren Hindernisse eine Rolle, die zu Umwegen zwingen, sondern auch andere Umstände der größeren oder geringeren Gangbarkeit, wie Bodenbeschaffenheit, Steigung usw. Dieser Begriff ist neuerdings von Sartre und Merleau-Ponty aufgenommen und in die philosophische Diskussion eingeführt worden. In diesem Sinn betont Sartre: „Der ursprüngliche Raum, der sich mir öffnet, ist der hodologische Raum; er ist durchzogen von Wegen und Straßen.“ Dieser Begriff bewährt sich nicht nur in der engeren Lebensumgebung des einzelnen Menschen, sondern auch für die überindividuellen menschlichen Lebenszusammenhänge. In einem tief eingeschnittenen Alpental z. B. laufen die konkreten Verbindungslinien alle über die Talsohle, während ein in Kilometern gemessen ziemlich naher Ort eines Nachbartals praktisch sehr weit entfernt sein kann, oft nur über große Umwege zu erreichen. Schöne Illustrationen dafür gibt es aus dem Raumbild sogenannter primitiver Völker. So wird von einem Indianerstamm des südamerikanischen Urwalds berichtet, für den der Fluß praktisch die einzige Verbindung ist, daß sie ihre Richtungen nicht nach Norden und Süden, sondern nach flußauf und flußab, nach rechts oder links zur Stromrichtung bestimmen. Sie begradigen also in diesem Raumschema die Windungen, die der Fluß macht. Und ähnlich verfahren ja auch wir, wenn wir etwa mit einem Schiff einen Strom bergauf oder bergab fahren: Wir realisieren da- 16 bei gar nicht die starken Windungen, wir übersehen sie nicht ganz, aber wir begradigen doch in unserer Vorstellung den Flußlauf und sind oft erstaunt, wenn wir etwa aussteigen und den Berg hinaufsteigen und dann auf der anderen Seite wieder den Fluß, nämlich eine neue Schleife sehen. „Wirklicher“ und in der Dampferfahrt erfahrener Flußlauf stimmen also nicht überein. * Aber so fruchtbar sich auch der Begriff des hodologischen Raums erweist, so ist er doch nur ein Aspekt des erlebten Raums und nicht [24/25] ohne weiteres mit diesem selber gleichzusetzen. Er beschreibt das System der Wege, auf denen ich die einzelnen Stellen im Raum erreiche, gleichsam das Netz der Kraftlinien, die diesen Raum durchströmen. Aber auch die Kraftlinien sind ja im physikalischen Sinn bezogen auf die Ladungen, von denen sie ausgehen. Dem würde hier entsprechen, daß das System der Wege nur verständlich ist von den Zielen, zu denen sie führen, Es sind die „Stellen“ im Raum, die jeweils ihre besondere Bewandtnis haben und in denen sich die menschliche Lebensordnung spiegelt. Dabei ist wichtig, daß der Raum, in dem ich mich gewöhnlich bewege, gar nicht mehr die unberührte Natur ist, sondern vom Menschen gestalteter und in dieser Gestaltung verständlicher Lebensraum. Dilthey hat wohl als erster darauf hingewiesen, wie menschliche zwecksetzende Tätigkeit jedem Ding, das wir gebrauchen, seine Stelle im Raum zugewiesen hat, an die es hingehört und an der wir es suchen, wenn wir es benutzen wollen. Heidegger hat diese Gedanken in „Sein und Zeit“ sehr überzeugend durchgeführt. Schon der Begriff des Zuhanden-seins, mit dem er die ursprüngliche Gegebenheit der Dinge bezeichnet, ist ja ein von vornherein räumlich bezogener Begriff, denn er bezeichnet ein solches Bereitliegen am gehörigen Ort. Der menschliche Lebensraum ist in dieser Weise ein zweckhaft durchorganisiertes Ordnungsgefüge von Plätzen und Stellen. Das Buch gehört in das Bücherbrett und dieses in das Arbeitszimmer, die Zange gehört in den Handwerkskasten usw. Und alles das ist bezogen auf den lebenden Menschen, hat von ihm her gesehen eine bestimmte Entfernung und eine bestimmte Richtung und steht seinerseits nicht allein, sondern immer schon in einem bestimmten Sinnzusammenhang. So entwickelt es Heidegger: „Die ausgerichtete Nähe des Zeugs bedeutet, daß dieses nicht lediglich, irgendwo vorhanden, seine Stelle im Raum hat, sondern als Zeug wesenhaft an- und untergebracht, aufgestellt, zurechtgelegt ist. Das Zeug hat seinen Platz, oder aber es liegt herum, was vom puren Vorkommen an einer bestimmten Raumstelle grundsätzlich zu unterscheiden ist. Der jewenige Platz bestimmt sich als Platz dieses Zeugs zu ... aus dem Ganzen der aufeinander ausgerichteten Plätze des innerweltlich vorhandenen Zeugzusammenhangs.“ Die Unterscheidung zwischen dem Bereitliegen an dem gehörigen Platz und dem bloßen Herumliegen führt auf einen weiteren wichtigen Zusammenhang; denn die räumliche Ordnung, die das Leben sich schafft, wird durch dasselbe Leben zugleich immer wieder gestört. Der Mensch läßt das Gerät nach dem Gebrauch achtlos liegen oder legt es an einem beliebigen Platz ab. Dann entsteht die seinen [25/26] Lebensraum einengende Unordnung, und er muß sich durch ein neues „Aufräumen“ wieder Platz schaffen. Das ist für das Verständnis des Raums ein seltsamer Tatbestand: Der Raum ist nicht in einem objektiven Sinn immer im gleichen Ausmaß vorhanden; er geht durch die Unordnung verloren und kann durch Ordnung wieder geschaffen werden. Menschliches Tun kann also Raum schaffen, und man kann das Mephistowort auch so abwandeln: „Doch Ordnung läßt euch Raum gewinnen.“ 17 * Die Entfernungen innerhalb des erlebten Raums hängen aber nicht nur von den praktischen Bedürfnissen des Menschen und der Erreichbarkeit im handwerklich-rechnerischen Handeln ab, sondern außerdem auch von dem jeweiligen Gefühlszustand des betreffenden Menschen. Binswanger ist wohl der erste gewesen, der hier den Begriff des gestimmten Raums eingeführt hat, wobei mit dem Wort „Stimmung“ der den Menschen im ganzen durchziehende und ihn zugleich mit der umgebenden Welt verbindende Gesamtzustand seines Gefühls gemeint ist. Wir alle kennen die Veränderungen in der Entfernung, mit der uns ferne Gegenstände in der Landschaft je nach dem Wechsel der atmosphärischen Bedingungen erscheinen. Bei schönem Sonnenschein ziehen sie sich in den Dunst blauer Ferne zurück, um bei klarer Sicht, etwa vor einem beginnenden Regen, wieder zum Greifen nahe zu rücken. Auch die Farben können einen Raum enger und weiter machen. Schon Goethe ist diesen Fragen unter dem Titel der „sinnlich-sittlichen Wirkung“ der Farben sorgfältig nachgegangen. „Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Farbe vor uns zurückzuweichen. Ein blaues Zimmer wirkt daher weit, aber auch kalt.“ Die gelbrote Farbe dagegen dringt aktiv auf uns ein. „Man darf eine vollkommen gelbrote Fläche starr ansehen, so scheint sie die Farbe wirklich ins Organ zu bohren“, während die grüne Farbe von angenehmer Neutralität ist und sich darum besonders für Wohnräume eignet. Ebenso ändert sich aber der Raum auch mit der inneren Stimmung des Menschen. Binswanger zitiert in diesem Zusammenhang das Goethewort: O Gott, wie schränkt sich Welt und Himmel ein, wenn unser Herz in seinen Schranken bangt. Wie die Angst ja schon sprachlich die Enge des Herzens bedeutet, so zieht sich auch die äußere Welt um den geängstigten Menschen zusammen; sie wird drückend und schwer. Aber umgekehrt: sobald die Bangigkeit vom Menschen weicht und eine heitere Stimmung in [26/27] sein Herz einzieht, weitet sich auch um ihn die Welt und öffnet ihm einen größeren Spielraum, in dem er sich nun frei und leicht bewegen kann. Binswanger hat vor allem an pathologischen Zuständen verfolgt, wie nur im depressiven Zustand das Schillerwort gilt: Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen. Im euphorisch gehobenen Zustand ist es ganz anders. Da weitet sich der Raum. „Die Welt des Optimisten“, so sagt er, „ist nicht eng, sondern weit; deswegen stoßen sich die Sachen hier nicht hart, sondern sie berühren sich weich und glatt, auch ... weichen sie vor einem zurück und geben sie Raum, so daß man ... unverletzt durch sie hindurchgeht.“ Die Räumlichkeit dieses Zustands läßt sieh allgemein durch das „Kriterium der Weite“ charakterisieren. Wir haben also das bedeutungsvolle Phänomen, daß der erlebte Raum sich öffnet und weitet und wieder zusammenzieht und verengt und überhaupt seinen ganzen Charakter ändert, je nach der inneren Verfassung des jeweils in dem Raum lebenden Menschen. Die Wirkungen des „gestimmten Raums“ sind grundlegend für das Verständnis der gesamten menschlichen Räumlichkeit. * Dazu noch eine letzte, abschließende Bemerkung: Was hier vom äußeren Raum gesagt wurde, gilt entsprechend auch vom „Spielraum“ im menschlichen Zusammenleben und -arbeiten. Wo 18 der Geist des Neides und der Rivalität den Menschen ergreift, da steht jeder dem anderen im Wege, da reibt sich in qualvoller Enge der eine am anderen. Wo sich die Menschen aber in freundlicher Weise zusammenfinden, in wirklicher Kollegialität und mehr noch in echter Freundschaft oder Liebe, da schwindet auch die Reibung, und der eine nimmt dem anderen nicht nur keinen Raum weg, sondern im Gegenteil, er vermehrt sogleich in der gemeinsamen Arbeit und dem gemeinsamen Leben den Spielraum des anderen. Auch hier also zeigt sich, daß der Raum keine fest gegebene Größe ist, sondern je nach der Gesinnung des Menschen einander fortgenommen und dadurch vermindert oder wiederum gemeinsam erst geschaffen und vermehrt werden kann. Binswanger beruft sich hier auf Rilke. „Die Liebenden“, so sagt dieser an einer Stelle, „erzeugen sich gegenseitig unaufhörlich Raum und Weite und Freiheit“, sie versprechen einander „Weite, Jagd und Heimat“. Das hier in noch schwer greifbarer Unbestimmtheit Ausgesagte führt zu einer überaus wichtigen Konsequenz: Wenn wir vorhin die menschliche Aufgabe dahin bestimmten, dem unendlichen Raum und hier dem Menschen einen Halt gegenüber der verzehrenden [27/28] Leere des Weltenraums und gegenüber der bedrängenden Fremdheit der feindlichen Welt zu schaffen“, kurz den Menschen vor dem Verströmen zu bewahren, so ist das nicht nur eine Frage des Hausbaus, im Sinne der räumlichen Grenzziehung, der Abgrenzung der gesicherten Sphäre des Wohnens vor dem Einbruch der feindlichen Welt, sondern, damit das Haus – im weitesten Sinn genommen, und das heißt zugleich: damit die bewußt gestaltete menschliche Lebensordnung – wirklich zu einem Raum der Geborgenheit wird, diese „Wohnlichkeit“ des Hauses hängt von der Weise des menschlichen Zusammenlebens ab. Die menschlichen Beziehungen: der Rivalität und der Kollegialität, des Hasses und der Liebe, gestalten und verwandeln. Es liegt in dem vorhingenannten Spruch, schon eine tiefe Wahrheit, daß für ein glücklich liebend Paar Raum auch in der kleinsten Hütte sei. Auch im Seelischen gilt der Satz, daß Ordnung Raum gewinnen läßt, aber nicht nur im Sinn der quantitativen Vermehrung, sondern der qualitativen Veränderung. Swedenborg soll einmal gesagt haben: Je mehr Engel, desto mehr freier Raum“, das meint, daß das Wesen des Engelhaften, in einem solchen Raumschaffen der selbstlosen Hingabe liege. Und ähnlich spricht Rilke einmal von dem beglückenden Zustand, „als ob die Dinge zusammenträten und Raum gäben, einen Raum, unberührt wie ein Roseninneres, einen angeblichen Raum, in dem man sich still hält“. Im Guten oder im Bösen hängt also der erlebte Raum von der Gesinnung und der seelischen Verfassung des darin lebenden Menschen ab, und zwar nicht nur im Sinne einer unverbindlich erlebten „Stimmung“, in dem ihm der Raum erscheint, sondern als der wirklich gelebte Raum, als der tragende Boden des menschlichen Lebens, ja als wesentlicher Teil dieses Lebens selbst. In diesem Sinn betrifft die Erforschung des erlebten Raums nicht nur eine dem Menschen entgegengestellte Außenwelt, sondern den Menschen. selbst, in seinem innersten Wesen. Zum Verständnis dieser Frage habe ich einige Gesichtspunkte beizutragen versucht.