Europäisches und internationales Insolvenzrecht Eine Einführung Von Axel Flessner, Berlin und Frankfurt am Main Insolvenzrecht ist Privatrecht mit Biß. Wenn eine Person ihrer Verbindlichkeiten nicht mehr Herr wird, nimmt das Insolvenzverfahren ihr das Vermögen aus der Hand oder stellt sie unter Aufsicht. Dann droht die Verwertung des Vermögens und die Verteilung des gesamten Erlöses an die Gläubiger sowie, wenn die Person eine Gesellschaft oder eine juristische Person ist, das Ende ihrer Existenz. Auch die Gläubiger werden gepackt. Zunächst verlieren sie das Recht auf individuelle Befriedigung bei Fälligkeit; sie müssen sich in ein Kollektiv einordnen und das Ergebnis des Verfahrens abwarten. Zu erwarten ist, daß ihre Forderungen aus dem Verwertungserlös nur zum Teil befriedigt werden können und mit dem unbeglichenen Teil gestrichen werden, oder gar, daß überhaupt keine Verwertung stattfindet, sondern nur die Forderungen gestundet oder herabgesetzt werden, dann nämlich, wenn dem Schuldner die wirtschaftliche Weiterexistenz mit verminderter Schuldenlast ermöglicht werden soll. In Deutschland wird das, was hier geschehen muß, Bereinigung der Insolvenz genannt. Damit wird ausgedrückt, daß das Insolvenzverfahren nicht mehr ausschließlich als eine Zwangsvollstreckung, eine Gesamtvollstreckung, gesehen wird, sondern als ein Vorgang, der eine unhaltbar gewordene Schuldensituation so oder so ­ durch Verwertung der Aktiven oder durch Verminderung der Passiven oder durch eine Kombination von beidem ­ wieder in Ordnung bringt, eben: bereinigt, und die Beteiligten, die das Purgatorium überstehen, zu einer Neuorientierung zwingt. Für diesen Kraftakt braucht man Regelungsmacht, und die hat bisher nur der einzelne Staat, nicht eine übernationale Gemeinschaft. Unternehmen und Kapitalbesitzer agieren aber mehr und mehr international und global; der einzelne Staat allein kann zur Bereinigung des internationalen Störfalles dagegen nur auf seinem Territorium und mit seinen Institutionen handeln. Zur juristischen Überbrückung und Verminderung dieser Diskrepanz ist in den letzten zwei Jahrzehnten sehr viel geschehen. Die internationale Aufmerksamkeit für das Insolvenzrecht ist rasant angewachsen. Seit dem Ende der neunziger Jahre sind Normen, Regelwerke und konsultative Texte in großer Zahl entstanden, die Diskussion über internationale Instrumente des Insolvenzrechts hat hohe Kon- junktur. RabelsZ Bd.70 (2006) S.453­457 2006 Mohr Siebeck ­ ISSN 0033-7250 454 RabelsZ Für Außenstehende sind die Entwicklung und der erreichte Stand nur schwer zu durchschauen. Das Insolvenzrecht steht in den Lehrplänen der Universitäten und in der Praxis der meisten Juristen ohnehin nicht im Zentrum. Kommen die Internationalität und eine anscheinend rasche Vermehrung der Rechtsquellen noch hinzu, können selbst die Kundigen einerseits des Insolvenzrechts und andererseits des internationalen Privat- und Verfahrensrechts den Faden verlieren. Das war der Grund für den Verein der Freunde des Max-Planck-Instituts, sein Jahrestreffen am 18. Juni 2005 diesem Thema zu widmen. Die nachfolgenden Beiträge in diesem Heft von Paulus1 , Eidenmüller2 , Girsberger3 , Carrara4 und Trunk5 sind aus den dort gehaltenen Vorträgen entstanden. Bei der Wahl der Themen wurde nicht versucht, das Gebiet systematisch zu erschließen. Vielmehr sollen die Beiträge verschiedene seiner Facetten zeigen und damit, wie ein bunter Strauß, einen Gesamteindruck vermitteln, der den Lesern auch ein eigenes weiteres Nachforschen erlaubt. In dieser Einführung werden vorweg die wichtigsten Texte genannt, die bisher geschaffen wurden und in den Einzelbeiträgen wiederholt zur Sprache kommen. Sie lassen sich einteilen in solche zum Internationalen Privat- und Verfahrensrecht einerseits und solche, die man andererseits dem Insolvenzrecht selbst, dem Sachrecht der Insolvenz, zurechnen muß6 . Auf der Ebene des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts spielt in Europa die bedeutendste Rolle die Europäische Insolvenzverordnung7 . Sie regelt zwischen den EU-Staaten (außer mit Dänemark, wegen seines Vorbehalts zu Artt.61ff. EGV) die Zuständigkeit für Insolvenzverfahren sowie dieAnerkennung solcher Verfahren ­ und ist damit das Ergänzungsstück zur EuGVO8 , der so genannten Brüssel-I-Verordnung. Sie regelt aber auch, welches Recht anwendbar ist, soweit es um die Einwirkung des Insolvenzverfahrens auf materielle Rechtsverhältnisse geht; sie enthält also insoweit ­ über die EuGVO hinausgehend ­ nicht nur Verfahrensrecht, sondern auch Kollisionsrecht. Die EuInsVO wird ergänzt durch zwei Richtlinien über Banken und Versicherungen9 . Man hielt diese Bereiche für zu speziell, um sie auch in der EuInsVO zu regeln. In der Praxis hat die EuInsVO bisher erhebliche Unruhe ausgelöst, weil sie, anders als eigentlich gedacht, den Boden bereitet hat für einen Wettlauf zu geneig1 S.458­473. 2 S.474­504. 3 S.505­537. 4 S.538­562. 5 S. . 6 Zusammenstellung und Quellenangaben in der Tabelle bei Girsberger, in diesem Heft S.531­534, dort auch die internationalen Texte über Sicherungsrechte. 7 Verordnung (EG) Nr.1346/2000 des Rates über Insolvenzverfahren vom 29.5. 2000, ABl. EG L 160/1. Die Verordnung wird in Deutschland üblicherweise mit EuInsVO abge- kürzt. 8 Verordnung (EG) Nr.44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22.12. 2000, ABl. EG 2001 L 12/1, oft auch als EuGVVO abgekürzt. 9 Richtlinie Nr.2001/24 vom 4.4. 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten, ABl. EG L 125/15; Richtlinie Nr.2001/17 vom 19.3. 2001 über die Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen, ABl. EG L 110/28. axel flessner 45570 (2006) ten Insolvenzforen mit daraus folgenden Zuständigkeitskonflikten10 . Inzwischen gibt es, neben umfangreicher Aufsatzliteratur, auch eine Reihe von ausführlichen Kommentarwerken zu der Verordnung in verschiedenen Sprachen11 . Eine Interpretation der Verordnung mit europäischem Anspruch wird durch diese Werke erleichtert. Die Praktikervereinigung INSOL Europe hat zudem eine elektronische Datenbank für die Rechtsprechung zur EuInsVO eingerichtet12 . Die EuInsVO gilt für Zuständigkeit und Anerkennung innerhalb der Europäischen Union. Soweit das Verhältnis zu Drittstaaten (und zu Dänemark) zu regeln ist, behalten die Mitgliedstaaten ihre Kompetenz. In Deutschland wurde sie genutzt durch das Gesetz zur Neuregelung des internationalen Insolvenzrechts vom 14.3. 200313 , welches das Internationale Insolvenzrecht in die Insolvenzordnung selbst eingefügt hat (§§335­358 InsO). Auch in anderen Ländern ist das Internationale Insolvenzrecht in letzter Zeit neu geregelt worden14 . Der andere wichtige Text für die internationale Reichweite von Insolvenzverfahren ist das von UNCITRAL15 ausgearbeitete Modellgesetz für grenzüberschrei10 Dazu Paulus und Carrara, in diesem Heft, S.460ff., 549ff. 11 Duursma-Kepplinger/Duursma/Chaplinsky, Europäische Insolvenzverordnung, Kommentar (Wien, New York 2002); Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff, EU-Insolvenzverordnung, Kommentar zur Verordnung (EG) Nr.1346/2000 über Insolvenzverfahren (EuInsVO) (München 2005) (Sonderausgabe aus: Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, hrsg. von Geimer/Schütze [Loseblattslg.]); Mellqvist, EU:s Insolvensförordning m.m., en kommentar (Stockholm 2002); The EC Regulation on Insolvency Proceedings, A Commentary and Annotated Guide, hrsg. von Moss/Fletcher/Isaacs (Oxford 2002); Omar, European Insolvency Law (Aldershot 2004); Paulus, Europäische Insolvenzverordnung, Kommentar (Frankfurt a.M. 2006); Smid, Deutsches und Europäisches Insolvenzrecht (Stuttgart 2004); Virgós/Garcimartín, The European Insolvency Regulation, Law and Practice (Den Haag 2004); dies., Comentario al reglamento europeo de insolvencia (Madrid 2003). ­ In vielen Kommentaren und Handbüchern zur deutschen Insolvenzordnung (InsO) wird die Verordnung ebenfalls einläßlich erläutert, so bei Eickmann u.a. (-Stephan), Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung4 (Heidelberg 2006) EuInsVO (S.1679­ 1793); Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung (-Reinhart), hrsg. von Kirchhof/ Lwowski/Stürner III (München 2003) Art.102 EGInsO Anh. I; Kübler/Prütting (-Kemper), Kommentar zur Insolvenzordnung (Köln; Loseblattslg. 1999ff.; Stand: Mai 2005) Art.102 EGInsO Anh. II; Nerlich/Römermann (-Mincke), Insolvenzordnung (München; Loseblattslg. 1999ff.) Art.102 EGInsO; Anwalts-Handbuch Insolvenzrecht (-Pannen), hrsg. von Runkel (2004) §16; Frankfurter Kommentar zur Insolvenzordnung4, hrsg. von Wimmer (2006) §358 Anhang I; Haubold, in: Zivilrecht unter europäischem Einfluss, hrsg. von Gebauer/ Wiedmann (Stuttgart, München usw. 2005) Kap.30; Kindler, Internationales Gesellschaftsrecht, in: Münchener Kommentar zum BGB4 XI (2006) S.364ff. 12 www.eir-database.com . 13 BGBl. 2003 I 345. 14 So in Belgien: Wetboek van internationaal privaatrecht, art. 116­121, Staatsblad vom 27.7. 2004, S.57344; Österreich: Bundesgesetz über das Internationale Insolvenzrecht (IIRG), öBGBl I 2003 Nr.36; Spanien: Ley concursal vom 9.7. 2003 (Ley 22/2003), Boletín del Estado Nr.164 vom 10. Juli 2003, Art.10­12, 49, 201­230, abgedr. auch bei Calvo Caravaca/Carrascosa González, Derecho Concursal Internacional (Madrid 2004) 287ff.; USA: Chapter 15 des Bankruptcy Code. 15 United Nations Commission on International Trade Law, mit Sitz in Wien. einführung 456 RabelsZ tende Insolvenzen, das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen durch Entschließung 52/158 vom 15.12. 1997 zur Übernahme empfohlen wur- de16 . Es hat bereits in mehreren Staaten als Grundlage einer Neuregelung gedient, darunter auch für die in den USA17 und für die am 1.4. 2006 (für das Verhältnis zu Drittstaaten) in Kraft getretene Regelung in Großbritannien18 . EuInsVO und Modellgesetz sollen die internationale Anerkennung von Verfahren und die Kooperation in Insolvenzfällen über die Grenzen hinweg fördern. Damit verstärken sie das ohnehin bestehende Bedürfnis nach Information über ausländisches Insolvenzrecht, nach leichter Verständigung und gemeinsamen Standards. Auf dieser zweiten Ebene, der des Insolvenzrechts selbst, können Information und Anregung seit kurzem in zwei Werken gefunden werden, die mit internationaler Perspektive entstanden sind, den Principles of European Insolvency Law19 und dem Legislative Guide von UNCITRAL20 . Die Principles sind vergleichbar den Principles of European Contract Law der sogenannten Lando-Kommission und anderen vergleichbaren Regelwerken21 . Sie sind das Arbeitsergebnis einer aus eigener Initiative zusammengekommenen Gruppe von Wissenschaftlern, die sich um die Feststellung eines gemeinsamen Fundus der europäischen Insolvenzrechte bemüht hat22 . Der Legislative Guide hat ein anderes Ziel. Er soll ein Ratgeber für die Gesetzgebung in solchen Ländern sein, die in die Welt-Marktwirtschaft eintreten und sich dafür auch ein Insolvenzrecht schaffen oder das vorhandene auf modernen Stand bringen müssen. Entstanden ist ein substantielles Werk von 800 Seiten, in dem das Insolvenzverfahren gut verständlich erklärt wird und die rechtspolitischen Optionen vorgeführt werden. Es läßt sich nutzen als ein übernationales und rechtsvergleichendes Lehrbuch des Insolvenzrechts, das auch in Rechtsordnungen, deren Insolvenzrecht voll ausgebildet ist, mit Gewinn zu Rate gezogen werden kann, wenn Änderungen anstehen. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank hatten schon vorher das Insolvenzrecht, oder genauer: sein Fehlen, bei vielen ihrer Schuldnerstaaten entdeckt und sich daran gemacht, für diese einen Leitfaden für Insolvenzgesetzgebung zu erstellen. Die entstandenen Schriften23 stehen an Ausführlichkeit und 16 UNCITRAL Model Law on Cross-Border Insolvency, abrufbar im Internet unter www.uncitral.org , abgedr. auch in ZIP 1997, 2224 und bei Goode, Principles of Corporate Insolvency Law3 (London 2005) Appendix 3. 17 Siehe oben N.14. 18 Hinweis von Gabriel Moss, Q.C., London. 19 Principles of European Insolvency Law, hrsg. von McBryde/Flessner/Kortmann (Deventer 2003). 20 Legislative Guide on Insolvency Law of the United Nations Commission on International Trade Law, 2004, empfohlen durch Entschließung der Generalversammlung der Vereinten Nationen 59/40 vom 2.12. 2004, abrufbar im Internet unter www.uncitral.org . 21 Überblick bei Wurmnest, Common Core, Grundregeln, Kodifikationsentwürfe, Acquis-Grundsätze ­ Ansätze internationaler Wissenschaftlergruppen zur Privatrechtsvereinheitlichung in Europa: ZEuP 2003, 714­744. 22 Siehe den Bericht von Flessner, Grundsätze des europäischen Insolvenzrechts: ZEuP 2004, 887­907. 23 International Monetary Fund, Legal Department: Orderly and Effective Insolvency Procedures ­ Key Issues (Washington D.C. 1999); The World Bank, Principles and Guidelines axel flessner 45770 (2006) Aktualität hinter dem Legislative Guide von UNCITRAL zurück und reflektieren natürlich auch die spezielle Sicht der beiden Weltfinanzinstitutionen. Nach der bewußt eklektischen Anlage der Tagung wäre es müßig, aus dem bunten Strauß der Beiträge eine Zusammenfassung der Ergebnisse zu versuchen. Klar wurde aber, daß die internationale Behandlung von Insolvenzen auch künftig mit einem Gegensatz fertig werden muß, der das Insolvenzrecht durchzieht, wenn man es rechtsvergleichend erfaßt, nämlich mit Insolvenzverfahren einerseits, in denen der Staat eine markante Rolle bei der Neuordnung der Verhältnisse, besonders von insolventen Großunternehmen spielt, und andererseits solchen Verfahren, die weitgehend auf private Initiative und Kontrolle setzen24 . Beispiel für den Gegensatz ist einerseits die von Carrara behandelte amministrazione straordinaria des italienischen Rechts25 und andererseits die bei Paulus erwähnte Reform des englischen Rechts der Unternehmensinsolvenz26 . Es ist für die internationale Behandlung von Insolvenzverfahren auf die Dauer gewiß keine Lösung, ein Verfahren allein deshalb aus der internationalen Familie des Insolvenzrechts auszuschließen, weil es Elemente enthält, die in anderen Ländern befremdlich erscheinen. Die internationale Erfassung des Insolvenzrechts wird die Spannung, die zwischen rechtspolitisch sehr unterschiedlichen Konzepten des Insolvenzrechts bestehen mag, weiterhin aushalten und reflektieren müssen. for Effective Insolvency and Creditor Rights Systems, April 2001, abrufbar im Internet unter www.worldbank.org . 24 Dazu Flessner (oben N.22) 891f., 901­906. 25 Carrara, in diesem Heft S.542­549. 26 Paulus, in diesem Heft S.470. einführung