Tür und Fenster* Von Otto Friedrich Bollnow 1. Die Tür und das Fenster sind so eng mit den Gewohnheiten unsres täglichen Lebens verbunden, daß wir sie ständig gebrauchen, ständig mit ihnen umgehen, ohne uns über ihre Bedeutung in unserm Leben viele Gedanken zu machen. Und dennoch haben sie in unserm Dasein eine so wichtige Funktion, daß die Besinnung über ihr Wesen tief in die Geheimnisse unsres Lebens hineinführt. Denn es ist das Verhältnis des Menschen zur Welt allgemein, das sich in Tür und Fenster seinen angemessenen Ausdruck schafft. Darum erfahren wir auch in ihrer Betrachtung nicht nur etwas über den Aufbau der einfachsten menschlichen Lebensumgebung, sondern zugleich etwas über den Menschen selbst, und zwar etwas, das in einer so überzeugenden Weise auf anderm Wege gar nicht zugänglich gewesen wäre. Und darin liegt der Reiz der Beschäftigung mit diesem scheinbar so unscheinbaren Gegenstand. Um das richtig zu verstehen, gehen wir am besten von der fundamentalen Doppelbestimmung unsres Lebens aus: nämlich hineingestellt zu sein in den spannungshaften Gegensatz zwischen einem Drinnen und einem Draußen, zwischen der Heimat und der Fremde, zwischen der Geborgenheit des schützenden Hauses und der Ungeborgenheit in der feindlichen Welt da draußen. Das Haus bezeichnet für den Menschen den Raum der Geborgenheit, den Bereich, in dem er sich sicher fühlen kann. Und dennoch müßte der Mensch verkümmern, wenn er sich ganz in seinem Haus verschließen wollte, um den Gefahren der Welt da draußen zu entgehen, und seine Behausung würde ihm bald zum Gefängnis werden. Er muß hinaus in die Welt, um dort seine Geschäfte zu betreiben und in ihnen sein eigentliches Leben zu erfüllen. Aber umgekehrt: er kann seine Aufgabe in der Welt nur dann richtig erfüllen, wenn er sich aus ihr immer wieder in den Raum der Geborgenheit, in den Frieden seines Hauses zurückziehen kann, um hier in der Abgeschiedenheit von der Welt wieder im vollsten Sinn zu sich selber zu kommen. Damit das Haus dem Menschen nicht zum Gefängnis werde, braucht es Öffnungen in die Welt hinein, die das Innere des Hauses in einer geeigneten Weise mit der Welt da draußen verbinden. Sie öffnen das Haus für den Verkehr mit der Welt. Das aber leisten die Tür und das Fenster. Beide sind die Verbindungsglieder, die die Welt des Drinnen zu der Welt des Draußen in Beziehung setzen. Aber beide erfüllen diese Aufgabe in einer sehr verschiedenen Weise. 2. Die eine Grundbestimmung der Tür ist das, was man ihren semipermeablen, d.h. ihren nur einseitig durchlässigen Charakter nennen könnte. Genau so, wie man in der Chemie bestimmte Gefäße kennt, deren Wandungen ein Lösungsmittel frei durchlassen, bestimmte darin gelöste Stoffe aber zurückhalten, so ist es auch mit der Tür: Der ins Haus Gehörende kann durch sie frei ein- und ausgehen, und zur Freiheit seines Wohnens gehört es, daß er die von innen verschlossene Tür jederzeit öffnen und frei hindurchgehen kann. Der Mensch kann sich in seinem Haus abschließen, aber darum ist er noch nicht in seinem Haus eingeschlossen. Wäre das der Fall, so würde ihm sofort sein [113/114] Haus zum Gefängnis, und das Bewußtsein, eingeschlossen zu sein, legte sich als ein quälender und gradezu unerträglicher Druck auf den Menschen. Er beginnt, an den Türen seines Gefängnisses zu rütteln, selbst wenn er von der Sinnlosigkeit seines Tuns überzeugt ist. Wie Mac Dougall von einem Entfesselungstrieb gesprochen hat, der sich instinktiv schon beim kleinen Kind regt, wenn man es festhält und in * Erschienen in der Zeitschrift „Die Sammlung“, 14. Jg. 1959, S. 113-120. Die Seitenumbrüche des Erstdrucks sind in den fortlaufenden Text eingefügt. 2 seiner Bewegungsfreiheit behindert, so sträubt sich auch der eingeschlossene Mensch gegen den Entzug seiner Freiheit. Daher auch die ganze Härte einer Gefängnisstrafe. Wer aber selber seine Tür verschließt, der bewahrt seine Freiheit, ja er erfährt grade darin seine Freiheit in einer besonderen Weise; denn er behält die Möglichkeit, die Tür auch jederzeit, wenn es ihm paßt, wieder zu öffnen. Simmel hat seinerzeit in seinem tiefsinnigen Essay über „Brücke und Tür“ (der kürzlich in einem ebenso benannten Sammelband seiner Aufsätze wieder zugänglich geworden ist) auf die hohe Bedeutung der Tür im menschlichen Leben hingewiesen und dabei grade diese Funktion herausgehoben. „Es ist dem Menschen im tiefsten wesentlich“, so schreibt er dort, „daß er sich selbst eine Begrenzung setze, aber mit Freiheit, d.h. so, daß er diese Begrenzung auch wieder aufheben, sich außerhalb ihrer stellen kann.“1 Diese Freiheit aber liegt darin, daß der Mensch die Tür öffnen und durch sie den Raum verlassen kann. Aber während der im Hause wohnende Mensch selber die Tür frei passieren kann, schließt sie den fremden Menschen aus. Nur mit der Zustimmung des Bewohners kann ein andrer in dessen Haus eintreten, und der Mensch gewinnt eine innere Unabhängigkeit, indem er sein Haus vor dem andern Menschen verschließen und für diesen unerreichbar bleiben kann. Im Sinn eines solchen Schutzes ist es auch zu verstehen (und nicht etwa rein bautechnisch bedingt), wenn bei nordeuropäischen Blockhäusern die Tür so niedrig gehalten ist, daß der Eintretende sich zuerst tief bücken muß; denn das bedeutet, nach ausdrücklicher Auskunft der Bewohner, daß er sich, wenn er den Raum betritt, zunächst in einen Zustand der Wehrlosigkeit begeben muß, wo ihn der im Raum Befindliche mühelos erschlagen könnte. Eine ähnliche Sicherung kehrt in andrer Weise vielfach auch in der Führung des Zugangsweges bei Burganlagen wieder. Und daß auch der Name Schloß für ein herrschaftliches Gebäude von dieser Möglichkeit des Verschließens herkommt, sei nur ganz im Vorbeigehen erwähnt. Die Zustimmung, die für das Eintreten in ein Haus erforderlich ist, scheidet also den Kreis der befreundeten Menschen von den Feinden oder den bloß Fremden. In südlichen Ländern ist vielleicht noch stärker als bei uns das Haus vor den Fremden verschlossen, so daß sich der Verkehr zwischen den Menschen stärker im neutralen Bereich der Straße abspielt. Aber umgekehrt: Wer einmal in das Haus eingelassen ist, der steht damit auch unter dem Schutz des Hauses, der genießt das Recht der Gastfreundschaft, und es darf ihm in diesem Hause nichts Böses angetan werden. 3. Das Mittel, die eigne Tür sicher zu verschließen, ist das Schloß oder in einfachen Verhältnissen noch der Riegel. Dieser besteht in seiner ursprünglichen kräftigen Form aus einem Balken, der als ganzer vorgeschoben wird, um [114/115] die Tür gegen einen Einbruch zu sichern. Weinheber, der in seinem Kalenderbuch „O Mensch, gib acht“ so manches menschliche Hausgerät trefflich beschrieben hat, hat auch nach dem Wesen des Riegels, seiner tieferen Bedeutung im menschlichen Leben, gefragt2 . „Warum“, so fragt er, „sind nicht die Tore offen bei Tag und Nacht?“, so daß sich der Verkehr durch sie in aller Freiheit bewegen könnte. Er sieht in dem Bedürfnis des Sich-Abschließens nur den Ausdruck eines eigentümlichen Mangels, ein „Zeichen unsrer Schwäche“ oder „ein Mal, bezeugend, daß wir zusamt unsicher sind.“ Es ist die Furcht und insbesondre die Furcht vor dem andern Menschen, die uns den Riegel erfinden ließ. „Auf daß wir ruhig schliefen, / wir, stets von Furcht verzehrt, / bewachst du uns und Unsres.“ Aber Weinheber sieht eine Verkehrung des echten menschlichen Verhältnisses darin, wenn man im andern Menschen nur immer den gefährlichen Feind sieht. „Wenn wir doch besser liebten“, so wendet er ein, dann würde auch der Riegel überflüssig 1 Georg Simmel: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit M. Susmann hrsg. v. M. Landmann, Stuttgart 1957, S. 4. 2 Josef Weinheber: Der Riegel. Sämtliche Werke. Bd. 2, Salzburg 1954, S. 329 f. 3 sein, weil wir dann vom andern Menschen nichts Böses mehr zu befürchten haben. Darum ist die Wendung bezeichnend, mit der Weinheber sein gedankentiefes Gedicht ausklingen läßt: „Noch hilfst du unsern Ängsten. / Hilf manchmal auch dem Glück! / Geh, Mädchen, schieb den Riegel / – der Traute kommt – zurück!“, ganz ähnlich wie ja auch Gretchen „gern heut Nacht den Riegel offen“ ließ. Denn der Riegel dient nicht nur dazu, den feindlichen Besucher fernzuhalten, sondern ebensosehr dann auch dazu, den erwünschten Besucher in den vertrauten Bereich des Hauses einzulassen. Er dient in der Tat dazu, die Tür zum teilweise offenen, auslesenden Verbindungsglied zwischen Innenraum und Außenwelt werden zu lassen. So kann dann auch im übertragenen Sinn die weit geöffnete Tür zum Symbol der inneren Aufnahmebereitschaft werden, so wie in der ergreifenden Inschrift vom Stadttor in Siena COR MAGIS TIBI SENA PANDIT, bis hin zu dem bekannten Adventslied: „Macht hoch die Tür, das Tor macht weit!“ Freilich muß man im Anschluß an den Weinheberschen Gedanken doch fragen, ob es richtig ist, den Gebrauch des Riegels so ausschließlich auf die Unsicherheit und die Furcht zurückzuführen. Wenn das im primitiven Sinn auch sicher richtig ist, so muß man doch fragen, ob sich das Sicherungsstreben nicht inzwischen so sublimiert hat, daß es nicht mehr um den Schutz des äußeren Lebens, sondern um den der inneren intimen Sphäre des Menschen geht. Es wäre dann jenseits aller äußeren Bedrohung schon das Bedürfnis, mit sich selber allein zu sein, als solches, das den Menschen dazu führt, sich in sein Haus zurückzuziehen und dort zu ver- schließen. 4. Das Durchschreiten der Tür ist das Überschreiten der Schwelle, womit man in der Regel den unteren Türbalken bezeichnet. Die Schwelle bezeichnet darum noch bestimmter die Grenze zwischen dem Drinnen und dem Draußen. Das Überschreiten der Schwelle wird darum auch vielfach in gehobener Sprache pars pro toto für das Betreten des Hauses gebraucht. Man begrüßt den hohen Gast an der Schwelle seines Hauses. Wir hatten die Tür bisher vorwiegend von der Seite dessen betrachtet, der unter ihrem Schutz in seiner Wohnung zu Hause ist. Ganz anders stellen sich die Verhältnisse für denjenigen dar, der, von außen her kommend, durch die Tür in den Raum eintritt; denn er tritt dadurch in den Lebensbereich eines [115/116] andern Menschen – oder wenn wir den mit dem Hause letztlich gleichbedeutenden Tempel gleich hinzunehmen: in den Machtbereich einer Gottheit ein. Daher rührt die hohe kultische Bedeutung, die die Schwelle bei früheren Religionen gehabt hat, von denen sich auch heute noch manches im Brauchtum ländlicher Kreise erhalten hat3 . Ihr gebührt eine besondre Verehrung. Man verneigt sich auf ihr, berührt sie fromm mit der Hand, man vermeidet es insbesondre als unheilbringendes Vorzeichen, auf ihr mit dem Fuß anzustoßen, oder man trägt auch die Braut auf den Händen über die Schwelle hinweg. Darum betont van der Leeuw allgemein in seiner „Phänomenologie der Religion“: „Die Schwelle ist eine sakrale Grenze, der eine besondere Mächtigkeit eignet.“4 Im selben Sinn hat neuerdings Eliade auf die große Bedeutung der Schwelle als der Grenze zwischen dem Heiligen und dem Profanen hingewiesen und damit wesentlich auch zum Verständnis der heutigen Bräuche beigetragen. „Schwelle und Tür“, so sagt er, „zeigen auf unmittelbare und konkrete Art die Aufhebung der räumlichen Kontinuität; darin liegt ihre große religiöse Bedeutung, denn sie sind Symbole und Mittler des Übergangs in einem.“5 Darum wissen die Religionen auch vielfach von besonderen Wächtern und Hütern der Schwelle zu berichten, die das Eindringen unheilvoller Mächte verhindern und noch nach dem heutigen Aberglauben sammeln sich an ihr al- 3 Vgl. dazu L.Weiser-Aall: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd.VII, hrsg. v. H. Bächtold-Stäuble sowie Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft. 4 G. van der Leeuw: Phänomenologie der Religion. 2. Aufl. Tübingen 1956, S. 450. 5 M. Eliade: Das Heilige und das Profane. Hamburg 1957, S. 16. 4 lerhand Geister, die das Haus bedrängen und die durch allerhand Zaubermittel zurückgehalten werden müssen. Die Pforte als Ort des Durchgangs bekommt von hier aus zugleich auch eine tiefere symbolische Bedeutung: Sie ist der Durchgangsort zu einem neuen Leben, so wie es etwa in der Aufforderung des Evangeliums gemeint ist: „Tretet ein durch die enge Pforte!“ 5. Wenn aber der Mensch durch die Tür sein Haus verläßt und in die äußere Welt hinübergeht, tritt sogleich eine weitere Entscheidung an ihn heran. Zu Hause war alles ein zwar gegliederter, aber einheitlich in sich zusammenhängender Bereich. Sobald der Mensch aber aus dem Haus heraustritt, scheiden sich die Wege, und er muß sich zwischen den verschiedenen Möglichkeiten entscheiden. Simmel hat in dem schon angeführten Zusammenhang auch auf diese Situation aufmerksam gemacht: Sobald der Mensch einmal sein Haus verlassen hat, „ergießt sich von der Tür aus das Leben aus der Beschränktheit abgesonderten Fürsichseins in die Unbegrenztheit aller Wegrichtungen überhaupt“6 . Bei den heutigen Wohnverhältnissen ist es bei einem an der Straße gelegenen Haus in der Regel so, daß der Mensch beim Verlassen entweder rechts oder links in die Straßenrichtung einbiegen kann. Die Wahl des einen oder des anderen bestimmt dann aber über den weiteren Sinn seines Ausgangs. Die eine Richtung ist die „in die Stadt“ (oder bei ländlichen Verhältnissen: „ins Dorf“) zu der gewöhnlichen Arbeit oder sonst den alltäglichen Geschäften. Das ist der Weg, den man sozusagen von selbst geht. Die andre Seite aber führt hinaus aus dieser Gewohnheit, ins Freie, zum Ausflug oder wie sonst immer. [116/117] Auf jeden Fall sind es zwei ganz verschiedene Welten, über die schon mit dem ersten Schritt aus dem Hause hinaus entschieden wird. Ist der erste Schritt in der einen oder andern Richtung erst einmal getan, dann ist – sofern man sich nicht zur ausdrücklichen Umkehr und dann zum Neubeginn entschließt – kein Übergang aus dem einen in den andern Bereich mehr möglich. Sehr schön hat dies Proust im gesamten Aufbau seines Romanwerks „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ durchgeführt. Hier gab es vom Hause des Großvaters in Combrai zwei Richtungen der Spaziergänge: die eine am Hause des Herrn Swann vorbei nach Méséglise, die andre nach Guermantes. Aber beides waren im Sinn dieser Erzählung nicht nur räumliche Richtungen, die in sehr verschiedenartige Landschaften hineinführten, sondern auf dem Wege über die damit verbundenen Personenkreise zugleich auch im geistigen Sinn zwei ganz verschiedene Welten, in denen sich die weitere Entwicklung abspielt. So heißt es im Sinne der Unvereinbarkeit dieser beiden Welten: „Über Guermantes nach Méséglise zu gehen oder umgekehrt wäre mir als eine ebenso sinnlose Wendung erschienen, wie wenn man nach Osten aufbrechen wollte, um gen Westen zu gehen.“7 Aber stärker noch als die äußerliche Entfernung ist die der geistigen Welten, die mit den beiden Richtungen verbunden sind: „Vor allem legte sich zwischen sie weit mehr als die in Kilometern ausdrückbare Entfernung jene andere, die zwischen den beiden Teilen meines Gehirns bestand, in denen ich an sie dachte, eine jener Distanzen im geistigen Bereich, die die Dinge nicht nur auseinanderhalten, sondern wirklich trennen und auf verschiedene Ebene verweisen.“8 Und er betont noch aus dem Rückblick des Alters heraus die bleibende Bedeutung der so erschlossenen Welten für den Verlauf des ganzen Lebens: „Wie an tiefe Schichtungen meines geistigen Heimatbodens, wie an festgegründete Bezirke, auf denen ich heute noch sicher schreiten kann, denke ich besonders an die beiden Wege nach Méséglise zu und nach Guermantes zurück.“9 In diesen beiden räumlichen 6 G. Simmel, a. a. O., S. 4. 7 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 1. Bd. In: Swanns Welt, übers. v. E. Rechel-Mertens. Frankfurt a. M. 1953, S. 201. 8 M. Proust, a. a. O., S. 202. 9 M. Proust, a. a. O., S. 273 f. 5 Richtungen sind schon die beiden geistigen Welten vorgezeichnet, in denen sich das spätere Leben des Helden abspielt. Was hier mit dichterischer Eindringlichkeit an den noch frischen Erfahrungen der Jugend herausgearbeitet wird, das gilt entsprechend auch noch in unserm späteren Leben: Die Richtungen, in denen gleich vor unserm Haus die Wege auseinanderführen, sind zugleich geladen mit geistigen Bedeutungen, so daß sich die Ordnung unsrer geistigen Welt zugleich unmittelbar anschaulich in der Gliederung unsrer räumlichen Umwelt abspiegelt; nur gehen wir im Alltag gewöhnlich zu gedankenlos darüber hinweg und achten selten sorgsam genug auf die untergründigen Bedeutungen, die im Aufbau unsrer räumlichen Lebensumgebung mitschwingen und die uns schon immer in bestimmter Weise leiten, wenn wir uns darin bewegen. 6. Wieder anders als bei der Tür liegen die Dinge beim Fenster, und auch hier sind es wiederum verschiedene Lebensfunktionen, die sich in diesem einfachen Bestandteil der menschlichen Lebensumgebung überlagern. Ich sehe hier, wo wir vor allem auf die Beziehungen zwischen Innen- und Außenraum achten, von der einfachsten Aufgabe des Fensters, nämlich der Beleuchtung des [117/118] Innenraums ab. Das ist in dieser Hinsicht unergiebig, auch könnte das Fenster in dieser Beziehung ja auch durch eine künstliche Beleuchtung ersetzt werden. Zu den einfachsten Aufgaben des Fensters gehört sodann die Möglichkeit, vom Innenraum her die Außenwelt zu beobachten. Schon lange, ehe man größere verglaste Fenster zu bauen gelernt hatte, gab es wenigstens das Guckloch, durch das man die Umgebung des Hauses auf die Annäherung eines möglichen Feindes hin überblicken konnte. Darauf weisen schon die früheren, später durch das lateinische Fremdwort verdrängten germanischen Bezeichnungen wie „Augentor“ (d.h. eine nur für den Blick, nicht für das wirkliche Hindurchgehen bestimmte Öffnung nach draußen) für die zwischen Wand und Dachgebälk ausgesparten seitlichen Öffnungen des Hauses10 . In Bezeichnungen wie Windauge, Ochsenauge, Bullauge und ähnlich auch in andern indogermanischen Sprachen wird das Fenster als Auge des Hauses gedeutet, wobei es noch hinzukommen mag, daß die Fenster selber – beispielsweise als Öffnungen in einer aus Weidengeflecht bestehenden Wand – ursprünglich vielfach Augenform hatten. In umgekehrter Wendung dieses Vergleichs nennt auch Keller einmal die Augen seine „lieben Fensterlein“. Solche runden Gucklöcher haben sich ja auch heute noch vielfach in städtischen Wohnungen erhalten, und die ängstliche Hausfrau wirft noch schnell einen Blick durch das kleine Loch in der Tür, ehe sie dem sich von außen meldenden Besucher öffnet. Die schon bei der Tür hervorgehobene einseitige Durchlässigkeit der Wandöffnung ist auch beim Fenster ganz deutlich. Sehen ohne gesehen zu werden, dies Grundprinzip vorsichtiger Lebenssicherung ist am Fenster in seiner reinsten Gestalt verwirklicht. Hatten wir schon vorhin die Funktion des Riegels als eines Werkzeugs menschlicher Furcht ins Auge gefaßt, so erfordert der Riegel in dieser Beziehung die Ergänzung durch ein Guckloch, wenn der Mensch nicht blind den möglichen Angriffsvorbereitungen des Feindes preisgegeben sein will. Insofern ist auch das Guckloch ein solches Werkzeug menschlicher Besorgnis. Aber ähnlich wie früher beim Riegel dürfen wir auch hier darauf hinweisen, daß in der weiteren Entwicklung die rein aus Furcht geborene Beobachtung der Umwelt einer allgemeineren Beobachtungsfreude Platz macht. So hat Langeveld neuerdings darauf aufmerksam gemacht, wie tief im Kind das Bedürfnis nach einem Versteck ist, von dem es, während es selbst im verborgenen bleibt, die Welt um sich unbemerkt beobachten kann. In diesem Versteck träumend, fühlt es das Glück einer schönsten Geborgenheit11 . Was hier am Kind so unmittelbar anschaulich ist, das gilt entsprechend auch von einem tief begründeten Verlangen des erwach- 10 Trübners Deutsches Wörterbuch, hrsg. v. A. Götze, 2. Bd., 1940. 11 M. J. Langeveld: L’endroit secret. In: Situation. Beiträge zur phänomenologischen Psychologie und Psychotherapie, 1. Bd., Utrecht-Antwerpen 1954, S. 124 ff. 6 senen Menschen. Auch wenn das Guckloch längst zum weiten Fenster geworden ist, fühlt er das Verlangen, aus seinem Raum der Zurückgezogenheit zugleich die Außenwelt im Auge zu behalten. Er sieht aus dem Fenster in die Welt, die in der Helligkeit vor ihm ausgebreitet liegt, aber die Welt sieht nicht ihn, der in der Dunkelheit des Zimmers verborgen ist. Durch Vorhänge und Gardinen haben die Menschen vielfach die Nichteinsehbarkeit des Fensters noch zu steigern versucht, während es für den modernen Wohnstil bezeichnend ist, daß er viel stärker durch große Glasflächen das Haus in die Außenwelt hinein öffnet. Aber umgekehrt: [118/119] Wenn der Mensch des Nachts im hell erleuchteten Zimmer dem Blick des Fremden ausgesetzt ist, der vielleicht unbemerkt aus dem Dunkel hineinschaut, dann fühlt er sich unsicher und schließt gern Vorhänge und Läden. 7. Wenn aber das Guckloch sich zum Fenster erweitert, das nicht mehr einen einzelnen möglichen Feind ins Auge faßt, sondern im vollen Maß das Bild der Umwelt einläßt, dann ändert sich zugleich die Funktion des Fensters. Es öffnet jetzt den Innenraum gegen die Welt im ganzen. Durch das Fenster ist der kleine Wohnraum hineingestellt in die große Welt, und das Fenster ermöglicht es, sich in dieser Welt zu orientieren. Durch das Fenster sieht man ins Freie, sieht den Himmel und den Horizont (oder doch irgendein Stück der Außenwelt, in dem dieser, wenn er auch selbst nicht sichtbar ist, doch unsichtbar mitgegeben ist). Durch das Fenster ist also der menschliche Innenraum sichtbar und klar in die große Ordnung von Horizontale und Vertikale hineingestellt, die im ganzen geschlossenen Raum nur mittelbar im Fußboden und im Stehen der Dinge darauf gegeben ist. Aus diesem Bedürfnis nach einer weiteren Orientierung rührt das Unheimliche der Bunkerräume. Der Mensch fühlt sich in ihnen gefangen, beengt. Er fühlt das Lastende. Zeitungen berichteten kürzlich davon, daß das amerikanische Militär bei solchen unterirdischen Räumen wenigstens mit Hilfe von großen Bildern die Illusion eines freien Ausblicks in die Landschaft erzeugt hat, um den Räumen das bei längerem Verweilen Bedrückende zu nehmen. Ähnlich ist es bei den Bedenken, moderne Hörsäle, um den Umstand häufiger Verdunklung und immer erneuter Beseitigung dieser Verdunklung zu vermeiden, von vorn herein fensterlos zu bauen, was mit den technischen Mitteln der Beleuchtung und Belüftung ja ohne weiteres möglich wäre. Es ist nicht eine romantische Gewohnheit, die den Menschen an den Fenstern festhalten läßt. Aus einem Bedürfnis seiner Freiheit heraus verlangt er nach dem Fenster und wehrt sich gegen das Eingeschlossensein im fensterlosen Raum. Anders ist es natürlich, wo es sich um eine vorübergehende Abgeschlossenheit handelt, etwa bei dem Gefühl der Abgeschlossenheit und Geborgenheit, das der nächtlich erleuchtete Wohnraum mit der um die Lampe versammelten Familie bei geschlossenen Fensterläden ausstrahlt. Hier fühlt sich der Mensch darum nicht beengt, weil ihm dabei immer gegenwärtig ist, daß es sich um einen vorübergehenden Zustand handelt, der mit dem allgemeinen Rhythmus von Tag und Nacht zusammenhängt, und daß sich die Welt mit dem kommenden Tage neu erschließt. Das morgendliche Öffnen der Fensterläden ist immer zugleich ein freudiges Sich-Öffnen des Menschen zu einem neuen Weltkontakt. Auch der Raumeindruck etwa des römischen Pantheon, wenn die Außenwelt wie weggeschnitten ist und der Himmel nur durch das eine große Auge von oben hineinschaut, ist von hier aus zu begreifen: Der Mensch fühlt sich ganz nach innen hin gesammelt, weil der Ausblick in die sichtbare Welt ihm abgeschnitten ist und trotzdem ein Stück Unendlichkeit immer gegenwärtig bleibt. 8. Und noch ein letzter Gesichtspunkt, die besondere Funktion des Fensters von der der Tür abzuheben, ist hier nachzutragen, obgleich er vielleicht schon an früherer Stelle seinen passenden Ort gehabt hätte: Durch die Tür geht man hindurch, durch das Fenster sieht man hinaus. Diese einfache und allzu selbstverständlich scheinende Feststellung besagt in Wirklich- 7 keit sehr viel über den [119/120] Unterschied zwischen den beiden Öffnungen des Hauses in die Welt hinein. Durch die Tür geht man wirklich hindurch und ist dann draußen außerhalb des Hauses. Durch das Fenster dagegen (als das „Augentor“) sieht man nur mit dem Auge hinaus, aber man selber bleibt dabei drinnen. Das aber bedeutet, daß die Welt in beiden Fällen in einer sehr verschiedenen Weise gegenwärtig ist: Bei der Tür liegt die Welt zum Greifen da, man braucht nur hinauszugehen, um selber leibhaftig in irgendeinen Punkt zu gelangen. Beim Fenster dagegen sieht man die Welt durch die Glasscheibe, und dieses Glas, selbst wenn es scheinbar unsichtbar (oder doch fast unsichtbar) ist, verändert die Welt in einer sehr entscheidenden Weise. Ja selbst das geöffnete Fenster, also auch ohne trennende Glasscheibe, hat eine ähnlich entrückende Wirkung. Im Blick durchs Fenster rückt die Welt in die Ferne (denn der Weg zu ihr – das ist uns im Untergrund unseres Bewußtseins doch immer mit gegenwärtig – führt erst durch die Abwendung vom Fenster hindurch weiter zu der meist erst in längerem Weg erreichbaren Tür). Fensterrahmen und Fensterkreuz unterstreichen diese Wirkung, denn sie entrücken das durch das Fenster Gesehene, sie schneiden einen bestimmten Ausschnitt aus der Umwelt heraus und machen ihn zum „Bild“. Insofern idealisiert das Fenster den dadurch ausgeschnittenen und zusammengehaltenen Teil der Welt. Rilke, der in seinen Gedichten die entrückende und idealisierende Wirkung des Spiegels von immer neuen Seiten zu fassen gesucht hat12 , hat in dem französischen Gedichtzyklus „Les fenêtres“ von hier auch das Wesen des Fensters zu deuten unternommen13 . Das Fenster ist für ihn das „Maß der Erwartung“, „ô mesure d'attente“, das nur einen für uns angemessenen Ausschnitt aus der Welt heraushebt. Es ist insofern der „Griff, durch den das große Zuviel des Draußen sich uns angleicht“, „prise par laquelle parmi nous s’égalise / le grand trop de dehors“. In der einrahmenden Wirkung ist es die vom Menschen herangebrachte Form, „unsere Geometrie“, wie Rilke sagt, durch die das im Fenster Geschaute aus der unendlich fließenden Umgebung herausgeschnitten und in die Ebene reiner Bildhaftigkeit erhoben wird. Das durch das Fenster Geschaute erscheint dem Zufall entzogen: „Tous les hasards sont abolis.“ Es wird zum Bild, „il devient son image“, und ist insofern in eine zeitlose, in eine ideale Sphäre erhoben: „Tu la rends presque éternelle“, heißt es bei Rilke von der im Fenster erscheinenden Ge- liebten. So ist es ein unerschöpfliches Geheimnis, das sich der sinnenden Betrachtung des Fensters offenbart. Und wie es bei Rilke an der zuletzt angeführten Stelle der geliebte andere Mensch ist, dessen ideales Bild im Rahmen des Fensters erscheint, so hat das Motiv des Menschen im Fenster durch seinen Tiefsinn immer wieder die Maler zur Darstellung gereizt: Der Mensch, der aus dem Fenster blickend nachdenklich in die Betrachtung der Landschaft versunken ist, mit der Unendlichkeit der Landschaft zusammengenommen und dennoch wieder durch den Abstand des Schauens aus der Landschaft herausgenommen und so dem unmittelbaren Druck der Wirklichkeit entzogen, so hat ihn vor allem die Romantik gesehen. Aber das würde schon über den Umkreis der gegenwärtigen Fragestellung hinausführen, die in einfachster Weise nach der Bedeutung von Tür und Fenster, dieser Öffnungen des Hauses, für das Verständnis des menschlichen Wohnens fragen sollte. 12 Vgl. meine Darstellung in: Rilke, 2. Aufl. Stuttgart 1956, S.250 ff. 13 R. M. Rilke: Gedichte in französischer Sprache. Wiesbaden 1949, S. 85 ff.