DER MENSCH IN DER SPANNUNG ZWISCHEN ÖFFENTLICHER UND PRIVATER SPHÄRE* Univ.-Prof. Dr. Otto Friedrich Bollnow, Tübingen Daß der Mensch im Raum lebt und losgelöst vom Raum gar nicht vorstellbar ist, klingt so selbstverständlich, daß man sich scheut, es überhaupt auszusprechen. Und doch hat man bisher wenig daran gedacht, von dem den Menschen umgebenden, von ihm erlebten und gelebten, bewohnten und auch nicht bewohnten Raum auf den Menschen zurückzuschließen und zu fragen, was man aus der Struktur dieses Raums für den Menschen entnehmen kann, der in diesem Raum lebt. Und doch scheint es ein aussichtsreicher Weg zu sein, von diesem vorgegebenen Raum, den man in seinem Aufbau verhältnismäßig leicht analysieren kann, auf die menschlichen Bestimmungen zurückzuschließen, die verborgener sind und sich dem unmittelbaren Blick entziehen. Ein Wesenszug scheint dabei grundlegend zu sein, der den konkreten, vom Menschen gelebten Raum auszeichnet und der dem bloß abstrakten, mathematischen Raum fehlt: Das ist die konzentrische Gliederung in einen engeren Innenraum und einen weiteren Außenraum1 . Das eine ist der Raum des menschlichen Wohnens, der Bereich, in dem der Mensch zu Hause ist, in dem er sich vor den Angriffen der Welt sicher fühlt und in dem er sich ausruht, in den er darum nach allen Ausfahrten in die Weite immer wieder zurückkehrt. Wir bezeichnen diesen Bereich kurz als den des Hauses, obgleich wir uns dessen bewußt sind, daß dieses „Haus“ sehr verschiedene Gestalten annehmen, auch Höhle und Zelt sein kann und nicht notwendig ein Einfamilienhaus moderner Wohnformen zu sein braucht. Auch ein Zimmer in einem modernen Mietshaus kann seine Stelle vertreten. Wir hätten darum auch allgemeiner von einer Wohnung sprechen können. Das andre ist die Welt außerhalb des Hauses, in die der Mensch hinaustritt, wenn er die Tür der eignen Wohnung durchschreitet, ganz allgemein also der Raum des „Draußen“. Es wäre falsch, ihn schlechthin als Fremde zu bezeichnen, obgleich diese als eine äußerste, fernste Sphäre auch dazu gehört. Aber zunächst ist es ein engerer Bezirk des menschlichen Lebensraumes, der auch zum Menschen gehört und enger auf ihn bezogen ist als das, was wir im eigentlichen Sinn die Fremde nennen, ein Bereich, der ihm vielmehr in seiner Weise ebenfalls wohlbekannt ist. Es ist der Raum des gemeinsamen menschlichen Handelns, der Raum, in dem sich die in den Häusern für sich, zusammen mit den Ihrigen, aber von den andern abgetrennt lebenden Menschen zu einem gemeinsamen Unternehmen treffen. Vielleicht ist es am besten, diesen weiter gespannten Raum als den der Öffentlichkeit zu bezeichnen und jenem andern als dem des Privaten gegenüberzustellen, wobei dann die Grundbedeutung des Wortes „privat“ deutlich in die Erinnerung gehoben wird: [17/18] als den durch die Privation, durch die Absonderung aus jenem andern Raum der Öffentlichkeit herausgeschnittenen engeren Raum. Und jener andere erhält durch diese Gegenüberstellung zugleich den Charakter des gemeinsamen Raums, des Raumes gemeinsamen Handelns in einer gemeinsamen Siedlung, in einer Stadt, der polis im vollen griechischen Sinn, kurz vorweggenommen: den Charakter eines politischen Raums. Und damit bin ich an meiner entscheidenden These, um deren Begründung es mir heute geht, nämlich daß die Gesundheit des menschlichen Lebens, die volle Erfüllung seines Wesens davon abhängt, daß der Mensch beiden Sphären, der des Innen- und des Außenraums, des Hauses und des Außerhäuslichen, des Privaten und des Öffentlichen in gleicher Weise gerecht wird. Dies klar zu erkennen scheint mir darum von besonderer Wichtigkeit zu sein, weil dies * Erschienen in: Jugendgemäße Lebenskunde in der Entscheidung, hrsg. von L. Prohaska u. F. Haider, Wien 1970, S. 17-27. Die Seitenumbrüche des Erstdrucks sind in den fortlaufenden Text eingefügt. 1 Zum Aufbau des erlebten Raums vgl. allgemein: O. F. Bollnow, Mensch und Raum. Stuttgart 1963. 2 Verhältnis in unsrer Zeit, wenn ich richtig sehe, in einer verhängnisvollen Weise aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Mir scheint, daß der moderne Mensch die Fähigkeit verloren hat, in einer echten Weise in seinem Hause zu wohnen, daß er in einem umfassenden Sinn heimatlos geworden ist und daß diese Heimatlosigkeit ihn wiederum zum bloßen Spielball anonymer Einflüsse macht, präziser gefaßt: daß diese Heimatlosigkeit ihn hilflos macht gegenüber dem Anspruch totalitärer Mächte; denn totalitärer Anspruch heißt ja: Verleugnung des privaten häuslichen Daseins, das als verächtlich, rückständig, als Relikt einer überwundenen Bürgerlichkeit gilt. Das aber heißt umgekehrt: ein Widerstand gegen den Anspruch des totalitären Denkens kann nur aus der Pflege des privaten häuslichen Lebens erwachsen. Eine echte demokratische Ordnung kann nur in dem spannungshaften Gleichgewicht zwischen öffentlicher und privater Sphäre, zwischen Außen- und Innenraum bestehen. Damit ist der Zielpunkt der weiteren Überlegungen bestimmt. Ich kann die Geschichte dieser Entwicklung hier nicht im einzelnen verfolgen. Ich verweise im Vorübergehen nur auf das kürzlich erschienene Buch von Walter Hof über „Pessimistisch-nihilistische Strömungen in der deutschen Literatur vom Sturm und Drang bis zum jungen Deutschland“2 . Das Ende dieser fortschreitenden Entwurzelung liegt jedenfalls vor unsern Augen und läßt sich zusammenfassend mit dem Hinweis auf den Existentialismus bezeichnen. Der Mensch hat in seiner Welt keinen ihm sinnvoll zugeordneten Ort, er ist in diese seine Welt nur noch „geworfen“, sinnlos an einen zufälligen Platz, er ist „der Flüchtling“ noch, „der Unbehauste“, „der Unmensch ohne Zweck und Ruh“3 . Man hat den Menschen unsrer Zeit mit einem treffenden Buchtitel als den „unbehausten Menschen“ bezeichnet.4 Es soll mir an dieser Stelle nicht um die Behandlung des Existentialismus gehen. Als literarischer Ausdruck einer Zeitsituation ist er vergangen. Man spricht heute nur noch wenig von ihm. Aber ist er damit auch überwunden, sodaß eine Auseinandersetzung mit ihm überflüssig geworden sei? Andre Fragen stehen heute im Vordergrund und beschäftigen die Öffentlichkeit, aber die im Existentialismus zum Ausdruck gekommene Problematik ist damit noch nicht gelöst. Das trostlose Weltbild der heutigen Dichtung bestätigt dies5 . [18/19] Mag so viel äußere Not – wenigstens in unserer mitteleuropäischen Umgebung – auch geringer geworden sein, so ist dennoch die fehlende Sicherheit im häuslichen Wohnen inzwischen nur umso deutlicher sichtbar geworden. Der Ausbruch aus der beengend empfundenen Sphäre häuslicher Geborgenheit kann gradezu als das Kennzeichen der modernen, unruhigen und unzufrieden gewordenen Jugend bezeichnet werden. Es ist neben allem Politischen, das da mitspielt, der Aufstand gegen die sogenannte Bürgerlichkeit, das Unbehagen an der Wohlstandsgesellschaft, die den Menschen verkümmern lasse, weil sie keinen Raum mehr biete für die Entfaltung des freien Menschen, für ein volles Leben in Wagnis und Gefahr. Das Streben nach einer häuslichen Geborgenheit und nach einer geschlossenen Familie erscheint dieser Jugend als ein verächtliches Zeichen einer zu überwindenden Spießbürgerlichkeit. Das Private erscheint überhaupt als etwas, das es abzustreifen und zu überwinden gelte. Das Zusammenleben der Jugend in der „Kommune“ muß in diesem Zusammenhang verstanden werden als das folgerichtige Ende des einmal eingeschlagenen Wegs. Was wir in der Jugendbewegung seinerzeit noch in verhältnismäßig harmloser Form versuchten, das Ausbrechen aus der staubigen Atmosphäre von Elternhaus und Schule, wird hier in wesentlich radikalerer Form wie- derholt. Und damit komme ich zu meiner anfänglichen These zurück: In diesem – sich in den ver- 2 W. Hof, Pessimistisch-nihilistische Strömungen in der deutschen Literatur vom Sturm und Drang bis zum jungen Deutschland. Tübingen 1970. 3 J. W. Goethe, Faust. Gedenkausgabe v. E. Beutler. Zürich 1950, Bd. 5, S. 247. 4 H. E. Holthusen, Der unbehauste Mensch. 3. Aufl., München 1955. 5 Vgl. dazu O. F. Bollnow, Das Zeitalter des Mißtrauens, in: Festschrift für Klaus Ziegler, hg. v. E. Catholy und W. Hellmann. Tübingen 1968. 3 schiedensten Formen abwandelnden, im Prinzip aber doch gleichartigen – Zustand ist das notwendige Gleichgewicht zwischen Innen- und Außenraum zerstört und der Mensch in eine Situation geraten, in der ein sinnvoll erfülltes menschliches Leben schlechterdings nicht mehr möglich ist. Mag in anderen Zeiten die erzieherische Aufgabe darin bestanden haben, den jungen Menschen aus der Enge des häuslichen Daseins zu befreien und neue Horizonte vor ihm aufzureissen, so dürfte heute die Aufgabe genau entgegengesetzt gerichtet sein: nämlich dem heimatlos gewordenen Menschen wieder den Schutz des Hauses zu vermitteln und ihm damit erst wieder einen festen Stand in der Welt zu ermöglichen. Ehe wir die in dieser Richtung zu leistenden Schritte genauer überlegen, müssen wir noch das Verhältnis von Innenraum und Außenraum etwas genauer analysieren. Es ist nämlich nicht einfach so, daß sich ein in seinem Wesen gleicher Mensch im Haus und in der Arbeitswelt jeweils in einer verschiedenen Umgebung befindet, die dann jeweils verschiedene Anforderungen an ihn stellt, sondern der Mensch wird jeweils ein andrer. Wie der Mensch ein bestimmtes „Wesen“ überhaupt nur relativ zu einer bestimmten Umgebung hat, so ändert er sich in seinem Wesen, je nachdem er sich innerhalb oder außerhalb seines Hauses befindet. Es sind jeweils verschiedene Haltungen oder Tugenden oder allgemein: Es ist jeweils eine verschiedene innere Verfassung, die von ihm gefordert wird und die sich in ihm ausbildet. Dabei sind die beiden „Verfassungen“ oder „Zustände“ (wie ich sie vereinfachend einmal nennen möchte) so unlösbar aufeinander bezogen und bedingen einander wechselseitig, daß die Darstellung in die größte Schwierigkeit kommt, wenn sie zuerst die eine und danach die andre Seite behandelt und so den Anschein eines [19/20] einseitig gerichteten Abhängigkeitsverhältnisses erweckt. Aber irgendwo muß man ja anfangen, und so beginne ich mit der Au- ßenwelt. In dem Augenblick, als der Mensch sein Haus verläßt, schon als er die Tür seines Hauses durchschreitet, verläßt er den Schutz seines Hauses und begibt sich in eine fremde und feindliche Welt. Er setzt sich einer Welt von Gefahren aus und muß sich in ihr behaupten. Wir brauchen das nicht in dem primitiven Sinn zu verstehen, als ob hinter der nächsten Ecke gleich wilde Tiere lauerten, die ihn fressen wollten, obgleich man sich schon an diesem einfachen Urzustand etwas Wesentliches verdeutlichen kann. Ähnlich ist es ja schon, wenn das kleine Kind den Schürzenzipfel seiner Mutter losläßt, um sich selbständig in die Umgebung hinauszuwagen. Gefahren lauern überall, wo man sich in eine fremde Welt hinauswagt. Es sind für den erwachsenen Menschen dann in größerem Maßstab die Gefahren der Reise, die Stürme des Meeres, fremde und vielleicht barbarische Völkerschaften. Solange der Mensch nicht ganz verknöchert ist, hat er den Drang in die Weite, ins Unbekannte, das Bedürfnis, sich in den Gefahren zu bewähren. Schon Fröbel hat darauf aufmerksam gemacht, wie die heranwachsenden Knaben das Bedürfnis haben, auf hohe Bäume zu klettern und in unerforschte Höhlen vorzudringen. Es ist das natürliche Verlangen, den Raum zu erobern, vor dem man die Kinder nicht aus falscher Ängstlichkeit zurückhalten darf, das man vielmehr begünstigen und zu dem man ängstlich zögernde Kinder sogar ermutigen muß. In andrer Weise gehört auch das Wandern in die Ferne und insbesondre das Übernachten unter freiem Himmel in diesen Zusammenhang. Der Mensch tritt heraus aus den eingefahrenen Gewohnheiten des Alltags und überantwortet sich der Offenheit des unendlichen Raums. Aber es ist nicht nur die Weite des offenen Raums, und es sind nicht nur die Gefahren, die dem Menschen von der wilden und unbewältigten Natur drohen; auch die menschliche Welt wird eine andre und in andrer Weise gefährlich, wenn der Mensch aus der schützenden Sphäre des Hauses heraustritt. War er im Hause mit seiner Familie oder allgemein mit den Seinen zusammen, in der Weise eines (grundsätzlich) harmonischen Zusammenlebens mit ihnen verbunden, so tritt er außerhalb des Hauses in den Bereich der anderen Menschen, wobei diese „anderen“ nicht die Fremden im Sinn des ganz Unbekannten sind, die Barbaren fremder Län- 4 der, sondern die Mitmenschen, unter denen er seinen beruflichen Geschäften nachgehen muß. Diese „anderen“ sind anders als die Menschen seines häuslichen Bereichs. Sie treten ihm als Rivalen entgegen, gegen deren Widerstand er sich durchsetzen muß, wenn er sein Ziel erreichen will. Er tritt damit in die Sphäre des Kampfes, sei es auch in der abgeschwächten Form des Konkurrenzkampfes. Und wenn er sich darin behaupten soll, bedarf es der ganzen Anspannung seiner Kräfte, der immer wachen Aufmerksamkeit, die ihn vor einer Übervorteilung bewahren soll, ja wir können allgemein sagen: auch des beständigen Mißtrauens gegenüber der Umwelt. Er kann den Erfolg seines Handelns nicht von vornherein mit Sicherheit berechnen, weil er nicht weiß, wie sich die andern verhalten werden. [20/21] Er muß die Unsicherheit in Kauf nehmen und etwas wagen, wenn er Erfolg haben will. Er muß den Kampf mit der launischen Göttin Fortuna aufnehmen. Unsicherheit und Kampf sind die Kennzeichen dieses zwischenmenschlichen Bereichs. Aber der andre Mensch ist nicht nur der Feind, gegen den man sich zu wehren hat. Es gibt auch eine Verbundenheit in dieser feindlichen Welt, die Kameradschaft und Freundschaft und allgemein die untereinander verbundene Gruppe, aber es ist eine andre Form der Verbundenheit: Im Unterschied zur hierarchischen Gliederung der Familie ist es die Verbindung zwischen gleichrangigen und in der Regel gleichaltrigen Menschen, und gegenüber der beruhigt-warmen Atmosphäre der Familie entwickelt sich hier der typisch idealistische Zug, den gemeinsamen Kampf in der Welt zu bestehen. Schon bei den Kindern kennen wir ja die Neigung zur Bandenbildung, sobald sie aus dem Haus auf die Straße gekommen sind. Das ist kein Ersatz für ein in der Familie unbefriedigt gebliebenes Verlangen nach menschlicher Wärme, sondern eine notwendige andre Lebensform, die ergänzend zu der der Familie hinzukommen muß. Hannah Arendt bringt in ihrem klugen Buch über die „Vita activa“ folgende Darstellung von der veränderten Welt, in die der Mensch beim Verlassen des häuslichen Bereichs eintritt: „Den schützenden Bereich von Hof und Haus zu verlassen, ursprünglich wohl, um sich in irgendein Abenteuer oder ein ruhmversprechendes großes Unternehmen einzulassen, später, um sein Leben innerhalb der öffentlichen Angelegenheiten zuzubringen, erforderte Mut, weil man nur innerhalb des Privaten der Sorge um das Leben und das Überleben obliegen konnte. Wer immer sich in den politischen Raum wagte, mußte vorher auch bereit sein, das eigene Leben zu wagen, und eine allzugroße Liebe für das Leben konnte der Freiheit nur im Wege sein, sie galt als sicheres Anzeichen einer sklavischen Seele. So wurde der Mut zur politischen Kardinaltugend, und nur diejenigen, die ihn besaßen, konnten in eine Gemeinschaft aufgenommen werden, deren Zweck und Inhalt politisch war“6 . Hier treten uns zunächst die schon bekannten Züge des außerhäuslichen Bereichs entgegen: das Abenteuer und das große Unternehmen, die vom Menschen Mut und Einsatz verlangen. Der Mut erscheint überhaupt als die Grundtugend, die vom Menschen im Außenraum verlangt wird. Und neben dem zu erwartenden Gewinn wird das Streben nach Ruhm hervorgehoben, den der Mensch unter den Mitmenschen erlangen will. Aber aus der besonderen Fragestellung des Buches wird sogleich ein weiteres Element hinzugenommen, das im weiteren Fortgang dann ganz in den Vordergrund tritt: Das ist das politische Element, in dem sich allererst der Charakter der Öffentlichkeit gegenüber der bloß privaten Sphäre vollendet. Das Politische ist in ganz andrer Weise auf Machtstreben und Machterlangung gegründet, ist in ganz andrer Weise die Sphäre des Kampfes rivalisierender Kräfte und einer nur im Kampf zu behauptenden Freiheit. Auch dieses in unserer Bildungstradition vielfach mißverstandene und verachtete Politische ist notwendiges Moment eines erfüllten menschlichen Daseins, weil sich nur in dem von ihm [21/22] geschaffenen und freigehaltenen Raum geistiges Leben entfalten und behaupten kann. Das Politische ist es ja, was allererst den freien Raum des friedlichen Wohnens schafft. Ich erinnere zur Begründung an das gedankentiefe und viel zu wenig beachtete 6 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960, S. 37, vgl. S. 179. 5 Buch von Helmuth Plessner über „Macht und menschliche Natur“7 , in dem er „den Primat des Politischen für die Wesenserkenntnis des Menschen“ formuliert, wobei „Politik als die in der Grundverfassung des Menschlichen überhaupt entspringende Notwendigkeit (begriffen wird), in einer Situation des Für und Wider zu leben und in der Freund-Feind-Relation sich eine Eigenzone gegen eine Fremdzone abzugrenzen und zu behaupten“. Wir können also zusammenfassen, daß sich niemals im häuslichen Kreis, sondern nur außerhalb des Hauses, im „Sturm der Welt“, ein volles menschliches Leben entfalten kann, daß hier erst alle Größe des Menschen entspringt. Darum können wir mit Schiller betonen: Der Mann muß hinaus Ins feindliche Leben, Muß wirken und streben Und pflanzen und schaffen, Erlisten, erraffen, Muß wetten und wagen, das Glück zu erjagen8 . Aber gerade wenn wir dieses öffentliche Leben in seiner vollen Größe sehen, dann müssen wir auch die Gegenseite hinzufügen: daß der Mensch nur dann die Kraft hat, im öffentlichen Leben „seinen Mann zu stehen“, wenn er zugleich auch die Möglichkeit hat, sich in den Frieden seines Hauses zurückzuziehen, hier nach den Erschöpfungen des Kampfes auszuruhen, nach der Hingabe an die Aufgabe sich wieder auf sich selbst zu besinnen, um neu gestärkt dann wieder in den Lebenskampf einzugreifen, ganz allgemein: er kann nur dann in der Welt wirken, wenn er zugleich die Möglichkeit hat, im Frieden seines Hauses in Sicherheit zu wohnen. Fehlt dieser Rückhalt, so verliert sein Leben seine bestimmende Mitte, es bleibt nur noch das bloße Abenteurertum, das die Gefahr um ihrer selbst willen sucht und dem es nicht mehr im vollen Ernst um etwas geht. Das aber bedeutet, daß das öffentliche Leben selber entartet, wenn das private Leben verlorengeht. Und darin sehe ich eine der ganz großen Gefahren der Gegenwart und damit eine der ganz großen erzieherischen Aufgaben: Die Pflege des privaten Lebens, die uns heute so dringend not tut, ist nicht nur eine private Angelegenheit, die man dem einzelnen nach Belieben überlassen könnte, sondern ist ganz unmittelbar eine Angelegenheit des gesamten öffentlichen und politischen Lebens. Die Zerstörung des privaten Lebens zerstört zugleich die Bedingungen des menschlichen Lebens überhaupt. Aber nun ist für uns wichtig, daß in der privaten Sphäre des Hauses eine ganz andre Haltung sinnvoll und notwendig ist als im außerhäuslichen Leben. Hier darf man nicht nur, hier soll man sogar das Mißtrauen und die immer wache Auf- [22/23] merksamkeit aufgeben, sich sozusagen innerlich „abrüsten“, sich auch einmal fallen und tragen lassen. Hier darf man sogar beruhigt einschlafen, und um überhaupt beruhigt einschlafen zu können, bedarf es immer einer solchen bergenden Sphäre. Wer aber im privaten Leben mit Heldentaten prahlt, der miles gloriosus, oder der Stammtischstratege, der alles besser weiß, macht sich nur lächerlich. Denn hier gibt es nichts zu wagen, und hier bedarf es keines besonderen Muts; hier herrscht ja ohnehin Sicherheit und wechselseitiges Vertrauen. Wer sich auch im Familienkreis kämpferisch durchsetzen will, der verkennt die Eigengesetzlichkeit des familiären Lebens als eines liebenden und vertrauenden Zusammenseins, wie es Ludwig Binswanger als liebendes Mitsein überzeugend analysiert hat9 . Hier ist der Ort der Entspannung gegenüber der Anspannung des öffentlichen Lebens. Dafür 7 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht. Berlin 1931. S. 62 u. 57. Jetzt in: Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Bern 1953, S. 241 ff. 8 F. Schiller, Das Lied von der Glocke. Sämtliche Werke, Säkularausgabe, hg. v. E. v. d. Hellen, Bd. 1, S. 49. 9 L. Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Zürich 1942. 6 werden hier aber andre Tugenden erforderlich, und diese gilt es wiederum klar zu erkennen, um ihrem Anspruch genügen zu können. Es sind zunächst, vom einzelnen Menschen her gesehen, die Fähigkeit zur Ruhe und zur Stille, allgemein das Absehen von aller Absichtlichkeit, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen und die erneuernden Kräfte in sich wirken zu lassen. Es sind darüber hinaus im menschlichen Zusammenleben die Liebe und das Vertrauen und die wechselseitige Rücksicht. Hannah Arendt hebt besonders die Güte hervor, die das Licht der Öffentlichkeit scheut, sie betont: „Güte kann es nicht vertragen, gesehen und bemerkt zu werden“10 . Das geschieht nicht, weil man hier schuldbewußt etwas zu verbergen hätte, sondern weil es sich um ein Verhalten handelt, das sich wesensmäßig nur im Verborgenen auswirken kann. Es ist allgemein der von der Scham behütete Bereich des „Heimlichen“. Viele Dinge vertragen es einfach nicht, auf dem Markt verhandelt zu werden. Aber es gibt noch einen andern Bereich eigentümlicher Tugenden, die in besondrer Weise dem häuslichen Bereich zugeordnet sind. Dahin gehört vor allem, schon im Wort darauf verweisend, die Tugend des Haushaltens oder des Wirtschaftens, d. h. des rationellen Umgehens mit beschränkten Mitteln. Und darauf baut sodann der ganze Umkreis der heute ebenfalls vielfach verachteten bürgerlichen Tugenden auf, wie Fleiß, Ordnungsliebe, Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Genauigkeit usw. Sie alle stehen in ihrem bescheidenen Charakter in einem bezeichnenden Gegensatz zu dem, was in der Außenwelt der Großzügigkeit des Verhaltens (die griechische megalopsychia) Ehre und Ansehen verschafft. Aber mit dem Hinweis auf die Aufgabe des Haushaltens hat sich die Betrachtungsweise unter der Hand verschoben, und wir müssen das beachten, wenn wir nicht in unsern Überlegungen die Orientierung verlieren wollen. Wir waren ausgegangen von dem Haus als der Zufluchtsstätte gegenüber den Stürmen der Welt und dem Raum der Ruhe und Entspannung. Jetzt aber erkennen wir, daß auch es eine eigentümliche Form der Tätigkeit und sogar eines daraus erwachsenen Berufs hat, ja daß wir den in einer friedlichen Ordnung ausgeübten Beruf weitgehend der Sphäre des Hauses zuordnen können, vor allem dann, wenn wir auch Werkstatt und Stall und das angebaute Feld mit zum Bereich des Hauses rechnen. Der [23/24] Außenraum, von dem wir sprechen, beginnt dann nicht schon an der Haustür, sondern erst dort, wo ich den räumlichen Bereich, über den ich von mir aus verfügen kann, überschreite und in den Machtbereich eines anderen Menschen eintrete, sodaß ich mich mit seinem Anspruch auseinandersetzen muß. Man kann diesen Gegensatz vielleicht am besten mit der von Hannah Arendt eingeführten Unterscheidung zwischen dem Arbeiten und handwerklich-technischen Herstellen (zwischen denen wir hier nicht unterscheiden wollen) und dem eigentlich politischen Handeln kennzeichnen. Der Unterschied läßt sich auch dahin bestimmen, daß ich im Arbeiten und Herstellen mit der außermenschlichen (unbelebten oder belebten) Natur zu tun habe, wobei andere Menschen nur als Mitarbeiter einbezogen sind, die, ob untergeordnet oder übergeordnet, auf dasselbe gemeinsame Ziel bezogen sind. Der Bereich der Öffentlichkeit ist demgegenüber dadurch gekennzeichnet, daß hier der Mensch auf den anderen Menschen als einen rivalisierenden Partner oder auch Gegner trifft. Dieser ist jetzt der Gegenstand seines Handelns. Mit ihm muß er sich auseinandersetzen, mit List oder Gewalt oder auch mit Überredung. Hier sind wir also im Bereich der Macht. Und Macht gibt es im eigentlichen Sinn nur über Menschen, nicht aber über die Natur. Über die Natur verfügt man, man bearbeitet sie als ein Material, aber man übt über sie im eigentlichen Sinn keine Macht aus, während es umgekehrt schon immer eine Entwürdigung des Menschen bedeutet, wenn man ihn als bloßes Material einer Bearbeitung betrachtet. Damit können wir die bisherigen Abgrenzungen zusammenfassen: Die Sphäre des Hauses ist zunächst einmal der Bereich der Ruhe und des Friedens, in die sich der Mensch aus 10 H. Arendt, a. a. O., S. 71, vgl. S. 68. 7 den Anstrengungen des täglichen Lebens zurückzieht. Das Haus ist in diesem Sinn der gemeinsame Wohnort der Familie. Das Haus ist aber im erweiterten Sinn der Bereich der vom Menschen umgestalteten Natur, kurz der Bereich der Kultur. Der außerhäusliche Bereich ist demgegenüber zunächst die unbekannte Ferne, insbesondre die noch nicht umgestaltete und darum wilde und bedrohliche Natur, fremde Länder und Erdteile. Dieser Bereich ist aber heute schon ziemlich weit fortgerückt und hat viel von seiner Gefährlichkeit verloren. Unmittelbarer geht uns ein andrer Bereich an, in dem sich die Menschen rivalisierend in der Ausübung der Macht begegnen, im weitesten Sinn der Bereich des politischen Lebens. Weil hier der Mensch ohne den Schutz des Hauses den Blicken und Angriffen der Mitmenschen ausgesetzt ist, fassen wir ihn mit dem bisher schon im Vorübergehen aufgenommenen Wort als den Bereich der Öffentlichkeit, und demgegenüber umgekehrt den den Blicken und Einwirkungen der fremden Menschen entzogenen Raum als den des Privaten. Er besteht nicht schon von Natur aus, sondern wird erst durch Privation, durch ein Absondern und Herausschneiden, aus jenem andern öffentlichen Raum gewonnen. Dabei ist jetzt der Begriff in einem allgemeineren Sinn zu verstehen: Er bezeichnet nicht nur einen räumlichen Bezirk, den als die Sphäre des Hauses von dem öffentlich zugänglichen Außenraum abgesonderten Innenraum, sondern darüber hinaus eine dem Hause spezifisch zugeordnete Form des Lebens: das private Leben gegenüber dem öffentlichen Leben. [24/25] Damit läßt sich jetzt unsere anfängliche These von einer neuen Seite fassen. Während im gesunden Zustand öffentliches und privates Leben wechselseitig aufeinander bezogen sind und beide in diesem Bezug ihre notwendige Funktion haben, beide also im richtigen Gleichgewicht zueinander stehen müssen, ist in unsrer Zeit die Öffentlichkeit in einem beständigen Vordringen begriffen und droht den privaten Bereich ganz zu überfluten. Die erschreckende Vision Orwells, wo das beobachtende Auge des „großen Bruders“ den Menschen keinen Augenblick aus dem Auge läßt, sodaß dieser keine Möglichkeit hat, sich auch nur vorübergehend diesem Blick zu entziehen und endlich einmal „für sich“ zu sein, ist technisch durchaus realisierbar, und die Möglichkeiten der Manipulation greifen allgemein tief in den innersten Kern der Person ein, so tief, daß sie das Wesen des Menschen als eines aus eigener Verantwortung handelnden Wesens überhaupt zu zerstören drohen. Wenn es also irgendeinen Schutzwall gegen die alles einebnende Flut der Öffentlichkeit geben soll, dann kann er nur in einer bewußten Pflege des privaten Bereichs liegen. Und dazu ist wiederum vor allen einzelnen Maßnahmen zunächst einmal ein Bewußtwerden der heute so viel verkannten Würde des Privaten erforderlich. Hier allein sind die Wurzeln zu suchen, die dem Menschen einen Halt gegenüber dem Versinken im Massendasein geben. An dieser Stelle möchte ich noch einmal ansetzen und versuchen, die bisherigen Überlegungen zu vertiefen. Wir hatten bisher das Haus als Zufluchtsort gegenüber den von außen kommenden Bedrohungen betrachtet und das Verhältnis von Haus und Welt als das von Ausruhen und Tätigkeit, in dem Rhythmus von Anspannung und Entspannung. Nur ganz leise klang dabei an, daß das Haus darüber hinaus auch im positiven Sinn der Sitz der schöpferischen Kräfte im Menschen ist, zu dem er immer wieder zurückkehren muß, wenn er seine Produktivität lebendig erhalten will. Ich möchte aber diese Seite hier nicht weiter verfolgen, sondern sogleich noch einen Schritt weitergehen und betonen, daß das Haus zugleich der Ort ist, an dem sich allein die sittliche Persönlichkeit entwickeln kann, das Selbst im strengen Sinn, das mit eignem Urteil dem Anspruch der von außen kommenden anonymen Mächte entgegentritt. Die Verhältnisse liegen insofern heute komplizierter, als es vielleicht in früheren Jahren der Fall war, als die Grenze zwischen dem öffentlichen und dem Privaten nicht mehr mit der Grenze des Hauses zusammenfällt, sondern die Öffentlichkeit durch die modernen Massenkommunikationsmittel auch in die Sphäre des Hauses eindringt und den Bereich des Privaten immer mehr zu verzehren droht. Mag der Mensch in noch so bequemem Sessel das Radio hö- 8 ren oder vor dem Fernsehapparat sitzen, so ist er doch nicht bei sich, sondern ausgeliefert den von außen kommenden Einflüssen. Je entspannter er sitzt, um so rückhaltloser ist er ihnen ausgeliefert. Die anonymen Mächte dringen auf diese Weise in das Innerste des Hauses ein und setzen selbst hier den Menschen unter den beständigen Druck vorgeformter Meinungen, sie bestimmen von vornherein seine Reaktionen und wirken umso unwiderstehlicher auf die gesamte Lebenshaltung, je weniger der Mensch selber etwas [25/26] von diesem Einfluß bemerkt. Selbstverständlich können wir die Einrichtung des Rundfunks und Fernsehens nicht aus der Welt schaffen und wollen es nicht einmal, aber umsomehr kommt es darauf an, die Apparate richtig zu gebrauchen, d. h. allgemein mit den Massenkommunikationsmitteln richtig umzugehen, in der angemessenen Weise mit ihnen zu leben. Aber dazu ist jetzt die größte Anstrengung erforderlich, will man sich diesen Einflüssen gegenüber mit einem selbständigen Urteil behaupten. Man darf auch nicht sagen, daß der Mensch schon zu allen Zeiten ein kollektives Wesen gewesen sei, das dachte, wie alle dachten, und tat, was alle taten11 . Der Unterschied liegt darin, daß heute diese Einflüsse bewußt und mit der Absicht der Beeinflussung ausgeübt werden und damit erst der Mensch zum Objekt einer von außen kommenden Manipulation wird. Und je größer die ihn beeinflussenden Organisationen werden (je mehr beispielsweise die Verschiedenheit der lokalen Zeitungen ihre Macht verliert), um so mehr wächst die Gefahr einer totalen Inanspruchnahme des Menschen durch ein totalitäres System. Um diesem Einfluß entgegenzuwirken, wird die Erziehung zum eigenen Urteil12 zum zentralen pädagogischen Problem. Und vor diesem Hintergrund steht meine Behauptung, daß die Fähigkeit zum selbständigen Urteil und damit zu einer selbständigen Stellungnahme innerhalb des kollektiven Daseins die Möglichkeit eines Rückzugs aus der öffentlichen Inanspruchnahme verlangt – wir können es ganz schlicht sagen: die Möglichkeit einer Besinnung. Besinnung aber ist grundsätzlich nur in der Einsamkeit möglich, wo der Mensch ungestört und für sich allein ist. Die Ausbildung des eigenen Urteils hängt also mit der Erhaltung des privaten Lebens aufs engste zusammen, und dieses ist wiederum nur unter bestimmten äußeren Bedingungen, d. h. in einem abgesonderten Innenraum, einem Haus möglich. Es gilt in der Tat zu erkennen, daß diese Fragen aufs engste zusammengehören. Und weil wiederum die Fähigkeit zum eigenen Urteil keine private Angelegenheit ist, sondern im eminenten Sinn eine solche des öffentlichen, politischen Lebens, wenn dieses nicht den totalitären Mächten ausgeliefert werden soll, ergibt sich erneut und verschärft, daß die Pflege des privaten Lebens keine private Angelegenheit des einzelnen Menschen ist, der ein Anrecht darauf hat, sich auszuruhen, sondern vor allem eine solche des öffentlichen Lebens selber, das in einem total gelenkten Massendasein entarten muß, wenn es nicht sein Gegengewicht im privaten Leben hat. Ich möchte gewiß nicht in dem Sinn mißverstanden werden, als ob ich einem behaglichen und an der Öffentlichkeit uninteressierten Spießertum das Wort reden wollte. Ich hatte ja betont, daß alle Größe des Menschen sich erst im Sturm der Welt entwickelt. Meine These war die der Notwendigkeit des Gleichgewichts zwischen öffentlichem und privatem Dasein, zwischen Haus und Welt. Und noch ein andrer Einwand – vielleicht auch nur eine Frage: Was nützen diese Überlegungen? Welche Anweisungen kann der praktische Erzieher daraus für sein Tun gewinnen? Meine Antwort: Auch wenn sich unmittelbar daraus keine Anweisungen entwikkeln lassen, so ist es für den Erzieher schon von größtem Wert, diese Zusammenhänge grundsätzlich zu durchdenken, weil er daraus einen klareren [26/27] Blick für sein Tun gewinnt und er dann die Gelegenheiten erkennen und ergreifen wird, in denen er das Verständnis für die Bedeutung des Hauses, der Familie und allgemein des privaten Lebens wecken und so die Jugend vor einseitigen Überspitzungen bewahren kann. 11 Vgl. K. Jaspers, Philosophie. Berlin 1932. 2. Bd., S. 51. 12 Vgl. O. F. Bollnow, Erziehung zur Urteilsfähigkeit, in: Maß und Vermessenheit des Menschen. Philosophische Aufsätze. Göttingen 1962. S. 107 ff. 9 Darüber hinaus möchte ich mich noch gegen einen Einwand ausdrücklich wehren: Es geht mir nicht um die Bewahrung überkommener und vielleicht überholter Lebensformen. Wie im einzelnen das Haus und die Familie und allgemein die private Sphäre zu gestalten ist, das ist damit nicht festgelegt und das muß jede Zeit aus ihren Bedürfnissen heraus neu bestimmen. Nur daß überhaupt ein Gleichgewicht zwischen Innen- und Außenraum, zwischen Privatem und öffentlichem vorhanden sein soll und daß von hier aus gewisse einseitige Tendenzen der Gegenwart erkannt und bekämpft werden müssen, darauf kam es mir in meinen Ausführungen an. Um abschließend darauf hinzuweisen, daß es sich um eine Schwierigkeit handelt, die sich vielleicht in unserer Gegenwart besonders bedrohlich zuspitzt, die als solche aber zum bleibenden Wesen des Menschen gehört, erinnere ich zum Schluß an das schöne Gedicht Eichendorffs „Die zwei Gesellen“13 , in dem er die doppelte Möglichkeit, das Gleichgewicht zwischen Außenwelt und Innenwelt, zwischen Heimat und Fremde zu verfehlen, ergreifend dargestellt hat. Eichendorff wußte als Romantiker von beidem, von der bedrückenden Enge des Hauses, der er zu entfliehen suchte, und dem ruhelosen Schweifen in die Ferne, ohne bindende Mitte – der typischen Gefahr der Romantiker. Beide Gesellen waren von hohem Streben getragen: Die strebten nach hohen Dingen, Die wollten, trotz Lust und Schmerz, Was Recht’s in der Welt vollbringen, aber beide verfehlten ihr Ziel. Der erste, der fand ein Liebchen, Die Schwieger kauft’ Hof und Haus; Der wiegte gar bald ein Bübchen, Und sah aus heimlichen Stübchen Behaglich ins Feld hinaus. Das ist also die Gefahr der Beruhigung in einem trägen Spießertum. „Behaglich“ und „heimlich“ (d. i. anheimelnd) sind die bezeichnenden Worte für diesen Zustand. Der andre aber: Dem zweiten sangen und logen Die tausend Stimmen im Grund, Verlockend’ Sirenen, und zogen Ihn in der buhlenden Wogen [27/28] Farbig klingenden Schlund. Und wie er auftaucht’ vom Schlunde, Da war er müde und alt ... Er hat sich fortreißen lassen von den dämonischen Mächten „im Grund“, das ist unterhalb der Schicht unseres klaren Bewußtseins, des „Unbewußten“ würde man heute vielleicht sagen – und auch er verfehlt seine eigentliche Lebensaufgabe. Als er es erkennt, ist es zu spät. Das aber ist die doppelte Gefahr, der jedes menschliche Leben ausgesetzt ist. Und seh’ ich so kecke Gesellen Die Tränen im Auge mir schwellen, weil er die großen Gefahren sieht, die auf sie warten. Und darum endet das Gedicht mit der Bitte um eine gnädige göttliche Führung: Ach, Gott, führ’ uns liebreich zu Dir! Womit die menschliche Verantwortung für die Gewinnung der rechten Mitte nicht aufgehoben ist, nur auf die Grenzen aller menschlichen Bemühungen abschließend hingewiesen wird. 13 J. v. Eichendorff, Sämtliche Werke, hg. v. W. Kosch. Regensburg 1921. 1. Bd., 1. Hälfte, S. 71.