Otto Friedrich Bollnow Der Raum* Unsere Vorstellungen vom Raum sind in der Regel durch den euklidischen Raum bestimmt, wie wir ihn im Mathematik- und Physik-Unterricht unserer Schulzeit kennengelernt haben. Kein Punkt in ihm ist vor einem andern Punkt, keine Richtung vor einer andern Richtung ausgezeichnet. Man kann jeden Punkt durch eine einfache Verschiebung in einen beliebigen andern Punkt, jede Richtung durch eine einfache Drehung in eine beliebige andre Richtung überführen. Dieser Raum ist völlig ungegliedert und kann insofern als eine Art von Gefäß betrachtet werden, in dem sich die Dinge befinden. Diese Raumvorstellung ist uns so selbstverständlich geworden, daß wir darüber meist vergessen, daß der konkrete Raum, in dem wir leben und den wir erleben, kurz gesagt: der erlebte Raum ganz anders ist. Dieser hat vielmehr eine reiche Gliederung, die wir uns in einigen Grundzügen vergegenwärtigen wollen. Der erlebte Raum hat zunächst einen natürlichen Nullpunkt. Das ist der Ort, an dem wir uns befinden, oder genauer: der Ort, an dem wir uns gewöhnlich befinden, wo wir zuhause sind. Damit der Mensch sicher in seiner Welt leben kann, ist es wichtig, daß er nicht, wie die Existentialisten es sahen, [15/16] einfach in die Welt „geworfen“ ist, daß er nicht als ewiger Flüchtling in der Welt herumirrt, sondern daß er eine Stelle hat, wo er hingehört und wo er verwurzelt ist und wohin er nach allen Wegen im Raum immer wieder zurückkehren kann. Das ist die natürliche Mitte des erlebten Raums, und um diese baut sich dann die Welt in einer ganz bestimmten Weise nach Nähe und Ferne auf. Dieser Raum hat, um beim einfachsten zu beginnen, eine bevorzugte Richtung, das ist die Senkrechte, und dieser entspricht eine bevorzugte Ebene, die Horizontalebene, die, im groben gesehen, mit der Erdoberfläche übereinstimmt. Auf dieser Ebene spielt sich im wesentlichen das menschliche Leben ab. In den oberen Halbraum, den Luftraum, und den unteren Halbraum, das Erdinnere, kann der Mensch nur in einem sehr beschränkten Maß eindringen. Die Gegensatzpaare von oben und unten, vorn und hinten, rechts und links bestimmen die einfachste Gliederung des Raums, aber während, was vorn und was hinten, was rechts und was links ist, sich mit der Blick- und Bewegungsrichtung ändert, bleibt das durch die Schwerkraft bedingte Verhältnis von oben und unten konstant und gewinnt darum auch im metaphorischen Sinn eine besondere Bedeutung für die Deutung unsrer Welt. Es bezeichnet zugleich die menschliche Rangordnung von hoch und niedrig, von überlegen und unterlegen. Es gibt auch in der entsprechenden Metaphorik hohe Ideale und tiefe (= tiefgründige) [16/17] Gedanken usw. In diesem erlebten Raum bestimmt sich die Entfernung zu einem andern Ort nicht nach dem in der Luftlinie zu messenden Abstand in Metern und Kilometern, sondern nach der Möglichkeit, diesen zu erreichen. So können geometrisch nahe benachbarte Orte praktisch weit voneinander entfernt sein, weil sie durch schwer zu überwindende Hindernisse, etwa durch Flüsse und Gebirge, voneinander getrennt sind, und andre wieder nahe benachbart, weil sie, etwa durch Straßen, Brücken oder gar Tunnels leicht zu erreichen sind. Man hat darum den erlebten Raum sehr treffend als einen hodologischen, einen durch Wege gegliederten Raum (Kurt Lewin), bezeichnet. Die Wege erschließen also den Raum, und jede neu angelegte Straße, jede neu erbaute Brücke erschließt ihn in andrer Weise. Es brauchen aber nicht fertige Wege und Straßen zu sein, auch die Möglichkeiten, sich im „unwegsamen“ Gelände zu bewegen, * Erschienen als Teilstück einer kleineren selbständigen Veröffentlichung für japanische Leser unter dem Titel: Die Ehrfurcht vor dem Leben, erläutert von K. Suzuki, Asahi Verlag Tokyo 1979, S. 15-22. Die Seitenumbrüche des Erstdrucks sind in den fortlaufenden Text eingefügt. 2 gehören mit zur Struktur dieses hodologischen Raums. Es wäre interessant, die wichtigsten der täglich begangenen Wege einmal auf einer Zeichnung graphisch darzustellen. Marcel Proust hat in seinem Romanzyklus A la recherche du temps perdu sehr reizvoll dargestellt, wie sich für den Helden der ganze Weltzusammenhang mit Einschluß der menschlichen Beziehungen von den zwei entgegengesetzten Richtungen her aufbaute, in die man beim Verlassen des Hauses einbiegen konnte, du côté de chez [17/18] Swann und zur côté de Guermantes. Um aber an einer bestimmten Stelle als der Mitte der darum geordneten Welt einen sicheren Aufenthalt zu haben, ist es notwendig, diesen Ort durch Mauern und Wände abzugrenzen, um so einen Raum zu gewinnen, in dem der Mensch geschützt vor den Unbilden der Witterung wie den Angriffen seiner Feinde in Ruhe und Frieden wohnen kann. Damit gliedert sich der erlebte Raum in zwei konzentrische Sphären, in einen engeren Innenraum des Hauses oder der Wohnung, ganz gleich, wie dieser im einzelnen beschaffen ist, und einen weiteren, sich bis ins Unendliche verlierenden Außenraum. Beide Räume sind durch Wände voneinander getrennt, aber durch Tür und Fenster wieder miteinander verbunden. Und nun ist entscheidend, daß beide Räume, der Innenraum und der Außenraum, im Leben des Menschen eine ganz verschiedene Bedeutung haben. Der Außenraum ist der Raum der Öffentlichkeit, des gemeinsamen Lebens in Beruf und Politik. Er ist in unsrer (immer noch) patriarchalisch bestimmten Welt im wesentlichen ein Bereich der Männer und Männergeschäfte. Der Innenraum ist dagegen der private Raum im strengen Sinn des vom lateinischen privare = berauben abgeleiteten Worts: der vom gemeinsamen öffentlichen Raum abgesonderte, dem einzelnen Menschen persönlich zugehörige Bereich. Es ist zugleich der Bereich der Familie, in dem der Mensch mit den „Seinen“, [18/19] aber abgesondert von den Fremden, lebt. In ihm bekommt die Frau (in der heutigen Gesellschaftsordnung) eine beherrschende Stellung. Das Haus ist (vorwiegend) die Welt der Frau. Nun kommt es darauf an, zu erkennen, wie sich die Tätigkeiten des Menschen in einer sehr verschiedenen Weise auf die beiden Bereiche verteilen. Der Außenraum ist die Welt der harten Arbeit und der Geschäfte, ein Raum, in dem sich der Mensch im Kampf ums Dasein bewähren muß, wo Gefahren, Reibungen und Rivalitäten, Schwierigkeiten der verschiedensten Art auf ihn warten. Der Innenraum ist dagegen ein Bereich der Ruhe und der Geborgenheit, in den sich der Mensch zurückziehen, in dem er sich ausruhen und nach den aufreibenden Kämpfen wieder zu sich selbst kommen kann. Wie aber der Mensch sich überhaupt verwandelt je nach dem Raum, in dem er sich befindet, so ist er auch ein anderer im Innenraum und im Außenraum, weil in beiden Fällen ganz verschiedene Eigenschaften und Fähigkeiten von ihm gefordert werden. Das Leben in der Öffentlichkeit erfordert Mut und Einsatzbereitschaft. Sehr treffend hat es einmal Hannah Arendt in ihrer „Vita activa“ beschrieben: „Den schützenden Bereich von Hof und Haus zu verlassen, ursprünglich wohl, um sich in irgend ein Abenteuer oder ruhmversprechendes großes Unternehmen einzulassen, später, um sein Leben [19/20] innerhalb der öffentlichen Angelegenheiten zuzubringen, erforderte Mut, weil man nur innerhalb des Privaten der Sorge um das Leben und das Überleben obliegen konnte. Wer immer sich in den politischen Raum wagte, mußte vorher auch bereit sein, das eigene Leben zu wagen, und eine allzugroße Liebe für das Leben ... galt als sicheres Anzeichen einer sklavischen Seele.“ Insofern kann sich nur außerhalb des Hauses ein volles, großes menschliches Leben entfalten. Ähnlich heißt es auch schon bei Schiller, wenn auch wohl mehr vom Wirtschaftlichen her gesehen: „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben, muß wirken und streben ... muß wetten und wagen, das Glück zu erjagen.“ Aber auf der andern Seite gilt, daß der Mensch nur dann die Kraft behält, im Beruf und in der Öffentlichkeit seine Aufgaben zu bewältigen, wenn er zugleich die Möglichkeit hat, sich immer wieder in den Schutz seines Hauses zurückzuziehen, um hier nach den Aufregungen und Anstrengungen wieder zur Ruhe zu kommen und sich gewissermaßen zu erneuern. Hier ist der Ort der Entspannung gegenüber den Anstrengungen des Berufs. Im Hause aber werden 3 ganz andre Tugenden von ihm verlangt. Tapferkeit und Wagemut sind hier nicht am Platz. Auch die sachbezogene Kameradschaft des Berufs kann sich hier nicht entwickeln. Hier ist der Raum des gegenseitigen Vertrauens und des liebenden Miteinanderseins. Der Mensch selber wird ein andrer im [29/21] häuslichen Bereich. Es ist verwunderlich, wie ein harter Geschäftsmann sich im häuslichen Kreis oft als liebender Familienvater erweist. Nun sieht es so aus — jedenfalls in der deutschen Perspektive — als ob heute das öffentliche Leben maßlos überschätzt und nur in ihm ein menschenwürdiges Dasein gesehen wird, das private Leben dagegen als etwas Verächtliches betrachtet und wenig gepflegt wird. Demgegenüber gilt es zu erkennen, daß das menschliche Leben sich nur im Gleichgewicht der beiden Sphären, der öffentlichen und der privaten, gesund und kräftig erhalten kann. Der Mensch, der sich als schwächlicher „Stubenhocker“ in seinem Hause verkriecht, wird sich nie zur wahren menschlichen Größe erheben. Aber ebenso groß ist die entgegengesetzte Gefahr, die heute meist übersehen wird: daß der Mensch ohne den Halt und die Bindung im privaten Bereich des Hauses sich zerreibt und zum verantwortungslosen Abenteurer wird. Eichendorff hat in dem Gedicht „Die zwei Gesellen“ diese doppelte Gefahr sehr schön dargestellt: „Der erste, der fand ein Liebchen, der Schwieger kauft' Hof und Haus; der wiegte gar bald ein Bübchen und sah aus heimlichem Stübchen behaglich ins Feld hinaus.“ Das ist die Gefahr eines bequemen Spießertums. „Dem zweiten sangen und logen die tausend Stimmen im Grund, verlockend' Sirenen, und zogen ihn in der buhlenden Wogen farbig klingenden Schlund.“ Das ist der, der [21/22] den Verlockungen einer trügerischen Ferne erliegt. Zwischen den beiden Extremen, im Gleichgewicht zwischen den beiden Seiten, dem öffentlichen und dem privaten Leben muß sich ein verantwortlich geführtes menschliches Leben entfalten.