Christian Neschwara / Universität Wien Rechts- und Verfassungsgeschichte in Mitteleuopa (Schwerpunkt Österreich) Block IV, 2. November 2012 Entstehung der Österreichischen Monarchie als Gesamtstaat bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts − Rechtsvereinheitlichung (Schwerpunkt Privatrecht) Rechts- und Verfassungsgeschichte im mitteleuropäischen Raum IV Bis 1933 verfassungskonformer Ausbau der Bundesverfassung: Eingliederung des Burgenlandes als selbständiges Land in den Bundesstaat: für Übergangszeitraum bis Übergabe des Burgenlandes von Ungarn an Österreich provisorische Verwaltung durch Bund. Ungarn durch Vertrag von Trianon verpflichtet zur Übergabe des Burgenlandes (ohne Pressburg) am 28. August 1921 an Österreich Übernahme der Staatsgewalt im Burgenlandes scheitert an bewaffnetem Widerstand auf ungarischer Seite. Konflikt zwischen Österreich und Ungarn nach Vermittlung von Italien im Oktober 1921 beigelegt = Venediger Protokoll: sofortige Übergabe des Burgenlandes, aber zunächst ohne Gebiet der Landeshauptstadt Ödenburg; über Zugehörigkeit dieses national gemischten Gebietes soll das Volk entscheiden: Mitte Dezember 1921 Abstimmung unter irregulären Bedingungen Votum zugunsten Ungarns. Zur gleichen Zeit Trennung von Wien und Niederösterreich: Niederösterreich bis dahin aus zwei Landesteilen (Niederösterreich-Land und Stadt Wien). Trennung der beiden Landesteile gemäß B-VG mittels paktierter Beschlüsse der Vertretungen (niederösterreichischer Landtag und Gemeindevertretung Wien): Ende Dezember 1921 Trennungsbeschlüsse. Wien seitdem mit besonderem verfassungsrechtlichen Status: Doppel-Stellung als Bundesland und Gemeinde Einrichtungen der Gemeinde zugleich als Landeseinrichtungen. Weichenstellung für das künftige Inkrafttreten der Kompetenzbestimmungen ebenfalls 1922: aufgrund der sogenannten Genfer Protokolle über Aufnahme einer Anleihe zur Sanierung von Finanzen und Wirtschaft unter Haftung von einzelnen Mitgliedern des Völkerbundes. Angesichts eines galoppierenden Währungsverfalls immenses Budgetdefizit: Bundesregierung ist gezwungen, Hilfe des Auslandes in Anspruch zu nehmen (auch wegen Unabhängigkeitsverpflichtung aus den Vertrag von St. Germain). Finanzierung der Sanierung durch Anleihen im Ausland: Rückzahlung unter Garantie von Völkerbundmitgliedern, Frankreich, Großbritannien, Italien und Tschechoslowakei Österreich zu Souveränitätsbeschränkungen gezwungen: Verwendung des Anleihe-Kapitals unter Aufsicht und Kontrolle des Völkerbundrates (durch Kommissär, bis 1932 in Wien: Aufsicht über Österreichische Nationalbank; Verpfändung der Zolleinnahmen). Zur raschen Durchführung der Sanierung von Finanzen und Wirtschaft 1922 wirtschaftliches Notverordnungsrecht für die Bundesregierung; befristet bis Jahresende 1924: Bis dahin soll die Sanierung (ausgeglichenes Budget, neue stabile Währung) erreicht sein Beendigung der Kontrolle durch den Völkerbund: Bedingung = weitere Verfassungsreformen in Österreich. Forderungen des Völkerbundes umfassendes Verfassungsreformprogramm (Inkrafttreten der Kompetenzverteilung des B-VG, Verwaltungsreform). Ergebnis der Verfassungsreform: 1925 Erlass einer – Novelle zum Bundes-Verfassungsgesetz sowie Erlass eines – speziellen Verfassungsgesetzes über die Einrichtung von sogenannten Ämtern der Landesregierung + Beseitigung der Doppelgleisigkeit der Verwaltung der Länder + Ausbau des Rechtsschutzes durch VfGH und VwGH (Präzisierung des Legalitätsprinzips, Konkretisierung durch Verwaltungsverfahrensgesetze) + Zuständigkeitsverschiebungen zugunsten des Bundes. Wiederverlautbarung aller Verfassungsänderungen inklusive 1925. Zustandekommen der Bundes-Verfassungs-Novelle 1925 macht Rolle der politischen Parteien als Entscheidungsträger im Staat deutlich: Zustandekommen = politisches Tauschgeschäft zwischen bürgerlicher Regierungskoalition aus Christlichsozialen und Deutschnationalen sowie Sozialdemokraten (seit 1920 in Opposition). Innenpolitische Situation seit 1920: – häufige Regierungswechsel; 18 Koalitionen bürgerlicher Parteien bis 1933 – starke Spannungen zwischen bürgerlichen Regierungslager und oppositionellen Sozialdemokraten wachsende Gewaltbereitschaft; gewaltsame Zusammenstöße paramilitärischer Parteiformationen: Heimwehren (ehemalige Weltkriegsteilnehmer) auf Regierungsseite; auf Seiten der Sozialdemokraten Republikanischer Schutzbund. Höhepunkt der Gewalttätigkeiten Mitte Juli 1927: Demonstration von Sozialdemokraten in Wien eskaliert Brand des Justizpalastes Einschreiten von Polizei und Bundesheer: 100 Todesopfer, 1000 Verletzte. Aufgrund dieses Ereignisses Abkehr vom extrem parlamentarischen Regierungssystem des B-VG, weil es den politischen Parteien Einfluss auf alle staatlichen Bereiche und Gesellschaftsebenen eröffnet. Schutzbund, Versammlung Heimwehr, Versammlung Brand des Justizpalastes (Oberster Gerichtshof) in Wien Juli1927 bewaffnete Polizei Säbelattacke Zielsetzung der Bundesregierung an Verfassungsreform 1929: anstelle extrem parlamentarischen Regierungssystems Gewaltenteilende Präsidentschaftsrepublik (wie Weimarer Reichsverfassung): Installierung eines mit umfangreichen Kompetenzen ausgestatteten Bundespräsidenten und einer von ihm bestellten Bundesregierung Exekutive als Gegenpol zum Parteien-Parlament Einfluss der politischen Opposition abgebaut und Position der Regierungskoalition aufgewertet. Hinzu kommen Forderungen der Großdeutschen nach einer Annäherung an die Weimarer Reichsverfassung sowie der Heimwehren nach berufsständischen Elementen in der Verfassung. Zielsetzungen und Forderungen der Regierungskoalition bedürfen der Zustimmung der parlamentarisch orientierten Sozialdemokraten, weil qualifizierte Mehrheit für Verfassungsänderungen erforderlich dennoch Fülle an Zugeständnissen (im Hintergrund Putschdrohungen der Heimwehren). Bundes-Verfassungs-Novelle führt zu markanter Änderung des Verfassungs- und Regierungssystems; sie bringt – massive Aufwertung des Bundespräsidenten: er + ernennt und entlässt die Bundesregierung (statt Wahl durch Nationalrat); er + führt Oberbefehl über das Bundesheer (statt dem Nationalrat); er ist + ermächtigt, Notverordnungen zu erlassen (Zustimmung eines ParlamentsAusschusses, Vorschlag der Bundesregierung). − Zuwachs an Macht Änderung der politischen Legitimation: + Volkswahl (bisher Wahl durch Bundesversammlung), Amtsperiode von 4 auf 6 Jahre verlängert; + demokratischer Legitimation entsprechend: Bundespräsident dem Volk verantwortlich (auf Beschluss der Bundesversammlung mittels Volksabstimmung absetzbar). Erweiterung der Kompetenzen des Bundespräsidenten Schwächung des Nationalrats: er wird nun – vom Bundespräsident einberufen und vertragt, er kann – vom Bundespräsident aufgelöst werden ( Neuwahlen); – Tätigkeit des Nationalrats nicht mehr permanent (zwei Sessionen im Jahr); seine – Budgethoheit wird beschränkt (Budgetprovisorium); sein – Einfluss auf Bestellung der Mitglieder des VfGH wird reduziert (bisher Wahl der Mitglieder durch Nationalrat und Bundesrat; jetzt Vorschlagsrechte gemeinsam mit Bundesrat für die Hälfte der Richter (Zielsetzung = „Entpolitisierung“). Neugestaltung der Organisation des – Bundesrates: Ländervertretung durch Ständerat als wirtschaftliche Interessenvertretung der Berufsstände ergänzt; ferner – Kompetenzverschiebungen zugunsten des Bundes (insbesondere im Sicherheitswesen) Abbau des bundesstaatlichen Prinzips. Verändert wird auch das rechtsstaatliche Prinzip‚ – Ausbau der Zuständigkeiten von VfGH und VwGH: Einführung juristischer Fachqualifikationen am VfGH und Unvereinbarkeiten für Mitglieder beider Gerichtshöfe = „Entpolitisierung“). Bundes-Verfassungs-Novelle insgesamt Ausmaß einer Gesamtänderung des B-VG: Erwägung, Volksabstimmung durchzuführen Abstand genommen wegen der angespannten innenpolitischen Lage (Putschdrohungen der Heimwehren). Bundes-Verfassungsgesetz und das Verfassungs-Übergangsgesetz wie 1925 in der seit 1929 geltenden Fassung wiederverlautbart. Seitdem Titelzusatz des B-VG „in der Fassung von 1929“, seitdem Dutzende Verfassungnovellen: 1993 Wegfall dieser anachronistische Kennzeichnung. Bundes-Verfassungs-Novelle 1929 in der Verfassungswirklichkeit: – Entpolitisierung des VfGH = nach Neuernennung bloß „Umpolitisierung“; – Abbau parteilpolitischen Einflusses auf Staat und Gesellschaft tritt nicht ein: Gewalttätigkeiten weiter auf der Tagesordnung; – Umgestaltung des Bundesrates zu Länder- und Ständerat bleibt Programm; – Aufwertung des Bundespräsidenten tritt nicht ein; Volkswahl findet nicht statt: innenpolitische Spannungen wenige Tage vor der geplanten Wahl: Absetzung der Volkswahl und Durchführung durch die Bundesversammlung: Wiederwahl des amtierenden christlichsozialen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas (in Volkswahl gegen den sozialdemokratischen Kandidaten, Karl Renner, ohne Chance). 1929 geschaffene Verfassungsordnung wird wenige Jahre spätzer im Wege eines „kalten“ Staatsstreichs durch die Bundesregierung seit März 1933 schrittweise verdrängt und 1934 durch eine neue Verfassung 1934 ersetzt. Vorausgegangen ist 1932 eine Regierungs- und 1933 eine Parlamentskrise: Auslösendes Moment = Versuch, die Folgen der Weltwirtschaftskrise durch eine Zollunion mit dem Deutschen Reich zu überwinden durch Urteil des ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag untersagt (wegen Verletzung der Unabhängigkeitsverpflichtung). Innenpolitische Krise: Austritt der Großdeuten aus der Bundesregierung Bundesregierung nur 1 Stimme Mehrheit im Nationalrat (NR); im Bundesrat ohne Mehrheit (nach Wahlerfolgen der Nationalsozialisten bei Landtagswahlen) Neuwahl des Nationalrats von der Bundesregierung vermieden: Potenzial der NS bei 15% Bundesregierung keine Mehrheit im NR . Zu Regierungskrise kommt Parlamentskrise: im Nationalrat Anfang März Rücktritt des gesamten Präsidiums Bundesregierung interpretiert ein Geschäftsordnungsproblem als „Selbstausschaltung“ und schlägt einen autoritären Kurs ein. Von März 1933 an kommt es zu einem Staatsstreich in Schritten durch die Anordnung von Maßnahmen auf Grundlage des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes (KWEG) 1917, welche in Grundrechte eingreifen und daher verfassungswidrig sind: – Verhinderung des Wiederzusammentritts des Nationalrates (NR); – Ausschaltung des Bundesrates (BR); – Suspension von Grundrechten; – Lahmlegung des VfGH; – Verbot der NS-Bewegung und der Kommunisten; gleichzeit Aufbau der Vaterländischen Front als Staatspartei. Versuch der Sozialdemokraten die Bundesregierung aufzuhalten: Aufstand im Februar 1934 scheitert Verbot der Sozialdemokraten. Ausarbeitung einer neuen Verfassung seit September 1933; Prämissen: autoritäres Regierungssystem; ständischer Aufbau des Staates nach Vorbild Italiens. Zweimalige Kundmachung der Verfassung 1934: – erster Erlass auf Grundlage des KWEG am 24. April 1834 = verfassungswidrig, das Gesamtänderung des B-VG Volksabstimmung zwingend; – zweite Kundmachung auf Grundlage eines speziellen Ermächtigungsgesetzes: Erzeugung mit NR und BR (Wiedereinberufung nach 13 Monaten Ausschaltung): Änderung des B-VG und Ermächtigung der Bundesregierung. Verfassungsprinzipien der neuen Verfassung in einer Präambel ersichtlich gemacht: – autoritär (Vorrang der Exekutive, insbesondere in der Gesetzgebung; – ständisch (anstelle demokratischer Wahlen Beschickung der Gesetzgebungsorgane durch Interessenvertretungen; – christlich: Einbindung der Katholischen Kirche (Konkordat 1933 zum Teil in Verfassungsrang; – deutsch: Ablehnung des Anschlusses; – Bundesstaat: neuer Staatsname (anstelle Republik) Der Tag der Kundmachung am 1. Mai = der „Tag des neuen Österreich“ = Staatsfeiertag = politischer Neubeginn; rechtlicher Neubeginn: Zählung des Bundesgesetzblattes (BGBl): BGBl 1934 I = bis 30. April; BGBl 1934 II = ab 1. Mai. Regierungssystem / Aufbau des Staates Wegfall des demokratischen Prinzips, Wegfall der Gewaltenteilung, Abschwächung des Bundesstaates, rechtsstaatliches Prinzip scheinbar aufgewertet (Grundrechte-Katalog, aber Grundrechte unter Gesetzvorbehalt Eingriffe der Exekutive), Wegfall des Verfassungsgerichtshofs: stattdessen Bundesgerichtshof als Verwaltungsgerichtshof + Verfassungssenat. Staatsaufbau gravierend anders als nach B-VG, insbesondere bei der Gesetzgebung: Differerenzierung in Vorberatung und Beschlussfassung. Gesetzgebung Vorberatende Organe Staatsrat, Länderrat, Bundeswirtschaftsrat, Bundeskulturrat keine allgemeinen Wahlen, sondern Ernennung durch andere (Staatsrat durch Bundespräsidenten), Doppelfunktion von Landesorganen (Länderrat), Beschickung durch Interessenvertretungen (Bundeswirtschafts- bzw. Bundeskulturrat): Begutachtung von Regierungsvorlagen; Beschussfassung im Bundestag (= Ausschuss der Vorberatenden Organe) keine Bindung der Bundesregierung; Umgehung möglich (Volksabstimmung). Bundespräsident und Bundesregierung: Notrechte in Gesetzgebung. Ergänzung der Verfassung durch Übergangsgesetz (August 1934): Bundesregierung kann das Ermächtigungsgesetz weitere anwenden (große praktische Bedeutung); Wahl des Bundespräsidenten unterbleibt (Verlängerung der Amtsperiode von Bundespräsident Miklas); keine Einrichtung von Berufsständen (bis 1938 Beschickung aufgrund Regierungsverordnung). Verfassungsentwicklung nach 1934 Zunehmend bestimmt durch das Verhältnis zum Deutschen Reich: Anschluß-Gedanke wird fallen gelassen, gleichzeitig in der Päambel der Verfassung 1934 Bekenntnis Österreichs als „deutscher Staat“. Verhärtung der Beziehungen zum Deutschen Reich, nachdem die NS-Bewegung in Österreich verboten wird. Beide Staaten – Österreich und das Deutsche Reich – durchlaufen seit 1933 eine analoge innenpolitische Entwicklung: Installierung autoritärer Regime, aber erhebliche ideologische Gegensätze Reaktionen. Schon nach Juli-Putsch der österreichischen NS, im Deutschen Reich Bereitschaft zu militärischer Intervention, von Italien Österreich zugesagte Unterstützung verhindert dies. Die außenpolitische Isolierung Italiens infolge seiner Afrika-Expansion und Annäherung Hitler und Mussolini zwingen Österreich zu einer Verständigung mit dem Deutschen Reich gezwungen „Juliabkommen“ 1936 zwischen Bundeskanzler Schuschnigg und Hitler zur Herstellung „normaler und freundschaftlicher Beziehungen“ beider Staaten: – Österreich verpflichtet sich, eine Politik zu führen, „die der Tatsache“ entspricht, dass es „sich als deutscher Staat bekennt“; – Hitler gesteht die Anerkennung der Unabhängigkeit Österreichs zu. Über die Auslegung der Verpflichtung Österreichs in der Folge Disssens, insbesondere in Bezug auf die Zulassung der NS-Bewegung weiteres „Abkommen von Berchtesgaden“ Februar 1938: – Einbindung von Nationalsozialisten in die österreichische Bundesregierung, in Schlüsselpositionen (Vizekanzler und Innenminister) – weitgehende außenpolitische und militärische Bindung an das Deutsche Reich. Aufnahme von Nationalsozialisten in die Bundesregierung vom Bundeskanzler zugestanden; weiteren Verpflichtungen will er sich entziehen: Schuschnigg kündigt am 8. März 1938 überraschend eine Volksbefragung für 12. März an: „für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, ... ein christliches und einiges Österreich“. Aufgrund manipulierter Abstimmungslisten und massiver Propaganda wäre eine Mehrheit dafür zu erwarten gewesen, insbesondere nachdem auch die Sozialdemokraten und Kommunisten dazu aufrufen, mit „JA“ zu stimmen. Ankündigung des Bundeskanzlers vehementer Widerstand der Nationalsozialisten innerhalb der Bundesregierung sowie bei der deutschen Reichsregierung: Hitler droht mit Intervention 1. Absetzung der Volksbefragung und 2. Rücktritt von Bundeskanzler Schuschnigg. Bundespräsident weigert sich, den Natioalsozialisten Seyss-Inquart zum Bundeskanzler zu ernennen; um die drohende Intervention des Deutschen Reiches abzuwenden, bildet Seyss-Inquart ohne Auftrag des Bundespräsidenten eine provisorische NS-Bundesregierung), um den Forderungen des Deutschen Reiches nachzukommen. in den Morgenstunden des 12. März Einmarsch deutscher Streitkräfte, um „Ruhe und Ordnung ... wieder herzustellen“ wie in einem fingierten vermeintlich von Seyss-Inquart abgeschickten Hilfetelegramm an das Deutsche Reich behauptet wird, um Schein von Legalität zu erwecken. Am 12. März faktischer Anschluss aufgrund militärischer Intervention, am 13. März rechtlicher Vollzug des Anschlusses: mittels paktierter Verfassungsgesetze in Österreich und im Deutschen Reich, jeweils aufgrund von Ermächtigungsgesetzen (im Deutschen Reich Ermächtigungsgesetz 1933, in Österreich Ermächtigungsgesetzes 1934). In Österreich Erlass eines besonderen Bundesverfassungsgesetzes „über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“: Anschein, als ob beide Staaten bereits einmal vereinigt gewesen wären; tatsächlich nie der Fall gewesen, bloß fingiert – auf Grundlage des Gesetzes über die Staats- und Regierungsform vom 12. November 1918, Art. 2: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik. ...“; nahezu wortwörtlich Art. 1 des Anschlußbundesverfassungsgesetzes 1938: „Österreich ist ein Land des Deutschen Reichs“. Mit dem Anschluß Ankündigung einer Volksabstimmung 10. April 1938 fast 100% der Abstimmenden in Österreich und im Deutschen Reich befürworten den faktisch und rechtlich vollzogenen „Anschluß“. Hohes Maß an Zustimmung erreicht durch – Propaganda und auch Terror zugunsten der nationalsozialistischen Regierung; – ein Teil der Bevölkerung ist vom Stimmrecht ausgeschlossen: politische Oppositionelle sowie alle Österreicher jüdischer Herkunft; – Aufforderung des österreichischen Episkopats sowie Erklärung von Karl Renner, Staatskanzler von 1918, mit „ja“ zu stimmen. Volksabstimmung = aus dem Verständnis des NS-Staatsrechts bloß deklaratorisch-politische Bestätigung des vollzogenen Führerwillens. Herrschende Ansicht des In- und Auslandes: Status Österreichs als Völkerrechtssubjekt nicht mehr existent, ist ohne Rechtsnachfolger untergegangen ( Wegfall völkerrechtlichen Verpflichtungen). Als „Land Österreich“, auch: „Ostmark“, bildet Österreich seit 1938 für einen Übergangszeitraum eine rechtlich-politische Einheit des Deutschen Reiches, ausgestattet mit einem Teil der Reichsgewalt = anders als die deutschen Länder (1935 als selbständige Teilstaaten aufgelöst und gleichgeschaltet): – grundsätzlich Übergang aller Hoheitsrechte an das Deutsche Reich; – Teile davon (materielle Gesetzgebung und Verwaltung) an den Reichsstatthalter in Österreich und die österreichische Landesregierung (Bundeskanzler + Bundesregierung): Träger delegierter Reichskompetenzen. Liquidierung Österreichs ist in Aussicht genommen. Mit dem Ostmarkgesetz – kriegsbedingt erst im April 1940: Einführung der Gauverfassung im Deutschen Reich führt zur Auflösung Österreichs in 7 Reichsgaue: Übergang aller Kompetenzen des Landes Österreich auf das Deutsche Reich (Großteil auf die Reichsstatthalter = Gauleiter der NSDAP) [exkl. Wehrmacht; gesetzesvertretendes VO-Recht mit Zustimmung der zuständigen Reichsminister: Gauleiter verflechten Staat und Partei massive Einflußnahme auf alle staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen durch Netz von Parteiorganisationen, Mitgliedschaft ist faktisch Voraussetzung für Innehabung bestimmter staatlicher Funktionen: Etwa 700.000 Österreicher werden Mitglieder der NSDAP oder ihrer Organisationen; davon 25.000 bei der SS). Mit der Machtübernahme der NSDAP Austausch der Eliten in Staat und teils auch Wirtschaft; umfassende Umgestaltung der Gesellschaft im nationalsozialistischen Sinn: Integration der Bevölkerung in die NS-Bewegung; gleichzeitig Ausgrenzung von Minderheiten aus rassischen Gründen (Juden / Zigeuner) bzw. aus sozialen (Behinderte / Homosexuelle). Reichsgaue an Stelle der Länder fungieren mit Doppelcharakter: – 1. Verwaltungsbezirke des Reichs; – 2. Selbstverwaltungkörperschaften mit geringer Autonomie. Ab 1938 – teilweise beträchtliche – Grenzänderungen: – Wien vergrößert um nö. Gemeinden; – Vergrößerung Oberösterreichs insbesondere um südböhmische Gemeinden; – ähnlich Niederösterreich: Angliederung südmährischer Gemeinden. (– Auflösung des Burgenlandes Aufteilung auf Niederösterreich und Steiermark; – Vorarlberg von Tirol aus verwaltet; – Kärnten mit Osttirol verbunden; – während des Krieges Erweiterung der Steiermark um die Untersteiermark; ebenso Kärnten Erweiterung um Oberkrain) Das Verhältnis Österreichs zum Deutschen Reich bestimmt sich seit dem 13. März 1938 – ähnlich wie 1918 – grundsätzlich auf 1. Formeller Diskontinuität; bei allerdings schwächerer 2. Materieller Kontinuität. Ad 1.: Mit Stichtag 13. März 1938 alle österreichischen Staatsbürger solche des Deutschen Reichs. Ad 2.: Mit Durchführung des Anschlusses Behörden- und Rechtsüberleitung: einfachgesetzliche Rechtsordnung bleibt bestehen, wird schrittweise abgebaut neues Recht: Ehegesetz 1938 und Handelsgesetzbuch 1900; nicht aber auch BGB, da ein nationalsozialistisches „Volksgesetzbuch“ in Vorbereitung ist; teilweise rezipiert wird auch das deutsche Reichsstrafrecht). Materielle Kontinuität geht nicht so weit wie 1918, da vollständige Übernahme der deutschen Gerichts- und Verwaltungsorganisation. Zunächst kaum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, erst mit der sich abzeichnenden militärischen Niederlage (vor allem von Sozialisten und Kommunisten, teils aus konservativ-katholischen Lager): Initiativen zur Wiederherstellung eines unabhängigen Österreich zunächst von den Alliierten: (neben Aufteilungsplänen für Deutschland unter Einschluss Österreichs) nach Kriegseintritt der USA ab 1943 auf mehreren Konferenzen der Alliierten, insbesondere Moskau 1943: Ziel = Neuordnung Europas durch Einteilung in Interessenssphären; Wiederherstellung Österreichs als unabhängiger Staat – Anschluß ist „null“ und „nichtig“, da aufgezwungen und gemäß Völkerrecht rechtswidrig. Ab Frühjahr 1945 sukzessive Besetzung des österreichischen Staatsgebietes durch Alliierte Formierung neuer politischer Parteien: SPÖ, ÖVP, KPÖ: Umsetzung der Initiative der Alliierten: Erklärung der Unabhängigkeit (= nicht wie 1918 Staatsgründung) am 27. April 1945, zum Teil wörtliche Anknüpfung an die Moskauer Erklärung von 1943: Kernaussage: „Der Anschluß ist null und nichtig“. Politische Parteien faktisch nur im sowjetischen Machtbereich zugelassen, handeln aber – gestützt auf Moskauer Erklärung – für den Gesamtstaat; daher: Einrichtung der Republik Österreich im Geiste der Verfassung von 1920. Durchführung der Unabhängigkeitserklärung durch eine Provisorische Staatsregierung mit voller Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt – vorbehaltlich der Rechte der Besatzungsmächte. Regierungsbildung mit Zustimmung der sowjetischen Armeeführung durch Karl Renner (Staatskanzler 1918): Zusammensetzung aufgrund Vereinbarung der „antifaschistischen“ Parteien (Sozialisten, Volkspartei, Kommunisten); Aufgaben: – Wahlen zu allgemeinen Vertretungen: Nationalrat (NR) und Landtage; – Rechenschaft dem Parlament (NR) ablegen über alle von der Staatsregierung gesetzten Maßnahmen. Erste Maßnahme der zur Durchführung der Unabhängigkeitserklärung: Erlass des sogenannten Verfassungs-Überleitungsgesetz vom 1. Mai 1945. Verfassungs-Überleitungsgesetz setzt das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) und alle anderen Verfassungsbestimmungen in Geltung; Stichtag = 5. März 1933; alle (nach Ausschaltung des Parlaments); alle danach erflossenen Verfassungsvorschriften werden aufgehoben. Sofortige Einführung des parlamentarisch-demokratischen Regierungssystems gemäß B-VG ist zunächst undurchführbar: gewählte Vertretungen fehlen für Übergangszeit provisorische Verfassung notwendig: Verfassungsgesetz über die vorläufige Einrichtung der Republik Österreich = Vorläufige Verfassung faktisch vollständige Verdrängung des B-VG. Oberste Organe gemäß der Vorläufigen Verfassung: – Provisorische Staatsregierung (Vorsitz Staatskanzler, zusammengesetzt aus Staatssekretären unter Unterstaatssekretären als Leiter von Staatsämtern: Funktion = oberstes Verwaltung; davon getrennt ein – Politischer Kabinettsrat mit „Regierungsfunktion als Beratungsorgan des Staatskanzlers, bestehend aus Staatssekretären ohne Ressort“. 1945: Trennung zwischen Regierungs- und Vollzugsgewalt (Staatsregierung und Kabinettsrat = wie 1918 (Staatsrat und Staatsregierung); 1945 so wie 1918 Verbindung beider Funktionen durch Staatskanzler (= 1945 wie 1918 Karl Renner). Politischer Kabinettsrat 1945 = Träger der Regierungsgewalt sowie Vertretung nach Außen (= ähnlich 1918: Staatsrat – Staatsratsdirektorium). Weitere Parallele zu 1918 = Gewaltenverbindung; 1945 allerdings von Exekutivorgan abgeleitet und nicht von einer Volksvertretung: Provisorische Staatsregierung = oberstes Verwaltungsorgan und zur gesamten Bundes-, und Landesgesetzgebung berufen. Länder sind auf autonome Verwaltung beschränkt = Selbstverwaltungskörper, ohne feste Kompetenzverteilung (Zuständigkeit: die „nach der Überlieferung zustehenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten“). Gerichtsbarkeit ist wie im B-VG unabhängig von der Verwaltung; es gibt zur Kontrolle staatlichen Handelns nur einen Verwaltungsgerichtshof; ausdrücklich nicht formuliert sind in der Vorläufigen Verfassung: Grundrechte! Zuständigkeit der Staatsregierung in räumlicher = das gesamte Staatsgebiet; Wirksamkeit faktisch aber beschränkt auf den sowjetischen Machtbereich. Nach Abschluss der alliierten Besetzung Österreichs im Juli 1945 (1.) Kontrollabkommen der Alliierten: – trägt der bisherigen Tätigkeit der Staatsregierung und ihren Maßnahmen keinerlei Rechnung; beschränkt sich auf – Aufteilung der Besatzungszonen und Installierung eines Kontrollsystems. (die Westalliierten sehen die Staatsregierung zunächst als Marionette der Sowjets; Erwägung einer westösterreichischen Gegenregierung Gefahr: Entwicklung wie in Deutschland 1949 zwei Staatsgründungen: BRD und DDR; Entwicklung nimmt in Österreich einen anderen Verlauf). Mit Kontrollabkommen nicht Anerkennung der Staatsregierung, aber der politischen Parteien Verbindungen im gesamten Staatsgebiet: – im September 1945 Länderkonferenz in Wien Anerkennung der von der Staatsregierung gesetzten Maßnahmen durch die westlichen Bundesländer; – gegen Zuerkennung ihrer Stellung der Länder als Gliedstaaten. Zur Verfassungsüberleitung weitere Maßnahmen der Staatsregierung zur Herauslösung Österreichs aus der Verbindung mit dem Deutschen Reich: 1. Rechts-Überleitungsgesetz vom 1. Mai 1945 Wiederherstellung des Rechtslebens ohne Festlegung eines Stichtags: Rezeption der gesamten einfachgesetzlichen Rechtsordnung; allerdings inhaltliche Beschränkungen: keine Übernahme von Gesetzen, die a) mit Bestand eines freien, unabhängigen Österreich unvereinbar sind; b) den Grundsätzen echter Demokratie widersprechen; c) nationalsozialistisches Gedankengut enthalten. 2. Behörden-Überleitungsgesetz Wiederherstellung der Verwaltungs- und Gerichtsorganisation nach dem Stand vor dem Anschluss; Stichtag: 13. März 1938. Weitere verfassungsrechtlich relevante Maßnahmen zur Lösung des NS-Problems: Verbotsgesetz und Kriegsverbrechergesetz (im Verfassungsrang). Frage nach Wiederherstellung des Verfassungs- und Rechtslebens 1945: Österreich als neuer Staat oder in Kontinuität zum Staat von 1918 bis 1938. Zwei Theorien entwickelt: 1. Annexionstheorie: Österreich = 1938 als Staat untergegangen: Sicht der Bundesregierung und fast des gesamten Auslandes bis 1943 gewesen; 1945: Österreich als neuer Staat gegründet keine Kontinuität; 2. Okkupationstheorie: Österreich existiert trotz deutscher Besetzung als Staat weiter − ohne Handlungsfähigkeit: Sicht der Alliierten seit 1943, von den politischen Parteien realisiert mit Unabhängigkeitserklärung; 1945: Handlungsfähigkeit Österreichs als Staat lebt wieder auf Kontinuität. Herrschend = die Okkupationstheorie; für sie sprechen vor allem völkerrechtliche Argumente: Anschluss 1938 unter Gewaltanwendung nach Völkerrecht: null und nichtig ! Für die weitere Verfassungsentwicklung ausschlaggebend ist die Länderkonferenz von Wien im September 1945 Anerkennung der Staatsregierung durch die Westalliierten (Memorandum vom 20. Oktober 1945: „Führung und Kontrolle“ des Staates beim Alliierten Rat, Staatsregierung untergeordnet, aber ermächtigt zum Erlass von Gesetzen für das gesamte Staatsgebiet; vor Kundmachung: Kenntnisnahme des Alliierten Rats) Durchführung allgemeiner Wahlen bis Ende 1945. Vor Durchführung der Wahlen: Novelle zum Verfassungs-Überleitungsgesetz Bundesrat wird nicht zu Länder- und Ständerat umgebildet; erste Wahl des Bundespräsidenten in der Bundesversammlung. Nach Durchführung der Wahlen am 25. November Konstituierung Bundesrat und Nationalrat am 19. Dezember 1945; Wahl des Bundespräsidenten in der Bundesversammlung; am 20. Ernennung der Bundesregierung durch den Bundespräsidenten. Bundes-Verfassungsgesetz seit 19. Dezember 1945 uneingeschränkt in Geltung; aber: Souveränität des Staates bleibt beschränkt durch alliierte Kontrolle. 2. Kontrollabkommen im Juni 1946: Erleichterungen im Bereich der Gesetzgebung: schriftliche Zustimmung des Alliierten Rates zur Kundmachung von Gesetzen (bei einfachen Gesetzen Zustimmung nach 30 Tagen schlüssig angenommen). Alliierter Rat = militärische Parallelregierung. Beendigung der alliierten Kontrolle mit Inkrafttreten des Staatsvertrags Wien 1955 (Unterzeichnung am 15. Mai – Genehmigung durch Nationalrat und Bundesrat – Ratifikation durch Bundespräsidenten – Hinterlegung der Ratifikationsurkunden bei der Regierung der Sowjetunion bis 27. Juli 1955). Vorbereitungen eines Staatsvertrags zwischen Österreich und den Alliierten seit 1946; Hindernisse: jugoslawische Gebietsforderungen, Frage des „deutschen“ Eigentums, „kalter Krieg“. in Wien: „4 im Jeep“ Demarkationslinie zwischen „Ost“ und „West“: Ennsbrücke / Oberösterreich – 1. Jugoslawische Gebietsforderungen in Kärnten (Problem erledigt sich 1948: Bruch Tito─Stalin) – 2. Frage des „deutschen Eigentums in Österreich“ (1938: Übergang von Wirtschaftseinrichtungen an das Deutsche Reich; Alliierte beanspruchen Eigentum als Entschädigung Gefahr: Verlust der Stahl- und Erdölindustrie); Lösung = teilweise Verstaatlichung; – 3. Haupthindernis = „Kalter Krieg“: Staatsvertrag für Österreich von der Sowjetunion mit Friedensvertrag für Deutschland verknüpft; mit Hinwendung der BRD zum Westen: Mißtrauen der UdSSR Forderung: Neutralität Deutschlands; BRD 1954 zur NATO Neutralität = Modell für Österreich). Ausschlaggebend für die Zustimmung der UdSSR: Zusage österreichischer Politiker in Moskau im April 1955 Österreich nach Abschluss des Staatsvertrags neutrale Unabhängigkeit nach Muster der Schweiz. Also „do-ut-des“: Staatsvertrag gegen Neutralität. Unterzeichnung am 15. Mai 1955 in Wien (Belvedere). Außenministertreffen vor Abschluss des Staatsvertrags Präsentation des Staatsvertrags vom Balkon des Belvedere Staatsvertrag basiert auf Okkupationstheorie keine Festlegung der Kriegsschuld (außer UdSSR unter Titel „Entschädigung für Besatzungskosten“, faktisch Reparationen; Folgen: − Anerkennung der vollen Souveränität Österreichs; – Souveränitätsbeschränkungen: Entnazifizierungsgesetzgebung (Verbotsgesetz und Nationalsozialistengesetz); Staatsform (demokratische Republik; Aufrechterhaltung des Habsburgergesetzes); Anschlußverbot; Schutz der Menschenrechte; spezielle Minderheitenschutzbestimmungen; Verbot bestimmter Waffen aus Deutschland. Durchführung der Moskauer Neutralitäts-Erklärung 1955 erst nach Beendigung der alliierten Kontrolle und Besatzung: Freiwilligkeit Erlass des Neutralitätsgesetzes am 26. Oktober 1955: Zwischen Staatsvertrag und Neutralität bloß politischer, kein rechtlicher Konnex. Staatsvertrag über Österreichs „Unabhängigkeit“, nicht aber Neutralität! (keine völkerrechtliche Verankerung: so die Schweiz!)