Die deutsche Nation des Mittelalters als Gegenstand der Forschung VON JOACHIM EHLERS Im Jahre 1935 veröffentlichte Helrauth Plessner in Zürich unter dem Titel »Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche« eine Sammlung anregender Überlegungen zur Stellung Deutschlands in Europa. Zwanzig Jahre später wurde das Buch in zweiter, erweiterter Auflage vorgelegt und hieß nun präziser: »Die verspätete Nation«1'. Im ersten Kapitel, das sich mit Deutschlands Protest gegen den politischen Humanismus Westeuropas befaßt, sprach Plessner von der »vieldeutigen Tradition«, die den Weg zur nationalen Einheit verwehrt habe2), und er rührte damit an eine Frage, die empirischer Prüfung wert ist: War diese Tradition nicht vieldeutig von Anfang an, da doch seit dem 10. Jahrhundert gefragt werden konnte, ob das Reich ein fränkisches sei oder ein regnum Teutonicorum, ob es nicht vielmehr die Vereinigung von Francia et Saxonia?'1 darstelle mit dem populus Francorum atque Saxonum^ als Reichsvolk ? Andererseits ist bemerkenswert, daß ein Gesamtname für den polygentilen Verband der Sachsen, Franken, Bayern und Schwaben schon früh gesucht wurde und seit dem 12. Jahrhundert als Teutonicum regnum verbreitet war5): Anders als im gleichfalls 1) H. Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart 1959. 2) Ebd. 33. 3) DDOI1 (936) und 20 (938). 4) Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,26; MGH SS rer. Germ., S. 39. Vgl. Annales Prumienses 82 zu 923 (L. Boschen, Die Annales Prumienses. Ihre nähere und ihre weitere Verwandtschaft. Düsseldorf 1972, 78-84): Eodem anno HeinrkusSaxonum et orientalium Francorum dux... und zu 939: Hic Otto rex gloriosus constitutus est gubernátor Francorum atque Saxanum (!). Zur ganzen Frage jetzt w*. Eggert/ B. Pätzold, Wir-Gefühl und Regnum Saxonum bei frühmittelalterlichen Geschichtsschreibern. (Forschungen z. ma. Gesch., Bd. 31.) Weimar 1984, 190 f f. Die klassische Darstellung, mit der fränkischen Stammesbildung einsetzend und bis zum Ausgang des 10. Jh.s führend, gab G. Tellenbach, Die Entstehung des Deutschen Reiches. 3. Aufl. München 1946. Zum römischen Charakter des Reiches, der seit dem 10.Jh. ebenfalls gegeben war, C.Erdmann, Das ottonische Reich als Imperium Romanům: Ders., Ottonische Studien. Darmstadt 1968,174-203 und H. Beumann, Das Imperium und dieRegna bei Wipo: Ders., Wissenschaft vom Mittelalter. Köln 1972,175-200 mit der These, daß seit Konrad II. »die Frage, ob das Reich ein römisches sein sollte, ... endgültig entschieden« war (199). Vgl. auch E.Bach, Politische Begriffe und Gedanken sächsischer Geschichtsschreiber der Ottonenzeit. Diss. Münster 1948. 5) E.Müller-Mertens, Regnum Teutonicum. Aufkommen und Verbreitung der deutschen Reichs- und Königsauffassung im früheren Mittelalter. (Forschungen z. ma. Gesch., Bd. 15.) Berlin 1970. Dazu H. Beumann, Regnum Teutonicum und rex Teutonicorum in ottonischer und salischer Zeit: Archiv f. 12 joachim ehlers polygentilen Frankreich setzte sich nicht ein vorhandener Stammesname als politischer Zentralbegriff durch, sondern die über den Stämmen gebildete Einheit wurde als etwas Neues begriffen und entsprechend benannt. Freilich mit einer seit Papst Gregor VII. propagandistisch verwendeten Fremdbezeichnung, so daß wir uns nicht zu falschen Schlüssen verleiten lassen dürfen. Für das deutsche Nationsbewußtsein ist dieser Befund nicht sehr aussagekräftig61. Vieldeutig blieben Tradition und Selbstverständnis über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart; während in Böhmen, Polen oder Frankreich die Nationsbildung im Spätmittelalter abgeschlossen war und im Bewußtsein einer langsam sich verbreiternden Trägerschicht Konsistenz der eigenen, gemeinsamen Geschichte erreicht wurde7', bestanden und bestehen darüber in Deutschland tiefgehende Meinungsverschiedenheiten. Ist es in Frankreich undenkbar, die integrierende nationale Tradition mit Herzog Philipp dem Guten von Burgund zu verbinden, so konnte in Deutschland gezweifelt werden, ob Friedrich I. oder Heinrich der Löwe mit größerem Recht in die nationale Kontinuität gehöre. Aber selbst dann, wenn die mittelalterliche Geschichte des Reiches im ganzen als die eigene akzeptiert, ja nach 1870 in ihrer Größe herausgestellt wurde8', so geschah das nicht nur selektiv, sondern auch widersprüchlich insofern, als wesentliche Eigentümlichkeiten wie die Kaiserpolitik, die Wendung nach Italien, besonders aber die spirituelle Dimension des Reiches und die Bedeutung der Kirche abgelehnt, kritisiert oder als marginal angesehen wurden. Georg von Below vermochte in der deutschen Reichsgeschichte des Mittelalters »eine höhere Idee« schlechthin nicht zu erkennen; diese Geschichte stellt für ihn »eben in der Folge der unglücklichen italienischen Politik der deutschen Kaiser ein unfruchtbares Auf und Ab dar..., keinen Fortschritt, keine Entwicklung auf ein glückliches Ziel hin«9'. Dieses glückliche Ziel war der moderne deutsche Nationalstaat, dem v. Below freilich Anerkennung einer historischen Entwicklung verordnete, deren Ergebnis Kulturgesch. 55,1973,215 -223. Über den Römernamen im Königstitel seit Heinrich II. H.Beumann, Der deutsche König als »Romanorum Rex«. (SB d. Wiss. Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. 18,2). Wiesbaden 1981. 6) Vor einer Überbewertung auch des deutschen Volksnamens als Indiz für das Nationsbewußtsein warnte schon W. Hessler, Die Anfänge des deutschen Nationalgefühls in der ostfränkisclien Geschichtsschreibung des neunten Jahrhunderts. (Hist. Studien, Bd. 376.) Berlin 1943, 8f. 7) Zu Böhmen: EGraus, Die Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter. (NATIONES, Bd.3.) Sigmaringen 1980, 7. Polen: B.Zientara, Die Gestaltung einer mittelalterlichen Nation in Polen und Deutschland: Nattonalgeschichte als Problem der deutschen und der polnischen Geschichtsschreibung. (Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung, Bd.22/VI.) Braunschweig 1983, 36-45; hier 38ff. Frankreich: Außer der unten Anm.25 genannten Literatur B.Guenée, Etat et nation en France au Moyen Age: Ders., Poütique et histoire au moyen-žge. (Publications de la Sorbonne, Série Réimpressions, Bd.2.) Paris 1981, 151-164, und M.Mollat, Genese medievale de la France moderne. Paris 1977, 113 ff. 8) Beispiele bei F.Schneider, Neuere Anschauungen der deutschen Historiker zur Beurteilung der deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters. Weimar 1934. 9) G. vonBei.o-w, Die italienische Kaiserpolitik des deutschen Mittelalters mit besonderem Hinblick auf die Politik Friedrich Barbarossas. Ein Beitrag zur Frage der historischen Urteilsbildung. (Beihefte der HZ, Bd. 10.) München 1927, 10f. die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 13 »nicht durch einen rohen Unitarismus, wie er sich in der Revolution von 1918 kundgetan hat, plötzlich beseitigt, die Reichsgewalt nur auf die gesunde Art, wie es im Reiche Bismarcks geschah, gestärkt und verstärkt werden kann«10'. Ein Denken mit Hilfe solcher Terminologie (»gesund« immer wieder bei v. Below, »normal« bei Fritz Kern)11' drängte einerseits zur Perspektive des »Hätte« und »Würde« bei der Projektion eigener politischer Wunschvorstellungen ins Mittelalter, andererseits führte sie das »Ungesunde« und »Unnormale« ein als Charakteristik nicht nur der historischen Vorgänge, so, wie sie sich nun einmal abgespielt haben, sondern auch als Waffe zur Beurteilung wissenschaftlicher Gegenpositionen und ihrer Vertreter. »Nationalpolitische Energie« wurde nicht etwa von Versammlungsagitatoren gefordert, sondern vom Lehrstuhl aus als wissenschaftliches Erkenntnismittel zugelassen12'. Man stand damit in einer langen Kontinuität politischer Vorstellungen, die der Nationalsozialismus dann zwar auf die Spitze trieb, deren Ursprung im völkisch-historischen Denken des 19. Jahrhunderts aber die Ausbreitung der radikalen Ideologie in den deutschen Bildungsschichten erleichtert hat13'. Wenn Heinrich Dannenbauer im Mai 1943 den Mut hatte, auf einem vom SA-Hochschulamt ausgerichteten Schulungslager für Tübinger Studenten die rassistische Verwirrung hinsichtlich der deutschen Sprach- und Volksgeschichte bloßzulegen und die ethnischkulturelle Vielfalt der äußeren Einflüsse auf das vermeintlich germanisch-deutsche Volk herauszustellen, so kämpfte er damit nicht nur gegen das Welt- und Geschichtsbild einer herrschenden Parteidiktatur, sondern ebenso gegen eine lange Reihe sehr viel älterer Topoi im Sclbstverständnis eines Teils des deutschen Bürgertums14'. Der bei allem Pathos letztlich negativen Bewertung hochmittelalterlicher Reichsgeschichte stand eine territorial-staatlich ausgerichtete Sehweise gegenüber, die vom Beklagen partikularer 10) Ebd. 138. 11) F. Kern, Der deutsche Staat und die Politik des Römerzuges: Aus Politik und Geschichte. Gedächtnisschrift für Georg von Below. Berlin 1928, 32-74; hier 48 u. passim. Vgl. unten bei Anm. 159f. 12) »Die Fragestellung die ihnen (gemeint sind Dietrich Schäfer und Johannes Haller; J.E.) durch ihre nattonalpolitische Energie aufgedrängt wird, ebnet bei ihnen den Weg zur richtigen Erkenntnis.« Below (wie Anm. 9) 139. Daß die Politik sich dann aus diesem Arsenal bediente, mußte bald darauf beklagt werden: »Der politische Wille nimmt vom Klang des mittelalterlichen Reiches eben das auf, was der Gegenwart Reich sein soll: Einheit, Herrschaft des Führers, reine Staatlichkeit nach innen, abendländische Sendung nach außen.« H. Heimpel, Deutschlands Mittelalter - Deutschlands Schicksal. Zwei Reden. (Freiburger Universitätsreden, H. 12.) Freiburg 1933, 5. 13) Eindrucksvolle Nachweise bei K.F.Werner, Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft. Stuttgart 1976, 70ff. Personenbezogene Einzelinformationen bietet H.Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. (Veröff. d. Inst. f. Zeitgesch, Bd. 13.) Stuttgart 1966. Für die Althistorie vgl. K. Christ, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft. München 1982. Daß die Kernpunkte der nationalsozialistischen »Lehre« gleichwohl eher verbale Übereinstimmungen boten, ergibt sich aus den Analysen bei E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. 6. Aufl. München 1984, 486 ff. Das unterstreicht nur die Notwendigkeit kritischer Prüfung jeder Terminologie auf ihre Geschichte und instrumentale Bedeutung; es erklärt, aber es entlastet gerade dadurch nicht. 14) H. Dannenbauer, Vom Werden des deutschen Volkes. Indogermanen - Germanen - Deutsche. (Philosophie und Geschichte, Bd. 54.) Tübingen 1935. 14 joachim ehlers Gewalt zu ihrer Anerkennung als neue Kraft und weiter zu kleindeutschen Maßstäben führte. Wenn die spätmittelalterliche Reichsverfassung als »anarchisch«, als »Zerrbild«, »Unfug«, »Lüge« oder »Chaos« bezeichnet werden konnte15', so war die Sicht »entscheidend beeinflußt durch die Ereignisse des 19. Jahrhunderts, vor allem durch die vorherrschende Stellung Preußens, dessen Geschichte als entscheidende Vorbereitung zur Bildung eines deutschen Staates angesehen wurde«16'. Dieses kleindeutsche Geschichtsbild haben allmählich selbst seine Gegner, oftmals unbewußt, adaptiert17', so daß die Konzeption des Bismarckreiches mitunter als Entelechie deutscher Geschichte seit der Ottonenzeit erschien. Defizite und Schwächen des deutschen Nationsbildungsprozesses bewertete man dabei gern auch positiv, um im »ewigen Werden«, also im Zustand des Unfertigen und der Unreife, die »ewig jugendliche Nation« erblicken zu können18'. Nähern wir uns dem gestellten Thema mit wissenschaftlichen Mitteln, so bedingt das von vornherein den freien Blick kritischer Prüfung nicht nur der Quellen (das sind wir gewohnt), sondern auch zeitbezogener Urteile, wie sie noch in der jüngeren Vergangenheit aus unserem Fach zur Sache formuliert wurden. Derlei Anschauungen haben sich mit dem Zusammenbruch des Reiches 1945 nicht gleichsam von selbst erledigt, und sie sind auch nicht erst 1933 entstanden. Sie haben ein geistiges Klima schaffen helfen und auch von ihm gelebt, das jene Lage erst möglich machte, unter der wir heute mit der Hälfte Europas zu leiden haben. Klarheit und Unterscheidungsvermögen auf diesem Gebiet haben nichts mit modischer Entlarvungsattitude zu tun, und wer hier nicht zu vollständiger Redlichkeit bereit ist, sollte sich anderen Fragen zuwenden. Solche Besinnung ist indes nur ein erster, selbstverständlicher Schritt. Ihm folgt die Einsicht, daß wissenschaftliche Nationenforschung das Schicksal des Historismus in Deutsch- 15) Einzelnachweise bei E. Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte. (Verölt, d. Max-Planck-Inst. f. Gesch., Bd.63.) Göttingen 1979, 9ff. 16) H. Sproemberg, Betrachtungen zur Geschichte der Reichsidee im Mittelalter: Ders., Mittelalter und demokratische Geschichtsschreibung. (Forschungen z. ma. Gesch., Bd. 18.) Berlin 1971, 27-44; hier 29. Sproemberg kam von dieser Feststellung aus zu einer längsschnittartig angelegten programmatischen Studie über den Rang der Reichsvorstellung vom 10.-19. Jh. Die Meldung der Mandatsübergabe vom 12. August 1806, mit der Franz II. in Regensburg seinen Verzicht auf die Kaiserkrone und das Ende des Reiches anzeigte, rückte die »Königlich privilegirte Berlinische 2eitung von Staats- und gelehrten Sachen im Verlage Vossischer Erben« hinter einem Lotterieplan und der Liste angekommener Fremder ein, aber auch die führende Zeitung Süddeutschlands, die »Kaiserlich österreichische und königlich bairische privilegirte Allgemeine Zeitung« brachte die Tatsache ohne Kommentar. Diese und andere Stücke nennt R, Davidsohn, Die Vorstellungen vom alten Reich in ihrer Einwirkung auf die neuere deutsche Geschichte. (SB Bayerische Akad. d. Wiss., phil.-hist. KL, 1917, 5.) München 1917, 5. 17) J.J. Sheehan, What is German History? Reflections on the Role of the »Nation« in German History and Historiography: The Journal of Modern History 53, 1981, 1-23; hier 3ff. 18) B.Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München 1980, 27, im Hinblick auf Gerhard Ritter und Hermann Oncken. Über ein angeblich vorhandenes »deutsches Schicksal«, abhängig von der geographischen Lage, ebd. 27ff. die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 15 land gleichsam zur tragischen Erfüllung bringen könnte: Wird sie nach dem Grundsatz betrieben, daß der jeweilige Zeithorizont die Beurteilungsmaßstäbe zu liefern habe, so muß sie zwangsläufig die später gebildeten Fundamente nationaler Tradition angreifen. Aus Karl Hampes »Herrschergestalten des deutschen Mittelalters« wären Theoderich der Große und Karl der Große ebenso zu entfernen wie in der von Helmut Beumann herausgegebenen Sammlung »Kaisergestaken des Mittelalters« auf das Adjektiv »deutsch« im Titel verzichtet wurde19'. Auch hier hat Ernest Renan treffend formuliert, daß das Vergessen, ja selbst der historische Irrtum, essentielle Faktoren für den Prozeß der Nationsbildung sind und daß der Fortschritt historischer Studien für die Nation oftmals eine Gefahr bedeutet20'. Historische Forschung, die weder irren will noch vergessen soll, kann daher mit gleichsam aufklärerischer Konsequenz die Bildung neuer Kontinuitäten verhindern, wie sie dem 19. Jahrhundert noch möglich schien. Solche Kontinuitätsbildung mag lebensnotwendig sein, aber die Wissenschaft kann sie nicht mehr leisten, weil ihr die dafür erforderliche Naivität unwiederbringlich verlorengegangen ist. In derlei Überlegungen sind Erfahrungen eingeflossen, die im Laufe der Arbeit am NATIO-NES-Projekt gemacht wurden. Dieses ist aus der Einsicht in die konstituierende Kraft des nationalen Prinzips für die Geschichte Europas erwachsen, der verfassungsgeschichtlichen Notwendigkeit einer genauen Beschreibung seiner mittelalterlichen Ausformung, die mit den hergebrachten Methoden und Theorien nicht mehr zu leisten war. Auf zwei Tagungen des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte wurde im Jahre 1965 das Arbeitsfeld interdisziplinär erörtert und im Laufe der Diskussion ergaben sich erste Anhaltspunkte für mögliche Einzelthemen21'. Das Marburger Colloquium hat dann in wiederholten Rundgesprächen seit 1972 die Voraussetzungen für die feste Bindung eines Mitarbeiterkreises im Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft schaffen können und 1978 mit dem ersten Band einer neu begründeten Schriftenreihe Ergebnisse vorgelegt, die in weiter Perspektive von der westlichen Galloromania bis nach Rußland, zeitlich von der merowingischen Epoche bis ins 13. Jahrhundert Ansätze gebracht haben22'. Der umfangreiche, programmatische 19) K. Hampe, Herrschergestalten des deutschen Mittelalters; zuerst 1927. 6., von H. Kämpf durchgesehene Aufl. Heidelberg 1955 (seither mehrere Neudrucke). Kaisergestalten des Mittelalters. Hrsg. von H. Beumann. München 1984. 20) »L'oubli, et je dirai meme l'erreur historique, sont un facteur essentiel de la creation d'une nation, et c'est ainsi que le progres des etudes historiques est souvent pour la nationalite un danger.« E.Renan, Qu'est-ce qu'une Nation?: Ders., Oeuvres completes. Edition definitive. Hrsg. von H. Psichari. Bd. 1. Paris 1947, 887-906; hier 891. 21) Die Entstehung der europäischen Nationen. Arbeitstagungen des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte. I: 23.-26. März 1965. Protokoll Nr. 127. II: 12.-15. Oktober 1965. Protokoll Nr. 132. 22) Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter. Ergebnisse der Marburger Rundgespräche 1972-1975. Hrsg. von H.Beumann und W.Schröder. (NATIONES, Bd. 1.) Sigmaringen 1978. 16 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 17 Beitrag von Walter Schlesinger über die Entstehung der Nationen hielt das gesamte Forschungsprogramm im Blick und setzte methodische Maßstäbe23'. Seither ist Böhmen in ausdrücklich paradigmatischer Absicht untersucht worden, mit vergleichender Ausdehnung der Betrachtung auf den gesamten westslawischen Raum24', ferner Frankreich, für das in Kürze noch weitere Ergebnisse zu erwarten sind25'; interdisziplinäre Bemühungen galten einer Randlandschaft des Frankenreiches26' sowie dem Alpenraum27', dessen Bedeutung über das allgemeine Studium ethnogenetischer Prozesse hinaus für die deutsche Nationsbildung aufs engste mit der Kaiser-und Italienpolitik verbunden ist. Dieser Frage widmete sich ein vorbereitendes Colloquium im September 1982 über die transalpinen Verbindungen der Bayern, Alemannen und Franken bis zum 10. Jahrhundert27*'. Die bemerkenswerte Gleichzeitigkeit, mit der wesentliche Fragen an verschiedenen Orten in den Blick der Wissenschaft zu geraten pflegen, läßt sich indes auch hier beobachten. Nachdem Eckhard Müller-Mertens 1970 sein vielbeachtetes Buch über »Aufkommen und Verbreitung der deutschen Reichs- und Königsauffassung im früheren Mittelalter« in Ost-Berlin publiziert hatte28', folgte 1973 die Arbeit von Wolfgang Eggert über »Das ostfränkisch-deutsche Reich in der Auffassung seiner Zeitgenossen«29', das eine Reihe von Gesichtspunkten herausstellte, die auch für unsere Forschungen im Rahmen des NATIONES-Schwerpunktes den Charakter von leitenden Fragestellungen haben: Hohe Bewertung der Begriffsgeschichte (in diesem Falle zur Klärung des zeitgenössischen Verständnisses von regnum), der politischgeographischen Terminologie und der Aussagekraft bestimmter Formen der politischen Beziehung zwischen einzelnen regna. War Eggerts Buch aus einer 1968 bei Müller-Mertens angefer- 23) W. Schlesinger, Die Entstehung der Nationen. Gedanken zu einem Forschungsprogramm: Aspekte (wie Anm.22) 11-62. 24) Graus (wie Anm. 7). 25) Bisher liegen vor: J.Ehlers, Karolingische Tradition und frühes Nationalbewußtsein in Frankreich: Francia 4, 1976, 213-235. Ders., Elemente mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich (10.-13. Jahrhundert): HZ 231, 1980, 565-587. Ders., Kontinuität und Tradition als Grundlage mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich: Beiträge zur Bildung der französischen Nation im Früh- und Hochmittelalter. Hrsg. von H.Beumann. (NATIONES, Bd.4.) Sigmaringen 1983, 15-47. Ders., Die Anfange der französischen Geschichte: HZ 240, 1985, 1-44. R.Hamann-MacLean, Die Reimser Denkmale des französischen Königtums im 12. Jahrhundert. Saint-Remi als Grabkirche im frühen und hohen Mittelalter: Beiträge ... (NATIONES, Bd.4.) 93-259. B.Schneidmüller, Französisches Sonderbewußtsein in der politisch-geographischen Terminologie des 10.Jahrhunderts: ebd. 49-91. B.Schneidmüller, Nomen patriae. Die Entstehung Frankreichs in der politisch-geographischen Terminologie, 10.-13.Jahrhundert. (NATIONES, Bd. 7.) Sigmaringen 1987. 26) Althessen im Frankenreich. Hrsg. von W. Schlesinger. (NATIONES, Bd. 2.) Sigmaringen 1975. 27) FrühmittelalterHcbe Ethnogenese im Alpenraum. Hrsg. von H.Beumann und W.Schröder. (NATIONES, Bd. 5.) Sigmaringen 1985. 27a) Die transalpinen Verbindungen der Bayern, Alemannen und Franken bis zum 10.Jahrhundert. Hrsg. von H.Beumann und W. Schröder. (NATIONES, Bd.6.) Sigmaringen 1986. 28) Müller-Mertens (wie Anm. 5). 29) W.Eggert, Das ostfränkisch-deutsche Reich in der Auffassung seiner Zeitgenossen. (Forschungen z. ma. Gesch., Bd. 21.) Berlin 1973. tigten Dissertation hervorgegangen, so zeigt seine kürzlich gemeinsam mit Barbara Pätzold vorgelegte Untersuchung »Wir-Gefühl und Regnum Saxonum bei frühmittelalterlichen Geschichtsschreibern«30', daß der Berliner Arbeitskreis um Eckhard Müller-Mertens seine Richtung längerfristig beizubehalten gedenkt. Das ist insofern erfreulich, als unabhängig voneinander gewonnene Ergebnisse zur Bewußtseinsgeschichte sicherstellen, in welcher Weise integra-tive Uberzeugungen drei Bereiche erfassen können: Die Gemeinschaft aller Christen, eine besondere politische Einheit, eine soziale Gruppe. Diese Spezifik hat offenbar Veränderungen im Sinne einer Intensivierung (oder, wie man heute gern sagt: einer »Sensibilisierung«) des Bewußtseins durchgemacht, die im 11. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreichte. Fragestellungen und Lösungsansätze dieser Art sind für die Nationenforschung nicht nur fruchtbar, sondern gehören ihr methodisch wie auch in den Ergebnissen an. Gegenüber solchen in beiden Teilen Deutschlands intensiv betriebenen Forschungen nach den Anfängen ist das Spätmittelalter vernachlässigt worden. Erst in jüngster Zeit haben wir, zuletzt durch Peter Moraw31', wesentliche Einsichten in einen Verdichtungsprozeß gewonnen, der das spezifische Bewußtsein der Reichszusammengehörigkeit entstehen ließ. Mit der streng verf assungs- und sozialgeschichtlich bestimmten Arbeitsweise ist hier gerade für das Spätmittelalter die notwendige und von Anfang an im NATIONES-Programm gewünschte Integration der Nationenproblematik in die Hauptarbeitsgebiete der Mittelalterforschung gelungen. Darauf kann umso weniger verzichtet werden, als die Ansätze spätmittelalterlicher Nationsbildung in Deutschland sich im Zusammenhang mit den Reichsreformbestrebungen unter Maximilian I. und KarlV. fortgesetzt haben32'. Ihr endlicher Mißerfolg bedeutete Diskontinuität, deren Wirkung durch die Reformation verstärkt wurde. Die grundsätzliche Frage, ob es im Mittelalter denn überhaupt Nationen gegeben habe, muß nach der fundierten Auseinandersetzung mit diesem Problem durch Walter Schlesinger33' hier nicht noch einmal aufgegriffen werden. Generalisierende Urteile, das Mittelalter sei »christlich und daher universal«, »dem mittelalterlichen Menschen (sei) der Gegensatz von Christen und 30) Eggert/Patzold (wie Anm. 4), 31) P. Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter, 1250-1490. (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 3.) Berlin 1985. 32) H. Angermeier, Die Reichsreform 1410-1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart. München 1984. 33) Schlesinger (wie Anm. 23) 16ff. und 50ff. Zum mittelalterlichen Sprachgebrauch F. W. Müller, Zur Geschichte des Wortes und Begriffes »nation« im französischen Schrifttum des Mittelalters bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts: Romanistische Forschungen 58/59, 1947, 247-321 und besonders H.-D. Kahl, Einige Beobachtungen zum Sprachgebrauch von natio im mittelalterlichen Latein mit Ausblicken auf das neuhochdeutsche Fremdwort »Nation«: Aspekte (wie Anm. 22) 63-108. »Die billige Schlußfolgerung, daß die Erscheinungen Patriotismus und Nationalismus jung seien, weil die Worte und Begriffe jung seien, ist irreführend. Sie entspringt der uralten Neigung des Menschen, einem Ding erst dann Wesenheit zuzuschreiben, wenn es einen Namen hat.« J. Huizinga, Wachstum und Formen des nationalen Bewußtseins in Europa bis zum Ende des XIX.Jahrhunderts: Ders., Im Bann der Geschichte. 2. Aufl. Basel 1943, 131-212; hier 133. 18 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 19 Heiden weit wichtiger als derjenige von Deutschen, Italienern und Franzosen« gewesen34' mögen in ihrer Allgemeinheit richtig sein; historischen Erkenntniswert haben sie kaum, denn die Geschichte des Mittelalters hat sich nicht aus dem Handeln jenes fiktiven »mittelalterlichen Menschen« ergeben, sondern aus Reaktionen in besonderen Verhältnissen Lebender auf unterschiedliche Anforderungen ihrer Umwelt, die ja größtenteils nicht vom Heidenkampf bestimmt war. Mit den in diesem Band versammelten Beiträgen wenden wir uns nun zum ersten Mal explizit dem Thema der deutschen Nationsbildung im Mittelalter zu. Wir können das tun, weil wir annehmen, über genügend methodische Erfahrung und Sicherheit zu verfügen, um uns mit einer Frage zu beschäftigen, deren außerwissenschaftliche Bedeutung und Wirkung nicht eigens betont werden müssen. Wir handeln hier über entscheidende Elemente unserer Geschichte und damit unserer selbst. Sie gehen uns an im Sinne einer historischen Bedingtheit und fügen sich nicht der naiven Reduktion auf Sachaspekte, hinter der sich im übrigen politisches Engagement ebenso verbergen kann wie demoralisierte Gleichgültigkeit. Diese Empfindung ist weder originell noch etwas eigentümlich Deutsches; der bereits zitierte Ernest Renan erinnerte an die Vivisektion und forderte größte Kälte der Betrachtung'5'. In der Tat haben zeit- und standortgebundene Wertungen unser Thema stets begleitet, sind aber dem aufmerksamen Beobachter auch immer erkennbar gewesen: »In hohem Grad«, schrieb Jacob Burckhardt seinem in Bonn studierenden Neffen Jacob Oeri am 18. Dezember 1864, »billige ich daß Du bei Sybel hörest, und freue mich sehr dessen was Du davon meldest. Zur Vervollständigung würde nur gehören, daß gleichzeitig ein vir doctissimus in Wien vor eben so vielen Zuhörern über Preußen philosophirte und weissagte. Noch lieber wäre es mir freilich, es würde etwas eigentlich Historisches gelesen, .. .«36) 34) P. Koschaker, Europa und das römische Recht. 4. Aufl. München 1966, 47. Systematische Darstellungen wie bei H. Kohn, Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur französischen Revolution. Heidelberg 1950, 120ff., sind naturgemäß besonders anfällig für plakative Urteile, die trotz ihrer Unbestimmtheit überwiegend falsch sind: »Der Staatsgedanke des Mittelalters war durch die Uberzeugung gekennzeichnet, daß die Menschheit Eins ist und folglich eine einzige Gemeinschaft büden muß.« (121) »Das werdende Naüonalgefühl Frankreichs war universal und religiös« (150, für das 11. und 12. Jh.). Zu den Ausführungen von J.Szücs, »Nationalität« und »Nationalbewußtsein« im Mittelalter. Gesichtspunkte zur Herausgesultung einer einheitlichen Begriffssprache: Ders., Nation und Geschichte. (Beihefte zum Archiv f. Kulturgesch., Bd. 17.) Köln 1981,161-243 vgl. B. Zientara, Nationale Strukturen des Mittelalters. Ein Versuch zur Kritik der Terminologie des Nationalbewußtseins unter besonderer Berücksichtigung osteuropäischer Literatur: Saeculum 32, 1981, 301-316; hier 307ff., und J.Ehlers, Nation und Geschichte: Zs. f. Hist. Forschung 11, 1984, 205-218. 35) »Ce que nous allons faire est delicat; c'est presque de la vivisection; nous allons traiter les vivants comme d'ordinaire on traite les morts. Nous y mettrons la froideur, l'impartialite la plus absolue.« Renan (wie Anm.20) 888. 36) Jacob Burckhardt, Briefe. Hrsg. von M. Burckhardt. Bd. 4. Basel 1961, 175 Nr. 419. Im Wintersemester 1864/65 las Sybel vierstündig über Politik; ebd. 363. Über Sybel H. Seier, Die Staatsidee Heinrich Um politische Agitation ging es ja bei dem durch Heinrich von Sybel ausgelösten Streit über die mittelalterliche Kaiser- und Italienpolitik, und Burckhardts Stimme war nicht die einzige, die jenen Charakter der Kontroverse tadelnd hervorhob. Schon 1862 erschien in der Deutschen Vierteljahrsschrift ein anonymer Aufsatz, dessen Verfasser darauf hinwies, daß »man jetzt in ungestümer Hast auf ein praktisches Resultat dränge, weil man nicht mehr Gelehrter, sondern auch Staatsmann sein wolle... So habe die neueste Geschichtsschreibung als Wesen einseitig politische Gedanken, als sittliches Axiom den Erfolg, als Praxis die Einspannung der Geschichte gerade für Zeitkämpfe.... Der Historiker habe nicht ein Moment hervorzuheben und zu sagen, danach hätte sich alles entwickeln müssen, sondern alle Komponenten und weitere Entwicklungsmöglichkeiten.«37) Bereits in seiner Rede zur Geburtstagsfeier König Maximilians II. von Bayern hatte Sybel am 28. November 1859 vor der königlichen Akademie der Wissenschaften ausgesprochen, was ihm neben Stoffbeherrschung und künstlerischer Darbietung des historischen Gegenstandes besonders erstrebenswert war: »... die geistige Ergreifung und Verarbeitung des Stoffes nach politischen und sittlichen Prinzipien und Gruppierung und Verbindung der Tatsachen nach organischen, durchgreifenden, einheitlichen Gesichtspunkten.«38' Die darauffolgende Kontroverse mit Julius Ficker hatte erhebliche Folgen3", zu denen die Verbreitung einer ja durchaus von Sybels in den Wandlungen der Reichgründungszeit 1862/71. (Hist. Studien, Bd. 383.) Lübeck 1961 (dort 202 ff. zum Konzept der Politikvorlesung) und das gedanklich wie stilistisch glänzende Porträt bei H. Seier, Heinrich von Sybel: Deutsche Historiker. Hrsg. von H.-U. Wehler. Bd. 2. Göttingen 1971, 24-38. Ferner V. Dotterweich, Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in polnischer Absicht (1817-1861). (Schriftenreihe d. Hist. Komm. b. d. Bayer. Akad. d. Wiss., Bd. 16.) Göttingen 1978. 37) Hier zitiert aus der Paraphrase bei H. Hostenkamp, Die mittelalterliche Kaiserpolitik in der deutschen Historiographie seit v. Sybel und Ficker. (Hist. Studien, Bd. 255.) Berlin 1934,17f. Hostenkamp vermutet einen Tübinger Professor als Verfasser. Vgl. auch die von Georg Waitz 1862 in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen veröffentlichte Auseinandersetzung mit Sybel und Ficker: Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten Deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich von Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters. Hrsg. von F.Schneider. Innsbruck 1941, 261-268; Ablehnung von Sybels Erfolgs-Kriterium ebd. 264f. Nietzsche an Franz Overbeck (23. Februar 1887): »Ich lese eben Sybels Hauptwerk, in französischer Ubersetzung, nachdem ich über die einschlägigen Probleme die Schule von Tocqueville und Taine durchgemacht habe - da finde ich z. B. diesen süperben Gedanken >c'cst du regime feodal et non de sa chute, que sont nes l'egoisme, l'avidite, les violences et la cruaute, qui conduisirent aux terreurs des massacres de septembre.« Ich glaube das fühlt und weiß sich als Liberalismus ;< gewiß ist, daß ein solcher zur Schau getragener Haß gegen die ganze Gesellschafts-Ordnung des Mittelalters sich vortrefflich mit der rücksichtsvollsten Behandlung der preußischen Geschichte verträgt. Z. B. in Betreff der Theilung Polens.« F. Nietzsche, Sämtliche Briefe. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari. Bd. 8. Berlin 1986, 28 Nr. 804. 38) Wortlaut der Rede Universalstaat (wie Anm. 37) 3-18, das Zitat 8. Auch bei Johann Gustav Droysen, dessen »Geschichte der preußischen Politik« 1855 zu erscheinen begann, gehen »wissenschaftliche Tätigkeit und politisches Ideal eine enge Verbindung ein. Er sucht die deutsche Geschichte von dem Ziel seiner politischen Wünsche, dem liberalen Nationalstaat, aus zu begreifen.« W. Schieblich, Die Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums in der deutschen Geschichtsschreibung von Leibniz bis Giesebrecht. (Hist. Abhandlungen, Bd. 1.) Berlin 1932, 126. 39) Zur Kontroverse vgl. außer Universalstaat (wie Anm. 37) J.Jung, Julius Ficker (1826-1902). Ein 20 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 21 vorhandenen kritisch-distanzierten Haltung gegenüber nationalpolitischein Eifer leider nicht gehörte. Dietrich Schäfer sprach im Jahre 1884 Anerkanntes aus, als er in seiner Jenenser Antrittsvorlesung die Richtung der an deutschen Universitäten gepflegten Geschichtswissenschaft für das ausgehende 19. Jahrhundert charakterisierte: »Sie fließt überwiegend im nationalen Bette einher, wird vorzugsweise geleitet von dem nationalen Gedanken, der die Gegenwart beherrscht, der sich zusammenfassen ließe in die Worte; Deutschland für die Deutschen und die Deutschen nur für Deutschland. Sie wird damit zum wichtigen Faktor unseres gesamten geistigen Lebens.«40' Es läge nahe (und über Jahrzehnte wurde auch so verfahren), ein derart empfindliches Thema zu meiden in der freilich kaum begründeten Hoffnung, es würde sich eines Tages von selbst erledigen oder in übergeordneten Zusammenhängen aufgehen. Demgegenüber ist mit František Graus daran zu erinnern, daß im nationalen Prinzip offenbar eine Grundstruktur der europäischen Staatenwelt erfaßt wird und keine der modernen Ideologien, ebensowenig wie vorher die Religionen, der Nationalisierung entgangen ist41'. Gerade aus osteuropäischer Sicht behält die Nation konstitutiven Charakter für das Geschichtsbild auch dann, wenn es gesamteuropäisch, ja universalhistorisch bestimmt ist: »Europäische Geschichte«, so definierte Oskar Halecki42', »ist die Geschichte aller europäischen Nationen, die als ein Ganzes, als eine Beitrag zur deutschen Gelehrtengeschichte. Innsbruck 1907, 307ff. Über die politischen Folgen H. Goll-veiTZER, Zur Auflassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert. Eine ideologie- und wissenschaftsgeschichtliche Nachlese: FS Kurt von Raumer. Münster 1966,483-512; hier 484ff. Gollwitzer stützt sich auf die stenographischen Berichte über die I. Session des Deutschen Reichstages vom Jahre 1871. W. Smidt, Deutsches Königtum und deutscher Staat des Hochmittelalters während und unter dem Einfluß der italienischen Heerfahrten. Ein zweihundertjähriger Gelehrtenstreit im Lichte der historischen Methode zur Erneuerung der abendländischen Kaiserwürde durch Ottol. Wiesbaden 1964, hat den Streit mit Konzentration auf das Kaisertum Ottos d. Gr. dadurch objektiv zu entscheiden versucht, daß er »die eigene Ansicht zugunsten der historischen Methode ausschaltete, um lediglich die Tragkraft der von anderen vorgebrachten Argumente zu prüfen« (XII). Die Aussichtslosigkeit eines solchen Versuchs liegt auf der Hand, weil die Kontroverse nicht auf einer entscheidbaren Sachfrage beruhte, sondern auf dem Gegensatz zweier Werturteile. 40) D.Schäfer, Deutsches Nationalbewußtsein im Licht der Geschichte. Jena 1884, 5. 41) Gratjs (wie Anm. 7) 7. Im gleichen Sinn W. Conze, Die deutsche Nation. Ergebnis der Geschichte. (Die deutsche Frage in der Welt, Bd. 1.) Gbttingen 1963, lf. Noch weiter geht mit Recht A.D.Smith, Theories of Nationalism. London 1971, 2f.: »The nation-state is the almost undisputed foundation of world-order, the main object of individual loyalties, the chief definer of a man's identity. It is far more significant for the individual and for World security than any previous type of political and social Organisation.« Sein Ausgangspunkt ist soziologisch bestimmt und bleibt leider in einer Art Doxographie wichtiger neuzeitlicher Auffassungen befangen. Vieles davon schon bei A. Dove, Der"Wiedereintritt des nationalen Prinzips in die Weltgeschichte. Bonn 1890. 42) O. Halecki, Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte. Darmstadt 1957, 2. Vgl. daneben die ganz andere Sicht des Juristen und Rechtshistorikers Paul Koschaker: »Europa ist in erster Linie ein kulturelles Phänomen, eine eigentümliche Verbindung germanischer und klassischer, unter diesen vorzugsweise römischer Kulturelemente, von denen das Christentum nicht zu trennen ist, Kulturelemente, die den Bildungsstand der oberen Klassen in den europäischen Ländern bestimmten und in Gestalt des Christentums auch die Massen ergriffen.« Kosckaker (wie Anm. 34) 2. Gemeinschaft betrachtet werden, welche klar von jeder anderen geschieden ist.« Auch der moderne politische Europa-Gedanke hat an dieser Lage grundsätzlich nichts geändert, trotz, hoffnungsvoller Ansätze der Nachkriegszeit, die bekanntlich in Deutschland auffallend stark waren, auch auf unser Fach bedeutend wirkten und in der Aachener Karlsausstellung des Europarats im Jahre 1965 ihren geistigen Höhepunkt zu einer Zeit erreichten, als der Enthusiasmus im politischen Leben längst abgeklungen war43'. Es muß bezweifelt werden, ob historische Erscheinungen erst dann ganz sichtbar werden, wenn ihre Zeit abgelaufen ist44'. Wer angesichts solcher Konstanten die ältere Literatur zur Frage der deutschen Nation prüft, kommt schnell zu der Einsicht, daß mit ihren Voraussetzungen fruchtbare neue Antworten nicht gefunden werden können. Die starke Prägung eines großen, ja des maßgeblichen Teils der seit Mitte des 19. Jahrhunderts unser Fach bestimmenden Literatur durch den nationalen Gedanken, die Verpflichtung der »vaterländischen Studien« auf die Sache der Nation verbieten es von vornherein, aus dem älteren Gesamtbild Einzelergebnisse als neutrale Bausteine zu übernehmen. Auch haben romantische Vorstellungen samt ihrer Inanspruchnahme durch die Politik, seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gesteigert bis zum Ubermaß mit nachfolgendem (ebenfalls übermäßigen) Aufgeben einer anscheinend verbrauchten Fragestellung, zu tiefe Spuren hinterlassen, als daß einfache Modifizierung der Forschungsrichtung neue Erkenntnisse erwarten ließe. Wir haben den von der Romantik bestimmten Glauben an die ursprünglich ethnische Gliederung der Geschichte Europas unter dem Eindruck neuer ethnosoziologischer und verfassungsgeschichtlicher Fragestellungen verloren; wir wissen, daß die Stämme und Völker nicht vorgegeben-naturhafte Erscheinungen, sondern historisch-politische Bildungen sind45'. Wir wissen andererseits auch, daß es sich bei ihrer Entstehung um höchst komplexe Vorgänge handelt, die man nicht als Einheit in vermeintlicher Entwicklung von den Anfängen her beschreiben 43) Vgl. das monumentale, seither der Frühmittelalterforschung unentbehrliche und in seiner Art nie wieder erreichte wissenschaftliche Begleitwerk zur Ausstellung: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. Hrsg. v. W. Braunfels. 4 Bde. Düsseldorf 1965-67. 44) Dieser Meinung ist R. Wittram, Der Nationalismus als Forschungsaufgabe: HZ 174, 1952, 1-16; hier 1. 45) Ganz anders K. G. Hugelmann, Stämme, Nation und Nationalstaat im deutschen Mittelalter. Stuttgart 1955, 219 ff., dessen Auffassung von den Stämmen als wirklich ethnische Gruppen und über »die Wechselwirkung zwischen Menschenart und Raum, zumal Boden, zwischen Erbmasse und Umwelt, zwischen Volk und Staat« (221) auf sich beruhen mag. Seine Auseinandersetzung mit diesem Buch nahm Sproemberg zum Anlaß einer umfassenden und aspektreichen Behandlung der Frage, mit inzwischen freilich überholten Argumenten im einzelnen (z.B. zu den Salzburger Annalen oder zur Stammesbildung): H.Sproemberg, Die Anfänge eines »Deutschen Staates« im Mittelalter: Ders., Mittelalter und demokratische Geschichtsschreibung. (Forschungen z. ma. Gesch., Bd. 18.) Berlin 1971, 3-26. Vgl. (mit ähnlichen Vorbehalten) H. Sproemberg, Die Alleinherrschaft im mittelalterlichen Imperium 919-1024: Ders., Mittelalter .... 45-66. Sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten wollte R. Buchner, Kulturelle und politische Zusammengehörigkeitsgefühle im europäischen Frühmittelalter: HZ 207, 1968, 562-583, als Hauptstützen des Gemeinschaftsbewußtseins sehen. 22 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 23 kann, sondern nur als Funktionszusammenhang. Die Interdependenz verschiedener Elemente, deren Rangfolge im Laufe der Zeit wechseln kann, ist hierbei das Hauptcharakteristikum. Es wäre meiner Ansicht nach verfehlt, auf diese Lage nur mit Grundlagenforschung zu reagieren in der offenbar unvertilgbaren Hoffnung, am Ende der Untersuchung vieler Einzelfragen stünde die Synthese wie von selbst. Ein Thema wie das unsere fordert im Gegenteil die Synthese als Ausgangspunkt; nicht im Sinne des spekulativen Vorwegnehmens nur empirisch zu gewinnender Resultate, wohl aber als Versuch, historische Phänomene, Sachverhalte und Abläufe in einem sinnvollen Zusammenhang zu sehen, aus dem allein sich neue Aufgaben und Fragestellungen ergeben können. Das Problem der deutschen Nationsbildung im Mittelalter ist diesem Verständnis nach nur als Teil einer größeren, von vornherein auf den europäischen Vergleich angelegten Untersuchungsreihe sinnvoll zu behandeln46'. Methodische Konsequenz eines solchen Ansatzes ist strukturgeschichtliche Systematik, innerhalb derer das Fragen nach »Ursprüngen«, »Vorläufern« des Gegenwärtigen und ganz allgemein nach »Anfängen« so relativiert wird, daß allzulang einseitig gebundene Kräfte frei werden, um sich auf andere Aspekte konzentrieren zu können. Dabei ist es weder eine unserem Thema eigentümliche Schwierigkeit noch gar ein Argument gegen seine Formulierung, daß es grundsätzliche Äußerungen zum Phänomen der Nation und des Nationsbewußtseins bei mittelalterlichen Autoren so gut wie gar nicht gibt. Es zeigt sich hier vielmehr nur ein Sachverhalt mit besonderer Klarheit, der alle Teilaspekte der modernen Mediaevistik (mit Ausnahme vielleicht der Wirtschaftsgeschichte) betrifft: Es fehlt ein zeitgenössischer Oberbegriff für Elemente, deren konstruktives Wirken deutlich nachzuweisen ist47'. 46) Der Entwicklungsgedanke mit der Vorstellung eines Ursprungs, in dem keimhaft alles Wesentliche enthalten sei, bei W. Schlesinger, Kaiser Arnulf und die Entstehung des deutschen Staates und Volkes: Ders., Beiträge z. dt. Vcrfassungsgesch., Bd. 1. Gottingen 1963, 233-244; hier 234: »Wer es vermöchte, die Kräfte aufzudecken, die bei der Entstehung des deutschen Volkes wirksam waren, der dürfte hoffen, zugleich die Kräfte zu kennzeichnen, die das deutsche Volkstum auf lange Sicht, vielleicht bis in die Gegenwart hinein gestaltet und erhalten haben.« Den vergleichenden Ansatz forderte bereits H. Zatschek, Das Volksbewußtsein. Sein Werden im Spiegel der Geschichtsschreibung. Brünn 1936, und versuchte einen ersten Uberblick zu Italien, Frankreich, Böhmen, Polen, England, Deutschland; allerdings lag der Schwerpunkt bei den deutschen Quellen und seine Meinung, »was heute unter >Volk< und >Nation<, unter >Nationalgefühl> und Nationalbewußtsein« verstanden wird, (sei) ... für das Mittelalter ... höchst nebensächlich« gewesen (2), erlaubte ihm keine klare heuristische Differenzierung. Für die Zeit bis zur Mitte des 9. Jh.s verglich E. Sestan, Stato e nazione nell'alto medioevo. Ricerche sulle origini nazionali in Francia, Italia, Germania. Neapel 1952, die Voraussetzungen der Nationsbildung in den genannten Ländern. Dem aus gründlicher Quellenkenntnis erwachsenen westeuropäischen Vergleichshorizont verdankt der Artikel von K.F.Werner, Deutschland. A, Begriff; geographische Problematik; Entstehung: Lexikon d. MA 3, 1986, Sp. 782-789, seine weiterführende Qualität. Entsprechend K. Zernack, Die deutsche Nation zwischen West und Ost, Probleme und Grundzüge: Nationalgeschichte als Problem der deutschen und der polnischen Geschichtswissenschaft. (Schriftenreihe d. Georg-Eckert-Instituts f. internationale Schulbuchforschung, Bd.22/VI.) Braunschweig 1983, 67-80. 47) »Es ist eine bekannte Tatsache, daß die historischen Quellen selbst nichts aussagen, und der primitive Aus solchen Elementen ist das moderne Verständnis der Nation zusammengesetzt, ein Verständnis, das seine Struktur wesentlich der französischen Revolution verdankt. Diesem strukturierten, in sich logischen und mit der Forderung nach allgemeiner Anerkennung dynamischen Sinn von Nation steht für das Mittelalter ein additiver Befund gegenüber, der sich folglich mit dem modernen Begriff nicht fassen läßt. Nationen und ihre Genesen müssen deshalb nominalistisch erforscht werden, so, wie es Otto Hintze im Hinblick auf den Staat gefordert hat43'. Elemente, bei denen die Untersuchung anzusetzen hat, können aus größeren Stoffzusammenhängen herausgelöst und damit als Objekte der Forschung konstituiert werden. Aus den bisherigen Arbeiten hat sich ergeben, daß wir in erster Linie mit folgenden Grundbestandteilen des mittelalterlichen Nationsbewußtseins zu rechnen haben: 1. Die Überzeugung, eine gemeinsame Geschichte zu haben. Ihr kommt höchster Rang zu, sie entspricht der von Reinhard Wenskus beschriebenen stammesbildenden Wirkung der Abstammungs- und Herkunftssagen49'. 2. Die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit von Traditionen, die nicht gelehrt-statisch konserviert werden dürfen (wie das in gewisser Weise bei der fränkischen Trojaner-Sage der Fall war50'), sondern sich im Laufe der Zeit als variabel erweisen müssen, um Bewußtseinswandlungen zu überstehen. Diese Anpassungsfähigkeit läßt sich an den Umformungen der karolingi-schen Tradition in Frankreich gut studieren. 3. Politisch-staatliche Faktoren gehören zum Nationsbildungsprozeß insoweit, als sie den Rahmen bilden, innerhalb dessen ein traditionsbestimmtes Bewußtsein entstehen kann und auf den es sich immer wieder zurückführen läßt. Ein solcher Rahmen war die Kontinuität der Dynastie, die sich in Frankreich zwischen 987 und 1483 unter 27 Königen bei überwiegendem Erbgang und zwei mehr als 500 Jahre herrschenden Familien ausbilden konnte, während in Positivismus des 19.Jahrhunderts dürfte in dieser Beziehung heutzutage allgemein überwunden sein.« F. Graus, Deutsche und slawische Verfassungsgeschichte?: HZ 197, 1963, 265-317; hier 298. Zur Bedeutung des Begriffs natio Germanica im Spätmittelalter vgl. den Exkurs bei A. Werminghoff, Neuere Arbeiten über das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland während des späten Mittelalters: Hist. Vierteljahrschrift 11, 1908, 153-197; hier 184ff. In deutlicher Abkehr von Auffassungen des 19. Jh.s, die zur Zeit seines Vortrages noch dominierten, benannte schon M. Handelsman, Le röle de la nationalite dans l'histoire dumoyen äge: Bulletin ofthe International Committee of Hist. Sciences 2,2. Paris 1929,235-247; hier 237, solche Elemente: »Existait-il des signes d'une conscience collective, d'unite de nation, des signes exterieurs, existait-il des noms communs pour designer des collectivites nationales?« 48) O. Hintze, Wesen und Wandlungen des modernen Staats: SB Preußische Akademie der Wiss., phil.-hist. Kl. 1931, 790-810; hier 790f. 49) R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. 2. Aufl. Köln 1977, 54ff. u. passim. »Ce qui constitue une nation, ce n'est pas de parier la meine langue ou d'appartenir au meme groupe ethnographique, c'est d'avoir fait ensemble de grandes choses dans le passe et de vouloir en faire encore dans l'avenir.« E. Renan, Preface zu den Discours et Conferences (1887). Oeuvres completes (wie Anm.20) 720f. 50) Zu dieser F. Graus, Lebendige Vergangenheit. Uberlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln 1975, 81 ff. 24 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 25 Deutschland zwischen 911 und 1493 mit 34 Königen bei überwiegendem Wahlprinzip und 14 beteiligten Familien andere Bedingungen geschaffen wurden51'. 4. Eine Herrschafts- bzw. Königstheorie, die den Monarchen auf das Land bezieht. Dieser Bezug wurde zu einem guten Teil von der Literatur geleistet, die emotionale Kräfte der Zuwendung bündeln konnte, Kräfte, aus denen sich dauerhafte Loyalität ergab. 5. Eine Historiographie, in der sich der Einschmelzungsprozeß oraler Traditionen und politischer Willensbildung so vollziehen konnte, daß Sicherung bestimmter Überzeugungen in schriftlicher Form und in lateinischer Sprache stattfinden konnte. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß die Wechselwirkung zwischen Historiographie und Literatur noch kaum untersucht ist. 6. Eine politisch-geographische Terminologie, die Identifikation stiftete und infolgedessen Aufschlüsse über den entsprechenden Bewußtseinsstand und seine Voraussetzungen erlaubt. Der hier vorgestellte Katalog ist selbstverständlich nicht vollständig und kann aus der Vielzahl von Aspekten, die unser Gegenstand hat, nur einige, freilich, wie mir scheint, die in erster Linie wichtigen herausstellen52). Zu nennen wäre noch die Sprache, auf deren Rolle im Nationsbildungsprozeß Rüdiger Schnell und Peter Wiesinger in diesem Bande eingehen53'; es fehlt das Recht mit seiner gemeinschaftsbildenden und gemeinschaftserhaltenden Kraft54'; es fehlen aber auch bekannte und in der älteren Literatur vorrangig als Ausdrucksformen des Nationalen hervorgehobene Erscheinungen wie Fremdenfeindlichkeit oder Volkscharaktere. In der Tat hatte Xenophobie als rein negativer Affekt keine dauerhafte Bedeutung für Nationsbildung und Nationsbewußtsein55' und deshalb führte die bis vor kurzem herrschende 51) Vgl. auch die Berechnungen bei A. Schulte, Der deutsche Staat. Verfassung, Macht und Grenzen 919-1914. Stuttgart 1933, 22: Die durchschnittliche Regierungszeit eines französischen Königs bis 1328 betrug 28,4 Jahre, die eines deutschen im selben Zeitraum 19,3 Jahre. 52) Vgl. für weiteres Einleitungsvortrag und Zusammenfassung von Walter Schlesinger: Entstehung (wie Anm.21) 1, 14ff. und 114ff. 53) Vgl. unten 247ff. und 321 ff. 54) Die Frage nach der Bedeutung des Rechtes hat von dem Befund auszugehen, daß es zwar Stammesrechte, aber keine ma. Nationalrechte gibt, weder in Frankreich, wo man zwischen droit coutumier und droit ecrit regional zu unterscheiden hat, noch in Deutschland. Gemeinschaftserhaltende Kraft des Rechts läßt sich im Zuge und als Folge der deutschen Ostsicdlung gut aufweisen: S. Tkawcovpsxi, Die Rolle der deutschen Dorfkolonisation und des deutschen Rechtes in Polen im 13.Jahrhundert: Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. Hrsg. v. W. Schlesinger. (Vorträge u. Forschungen, Bd. 18.) Sigmaringen 1975, 349-368. W.Kuhn, Die deutschrechtliche Siedlung in Kleinpolen: ebd. 369-415. 55) J.Ehlers, Elemente mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich (10.-13.Jahrhundert): HZ 231, 1980, 565-587; hier 568ff. Anders noch P. Kirn, Aus der Frühzeit des Nationalgefühls. Studien zur deutschen und französischen Geschichte sowie zu den Nationalitätenkämpfen auf den britischen Inseln. Leipzig 1943. Vgl. Huizinga (wie Anm. 33) 147 mit Bezug auf abfällige Urteile über andere Völker im Zusammenhang mit dem I. Kreuzzug: »Von einem bewußten Nationalismus kann man hier noch immer nicht sprechen. Es sind die primitiven Gefühle der Abneigung zwischen Stämmen und Völkern, wie man sie überall scheinbar unvermeidlich wiederfindet.« Dieser »Antagonismus der Stämme« ist van der modernen allgemeine Unfähigkeit, sich andere vitale Symptome des Nationsbewußtseins als den Fremdenhaß überhaupt vorstellen zu können, immer wieder zu der Behauptung, ein solches Bewußtsein habe es im Mittelalter nicht gegeben56'. Es ist aber nicht richtig, daß Gegensätze, »Abneigung gegenüber fremden Völkern ... eine Wurzel aller nationalen Gefühle« bilden; selbst mit der Maßgabe, daß sie »selten die Ausweitung aus dem Bereich des persönlichen Eindrucks auf größere Gemeinschaften erkennen« lassen575, sollte man diese Beurteilung als hinderlich für die Erforschung der konstitutiven Merkmale erkennen. Nationsbewußtsein ist eben mehr als das bloße Gefühl der Andersartigkeit, wie es vor allem und zuerst in Grenzzonen auftritt; Nationsbewußtsein erfaßt jene Kräfte, die für den Zusammenhalt des eigenen Verbandes als konstitutiv angesehen werden. Diese Ansicht kann an der Grenze, im Krieg, auf Reisen verstärkt und im einzelnen modifiziert werden, ohne Grundlage entstehen aber kann sie unter den bloßen Bedingungen dieser Art nicht. Ebenso dürfte es unmöglich sein, historische Abläufe aus dem Nationalcharakter der Handelnden zu erklären. Ein Nationalcharakter, wenn es ihn denn gibt, bildet sich allenfalls in Reaktion auf historische Erfahrung und ist erst im Rückblick auf sie rekonstruierbar58'. Ganz entsprechend wurde der in Frankreich, Deutschland und Spanien sehr bevölkisch-nationalistischen Warte aus »immer wieder tendenziös unterschätzt oder moralisierend verurteilt« worden: Graus (wie Anm. 47) 276. Für das an Grenzen sich ausbildende, von den Erfahrungen des Gegensatzes stärker als von autogenen Antrieben lebende Nationsbewußtsein hat E. Maschke, Das Erwachen des Nationalbewußtseins im deutsch-slawischen Grenzraum. Leipzig 1933, zahlreiche Belege zusammengebracht. Ebenso P. Görlich, Zur Frage des Nationalbewußtseins in ostdeutschen Quellen des 12. bis 14. Jahrhunderts. (Wissenschaftl. Beiträge z. Gesch. u. Landeskunde Ost-Mitteleuropas, Bd. 66.) Marburg 1964. Die sich dabei ergebenden Hauptgesichtspunkte (Gegensatz Christen/Heiden, Verachtung anderer Völker, Hervorhebung eigener wirtschaftlicher und militärischer Leistungen) zeigen den begrenzten Ertrag einer von der Peripherie ausgehenden Arbeitsweise. Wenig erheblich sind auch Berichte über landsmannschaftliche Gruppengegensätze in der Fremde, wie z.B. die oft bemühte Reimser Schneeballschlacht (Anselm, Vita Adalberti Maguntini archiepiscopi. Hrsg. v. Ph. Jaffé. [Bibl. rer. Germ., Bd. 3.] Berlin 1866, 582 ff. w. 459-596) zwischen Angligeni, TeMones und Francigeni aus den Jahren zwischen 1121 und 1136. 56) R. Michels, Zur historischen Analyse des Patriotismus: Archiv f. Sozialwiss. u. Sozialpolitik 36,1913, 14-43 u. 394-449, sah in »Munizipalismus und Vasallentreue«, »Lehnstreue und Stadtliebe« (14f.) die ersten Ansätze des Vaterlandsgedankens, nahm seinen Ausgangspunkt aber von der Behauptung: »Nationale Gegensätze, die zunächst einzigen Symptome nationaler Gefühle, waren dem Mittelalter fremd.« (15) und fuhr fort: »Der große Gegensatz im Mittelalter lag nicht zwischen den Nationen, die erst noch zum Bewußtsein erwachen mußten, sondern zwischen den Religionen,« (loc.cit.) 57) Hessler (wie Anm. 6) 133. 58) Die geistvoll-skeptischen Ausführungen bei G.Mascr, Der nationale Gedanke als Problem der deutschen Geschichte: HZ 221, 1975, 603-622, weisen in eben diese Richtung, gipfeln dann aber in der merkwürdigen Schlußfolgerung: »Daß nationale Charaktere existieren ist gewiß.« (622) Faulenbach (wie Anm. 18) 31 ff. referiert ablehnend Zeugnisse für das Arbeiten mit einem »deutschen Nationalcharakter«, stößt aber nicht zur Kritik der Begriffe vor. Die Argumentationsweise an sich ist ebenso alt wie verbreitet; eine Art von deutschem Nationalcharakter meint z. B. Konrad von Megen-berg (1309-1374), wenn er zeigen will, quod simplicitas Alemannorum est fidelis et bona, et quod opus eins vincat verbum: Konrad von Megcnbcrg, Planctus ecclesiae in Gcrmaniam (MGH, Staatsschriften d. späteren MA, Bd. 2,1), 37c. 18. 26 joachim ehlers liebten Wesensdeutung einer Nationalliteratur aus einem hypostasierten Nationalcharakter schon von Ernst Robert Curtius minimaler wissenschaftlicher Wert bescheinigt59'. Die Wirkung ökonomischer Faktoren auf den Nationsbildungsprozeß schließlich ist kaum erkennbar, obwohl es an Versuchen nicht fehlte, sie nachzuweisen. Müller-Mertens wollte zeigen, daß schon »die letzte Ursache für die Entstehung des deutschen Reiches... sich letztlich aus der Umwälzung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (ergeben habe), aus dem Kampf neuer sozialer Kräfte um eine neue Gesellschaftsordnung, den Feudalismus, welcher in der Karolingerzeit auch in der Germania mit voller Schärfe entbrannte«'0'; er erkannte dabei die unterschiedliche Entwicklung anderer europäischer Länder, in denen der Feudalismus nicht minder zum herrschenden Prinzip geworden war, durchaus an, brachte diesen Befund aber nicht mit seiner Behauptung in Einklang. Entsprechend wurde das historisch gewordene deutsche Volk als ein »wirtschaftlich-gesellschaftlich begründetes ... Phänomen« erfaßt, ohne daß für den wirtschaftsgesctiichtlichen Gesichtspunkt Belege angeführt werden konnten; es blieb bei der Feststellung, daß jenes angeblich »wirtschaftlichgesellschaftliche Ursachenbündel noch eingehender Erforschung bedarf«61'. Ob das aussichtsreich ist, erscheint angesichts der von Müller-Mertens selbst62' eingeräumten Homogenität der europäischen Wirtschaftsweise doch sehr zweifelhaft. Wir haben uns damit einer Grundfrage des deutschen Geschichtsverständnisses genähert, deren sensible Komplexität hier nur angedeutet werden kann, die bis heute höchst kontroverse Bewertungen und Antworten erfahren hat und noch erfährt, der wir aber nicht ausweichen dürfen: Der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Volk im Hinblick auf die Nation. Durch die Dominanz der Territorien und Einzelstaaten seit dem Spätmittelalter hat sich ein klares Bewußtsein von der Kontinuität des deutschen Staates als Nation (oder der deutschen Nation als Staat) nicht bilden können. Denken in nationalen Kategorien bezog sich daher bald auf das deutsche Volk als primäre Größe, und indem die nationale Bewegung des 19. Jahrhunderts den Nationalstaat zu schaffen suchte, erstrebte sie ihn für eine angeblich bereits vorhandene, auf Sprache und Volkstum beruhende deutsche Nation. Dieser Nationalstaat sollte dem deutschen Volkstum und seinen besonderen Wesenszügen entsprechen, deren Definition aus dem Studium der Vergangenheit abzuleiten war63'. Das bedeutete einen erheblichen Wandel des historischen Sinnes und des Antriebes zu historischer Forschung gegenüber Moser, Burke und 59) E.R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 2. Aufl. Bern 1954, 299 Anm. 4. 60) E. Müller-Mertens, Vom Regnum Teutonicum zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Reflexionen über die Entwicklung des deutschen Staates im Mittelalter: Zs. f. Geschichtswiss. 11, 1963, 319-346; hier 323 ff. 61) E. Müller-Mertens, Die Deutschen. Zur Rolle der politischen Formung bei ihrer Volkwerdung: Germanen - Slawen - Deutsche. Forschungen zu ihrer Ethnogenese. Berlin 1968, 31-41; hier 31 f. 62) Ebd. 35. 63) E.-W. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder. (Schriften z. Verfassungsgesch., Bd. 1.) Berlin 1961, 78. dir deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 27 Eichhorn, denn das »Verhältnis.zur Geschichte und die Berufung auf sie erwächst nicht mehr aus einer ungebrochenen historischen Kontinuität, sondern aus einem nationalen und politischen Programm. Dem liegt der Bruch zur überkommenen politisch-sozialen Verfassung, der Bruch der geschichtlichen Kontinuität voraus«6"1'. Dieser Bruch wurde durchaus erkannt und für überwindbar gehalten; weil historische Forschung neue Kontinuitäten schaffen sollte, bezog sie ihren Sinn und ihre Legitimation hinfort aus dieser politisch-nationalen Aufgabe65'. Für das Zustandekommen historischer Urteile ist das von großer Bedeutung gewesen, und der Begriff des Volkes ist deshalb ebensowenig neutral wie der des Staates; Otto Brunners zähe Auseinandersetzung mit diesem 66' ist für jenen in noch höherem Maße angebracht, weil er politischen Schlagwortcharakter mit Vieldeutigkeit verbindet und sich infolgedessen als wissenschaftlicher Ordnungsbegriff oder gar als heuristisches Prinzip denkbar schlecht eignet. In seiner heute gebräuchlichen Bedeutung ist er auf mittelalterliche Quellen nicht anwendbar67', denn zwischen 1750 und 1850 trat jene Umwertung ein, die den Zeitgenossen bewußt war, schon damals ideologischen Charakter hatte und gerade deshalb auch heute noch die politische Nutzung des Wortes erlaubt68'. Diese Wandlung berührte, was für die deutsche Verfassungsgeschichte folgenreich sein sollte, auch Juristen und Rechtshistoriker6'', ließ Volkstümlichkeit des 64) Ebd. 79. Kontinuitätserhaltend wirkte dagegen die sich ebenfalls modernisierende Landesgeschichte, besonders dann, wenn sie das Mittelalter zum Epochengegenstand hatte; vgl. A. Gerlich, Geschichtliche Landeskunde des Mittelalters. Genese und Probleme. Darmstadt 1986, bes. 42 ff. 65) Die Wirkung einer so verstandenen Geschichtswissenschaft wurde durch die besondere Eigenart der deutschen Universität des 19.Jh.s erhöht: »Die Universität schwächte darum (sc. durch die Bindung des mobil gewordenen Studenten an eine professionell betriebene Wissenschaft; J. E.) die partikularen Traditionen, sie war gesamtdeutsch oder gesamtstaatlich, sie tendierte zur Homogenität einer nationalen Gesellschaft.« Th.Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. München 1983, 475; vgl. ebd. 480ff, 66) O. Brunner, Land und Herrschaft. 4. Aufl. Wien 1959, 111 ff. 67) Erst recht ist »Volksgeschichte« im 20. Jh. etwas anderes als für Cassiodor, Gregor von Tours. Cosmas von Prag oder Saxo Grammaticus. Anders W.Schlesinger, Die Königsherhebung HeinrichsI., der Beginn der deutschen Geschichte und die deutsche Geschichtswissenschaft: HZ 221,1975, 529-552; hier 533. Noch wesentlich vorsichtiger W.Schlesinger, Die Grundlegung der deutschen Einheit im frühen Mittelalter: Ders., Beiträge z. dt. Verfassungsgesch. d. MA. Bd. 1. Göttingen 1963, 245-285; hier 247. 68) »die ästhetisch-philosophische bewegung veredelt den begriff des volkes als des Ursprungs des werthvollsten poetischen gutes, schöpferischen phantasielebens, naturbedingter sitte, indem zugleich der Werth der den oberen gesellschaftschichten vorbehaltenen bildung herabgesetzt wird; die aus der romantik hervorgehende philologie führt diese bewegung in historischer Vertiefung weiter, wobei bes. die gegenüber der aufklärungszeit völlig veränderte Stellung zu beachten ist, die dem volk im sprachlichen leben zugewiesen wird, in politischer beziehung wird durch die ideen der französischen revolution und ihre weitere entwicklung in der liberalen bewegung eine umwerthung des Wortes herbeigeführt, damit verbindet sich die Veredlung durch das erwachsen des nationalen bewusztseins, mächtig gefördert durch den zusammenbrach des alten deutschen reiches und den kämpf gegen Napoleon: das ringen um freiheit und einheit geben dem wort einen Stimmungsgehalt, der leidenschaftlich empfunden werden kann, in diese würde wächst das wort erst allmählich im kämpfe mit dem fremden nation hinein.« Deutsches Wörterbuch 12/11, Sp.454. 69) »Im Sinne Herders ist für Savigny das Volk ein organisches Lebewesen mit eigenem geschichtlichen Leben, das entsteht, wächst und vergeht und ausgestattet ist mit einer spezifischen, organischen Kraft, dem Volksgeist, der die geistigen Manifestationen des Volks, unter ihnen die Sprache wie das Recht in 28 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 29 Rechtes als erstrebenswertes Ziel und am römischen Juristenrecht dessen »todte Gelehrsamkeit und dem Leben entfremdete Theorie«70' als kritikbedürftig erscheinen. Die Beurteilung der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland als Überfremdungsvorgang setzte sich durch71». »Der Versuch, die Gedanken, Taten und Ziele des deutschen Lebens an dem Kern der Volksidee zu messen«72', ist natürlich auch in der Philologie gemacht worden und hat die »echte Sprachforschung«73' zu der Überzeugung geführt, »der überzeitliche Gehalt des Wortes deutsch«74' sei eine Forschungsaufgabe. Materialsammlungen, wie sie Günter Herold für das Althochdeutsche und Altniederdeutsche vorgelegt hat75', sind der beste Teil dieser Bemühungen; sie zeigen, besonders im Vergleich mit dem Sprachgebrauch der lateinischen Quellen76', daß die Volkstheorie in den mittelalterlichen Texten keine hinreichende Stütze finden kann77'. Nach alledem scheint es unvermeidlich, den Rat des Ethnologen an die Vorgeschichtsforschung auch für die komplizierten Befunde unseres Untersuchungsfeldes anzunehmen und auf den Gebrauch des Volksbegriffs ganz zu verzichten78'. In Deutschland nämlich hat ein geheimnisvoller Weise und in natürlichem, langsamen Wachsen hervorbringt, und zwar so, daß dieses Recht Gemeingut aller Volksgenossen wird.« Koschaker (wie Anm. 34) 196. Über die gleichwohl kühle Distanz Savignys zur Romantik und über seine kulturelle Reichsidee, die er mit Goethe teilte, vgl. ebd. 260 ff. 70) G.Beseler, Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig 1843, 351. Bcseler war Jurist und Professor in Greifs wald. 71) Der Nationalsozialismus lehnte übrigens das römische Recht nicht mit dem Überfremdungsargument ab, sondern deshalb, weil es individualistisch und unsozial sei: Koschaker (wie Anm. 34) 157. 72) J.L. Weisgerber, Der Sinn des Wortes »Deutsch«. Göttingen 1949, 170. 73) Ebd. 13. 74) Ebd. 142. 75) G. Herold, Der Volksbegriff im Sprachschatz des Althochdeutschen und Altniederdeutschen. (Junge Forschung. Unters, z. Geistesgeschichte, Bd. 8.) Halle 1941. Für die Zeit bis 1050 sind Belege nicht nur zum Volksbegriff, sondern auch zu angrenzenden Bedeutungsfeldern (Heer, Thing, Geschlecht, Sippe, Land, Reich, Adel, Masse) zusammengestellt. 76) J. Nowak, Untersuchungen zum Gebrauch der Begriffe populus, gens und natio bei Adam von Bremen und Helmold von Bosau. Diss. Münster 1971, hob den wesentlich christlich bestimmten Sinn von populus (christliche Orts- oder Diözesangemeinde, Bevölkerung als Missionsobjekt), gens, natio (ebenfalls Missionsobjekt) hervor. 77) »Die Vielzahl der Kollektive läßt nicht auf ein tiefes und lebendiges Volksbewußtsein schließen, nur auf die reichen Möglichkeiten, Menschen zusammenzufassen. Dabei waren die Gruppen meist kleiner als das Volk. Die Wörter, die >Volk< bedeuteten, gelangten zu diesem Inhalt über ihre kollektivierende Funktion, d.h. das Volk wurde primär als Menschenmenge gesehen.« O.-R.Ehrismann, Volk. Eine Wortgeschichte. (Vom Ende des 8. Jahrhunderts bis zum Barock.) Gießen 1970. Zu populus in der Literatur des MA F.Graus, Litterature et mentalite medievales: le roi et le peuple: Historica 16, 1969, 5-79, der besonders auf das Schwankende, oft Unbestimmte des Begriffs hinweist. Materialreich, aber unsystematisch, K. Heissenbüttel, Die Bedeutung der Bezeichnung für »Volk« und »Nation« bei den Geschichtsschreibern des 10. bis 13.Jahrhunderts. Diss. Göttingen 1920. Vgl. auch H.Jakobs, Der Volksbegriff in den historischen Deutungen des Namens Deutsch: Rheinische Vierteljahrsbll. 32, 1968, 86-104. 78) W.E. Mühlmann, Ethnogonie und Ethnogenese. Theoretisch-ethnologische und idcologiekritische Studie: Studien z. Ethnogenese. (Abh. d. Rhein.-Westfäl. Akad. d. Wiss., Bd.72.) Opladen 1985, 9-27; supragentiles Bewußtsein stets mit dem gentilen Bewußsein der Sachsen, Franken, Bayern und Alemannen konkurrieren müssen; es ging schon vom Ansatz her auf Kosten des Eigenbewußtseins, jener Stämme, aus deren Zusammenschluß das Reich enstanden war und mußte als übergeordnete Wertvorstellung natürlicher Gegner der wesentlichen Inhalte des Stammesbewußtseins werden. Diese Spannung ist nie wirklich ausgetragen worden79', aber sie ist nie erloschen; sie hat sich über Länder und Territorien hinweg behauptet und wesentlich dazu beigetragen, das deutsche Nationsbewußtsein von einer gefestigten staatlichen Basis fernzuhalten, um es stattdessen an eine Volksidee zu binden, der durchaus fiktive, ja illusionäre Züge anhaften. Dieser Dialektik gentiler und supragentiler Kräfte entspricht im Spätmittelalter ein Phänomen »der verschleppten Krise, das letztlich darin begründet ist, daß sich im Reich nicht die Konzentration der Gegensätze zu prinzipiellen Konflikten ausbildete, sondern daß die Desintegration der politischen Kräfte, die sich nicht in ihrer Gegensätzlichkeit begreifen konnten, zur latenten Krise führte, die nie zum (möglicherweise heilenden) Ausbruch gelangte. Es fehlten das Bewußtwerden der Spannung zwischen Regnum und Imperium, die Herrschaftsbestimmung des Königtums in Rechten und Pflichten gegenüber den Obrigkeiten, der Versuch einer ständischen Integration gegenüber dem Herrscher anstelle der ständischen Desintegration«80'. Es ist schwer vorstellbar, daß ein deutsches Volk, dem für das Frühmittelalter reichs-und nationsbildende Kraft unterstellt wird, bald darauf partikular und territorial gebrochen worden sein soll. Dabei ist der völkische Gedanke an sich keineswegs auf Deutschland beschränkt gewesen. In anderer Ausprägung (das Volk nicht als organisch entwickelte Individualität, sondern als kämpfende Einheit nach außen und gegen fremdvölkische Unterdrücker nach innen) war die Volkstheorie im Frankreich des 19. Jahrhunderts verbreitet, deutlich z. B. bei Augustin Thierry (1795-1856), der allerdings stets auf die ethnische Vielfalt Frankreichs und seinen bestimmenden Charakter als eines »Systeme politique« hingewiesen hat81'. Der politische Bezug mußte dem französischen Volksbegriff wie ein A priori schon deshalb gegeben sein, weil die Ideologen der Revolution im verhaßten Adel die Nachkommen der fränkisch-germanischen Unterdrücker des keltischen Volkes sahen82'. Auch im England des 17. Jahrhunderts stellten die Gegner des Adels diesen als ganz und gar normannisch vor und prägten in ihrer Flugschriftenliteratur den hier 18: »Terminologie ist nicht gleichgültig, falsche Termini verleiten auch unwillkürlich zu falschem Denken.« 79) Im Gegensatz zur landläufigen Meinung und zum Ablauf in Italien erfüllte der .»Deutsche Krieg« von 1866 keineswegs den von Renan (wie Anm. 20) 891 formulierten, offenbar in der Natur der Sache liegenden Anspruch: «L'unite se fait toujours brutalement.« 80) Schubert (wie Anm. 15) 25. 81) A. Thierry, Lettres sur l'histoire de France pour servir d'introduction ä l'etude de cette histoire. 5. Aufl. Paris 1836, 119ff. Nr. IX. Er bemühte sich sehr um die Popularisierung ethnographischer Gesichtspunkte; vgl. ebd. 62ff. Nr.IV: »Sur le caractere des Franks, des Burgondes et des Visigoths.« 82) P.Stadler, Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich 1789-1871. Zürich 1958, 25 ff. Vgl. F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus. (Friedrich Meinecke, Werke. Hrsg. v. H. Herzfeld, C.Hinrichs u. W. Hofer, Bd. 3.) München 1959, 167ff. 30 joachim ehlers Begriff des »Anti-Normannismus«83'. Ein völkisch bestimmtes Selbstverständnis geht im übrigen leicht mit dem Gedanken einer besonderen Envähltheit des eigenen ethnischen Verbandes zusammen84'. In Deutschland wurde die mit ihren besonderen Methoden der Quellenforschung und -kritik entstehende moderne Geschichtswissenschaft vom herrschenden Nationalgedanken auf weiten Gebieten unreflektiert mitbestimmt, wobei sich eine Diskrepanz ergab zwischen der schnell fortschreitenden Technik philologisch-kritischer Textbewertung und der Unfähigkeit, Begriffe in ihrer jeweiligen historischen Bedingtheit, d. h. ideengeschichtlich zu sehen. Daraus folgten die für unser Thema konsequenzenreiche Gleichsetzung der Germanen mit den Deutschen auch in der Wissenschaft85', das Postulat eines »germanischen Einheitsgefühls der Urzeit«86' und damit die Ansicht, daß das deutsche Volk älter sei als das deutsche Reich: Lange 83) Diskussionsbeitrag Hölzle: Entstehung (wie Anm.21) 2, 72. Vgl. die Auseinandersetzung der russischen Geschichtswissenschaft mit der Normannenfrage; dazu und zum Urteil der gegenwärtigen Forschung G.Schramm, Die Herkunft des Namens Rus'. Kritik des Forschungsstandes: Forschungen z. osteurop. Gesch. 30, 1982, 7-49. Ders., Normannische Stützpunkte in Nordwestrußland. Etappen einer Reichsbildung im Spiegel von Namen: Beiträge z. Namenforschung, NF 17, 1982, 273-290. Ders., Die normannischen Namen für Kiev und Novgorod: Russia Mediaevalis. Hrsg. v. J. Fennel u.a. Bd.5,1. München 1984, 76-102. 84) Nicht also nur bei den Juden, »sondern versteckt und unbewußt... bei den modernen Kulturnationen«: Koschaker (wie Anm. 34) 199 im Anschluß an G.Del Vecchio, Die Idee einer vergleichenden universalen Rechtswissenschaft: Archiv f. Rechts- u. Wirtschaftsphilosophie 7, 1913/14, 223-232 u. 400-414; hier 225. Vgl. Kohn (wie Anm. 34) 65ff. Zum »primato morale e civile degli Italiani« F. Valsecchi, Nation, Nationalität, Nationalismus im italienischen Denken: HZ 210, 1970, 14-33; hier 23 ff. 85) Die noch immer unentbehrliche Deutsche Verfassungsgeschichte von Georg Waitz, zuerst 1844 erschienen, setzt im ersten Band mit der Behauptung ein: »Die Deutsche Geschichte beginnt, da die Angehörigen des Volksstammes, den die Alten als Germanen bezeichnen, an den Gestaden der nördlichen Meere, Nord- und Ostsee auftreten: hier hat einige Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung der Reisende aus Massilia Pythcas sie gefunden; dahin weisen die Ueberlieferungen von der Heimat der Cimbern und Teutonen, die den Germanischen Namen den Römern zuerst furchtbar machten; dahin die Nachricht, dass ein König der Sueben noch später seinen Einfluss bis an das Meer erstreckte.« G. Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1. 3. Aufl. Berlin 1880, 3. Vgl. G.Waitz, Ueber die Gründung des deutschen Reichs durch den Vertrag zu Verdun: Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1: Abhandlungen z. dt. Verfassungs- u. Rechtsgesch. Hrsg. v. K.Zeumer. Göttingen 1896, 1-24; hier 6: »Ein Theil des deutschen Volks ...: der gothische Stamm.« Zum gegenwärtigen Stand H.Ament, Der Rhein und die Ethnogenese der Germanen: Praehist. Zs. 59,1984, 37-47, und besonders Germanenprobleme in heutiger Sicht. Hrsg. v. H.Beck. (Ergänzungsbände z. Reallexikon d. German. Altertumskunde, Bd. 1.) Berlin 1986, mit den Beiträgen von R. Wenskus, Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs (1-21) und K.Düvcel/H. Zimmermann, Germanenbild und Patriotismus in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts (358-395). 86) F. G. Schultheis, Geschichte des deutschen Nationalgefüldes. Eine historisch-psychologische Darstellung. Bd. 1: Von der Urzeit bis zum Interregnum. München 1893, 17ff. Er wollte die Frage beantworten, »in welcher Weise das volkbildende Gesamtgut deutscher Eigenart der natürlichen inneren Gefahr der Differenzierung und fremden zersetzenden Einflüssen gegenüber sich behauptet hat.« Ebd. 5. Über die hier und bei vielen anderen Autoren angelegte Idee einer germanischen Kontinuität Koschaker (wie Anm. 34) die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 31 vor dem ostfränkischen Teilreich als der politischen Basis des späteren deutschen Reiches, ja selbst vor der Bildung des karolingischen Großreiches und der in seinem Verband sich vollziehenden Umwandlung der wanderzeitlichen gentes zu größeren Verbänden gab es das germanische (also deutsche) Volk, dessen »Lebensweise und Charakter«87' man beschreiben konnte, beginnend mit der Feststellung, daß »die Deutschen (sc. der taciteischen Zeit) nicht rohe Wilde« gewesen seien88'. Das ist die klassische Abwehrposition gegenüber der antiken Ethnographie, mit der sich bereits die deutschen Humanisten zu befassen hatten, als sie in der Auseinandersetzung mit Enea Silvio de'Piccolomini die schlichten Germanen für sich entdeckten89'. Nicht als Außenseiter bemühte sich 1861 der Breslauer Professor Heinrich Rückert um den Nachweis, daß es schon zur Zeit des Augustus, dessen Ziel »einer vollkommenen Unterwerfung des ganzen Deutschland« den dafür notwendigen äußeren Anlaß geboten habe, zur Ausbildung eines starken Nationalbewußtseins gekommen sei90'. Bei allen diesen Äußerungen handelt es sich um zeitgebundene, subjektiv redliche Äußerungen, denen mit Ideologiekritik nicht beizukommen ist, die naturgemäß aber kaum noch wissenschaftlichen Erkenntniswert haben. Sie wirkten freilich, gerade mit ihrer nationalprogrammatischen Ausrichtung, vorbildhaft und stehen auch sonst, bis in die jüngste Zeit, in Europa nicht vereinzelt da. Bei seiner Generalabrechnung mit der französischen Historiographie des romantischen Liberalismus tadelte Fustel de Coulanges 1872, in Reaktion auf den verlorenen Krieg, deren innerliche Entwurzelung durch universalistische Tendenzen und verwies auf die deutsche Geschichtswissenschaft mit ihrem Ideal der Vaterlandsverehrung: Ihr sei die Forschung nicht Zweck, sondern Mittel. Sein Gewährsmann war Giesebrecht mit der Forderung, daß die Geschichstwissenschaft nicht kosmopolitisch, sondern national zu sein habe91'. Die Verbindung politischer Ziele und nationalistischer Wunschvorstellungen mit einer sich methodisch modernisierenden Geschichtswissenschaft findet sich in Polen seit dem Ende 317ff. und .besonders K. von See, Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Franzosischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Frankfurt am Main 1975. Gegen die Gleichsetzung der Germanen mit den Deutschen mußte sich noch J. Haller, Die Epochen der deutschen Geschichte. München 1959 (zuerst 1923), 17 wenden, fiel aber seinerseits in eine Fehlbeurteilung: »Alle Deutschen sind Germanen, aber nicht alle Germanen sind Deutsche«. Die Elbslawen wurden dabei ebenso vergessen wie die Romanen im Rhein- und Moselraum. 87) Waitz (wie Anm. 85) Verf. 1, 32 (Überschrift des 2. Kapitels). 88) Ebd. XIII (Inhaltsverzeichnis). 89) Ausgangspunkt war die Schrift De ritu, situ, moribus et conditione Germaniae des Enea Silvio de'Piccolomini, (Hrsg. v. G. Paparelli, Rom 1949.) Über die Wirkung auf den deutschen Humanismus vgl. G.Paparelli, Enea Silvio Piccolomini. (Biblioteca di cultura moderna, Bd. 481.) Bari 1950, bes. 146 ff. 90) H.Rückert, Deutsches Nationalbewußtsein und Stammesgefühl im Mittelalter: Raumers Hist. Taschenbuch, IV. Folge, Bd. 2,1861, 337-404; hier 342. Vorsichtiger, aber in die gleiche Richtung zielend, Waitz, Gründung (wie Anm. 85): »... ein höheres politisches Bewußtsein unter den Deutschen .,., das vielleicht erst im Gegensatz, im Kampfe gegen die Römer erweckt wurde, ...« 91) Stadler (wie Anm. 82) 334. Der universitätshistorischc Hintergrund sehr gut bei W. R. Keylor, Academy and Community. The Foundation of the French Historical Profession. Cambridge, Mass. 1975. 32 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 33 des Ersten Weltkrieges92'; auf die besonderen Bedingungen der Geschichtswissenschaft in den anderen osteuropäischen Ländern ist generell zu achten93'. In Deutschland ist aus dieser Vorstellungswelt das Volk als historische Potenz geblieben, deren Korrelation zum Reich immer wieder diskutiert wird, ohne daß die Priorität des einen vor dem andern entschieden und ein klares Beziehungsgefüge zu anderen Faktoren des historischen Lebens hergestellt worden wäre. Walter Schlesinger setzte sich vor fast dreißig Jahren mit Heinrich von Srbik auseinander, der die Ansicht vertreten hatte, daß es auch in der staatlichen Zersplitterung die höhere kulturelle Einheit des Volkes gäbe, die Einheit des deutschen Volkes also der des deutschen Staates überzuordnen sei. Demgegenüber wies Schlesinger darauf hin, daß Kultur und Volk sich keineswegs ohne weiteres decken und daß, wie Niederländer, Schweizer und Österreicher durch ihr Beispiel lehren, staatliche Abtrennung ethnische Konsequenzen haben kann94'. Politische Geschichte, so dürfen wir hinzufügen, kann von Kultur im übrigen nur der trennen, dem Politik und Staat nicht Bestandteile der Kultur sind, eine Auffassung, die spätestens seit Jacob Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte Anstoß erregen muß und im Zeitalter der Strukturgeschichte vollends überholt ist. Ausdrücklich lehnte Schlesinger es ab, »die Völker als die eigentlichen Träger der Geschichte hinzustellen und darzustellen, wie dies seit den Tagen Cassiodors, Isidors, Bedas, des sogenannten Fredegar und ihrer Zeitgenossen immer wieder und mit undiskutierter Selbstverständlichkeit geschehen« sei; 92) H. Ludat, Deutsch-slavische Frühzeit und modernes polnisches Geschichtsbewußtsein. Köln 1969, 249ff. Dort auch Schilderung des Wandlungsprozesses, der im Zuge einer Überwindung »bürgerlich-nationalistischer« Geschichtskonzeptionen durch den historischen Materialismus seit 1950 einsetzte. 93) »In ganz Osteuropa hielten die kleinen Völker den Nationalstaat für die Lösung aller ihrer Probleme, und zwar als modernen Staat, wie ihn die Großmächte vorexerzierten. Zweifel daran waren nicht erlaubt und mit dem Ausschluß aus der werdenden Nation bedroht.« G. Stökl, Die kleinen Völker und die Geschichte: HZ 212, 1971, 19-40; hier 29. Solche Ausbürgerungen haben auch in der deutschen wissenschaftlichen Diskussion stattgefunden: »Wer diesen Mann (sc. Jakob Grimm; J. E.) nicht liebt und sein Werk, die deutsche Altertumswissenschaft, nicht bewundert, der steht in wesentlichen Stücken außerhalb der nationalen Gemeinschaft.« A.Dove, Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens: SB Heidelberger Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 1916, 8. Heidelberg 1916, 4. 94) Schlesinger, Grundlegung (wie Anm. 67) 245 ff. Daß Nationen auch durch Verbindung höchst unterschiedlicher ethnischer Gruppen entstehen können, zeigte bereits A. Kirchhofe, Zur Verständigung über die Begriffe Nation und Nationalität. Halle 1905, 11 ff., lehnte die Auffassung vom Volk »als eine deszendenzmäßig verbundene Einheit« (13) ab und stieß mit klar interpretierten, von dogmatischer Borniertheit unbehindert gesammelten Beobachtungen weit vor. Die Bevölkerungsunterschiede beiderseits der heutigen niederländisch/deutschen Grenze erklären sich ausschließlich historisch: »Die Schädelmaße sind die früheren geblieben und weisen auf die Verwandtschaftszusammenhänge bis zu den entlegensten Zeiten, aber der Charakter einer Nation erschöpft sich nicht im prozentischen Katalog der Lang- und Rundköpfe. Die Niederländer erweisen es aufs deutlichste, wie der Nationaltypus, vor allem der geistigkulturelle, machtvoll beherrscht wird von Landesnatur und geschichtlichem Erlebnis. Der Gesamttypus erscheint uns demnach nicht als das bloße Vermächtnis der Urerzeuger der Nation, vielmehr als ein im Laufe der Zeit erworbenes Erbgut einer langen Geschlechterfolge.« (20f.) er forderte stattdessen, zu fragen, »was denn ein jedes solches Volk als Träger eines geschichtlichen Prozesses eigentlich sei«95'. Hier beginnen freilich die Schwierigkeiten, weil die supragentilen Großverbände des Mittelalters in ihren Aufbauprinzipien bisher wissenschaftlich nicht genau beschrieben sind. »Die Erörterung«, so nochmals Schlesinger, »bleibt im Negativen stecken, wir sehen sehr deutlich was nicht ist, obwohl mit Händen zu greifen ist, daß eine neue Wir-Gruppe da ist.«96' Der Wunsch nach Klarheit auf diesem Gebiete hat, weil der Name Teutonia für die Gesamtheit der deutschen Stämme damals faßbar wird, dem 10. Jahrhundert den Charakter einer Schlüsselzeit verliehen, zumal da die Entstehung des Reiches über alle Periodisierungsde-batten hinweg mit ihr verknüpft ist. Das war nur zum geringsten Teil eine Folge der Suche nach »Anfängen«, sondern hat objektive Gründe, weil in diesem Jahrhundert als Nachfolger des karolingischen Imperiums Reiche entstanden sind, als deren Fortsetzung sich Deutschland, Frankreich und Italien mit Recht empfinden können. Der konstitutive Charakter des 10. Jahrhunderts für den Gang der europäischen Geschichte sowie die Bedeutung der damals im helleren Licht der Überlieferung erstmalig faßbaren dynastisch geprägten Staatsbildungen für die Entfaltung der europäischen Nationen reicht aber weit über die drei genannten Länder hinaus und wurde von Herbert Ludat mit Blick auf die polnische und tschechoslowakische Forschung der letzten Jahrzehnte hervorgehoben'7'. Besteht in dieser Hinsicht Übereinstimmung, so blieb doch umstritten, ob die Vereinigung der Sachsen, Franken, Bayern und Alemannen in einem Reich vorwiegend politische oder vorwiegend ethnische Gründe hatte, ob mit anderen Worten das Reich die Entstehung des deutschen Volkes ausgelöst oder ob eine bereits weit fortgeschrittene deutsche Ethnogenese zur Reichsbildung gedrängt hat. Johannes Haller sah im deutschen Volk »keine natürliche, sondern eine geschichtlich gewordene Einheit«98', ließ infolgedessen die deutsche Geschichte mit der Vereinigung der Stämme in einem vom fränkischen gelösten Reich beginnen und fand im Jahre 911 jenen Prozeß in Gang gesetzt, der zur Entstehung des deutschen Volkes geführt hat. Eine Inkonsequenz seiner Argumentation besteht freilich darin, daß er zwar das deutsche Volk als Produkt eines politischen Ablaufs ansprach, eine entsprechende Priorität des Politischen aber 95) Schlesinger, Grundlegung (wie Anm. 67) 247. 96) Ebd. 260. Dort auch das deutsche Volk als »ein geschichtliches Gebilde von sehr großer Festigkeit«, »ein historisches Faktum, ein Verband von heute mehr als tausendjähriger Dauer«; das berührt sich in mancher Hinsicht mit der soziologischen Definition bei E.Francis, Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie. Berlin 1965, 54: Volk ist »eine jede dauerhafte, durch ein gemeinsames kulturelles Erbe gekennzeichnete, zahlreiche Verwandtschaftszusammenhänge zu einer unterscheidbaren historischen Einheit zusammenfassende Gesamtgesellschaft.« Francis wies aber darauf hin, daß der heuristische Wert des so definierten Begriffs sich empirisch noch erweisen muß. 97) H. Ludat, An Elbe und Oder um das Jahr 1000. Skizzen zur Politik des Ottonenreiches und der slawischen Mächte in Mitteleuropa. Köln 1971, 97. Zur Bedeutung des 10. Jh.s für sein Thema F. Graus, Die Entstehung der mittelalterlichen Staaten im Mitteleuropa: Historica 10, 1965, 5-65. 98) Haller (wie Anm. 86) 18. 34 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 35 für die Stammesbildung nicbt formulierte, wenngleich sein Hinweis auf die Bezeichnung der Stammesgebiete als regna^ das nahelegte. Hallers Formulierung »Die Stämme sind älter als das Volk, Herzogtum und Herzog stehen fester als Reich und König. Jene sind das Ursprüngliche, diese das Neue, das sich erst einleben muß«100» hat Steinbach widersprochen und seinerseits »politisches Sonderbewußtsein und sehr reale politische Sonderinteressen« für das Entstehen der von ihm so genannten »Stammesstaaten« verantwortlich gemacht101'. Hier liegt eines der schwierigsten Probleme frühmittelalterlicher Verfassungsgeschichte, dessen Lösung bis heute nicht gelungen, von der Nationenforschung aber zu leisten ist: Auf welche Weise sind die mittelalterlichen, nachgentilizischen Verbände entstanden, für die gelegentlich die Bezeichnung »Großvölker« verwendet wird102', offenbar eine Zwischenstufe , zwischen gentes und Nationen ? Die Frage ist deshalb zentral, weil sie mit der nach Priorität von i Reich oder Volk verbunden und gelegentlich auch schon beantwortet wurde: »Der Grund für i diese Absonderung (sc. vom fränkischen Großreich in den Etappen 887, 911, 919) ist die ! werdende Einheit des deutschen Volkes, die die gentes ultra Rhenum in einem nur sehr i allmählich und bruchstückhaft ins Bewußtsein der Zeitgenossen tretenden Prozeß zusammen-! faßt. Das Primäre ist nicht das deutsche Reich, sondern das deutsche Volk.«103' Dieses deutsche \ Volk hätte seine Solidarität als supragentiler Verband im Kontrastbewußtsein gegen die \ Welschen im Westen und Süden, gegen die Wenden im Osten gefunden. »Grundlegend für das I Kontrastbewußtsein scheint der Unterschied der Sprache gewesen zu sein.«104' Ist es aber S wahrscheinlich, daß ein solcher Verband aus dem Kontrastbewußtsein gegen Anderssprachige I entsteht und sich anschließend als politisch handlungsfähig, und zwar langfristig handlungsfähig, • erweist? Die Einheit des erstmals in den Fuldaer Annalen als regnum orientalium Francorum \ genannten105' ostfränkischen Reiches läßt sich ebenso plausibel als politisches Programm I Ludwigs »des Deutschen« verstehen106' und entsprechend bewerten: »Die germanischen gentes und nationes - so wurden die Franken und die Thüringer, die Alemannen und die Bayern sowie 99) Ebd. 22. 100) Ebd. 23. 101) F. Steinbach, Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte. (Schriften d. Inst. f. Grenz- u. Auslandsdeutschtum an d. Universität Marburg, Bd. 5) Jena 1926, 3. 102) Z.B. von Schlesinger, Grundlegung (wie Anm.67) 251. 103) Ebd. 284. 104) Loc.cit. 105) Annales Fuldenses (MGH SS rer. Germ.) 29 zu 838. 106) Eggert (wie Anm. 29) 18 ff. und 330 ff. Dieser Gedanke findet sich schon bei Waitz, Gründung (wie Anm. 85) 18, wenn es vom deutschen Reiche heißt: »Ludwig hat es begründet, der Verduner Vertrag hat es in die Geschichte eingeführt.« Folgerichtig war für Waitz die Wahl Arnulfs »nicht, wie andere wollen, als der Anfang eines einigen deutschen Reichs zu betrachten, aber wohl ist sie ein Beweis, ja ein Resultat davon, dass der Begriff eines solchen sich gebildet und in dem Bewusstsein der Nation Wurzel geschlagen hatte« (21). Waitz schrieb dies als Kieler Universitätsprogramm zur »1000jährigen Gedächtnisfeier der Gründung des deutschen Reichs am 10. August 1843«. Die Stimme der »Anderen« klang noch ein Jahrhundert später bei M. Lintzel, Die Anfänge des Deutschen Reiches. Über den Vertrag von Verdun und die Erhebung Arnulfs von Kärnten. München 1942, 15f., mit der Behauptung durch, »... daß in dem Vertrag von 843 die Friesen und die Sachsen von den zeitgenössischen Quellen bezeichnet- waren eigenständige ; geschichtliche Größen. Sie bildeten zusammen kein Volk, auch wenn sie einer, der germani- schen. Sprachfamilie angehörten und sprachlich sowie ethnisch verwandt waren.«107' Die ganze Problematik des Volksbegriffs zeigt sich dann, wenn er als terminus technicus ! angewandt wird: »Die beiden genannten (sc. im Bonner Vertrag) Gruppen der Franá sind ... das deutsche und das französische Volk, sie sind identisch mit den teutones Fr Ana und den Utim Franci des 11. Jahrhunderts, aber auch mitden Franci australes und Franci inferiores, die die Annales Vedastini schon zu 887 unterscheiden, wobei völlig klar ist, daß mit dem ersten Ausdruck alle ostrheinischen Stämme gemeint sind, die Arnulf erhoben, mit dem zweiten aber die Bewohner Frankreichs, von denen ausdrücklich gesagt wird, sie seien inter se divisi, deren Einheit als etwas Seinsollendes also ebenfalls vorausgesetzt wird.«108' Die Franci der Annales Vedastini bewohnten das Land nördlich der Seine und westlich der Maas, sie wählten den König und teilten das Reich, sie waren der Adel, dessen Repräsentanten Karl III. 921 zum Abschluß des Bonner Vertrages begleitet haben10". Man wird sie schwerlich als französisches Volk bezeichnen dürfen, und gewiß verbietet sich die Parallelsetzung zum deutschen Volk, wenn man diesem zugleich eine ganz andere historische Qualität unterstellt, nämlich die einer übergreifenden Einheit der Stämme. ; Neuerdings sind Versuche gemacht worden, die Erforschung ethnogenetischer Prozesse vom romantischen und emotionalen Ballast weitgehend zu befreien. František Graus hat vorgeschlagen, »das Wort >Volk< zur gesamthaften Bezeichnung von Gruppen (zu verwenden), die auf einem bestimmten Gebiet siedeln, eine gemeinsame Sprache sprechen und sich selbst mit einem bestimmten Namen bezeichnen«110'. Wollen wir dies für eine Untersuchung der deut- ŕ sehen Nationsbildung im Mittelalter fruchtbar machen, so müssen wir zuvor klären, welche Ansprüche an den quellenmäßigen Nachweis einer ausreichenden Verbreitung der Selbstbezeichnung zu stellen sind und solche Bedingungen auch für die Sprache formulieren. Erst dann ließe sich feststellen, welcher Befund eine wissenschaftlich begründete Periodisierung im s Hinblick auf Entstehung und historische Wirksamkeit des deutschen Volkes erlaubt. Darüberhinaus lehren aber die am französischen Beispiel gemachten Erfahrungen, daß mittelalterliche Nationsbildung auch ohne ständigen Bezug auf einen entsprechenden Volkskörper verstanden werden kann, denn sie hat sich weitgehend ohne diesen Bezug vollzogen. I Meinte Paul Kirn noch, daß in Frankreich die Volkwerdung vorausgegangen sei und den Einheitsstaat bei seiner Ausbildung unterstützt habe111', so wissen wir heute, daß die Ausdeh- tatsächlich der Wille des deutschen Volkes zur Selbständigkeit zum Durchbruch gekommen ist, und daß dieser Wille seine endgültige staatsrechtliche Realisierung mit der Erhebung Arnulfs gefunden hat«. I 107) Müller-Mertens (wie Anm. 60) 320. f 108) Schlesinger, Grundlegung (wie Anm. 67) 270. 109) Ehlers, Anfänge (wie Anm.25) 27ff. Über die Franci des 10. und ll.Jh.s als »Nordfranzosen zwischen Maas, Loire und Ozean« W. Kienast, Der Herzogstitel in Frankreich und Deutschland. München 1968, 11. i 110) Graus (wie Anm. 7) 13. f 111) Kirn (wie Anm. 55) 75. 36 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 37 nung des Sanktionsbereiches der französischen Monarchie auf ihren seit Karl dem Kahlen behaupteten Legitimationsbereich die französische Ethnogenese beherrscht und nach sich gezogen hat. Diese mittelalterliche Nation war ein politischer Verband, dessen Integration jenseits der Machtstruktur sich in dem Maße entwickelte, in dem er bereit und fähig war, bestimmte Elemente als verbindliche Wertvorstellungen zu akzeptieren. Von diesem Standort aus sollte die von Helmut Beumann112' noch als offen bezeichnete j Frage nach Priorität der politischen vor der nationalen Einheit aufgegriffen und nicht nur | zeitlich, sondern auch qualitativ verstanden werden. Politische Einheit im Sinne von »ganz > Frankreich« ging auch dem französischen Nationsbewußtsein nicht voraus, wohl aber gab es I unter seinen konstituierenden Elementen eine klare Dominanz des Politischen (karolingische ; Tradition; Abgrenzung gegenüber dem Imperium; oberlehnsherrlicher Anspruch des Königs . im Gesamtgebiet des ehemaligen Westreiches; politische Theologie; politisch-traditionale | Ausrichtung einer königsnahen Geschichtsschreibung; Bildung der politisch-geographischen \ Terminologie nicht nach ethnischen, sondern nach Kategorien des Rechts und der Verwal- [ tung), dem insofern der Rang einer höheren Qualität zukommt. Das gilt auch für die j deutsche Geschichte, denn es lassen sich kaum Argumente für die Ansicht beibringen, daß j zu Beginn des 10.Jahrhunderts, zur Zeit Konrads I., die deutsche Ethnogenese so weit j vorangekommen war, daß es gar keine andere politische Möglichkeit als den Fortbestand des j Reiches trotz seiner offensichtlichen Krise gegeben hätte. Es bedurfte der ottonischen j Reichspolitik, um dem werdenden Reichs- und Volksbewußtsein einen Rahmen, die Mög- [ lichkeit zum Weiterbestehen und zur Ausformung zu geben. Erst mit der »Hausordnung« ; Heinrichs I. und ihrer Anerkennung durch die Großen des Reiches wurde eine Rückbil- f dungsmöglichkeit ausgeschlossen113', damals ist der Unteilbarkeitsgedanke zur politischen j Maxime einer qualifizierten Mehrheit vorgetrieben worden, aber eben nicht als Krönung { eines völkischen Reifeprozesses, sondern als »einen geistigen Erkenntnisvorgang bei den J führenden Großen über das Wesen und die Bedeutung der von ihnen aufgebauten Herr- j Schaftsstellungen«114' müssen wir ihn beurteilen; nicht als ein ethnisches Erfordernis, son- • dem als rationales Prinzip, das eine mindere Schätzung des älteren Gedankens vom sog. J Geblütsrecht voraussetzt. Das Kaisertum Ottos des Großen mit seiner integrierenden Folge- * Wirkung brachte dann einen weiteren entscheidenden Schub, und insofern hatte Otto von j Freising recht, wenn er in seiner bekannten Reflexion über das Ende des fränkischen und j 112) H.Beumann, Die Bedeutung des Kaisertums für die Entstehung der deutschen Nation im Spiegel t der Bezeichnungen von Reich und Herrscher: Aspekte (wie Anm.22) 317-365; hier 322. j 113) Zur Hausordnung K. Schmid, Die Thronfolge Ottos des Großen: Königswahl und Thronfolge in f ottonisch-frühdeutscher Zeit. Hrsg. v. E. Hlawitschka. (Wege d. Forschung, Bd. 178.) Darmstadt 1971, 417-508; hier 439ff. 114) E. Hlawitschka, Lotharingien und das Reich an der Schwelle der deutschen Geschichte. (Schriften d. MGH, Bd. 21.) Stuttgart 1968, 219. Die generelle Bedeutung des Prinzips der Unteilbarkeit für die Nationsbildung schon bei G. Tellenbach, Die Unteilbarkeit des Reiches. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte Deutschlands und Frankreichs: Die Entstehung des Deutschen Reiches. Hrsg. v. i H. Kampf. (Wege d. Forschung, Bd. 1.) Darmstadt 1955, 110-134. f den Be ginn des deutschen Reiches die Caesur ausdrücklich nicht mit der Königswahl Heinrichs I., sondern mit dem Kaisertum des Sohnes eintreten sah115'. Es gibt allerdings in dem phasenversetzt ablaufenden Gang von der Staats- zur Nationsbildung eine offenbar sehr kräftig wirkende Interdependenz, durch die der entstehenden Nation ihr politischer Rahmen gleichsam von innen her stabilisiert werden kann. Die Nation übersteht staatlichen Niedergang mindestens für eine gewisse Zeit dann, wenn traditionale Substanz schon vorhanden ist116', und in mancher Hinsicht scheint staatlich-politische Schwäche sogar Voraussetzung einer Theoriebildung zu sein, wie sie in der Frühzeit der kapetingischen Monarchie erkennbar ist117'. Die Wirkung politischer Rahmenbedingungen auf den ethnogenetischen Prozeß ist in Deutschland vielfältig nachzuweisen, nicht nur im Osten des Reiches bei den Elbslawen, sondern auch im Westen118'. Methodische Konsequenz aus der Einsicht in die Priorität des Politischen bei der Nationsbildung und aus der Feststellung, daß die vieldeutige Rede vom »deutschen Volk« sich nicht wissenschaftlich präzisieren läßt, ist der Vorschlag, für die Nationenforschung auf den Volksbegriff so weit wie möglich zu verzichten. Untersuchungen zur Entstehung der deutschen Nation des Mittelalters müssen von der Frage nach dem Entstehen des deutschen Volkes abgetrennt werden, weil es nicht sachgemäß ist, nach dem Schema des 19. Jahrhunderts ein deutsches Volk vorauszusetzen, das sich sein Reich geschaffen hätte. Das Volk, so zeigen es jedenfalls alle bisher gründlich untersuchten ethnogenetischen Prozesse, war offenbar mit der politischen Formation in der Weise verbunden, daß seine Bildung der des Reiches folgte. Die 115) Otto von Freising, Chronica sive História de duabus civitatibus (MGH SS rer. Germ.) 277 VI.17: Cuius (sc. Heinrichs I.) filius Otto, quia iam impérium a Longobardis usurpatum reduxit ad Teutonicos orientales Francos, forsan dictus est primus rex Teutonicorum, non quod primus apud Teutonicos regnaverit, sed quod primus post eos, qui a Karolo Karoli vel Karolingi, skut et a Meroveo Merovingi, dicti sunt, ex alio, id est Saxonum, sanguine natus impérium ad Teutonicos Francos revocaverit. Für diese Sicht hatte der Historiograph eine oft übersehene heilsgeschichtliche Begründung: Vide regnum Teutonicorum cum regno Francorum affine et quodammodo cognatumprincipium habere. Ibiprimus Karalus sine regis nomine regis honorem gerebat. Hic Magnus Otto, Saxonum dux, regibus adhuc ex Stirpe Karoli manentibus regni summam administrabat. Illius filius Pippinus non solum re, sed et nomine rex cepit esse et dici. Huius simili modo filius Heinricus regis nomine meruit honorári. Illius filius Karolus Magnus non solum regnum, sed et impérium capto Desiderio primus obtinuit ex Francis. Istius filius Otto Magnuspost mukös triumph os primus ex Teutonias post Karolos capto Berengario Romanis imperavit. Ebd. 286f. VI.24. 116) Das zeigt Frankreich im Hundertjährigen Krieg. Vgl. J. Krynen, Ideal du prince et pouvoir royal en France ä la fin du moyen äge (1380-1440). Etude de la littérature politique du temps. Paris 1981. R. Cazelles, Société politique, noblesse et couronne sous Jean lc Bon et Charles V. (Mémoires et documents, publiés par la Société de ťÉcole des chartes, Bd. 28.) Genf 1982. 117) Dazu demnächst J. Ehlers, La monarchie capétienne et la genese de la nation franchise: Pouvoirs et libertés. Les choix qui ont crée la France (X^-XIE™ siěcles). Hrsg. v. É. Magnou-Nortier. 118) »Daß die Rheinlande, die Eifel, die Mosellande bis hinauf nach Trier heute deutsche Sprache und Art bewahrt haben, dafür hat HeinrichI. wesentliche Voraussetzungen geschaffen ...« Hlawitschka (wie Anm. 1)4) 4. Zur Assimilation der Slawen im Reichsverband: Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12.Jahrhundert. Hrsg. v. J. Herrmann, Berlin 1972 , 270ff. und 376ff. 38 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 39 Bedingungen einer solchen Reichsbildung haben auf die Ethnogenese gewirkt und in Europa fundamentale Unterschiede entstehen lassen, deren Grundstruktur Reinhard Wenskus schon für die frühen gentes beschrieben hat: »Wenn mehrere in ihrem Bestand und Selbstbewußtsein ungebrochene Traditionsverbände sich zu gemeinsamem Handeln zusammenschließen, entsteht ... selten ein neuer Stamm. Anschlußbewegungen sind wesentlich bedeutsamer als Zusammenschlußbewegungen.«11'' Am Beginn der deutschen Geschichte steht ein solcher Zusammenschluß mächtiger Traditionsverbände, während sich Frankreich aus einer Folge von Anschlüssen bildete. Die Integration eroberter Räume in den Gesamtverband der Monarchie ließ mit dieser Frankreich gleichsam »lebend sich entwickeln«, während das deutsche Reich von Anfang an als Großmacht existierte und den neuen Stamm der Teutonia, das deutsche Volk, als ethnisches Komplement nicht vollständig ausbilden konnte120'. Für eine Untersuchung der Problematik deutscher Nationsbildung im Mittelalter hat sich der Volksbegriff deshalb als wenig förderlich erwiesen. Durch seine begriffsgeschichtliche Bedingtheit lenkte er die Fragestellung immer wieder auf Auseinandersetzungen mit postrevolutionären, romantischen und aus der besonderen deutschen Lage der »verspäteten Nation« erwachsene Konzeptionen121'. Angesichts der Schichtenspezifik auch der deutschen Nation des 119) Wenskus (wie Anm.49) 76. l 120) Eine gewisse Ähnlichkeit mit Frankreich hat Polen in der Frühphase seiner Nationsbildung (11./ 12.Jh.): »Vereinigung durch Unterwerfung oder ... andere Art der Abhängigmachung eines Teils der westslawischen Stämme durch den Stamm der Polanen und die an deren Spitze stehende Dynastie der | Piasten. Anfänglich war die Dynastie das einzige verbindende Element dieser Gruppe von Stämmen: erst im ^ 11. Jahrhundert wurde der Begriff >Poloni<, der ursprünglich den Stamm der... Polanen bedeutete, auf die ganze Bevölkerung des Staates erweitert.« Zientara (wie Anm. 7) 38. Vgl. den Vortrag von Klaus Zemack über »Probleme der Nationsbildung im mittelalterlichen Polen«: Entstehung (wie Anm. 21) 2,56-66; hier bes. 58 ff. Der Name Polonia für den Herrschaftsbereich Boleslaws Chrobry erstmals Vita s. Adalberti (MGH SS 4) 593 c. 25 und auf Münzen Boleslaws (Nachweise bei Ludat [wie Anm. 97] 159 Anm. 417). ; Übereinstimmung besteht also in den wesentlichen Zügen: 1. Anschlußbewegung statt Zusammenschluß, 2. Verbindung durch die Dynastie, 3. Namengebung nach dem Stamm, der die Dynastie stellte und den ; Anschluß bewirkte. | 121) In Verbindung mit dem Glauben an die fundamentale Bedeutung einer geschichtlich wirkenden I Volkskraft (die in Wahrheit nur imaginiert war und im wesentlichen auf voluntaristischen Mißverständnissen beruhte) führte ein so bestimmter Gebrauch von Wissenschaft endlich dahin, daß von deutschen Universitätskathedern der Turnvater Jahn zum Zeugen gegen die europäischen Traditionen aufgerufen wurde, von denen auch Deutschland lebte: Vgl. nur G.Fricke, Die Entdeckung des Volkes in der : deutschen Geistesgeschichte vom Sturm und Drang bis zur Romantik. Rede, gehalten bei der Universitätsfeier am 30. Januar 1937, dem 4. Jahrestag der Begründung des Dritten Reichs. (Kieler Universitätsreden, : H. 3.) Hamburg 1937. Heute droht ein diffuser Begriff der »Gesellschaft« den des Volkes abzulösen und •; dem 10. Jh. einen Bezug zur Gegenwart jedenfalls insoweit zu vindizieren, als seine eigene Destruktion das j Neue gefördert habe: »Nicht mehr als Symbol für Deutschlands frühe Macht und Größe treten uns heute J die ersten Ottonen entgegen, sondern eher als ferne Repräsentanten einer archaischen Gesellschaft, deren I Überwindung ein erster Schritt auf dem Weg zur Moderne war.« G. Althoff/H. Keller, Heinrich I. und j Otto der Große. Neubeginn auf karolingischem Erbe. 2 Tie. (Persönlichkeit und Geschichte, I Bd. 122-125.) Göttingen 1985, 14. ; Mittelalters sind heuristische Nachteile einer methodischen und terminologischen Beschränkung nicht zu erwarten. * Damit treten andererseits Gesichtspunkte deutlicher hervor, die sich als wesentliche Kennzeichen eines mittelalterlichen Nationsbildungsprozesses erwiesen haben und es dürfte aussichtsreich sein, sie auf unser Thema anzuwenden. Ich kann sie hier freilich nur überblicksweise anführen und erhoffte Resultate kaum in den Grundzügen beschreiben. In erster Linie ist ein mittelalterliches deutsches Geschichtsbewußtsein aufzusuchen, das eine gemeinsame Vergangenheit nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch als ein Reservoir verpflichtender Normen für die Gegenwart begriffen hat. In seinen Rahmen gehört die karolingische Tradition, deren Wirkung durch neuere ideengeschichtliche Forschungen gut dokumentiert122' und auch im politisch-institutionellen Erbe klar erkennbar ist. Sie hat bekanntlich mit ihrer für das sächsische Königtum legitimierenden Kraft auch die Bezeichnung des Reiches als regnum Francorum bestimmt, ist in der Aachener Krönung Ottos des Großen 936 sinnfällig geworden123' und führte mit der Wendung populus Francorum atque Saxonum einen bei Einhard geäußerten Gedanken aus dem Aachener Hofkreis Karls des Großen weiter124'. Schon durch ihr bloßes Vorhandensein beweist diese Tradition, daß die gentes im 122) R, Folz, Le Souvenir et la Legende de Charlemagne dans l'Empire germanique medieval. (Publ. de l'Universite de Dijon, Bd. 7.) Paris 1950. Ders., Emdes sur le Culte liturgique de Charlemagne dans les eglises de l'Empire. (Publ. de la Faculte de lettres de l'Universite de Strasbourg, Bd. 115.) Paris 1951. Ders., La chancellerie de Frederic I" et la canonisation de Charlemagne: Le Moyen Age 70, 1964, 13-31. P. Lehmann, Das literarische Bild Karls des Großen vornehmlich im lateinischen Schrifttum des Mittelalters; Ders., Erforschung des Mittelalters. Leipzig 1941, 154-207. Ph. A.Becker, Die Heiligsprechung Karls des Großen und die damit zusammenhängenden Fälschungen. (SB Sächsische Akademie d. Wiss., phil.-hist. Kl., Bd. 96,3.) Leipzig 1944/48. E.Meuthen, Karl der Große - Barbarossa - Aachen. Zur Interpretation des Karlsprivilegs für Aachen: Karl der Große. Bd. 4: Das Nachleben. Hrsg. v. W. Braunfels u. P. E. Schramm. Düsseldorf 1967, 54-76. 123) Widukind (wie Anm. 4) 63 ff. 31,1 f. 124) (Saxones) Cbristianae fidei atque religionis sacramenta suseiperent et Francis adunati unus cum eis populus effkerentur. Einhard, Vita Karoli Magni (MGH SS rer. Germ.) 10 c. 7. Ob id (sc. die Christianisierung durch Karl d. Gr.) qui olim socii et amici erant Francorum, iamfratres et quasi una gens ex Christiana fide, veluti modo videmus, facta est. Widukind (wie Anm. 4) 25 1,15. Zur Stelle H. Beumann, Widukind von Korvei. (Abhandlungen über Corveyer Geschichtsschreibung, Bd. 3.) Weimar 1950, 224 ff. Über die geistige Vorgeschichte der Verbindung von Franken und Sachsen, der Theorie des populus Francorum atque Saxonum und ihrer Begründung in der Realität des 9.Jh.sH. Beumann, Unitas ecclesiae - unitas imperii-unitas regni. Von der imperialen Reichseinheitsidee zur Einheit der regna: Nascita dell'Europa ed Europa carolingia: Un'equazione da verificare. (Settimane di studio del centro italiano di studi sull'alto medioevo, Bd.27.) Spoleto 1981, 531-582. Das sog. »methodische Postulat« bei C.Brühl, Die Anfänge der deutschen Geschichte. (SB d. Wiss. Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. 10,5.) Wiesbaden 1972, 5, wonach Deutschland und Frankreich eine parallele Entwicklung genommen haben sollen, weil beide Dekompositionsprodukte des fränkischen Großreiches waren, überfordert allerdings den Aspekt »karolingische Tradition«. 40 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 41 karolingischen Reichsverband eine grundlegende Strukturveränderung erfahren haben. So tief ging sie, daß eine neue Identität sich zu bilden begann, deren klarster Ausdruck eben die Verpflichtung auf das fränkisch-karolingische Vorbild war, das seinerseits schon Produkt einer supragentilen Synthese gewesen ist. Auf die geringe herrschaftliche Verdichtung der Stammesherzogtümer wurde mehrfach hingewiesen, besonders treffend mit der Feststellung, »daß die Zeit der relativen Befreiung vom Königsrecht (sc. in und nach der Verfallsphase des Karolingerreiches) kein dauerhaftes und auf Dauer verbindliches Stammesrecht hervorbrachte, so günstig doch die Verhältnisse dafür zu liegen schienen«125'. Stattdessen blieben die fränkischen Institutionen erhalten, vor allem die Grafschaftsverfassung, und politische Leitgedanken wie der, daß dem Kaisertum eine vereinheitlichende, integrierende Kraft eigen sei im Hinblick auf Gerechtigkeit und den »Wertmaßstab, der anzeigt, ob die Dinge in der rechten Ordnung stehen«126': ... imperiale decus ■.. unum iustitiae moderamen est normaque rectitudinisur>. Bemerkenswerterweise führte die karolingische Tradition im politischen Selbstverständnis des Reiches auch nach der Kaiserkrönung von 962 nicht zu einem Restaurationsprogramm, das die Wiederherstellung des karolingischen Großreiches zum Ziel gehabt hätte, und sie wirkte in mancher Hinsicht sogar hemmend auf die deutsche Nationsbildung, indem sie »die Blicke immer wieder auf die beherrschende Gestalt Karls d. Gr. und damit auf die in ihr verkörperte Reichseinheit«128' mit doch ganz anderem geopolitischen Schwerpunkt zurücklenkte. Die periphere Lage der ostrheinischen Gebiete des karolingischen Großreiches setzte für den historischen Rückbezug auf Karl den Großen immer ein gewisses Maß an Abstraktion und Konstruktion voraus, während in Frankreich die Identifikation des Karlsreiches mit seinem Westteil von 843 seit Richer von Reims gelungen und in ihren einzelnen Stadien zu verfolgen ist12". Bezeichnenderweise konnte Alexander von Roes, der selbst die größten Schwierigkeiten bei der Synthese aller zu seiner Zeit in Deutschland umlaufenden Varianten der fränkischdeutschen Geschichte hatte, die französische Reichstradition nicht in ihrer Eigenart begreifen. Er sah ihre Variabilität nicht als den gelungenen Versuch, unter je verschiedenen Bedingungen Identität des Eigenbewußtseins zu erhalten, sondern beklagte die Unkenntnis jener, die Gallicorum, Germanorum, Francorum et Francigenarum originem et differentkm nescientes fragten, wie der Papst denn zur Zeit Karls des Großen das Römische Reich in Germanos, populum tarn rudern et ineptum habe übertragen können130'. Diese in ihrer Gelehrsamkeit berechtigte Kritik läßt erkennen, daß der deutschen Monarchie des 13. Jahrhunderts jene 125) K. S. Bader, Volk, Stamm, Territorium: Herrschaft und Staat im Mittelalter. Hrsg. v. H. Kämpf. (Wege d. Forschung, Bd. 2.) Darmstadt 1956, 243-283; hier 261. 126) J. Fleckenstein, Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der norma rectitudinis. Bigge/Ruhr 1953, 10. 127) Widukind (wie Anm.4) 100 III, Praefatio an Mathilde. Zur Stelle Beumann (wie Anm. 112) 353ff. Ders., Unitas (wie Anm. 124) 550 ff. 128) Hessler (wie Anm. 6) 134 mit Bezug auf das 9. Jh. 129) Dazu Ehlers, Tradition (wie Anm. 25). 130) Alexander von Roes, Memoriale de Prerogativa imperii Romani (MGH, Dt. MA. Kritische Studientexte, Bd. 4.) 32 c. 14. Zu Verfasserfrage, Verbreitung und Wirkung H. Grundmann, Über die Schriften einfach strukturierte und deshalb populäre Fassung der karolingischen Tradition nicht zur Verfügung stand, die dem kapetingischen Königtum Glanz und Legitimation verlieh. Ein solches Ansehen brauchte das Königtum in seiner Beziehung zu anderen europäischen Mächten und, für die Nationsbildung in erster Linie, gegenüber den anderen Gewalten im eigenen Reich. Aber auch jede Aufnahme eines universalhistorischen Entwurfs brachte die fränkisch-karolingische Tradition in Erinnerung. Für das Spätmittelalter zeigt das Jakob Twinger von i Königshofen mit seiner Darstellung der Translationstheorie, die natürlich unter der Überschrift Warumb daz rieh kam von den Kriechen an die Dütschen"^ entwickelt wurde, denn Daz rieh ist ; sit des grossen Karlen an den Dütschen gewesen^. Seit dem 13. Jahrhundert bemühte man sich I in Bayern um den Nachweis einer karolingischen Deszendenz des Hauses Wittelsbach133' und gab damit kund, daß die Tradition auch auf der Ebene der domini terrae gebraucht wurde. Bei den Landesherren finden sich wesentliche Elemente der Nationsbildung wieder, die im Umkreis des Königtums, anders als in Frankreich, nicht hatten monopolisiert werden können. War die Monarchie auch der zentrale Gedanke mittelalterlicher Staatstheorie, so ist doch kein \ struktureller Unterschied zwischen Herzogs- und Königsherrschaft erkennbar, insofern beide :* auf ein regnum bezogen waren134'. Der Herzog fand freilich bis ins 12. Jahrhundert eine ethnische Basis jeweils schon vor, während der König ihre Ausbildung auf Reichsebene kaum fördern konnte. In karolingischer Zeit wurde der »neue Gedanke eines über mehreren bisher unverbun-\ denen gentes stehenden Königtums« dadurch etabliert, daß den Spitzen dieser Verbände der I Königstitel durch die Franken planvoll und konsequent verweigert wurde135', und programma- des Alexander von Roes: DA 8, 1951,154-237. Vgl. H.Heimpel, Alexander von Roes und das deutsche Selbstbewußtsein des 13. Jahrhunderts: Archiv f. Kulturgesch. 26, 1936, 19-60. j 131) Jakob Twinger von Königshofen, Chronik (Die Chroniken d. dt. Städte, Bd. 8.) 403. I 132) Ebd. 421. 133) J.-M. Moeglin, Les ancetres du prince. Propagande politique et naissance d'une histoirc nationale en Baviere au moyen äge (1180-1500). (Ecole Pratique des Hautes Emdes, IVC Section, Sciences hist. et i philologiques. V: Hautes emdes medievales et modernes, Bd. 54.) Genf 1985, 75ff. 134) Vgl. W. Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte: Ders., Beiträge z. dt. Verfassungsgesch. d. MA. Bd. 1.) Göttingen 1963, 9-52; hier 30ff. I K. F. Werner, La genese des duches en France et en Allemagne: Ders., Vom Frankenreich zur Entfaltung 1 Deutschlands und Frankreichs. Sigmaringen 1984, 278-310. Ders., Les duches »nationaux« d'AUemagne au IXe et au XE siecle: ebd. 311-328. Die Bedeutung des Königtums zeigt auch ein mentalitätsgeschichtli-- eher Ansatz, der von den Herrschersagen ausgeht und belegt, welche typischen Vorstellungen (um Tod, Unsterblichkeit, leistungsbedingten Aufstieg des Königs, über den Anfang der Dynastie) verbreitet waren; ,; F. Graus, Die Herrschersagen des Mittelalters als Geschichtsquelle: Archiv f. Kulturgesch. 51, 1969, r 65-93. Zur Geschichtsschreibung H. Beumann, Die Historiographie des Mittelalters als Quelle für die I Ideengeschichte des Königtums: Ders., Wissenschaft vom Mittelalter. Köln 1972, 201-240. ' 135) R. Wenskus, Die deutschen Stämme im Reich Karls des Großen: Karl der Große, Lebenswerk und j. Nachleben. Bd. 1: Persönlichkeit und Geschichte. Hrsg. v. H.Beumann. Düsseldorf 1965, 178-219; hier 192. 42 joachim ehlers tisch verband später Adalbold von Utrecht die supragentile Einheit der Deutschen ursächlich mit dem Königtum13'', aber stets blieben die Teile neben, ja vor dem Ganzen erkennbar. Rahewin nennt in den Gesta Frederici die naüones der Franken, Sachsen, Schwaben und Bayern, Helmold von Bosau sah anscheinend Zusammenhänge zwischen natio und regio, wobei Sachsen, Westfalen oder auch Holsten eine solche natio sein konnten137'. Der selbstbewußte Adel, von dessen politischer Entscheidung Einheit und Unteilbarkeit des Reiches wesentlich abgehangen hatten, brachte in den Reichsverband sehr verschiedene Interessen ein. Nur ihre angemessene Berücksichtigung konnte sicherstellen, daß dem Reich durch seine Glieder Anerkennung zuteil wurde. So war die Italienpolitik in ihren Anfängen von den Ambitionen der süddeutschen Stämme mitbestimmt worden, und so hatte Heinrich I, sich gegenüber Lothringen und Burgund auf regionale Forderungen eingestellt138>. Politik der Könige und raison d'etre des Reiches müssen deshalb sehr weitgehend als Resultante aus regional bestimmten Einzelkräften und als expansive Synthese verschiedener Ziele, Erwartungen und Konzeptionen verstanden werden. Insofern erhob sich der deutsche König nicht in jeder Hinsicht über den Adel; wenn dem Reich auch jener Zug einer gleichsam auf Vertragsbasis ruhenden Monarchie fehlte, der im Westen seit dem Abkommen von Coulaines wirksam blieb139', so ist doch die Bedeutung des Adels als eines genossenschaftlichen Verbandes in seinem Verhältnis zum Königtum deutlich geworden140' und damit dargetan, wie sich das Reich im Zusammenwirken des Herrschers mit 136) Rex interea iniuriae, quam Teotonicis Itali intulerant, non immemor, a Saxonia discedens in Bavariam venit. ... Lotharienses, Franci et Alemanni obviam venimt, ad ukiscendam iniuriam Teotonicis illatam volmtarii, ... Adalbold von Utrecht, Vita Heinrici II. imperatoris (MGH SS 4) 691 c. 32. Adalbold (um 970-1026) war vermutlich Notar in der Kanzlei Ottos III. (J. Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige. 2 Bde. [Schriften d. MGH, Bd. 16/1,11.] Stuttgart 1959/66; hier 2,101.), wirkte als Kapellan und Notar unter Heinrich II. (ebd. 178) und wurde im Jahre 1010 Bischof von Utrecht (ebd. 212). Er war mithin über sehr lange Zeit in der Reichszentrale tätig und dürfte seine reichspolitische Ansicht an der des Hofes gebildet haben. 137) Otto von Frcising/Rahewin, Gesta Frederici. (Hrsg. v. F.-J. Schmale. Ausgew. Quellen z. dt. Gesch. d. MA, Bd. 17.) 454 111,29. Helmold von Bosau (MGH SS rer. Germ.) 191 ff. 11,98. Dazu Kahl (wie Anm.33) 78 f. Die Wechselwirkung von Raum und Geschichte bei der Stammesbildung hat schon Steinbach (wie Anm. 101) 123 ff. betont. 138) H.Büttner, HeinrichsI. Südwest- und Westpolitik. Konstanz 1964. Zu erinnern ist ferner an die Ungarngefahr, die als exogener Faktor den Zusammenschluß förderte. 139) P.Classen, Die Verträge von Verdun und von Coulaines 843 als politische Grundlagen des westfränkischen Reiches: HZ 196, 1963, 1-35; hier 23ff. Vgl. auch Classens Diskussionsbeitrag zu dem Vortrag von Helmut Beumann auf der Spoletaner Tagung vom April 1979: Beumann, Unitas (wie Anm. 124) 577. 140) W.Störmer, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert. (Monographien z. Gesch. d. MA, Bd. 6/1,11.) Stuttgart 1973, 253ff. Vgl. auch H.Keller, Reichsstruktur und Herrschaftsauffassung in ottonisch-frühsalischer Zeit: Frühma. Studien 16, 1982, 74-128, und K.J.Leyser, Herrschaft und Konflikt. König und Adel im ottonischen Sachsen. (Veröff. d. Max-Planck-Inst. f. Gesch., Bd. 76.) Göttingen 1984. Zur Sicht der Zeitgenossen U. Hoffmann, König, Adel und Reich im Urteil fränkischer und deutscher Historiker des 9. bis 11. Jahrhunderts. Diss. Freiburg 1966. I die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 43 den Großen konstituierte. Neue Lehnsbeziehungen waren in der Auflösungsphase des karolingi-schen Großreiches entstanden und bildeten Grundlagen für neue Machtkomplexe und politische Positionen, wie wir das auch in Frankreich gut verfolgen können141'. Daß ein Großkönig mehrere regna imperial beherrschte, ist zwar ebenfalls schon ein Gedanke der Karolingerzeit142', sein Fortwirken im 10. Jahrhundert hat aber nicht nur die Einheit des Gesamtreiches gefördert und damitindirekt der deutschen Nationsbildung gedient: Erstattete auch dieHerzogtümermit einer staatsrechtlich-föderalen Würde aus, die sie als notwendige Grundbestandteile der Monarchie í erscheinen ließ und damit auch im Innern stärkte143'. Angesichts der Tatsache, daß eine in der Regel zahlenmäßig kleine, um das Königtum gruppierte Trägerschicht das Nationsbewußtsein i hervorbringt und tradiert, sind diese besonderen deutschen Voraussetzungen einer ursprüngli- i chen Interessensynthese von großer Bedeutung im Hinblick auf die dauerhafte Eigenständigkeit í zunächst der Stämme und Herzogtümer, später der Territorien: Wenn das Nationsbewußtsein i sozial differenziert war, eine Sache der Führungsschicht auf Reichsebene, während das Leben der I Masse auch des Adels sich in verhältnismäßig engen Räumen abspielte, mußten die Bedingungen ! für eine deutsche Ethnogenese denkbar schwierig sein144'. Der fundamentale Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich wird im 11. Jahrhundert dahingehend sichtbar, daß in i Deutschland das Reichsbewußtsein sich im Sinne der Fürstenopposition gegen den König äußert, ! während HeinrichIV. und HeinrichV. die Position des imperialen Königtums verteidigen: l Zentrierte sich in Frankreich das Nationsbewußtsein um die Monarchie, so ging es in Deutsch- ! land in die Obhut der Fürsten über145' und konnte vom Deutschland, Reichsitalien und Burgund I gleichermaßen beherrschenden König noch dadurch abgesetzt werden, daß es sich auf den r deutschen Teil des Reiches bezog. Die Papsturkunde des Wormser Konkordats unterschied das 1 Teutonicum regnum von aliis partibus imperül46\ und es war nicht selbstverständlich, »daß die f Vertragspartner diese politische Institution durch deren deutsche Nationalität definierten, daß ! sie im Besitz einer deutschen Nationalitätsvorstellung ein deutsches Reichsgebiet im Rahmen des f Gesamtstaatsgebietes begriffen«147'. Der Dualismus zwischen König und Reich, impérium und Í regnum, Staat und Nation war ausgesprochen, ja die ganze Vielfalt der Bedeutungen trat hervor: j 141) K.F.Werner, Untersuchungen zur Frühzeit des französischen Fürstentums (9.-10.Jahrhundert): I Die Welt als Geschichte 18,1958,256-289; 19, 1959, 146-193; 20,1960, 87-119. Für das Hochmittelalter, l also die Zeit der vollen Auswirkung, Ders. , Königtum und Fürstentum im französichen 12. Jahrhundert: I Probleme des 12. Jahrhunderts. (Vorträge u. Forschungen, Bd. 12.) Sigmaringen 1968, 177-225. i 142) Quellen und Literatur bei W. Kienast, Deutschland und Frankreich in der Kaiserzeit (900-1270). ! 3 Bde. (Monographien z. Gesch. d. MA, Bd. 9/I-III.) Stuttgart 1974/75/75; hier 2,262f. m. Anm. 235 und 3, 712 ff 143) In diesem Sinne Beumann (wie Anm. 112) 358ff. ; 144) Schlesinger (wie Anm. 23) 61. ! 145) Müller-Mertens (wie Anm.5) 87ff., 228ff., 274ff. 1 146) Bester Text noch immer bei A. Hofmeister, Das Wormser Konkordat. Zum Streit um seine i Bedeutung: FS Dietrich Schäfer. Jena 1915, 64-148, 147. (ND Darmstadt 1962.) I 147) E. Müller-Mertens, Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen. Mit j historischen Prolegomena zur Frage Feudalstaat auf deutschem Boden, seit wann deutscher Feudalstaat? (Forschungen z. ma. Gesch., Bd. 25.) Berlin 1980, 65. 44 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 45 Der imperial drei regna beherrschende König war vom rex Teutonkorum zu unterscheiden, der gleichwohl als imperátor futums galt; das deutsche Reich war nur eines von dreien, aber Grundlage für den Erwerb der Kaiserkrone; es war der staatliche Rahmen für die deutsche Nationsbildung, aber sein Herrscher war als König noch für zwei weitere regna, als Kaiser für die Christenheit verantwortlich. Daß die Fürsten auf diese Weise zu tragenden Kräften des deutschen Reiches wurden, ist zwar kein Novum, sondern nur die Verstärkung einer seit der Karolingerzeit wirkenden verfassungsgeschichtlichen Tendenz, aber der Fürstenkonsens galt seit Heinrich V. als Legitimationsargument des Königtums148*. Das Königtum reagierte seit Konrad III. auf die neue Lage durch eigene Territorialpolitik, um ein Gewicht gegen die entstehenden adligen Territorialherrschaften zu bilden149', gab seinen imperialen Anspruch aber'keineswegs auf und ging nicht den Weg zur nationalen Monarchie. Über die daraus resultierende, vielerörterte150' Staatsbildung unterhalb des Reiches und des Königtums wird die Nationenforschung noch zu urteilen haben und der Frage nachgehen müssen, in welchem Maße die Wirklichkeit des Reiches in der alltäglichen Erfahrung vom Dasein des Territorialstaates verdrängt worden ist. Ein wesentlicher Teil der bis zur Gegenwart immer wieder schmerzlich erfahrenen Diskontinuität unserer Geschichte erklärt sich schließlich daraus, daß die Territorien eigene Nationen zwar nur im Ansatz hervorbrachten151', durch ihre bloße Existenz aber die Bildung einer kohärenten 148) G. Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium. Studien zur ideologischen Herrschaftsbegründung der deutschen Zentralgewalt im 11. und 12. Jahrhundert. (Forschungen z. ma. Gesch., Bd. 20.) Berlin 1972, 191 ff. 149) O. Engels, Die Staufer. 3. Aufl. Stuttgart 1984, 43ff. A. Brackmann, Der mittelalterliche Ursprung der Nationalstaaten: SB Preußische Akademie d. Wiss., phil.-hist. Kl. Berlin 1936,128-142; hier 135 ff. sah in der staufischen Hausmacht- und Territorialpolitik eine Parallele zum anglonormannischen Staatswesen und damit innerhalb des Imperiums die Keimzelle eines nach herrscherlichem Eigenrecht, d. h. von der Kirche unabhängig existierenden Herrschaftsverbandes. 150) Vgl. nur die Debatte um die Confoederatio cum prineipibus ecclesiasticis, das Statutum in favorem prineipum und den Mainzer Landfrieden. Zuletzt Engels (wie Anm. 149) 135 ff. und E. Boshof, Reichsfürstenstand und Reichsreform in der Politik Friedrichs IL: Blätter f. dt. LG 122,1986, 41-66. Die ältere Literatur nennt W. Goez, Art. »Fürstenprivilegien Friedrichs IL«: Handwörterb. z. dt. Rechtsgesch. 1, 1971, Sp. 1358-1361. Ferner H. Angermeier, Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter. München 1966, passim. H. Wohlgemuth, Das Urkundenwesen des deutschen Reichshofgerichts 1273-1378. (Quellen u. Forsch, z. höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd.l.) Köln 1973, 15. H. Angermeier, Landfriedenspolitik und Landfriedensgesetzgebung unter den Staufern: Probleme um Friedrichll. Hrsg. v. J.Fleckenstein. (Vorträge u. Forsch., Bd. 16.) Sigmaringen 1974, 167-186. F.Battenberg, Gerichtsschreiberamt und Kanzlei am Reichshofgericht 1235-1451. (Quellen u. Forsch, z. höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd.2.) Köln 1974, 20ff. A.Buschmann, Landfriede und Verfassung. Zur Bedeutung des Mainzer Reichslandfriedens von 1235 als Verfassungsgesetz: FS E. C. Hellbling. Berlin 1981,449 - 472. Ders. , Mainzer Reichslandfriede und Konstitutionen von Melfi: FS R.Gmür. Bielefeld 1983, 369-381. Zur staatlichen Verfestigung der Landesherrschaft D. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. (Forsch, z. Dt. Rechtsgesch., Bd. 11.) Köln 1975. 151) Die sehr weitgehenden Ansätze einer bayerischen Nationsbildung hat auf dem Felde der Historiographie Moeglin (wie Anm. 133) verfolgt. Sie wurden charakteristischerweise im 14. Jh. durch das Kaisertum Ludwigs des Bayern unterbrochen (ebd. 47ff.). j deutschen Nation verhindert haben. Reich, Staat und Nation sind als Größen unterschiedlicher > Wirkkraft nie zur Deckung gekommen und sie haben (was entscheidend ist) ihre je eigene f Geschichte152'. Unter einem eher universalhistorischen Gesichtswinkel mag die Frage nach Ursachen und Auswirkungen des Dualismus von Reich und Territorien mit dem Hinweis auf !: einen gleichsam dialektischen Ablauf relativiert werden153', vergleicht man aber international : synchron, z. B. Deutschland mit Frankreich vom 10. bis zum 15. Jahrhundert, dann zeigt sich ; schnell, daß der zutage tretende Unterschied erklärt werden muß. Vor allem für das Spätmittel- i alter wird die Beziehung von Königtum und Regionalgewalten, von Reich und Territorien I unter dem Gesichtspunkt des Nationsbewußtseins neu gestellt werden müssen, wobei »die alte I querelle allemande über die vermeintliche Zurücksetzung im Rat und Kräftespiel der Völker s und - dem entsprechend - die Überschätzung außenpolitischer, glanzbringender Politik« ■ verstummen sollte154'. Fallen sollte auch die immer noch übermächtige Partikularismusthese, j damit jener im 11 Jahrhundert bereits voll ausgebildete Dualismus von König und Reich stärker I beachtet werden kann, dessen Bedeutung für das Spätmittelalter inzwischen offenkundig ist155'. 152) Das Neben- und Gegeneinanderwirken dieser Trias bei Otto von Bismarck, Erinnerung und Gedanke. Hrsg. v. R. Buchner. (Ausgew. Quellen z. dt. Gesch. d. Neuzeit, Abt. IV, Bd. 8 a.) Darmstadt 1975, lf.: »Jeder deutsche Fürst, der vor dem 30jährigen Kriege dem Kaiser widerstrebte, ärgerte mich; vom Großen Kurfürsten an aber war ich parteiisch genug, antikaiserlich zu urtheilen und natürlich zu finden, daß der siebenjährige Krieg sich vorbereitete. Doch blieb mein deutsches Nationalgefühl so stark, daß ich im Anfang der Universitätszeit zunächst zur Burschenschaft in Beziehung gerieth, welche die Pflege des nationalen Gefühls als ihren Zweck bezeichnete. Aber bei persönlicher Bekanntschaft mit den Mitgliedern derselben mißfiel mir ihre Weigerung, Satisfaktion zu geben, und ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Gesellschaft, bei näherer Bekanntschaft auch die Extravaganz ihrer politischen Auffassungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntniß der vorhandenen, historisch gewordenen Lebensverhältnisse beruhte, von denen ich bei meinen siebzehn Jahren mehr zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte als die meisten jener durchschnitdich älteren Studenten.« Zur Interpretation E. Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer. Berlin 1985, 116ff. 153) Dieses Ziel verfolgte G. Labuda, Tendances d'integration et de desintegration dans le Royaume Teutonique du Xe au XIIF siecles: L'Europe au IXe-XP siecles. Aux origines des Etats nationaux. Actes du colloque international sur les origines des etats europeens aux IXs-XIe siecles. Hrsg. v. T. Manteuffel u. A.Gieysztor. Warschau 1968, 77-91. 154) K. S. Bader, Kaiserliche und ständische Reformgedanken in der Reichsreform des endenden 15. Jahrhunderts : Hist. Jb. 73,1954, 74- 94; hier 76. Der Topos »Schuld der Anderen« trieb immer wieder, oft an unvermuteter Stelle, besonders absurde Urteile hervor, wenn für die Krise des Reiches Ursachen gesucht wurden: »Eine besonders wichtige ist die aus undeutschem Geist erwachsene Revolution, die der Investiturstreit gebracht hat. Er beraubte das Königtum seiner geistlichen Gewalt, half einem reichs- und pflichtvergessenen Partikularismus auf die Beine und rührte in verderblicher Weise an die deutschrechtlichen Grundsätze, die bis dahin bei der Thronfolge und in der deutschen Kirche gegolten hatten.« R.Holtzmann, Geschichte der sächsischen Kaiserzeit. 4.Aufl. München 1961, 194f. 155) »Dem Dualismus von König und Reich muß die ursächliche Verantwortung für die deutsche Sonderentwicklung zugemessen werden, weil durch ihn die monarchische Komponente, die ansonsten für die europäischen staatsbildenden Prozesse so wichtig war, isoliert wurde.« Schubert (wie Anm. 15) 20f. 46 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 47 Bedenkt man dies, so erscheint die neuzeitliche Kritik an der mittelalterlichen Kaiserpolitik als groteske Verkennung der historischen Realität, kommt doch gerade dem Kaisertum von Anfang an starke integrierende Kraft zu. Wie sehr ein frühes Einverständnis damit in Deutschland verbreitet war, zeigt die Tatsache, daß es zeitgenössische Einwände gegen die Kaiserpolitik als solche niemals gegeben hat156'. Das Kaisertum hat den Weg zur Nation nicht erschwert, sondern im Sinne des Grundkonsenses geebnet157'. Freilich legte es die deutsche Nation damit zugleich auf ihre Rolle als Hegemonialmacht fest und schuf eine Bestimmung, die auf Dauer nicht durchzuhalten war. Diese früh angelegte Verbindung von Nation und Hegemonie gehört zu den entscheidenden Spezifika der deutschen Geschichte und des deutschen Nationsbewußtseins (neben der frühen Großmachtbildung durch Zusammenschluß und dem dünnen, in sich widersprüchlichen theoretisch-traditionalen Fundament). In ihr liegt ein wesentlicher Grund für das Scheitern der deutschen Nationalstaatsbildung, und diese Einsicht findet sich ansatzweise auch in zeitgeschichtlichen Analy- Dieser Dualismus setzt transpersonales Denken voraus, das im ma. Staatsverständnis schon früh wirksam war; vgl. H.Beumann, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen: Ders., Wissenschaft vom Mittelalter. Köln 1972, 135-174. 156) So schon das berühmte Argument bei Haller (wie Anm. 86) 35f., der sich mit den späten Kritikern der Kaiserpolitik besonders unter »realpolitischem« Aspekt auseinandergesetzt hat. Längsschnittartiger Überblick bei Schneider (wie Anm. 8) und, sehr materialreich, Hostenkamp (wie Anm. 37). Eine ideengeschichtliche und allgemeinhistorische Synthese der neueren Forschung (die er zu einem guten Teil mit bestimmt hat) bei H. Beumann, Das Kaisertum Ottos des Großen. Ein Rückblick nach tausend Jahren: Ders., Wissenschaft vom Mittelalter. Köln 1972,411-458. Vgl. auch H. Keller, Das Kaisertum Ottos des Großen im Verständnis seiner Zeit: Otto der Große. Hrsg. v. H.Zimmermann. (Wege d. Forschung, Bd. 450.) Darmstadt 1976, 218-295. Auf den Verlust an staatsrechtlicher Substanz, den die deutsche Geschichtswissenschaft durch den politischen Charakter der Debatte erlitten hat, machte bereits E.E. Stengel, Regnum und Imperium. Engeres und weiteres Staatsgebiet im alten Reich: Ders., Abhandlungen und Untersuchungen z. Gesch. d. Kaisergedankens im MA. Köln 1965, 171-205; hier 173, aufmerksam. Auch M.Lintzel, Die Kaiserpolitik Ottos des Großen. München 1943, 95ff., mußte trotz kritischer Bemühungen im Sinne seines Beweisziels zugeben, keine Hinweise auf grundsätzlichen Widerstand gefunden zu haben. Äußerungen wie die bei Thietmar von Merseburg, Chronicon (MGH SS rer. Germ.) 399 VII,2 zum zweiten Romzug Heinrichs II. können als politische Kritik nicht in Frage kommen; auch Thietmar 7411,28 drückt eher Ansprüche des Adels an das Königtum und insofern nur mittelbar Kritik an der Italienpolitik aus. Vgl. G. Althoff, Das Bett des Königs in Magdeburg. Zu Thietmar 11,28: FS B. Schwineköper. Sigmaringen 1982, 141-153. Deutliche Kritik aber bei Fritsche Klosener, Chronik (Die Chroniken d. dt. Städte, Bd. 8.) 56, der Rudolf von Habsburg lobt, weil er nie gen Rome zog, sondern in tutseben landen blieb: daz was dem lande gut. 157) Die Förderung der deutschen Einheit durch das Kaisertum betonte schon der Rankeschüler Wilhelm Boehm in seiner 1865 angefertigten Dissertation »Quemadmodum ab Ottone I ad Heinrici IV initia ipsum impérium unitatem nationis Germanicae affecerit eiusque artes, litteras, commercium adauxerit«; vgl. Hostenkamp (wie Anm. 37) 19. Ebenso Schultheiss (wie Anm. 86) 77 und F. Kampers, Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage. München 1896, 47. Kampers steht freilich schon auf dem Boden der Identifikation des Reiches von 1871 mit dem Imperium des Mittelalters; ebd. Vorwort (unpaginiert). sen, erkennbar in der Frage Andreas Hillgrubers, ob der Zusammenbruch des Reiches als Großmacht 1945 auch das Ende der deutschen Nation bedeute158'. Angesichts solcher Befunde wirken die im Umfeld des Ersten Weltkrieges gefällten Urteile in ihrer plumpen Pragmatik heute fremdartig. Fritz Kern machte sich anheischig, »die der praktischen Politik des Mittelalters aus seiner Weltanschauung zufließenden Antriebe daraufhin zu prüfen, inwieweit sie der Staatskräftigung zum Vorschub oder zum Hemmschuh gedient haben«159'. Das Ergebnis einer unter diesen Prämissen angestellten Untersuchung der Kaiser-und Italienpolitik ist leicht vorauszusehen, und in der Tat führte sein Bemühen, »Ansatzpunkte für eine Realpolitik in der politischen Theorie des Mittelalters selbst aufzuzeigen«, zur Aufstellung eines Katalogs von Wünschen an die mittelalterlichen Herrscher, die sie »bei normaler Durchführung« hätten erfüllen müssen und können: Behauptung einer Zentralgewalt in den Rheinlanden, Einrichtung einer Hauptstadt »zwischen Frankfurt am Main und Köln«; Brügge und Gent »hätten« ihre Anbindung zum Kernreich dann behalten, ein Partikularismus »hätte« sich nicht entwickelt, der Westen des Reiches »hätte seinen Volksüberfluß an ein gesamtstaatlich organisiertes ... Ostland abgegeben«, kurzum: »Der rechtzeitige Ausbau der naturgewiesenen mitteleuropäischen Hegemonie Deutschlands hätte die ganze Schärfe der nationalen Kämpfe der Neuzeit im Keim beseitigt«160'. Wurden hier mittelalterliche Entscheidungsbedingungen vom Streben nach Revision einer modernen Misere geradezu überrollt, so hatte Georg von Below seine Kritik an der Kaiserpolitik gegen methodische Bedenken immerhin verteidigen wollen, gerade damit aber sein Unverständnis hinsichtlich der Problematik historischer Werturteile gezeigt161'. Er forderte den nationalstaatlichen Maßstab als beherrschende Norm, und insofern ist seine Position zwar ein 158) A. Hillgruber, Die Last der Nation. Fünf Beiträge über Deutschland und die Deutschen. Düsseldorf 1984. 159) Kern (wie Anm. 11) 35. Was demgegenüber an umsichtiger, breit wirkender Historiographie schon lange möglich war, zeigt I.Jastrow, Geschichte des deutschen Einheitstraumes und seiner Erfüllung. Berlin 1885. Der Ranke-Schüler Jastrow hatte auf eine Ausschreibung des Allgemeinen Vereins für Deutsche Literatur vom Dezember 1882 diese Schrift eingereicht, die von drei Ordinarien der Berliner Universität als preiswürdig befunden wurde und bis 1891 vier Auflagen erlebte. 160) Alle Zitate Kern (wie Anm. 11) 48 f. 161) Below (wie Anm. 9) 10: »Man kann unmöglich das immer als richtig ansehen, was eine Zeit erstrebt hat, und es gut heißen, wenn sich in ihr kein Widerspruch erhoben hat.« Vgl. M. Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3. Aufl. Tübingen 1968,146-214; hier 151: »Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und - unter Umständen - was er will.« Noch schärfer Ders., Wissenschaft als Beruf: Ebd. 582-613; hier 602: »Ich erbiete mich, an den Werken unserer Historiker den Nachweis zu führen, daß, wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, das volle Verstehen der Tatsachen aufhört.« Die Nöte der Politikwissenschaft angesichts dieser Lage sind nicht die des Historikers; anders D.Junker, Über die Legitimität von Werturteüen in den Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft: HZ211,1970,1-33; hier 22, der das Problem im übrigen gut entfaltet und bis in die Gegenwart verfolgt hat. Below hat an seiner Auffassung unbeirrt festgehalten: G. von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters. Ein Grundriß der deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1: Die allgemeinen Fragen. 2. Aufl. Leipzig 1925, 353 ff. 48 joachim ehlers aufschlußreiches Zeugnis für bestimmte Facetten der jüngeren Geschichte unseres Faches, trägt aber zur Sache nichts bei1"'. Umso bemerkenswerter ist es, wenn dieses Denkschema weiterlebt und der Rückgriff auf protestantisch-kleindeutsche Anschauungen auch der marxistischen Historiographie unterläuft. Gottfried Koch stellte »die Frage der Kaiserpolitik gegenüber den ideologiegeschichtlichen Problemen der Kaiser- und Reichsidee« bewußt in den Vordergrund163' und kam zu dem Ergebnis: »Es besteht kein Zweifel, daß die im Gegensatz zum französischen Königtum mit dem Kaisertitel belastete deutsche Zentralgewalt auf die Dauer durch diese Politik immer wieder von ihren innenpolitischen Aufgaben abgelenkt wurde, was zur Stärkung der Partikulargewalten und deren schließlichem Siege beitrug. Diese Aggressionspolitik hat die deutsche nationalstaatliche Entwicklung behindert und gehemmt.«164' Trotz der Entschiedenheit dieses in bestimmter Tradition stehenden Urteils darf gezweifelt werden, ob die sogenannte Zentralgewalt die ihr zugedachten »innenpolitischen Aufgaben« ohne die supragentil integrierende Wirkung des Kaisertums zur Zufriedenheit der Nachwelt hätte erfüllen können und ob die Trennung mittelalterlicher »Politik« von der sie stark bestimmenden »Ideologie« recht sinnvoll ist165'. Die weiten Perspektiven einer ideengeschichtlichen Sicht des Kaisertums und seiner spirituellen Bedeutung"6' sollten nicht mit dem Hinweis auf machtgeschichtlich und sozialökonomisch bestimmte Faktoren eingeengt werden, wenn man weiß, welche politische Wirkung Ideen haben können. 162) Vgl. die sehr abgewogene Besprechung von B. Schmeidler, HZ 140,1929,386-392. Die gedankliche Dürftigkeit der Belowschen Argumentation legte dagegen R. Holtzmann, Deutsche Literaturzeitung 1928/12, Sp. 579-584, bloß: »Mit der B.schen Verwerfung der gesamten Kaiserpolitik ließe es sich höchstens in Parallele stellen, wenn jemand die These verfechten wollte, daß Alexander (d. Gr.) überhaupt besser zu Hause geblieben wäre und dort einen makedonischen Nationalstaat errichtet hätte.« (Sp. 582) 163) G. Koch, Die mittelalterliche Kaiserpolitik im Spiegel der bürgerlichen deutschen Historiographie des 19. und 20.Jahrhunderts: Zs. für Geschichtswiss. 10, 1962, 1837-1870; hier 1839 Anm.8. 164) Ebd. 1850. Spuren der deutschen Diskussion um die Berechtigung der Kaiserpolitik finden sich noch bei Zientara (wie Anm. 7) 37: »Die Geringschätzung der Bedürfnisse des Landes seitens der Monarchen und der Einsatz der Kräfte des Landes für schließlich erfolglose Feldzüge erleichterte es den Mächtigen, verschiedene Gruppen der Gesellschaft für ihre oppositionelle Tätigkeit zu gewinnen. Immer öfter traten sie als Vertreter der wahren - von den Regierenden vernachlässigten - Interessen des Landes auf. Heinrich der Löwe, die Babenberger, die Askanier führten auf eigene Faust eine Expansion nach Osten und gründeten unabhängige Territorialstaaten.« Ich wüßte nicht, wann Heinrich der Löwe mit dem Argument, er sei der wahre Vertreter der Landesinteressen, jemanden gegen die Italienpolitik Friedrichs I. mobilisiert oder für seine eigene Landesherrschaft gewonnen hätte. 165) »Im politischen Bewußtsein der frühen Salierzeit war die ottonisch-salische Königsherrschaft in ihrer supragentil-imperialen Qualität wahrscheinlich die maßgebende politische Größe, nicht die politischstaatliche Vereinigung der deutschen Stämme.« Müller-Mertens (wie Anm. 5) 387f. 166) P. E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio. Studien zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit. 2. Aufl. Darmstadt 1957. E. Eichmann, Die Kaiserkrönung im Abendland. 2 Bde. Würzburg 1942, bes. 109ff. Insofern ist es nicht ganz treffend, wenn R. Folz, L'idee d'Empire en Occident du Ve au XIV siecle. Paris 1953, die Zeit seit 1250 unter der Überschrift »LTdee d'Empire en dehors des realites« schildert (133 ff.), weil damit ein unvollständiges Konzept vom Kaisertum nahegelegt wird. die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 49 Allerdings müssen diese Ideen richtig erfaßt und beurteilt werden. Das Kaisertum hat zwar starke Impulse für eine deutsche Ethnogenese vermittelt, aber in den Augen der Zeitgenossen war das nicht seine wesentliche Bestimmung. Wir dürfen uns nicht durch den bei Otto von Freising hergestellten substantiellen Zusammenhang zwischen deutschem Königtum und Kaiserwürde täuschen lassen167', denn diese Theorie war als Antwort auf die gregorianische Teutonicum regnxm-Propaganda gedacht168' und ist nur aus diesem Zusammenhang sinnvoll zu verstehen. Das heißt aber zugleich, daß sie eine bloße Gegenposition darstellte, für die eine autogene und hinreichend eingewurzelte Überzeugung als breite gedankliche Basis kaum nachweisbar sein dürfte. Eine solche Basis fand sich eher bei denen, gegen die der Freisinger Bischof antrat. Das waren nicht nur die Gregorianer, sondern auch jene, die als Epochenvorschlag für den Beginn des deutschen Reiches den Regierungsantritt Heinrichs I. genannt hatten: ... quiddm post Fmncorum regnum supputant Teutonicorum, und diese Leute sind in Admont zu suchen, wo seit dem Ende der 30er Jahre des 12.Jahrhunderts mancherlei historiographische Initiativen entwickelt worden waren, in deren Umkreis auch die vielerörterte Abschrift der Annales Iuvavenses maximi mit dem ins 10. Jahrhundert gesetzten regnum Teutonicorum-Beleg gehört169'. Nicht diese frühe, am besten aus italienischem Einfluß auf Bayern (mithin als Fremdbezeichnung!) zu erklärende Namengebung aber hatte Otto von Freising im Sinn, sondern eine aus den Erfordernissen des 12.Jahrhunderts notwendige Verbindung von nationaler Monarchie und Kaisertum: Wenn GregorVII. HeinrichlV. als Herrscher eines Teutonimm regnum polemisch einstufte, so hatte er klar erkannt, daß dieses Konzept eines nationalen, von Burgund und Italien separierbaren Königtums mit der imperialen Würde konkurrierte. Da der Papst jene Titulatur propagandistisch einsetzte, muß es in den drei regna und über sie hinaus Adressaten gegeben haben, d.h. einflußreiche Vertreter der konkurrierenden Standpunkte, und ihren Gegensatz wollte Otto von Freising in einer höheren Einheit aufgehen lassen. Hatte das im Rückblick auf das 10. Jahrhundert seine Berechtigung, so konnten im 12. Reminiszenzen an die ottonische Welt einer imperial bestimmten Einheitsidee nicht mehr zum Durchbruch verhelfen, vor allem deshalb nicht, weil die Gedanken der gregorianischen Reform sich inzwischen mit nationalen Strömungen, vor allem in Frankreich, verbunden hatten. Man fragte jetzt mit den philosophisch-wissenschaftlichen Methoden der beginnenden Hochscholastik nach den Gründen für das Bestehende, mobilisierte im alexandrinischen Schisma ein weiteres Mal starke spirituelle Kräfte gegen das Imperium und entdeckte die 167) Otto von Freising, Chronica (MGH SS rer. Germ.) 277 VI,17. Vgl. oben Anm. 115. 168) Beumann (wie Anm. 112) 342. 169) F.-J. Schmale, Die österreichische Annalistik im 12. Jahrhundert: DA 31, 1975,144-203. Beumann (wie Anm. 112) 345ff. und 363ff. Schmale hat daran erinnert, daß »die meisten Klöster der Ostmark und Steiermark von Mönchen aus den Schwarzwaldklöstern, aus St. Blasien oder St. Georgen oder doch wenigstens mittelbar von solchen der Hirsauer Richtung besiedelt und reformiert« wurden (ebd. 191) und daß Abt Gottfried von Admont (1138-1165), unter dessen Leitung die historiographische Tätigkeit sich entfaltete, vorher Prior von St. Georgen gewesen ist (ebd. 187). „_ 50 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 51 Autonomie der westlichen Monarchien als politisches Ordnungsprinzip170'. Das Recht der Deutschen auf das Kaisertum erschien zweifelhaft171'; wenn nach alter, eschatologisch gefestigter Überzeugung die Frankenkönige das einige christliche Abendland führen sollten, dann hatte der französische Konig als seit 911 in der Titulatur stabiler rex Francorum einen höheren Anspruch, den er überdies historisch gut fundieren konnte172'. Aus dieser Position verweigert der im Antichristspiel auftretende König von Frankreich dem Kaiser die Heerfolge mit der Begründung: Wie die Historiographie lehre, gehöre nicht er dem Imperium, sondern das Imperium ihm173'. Hundert Jahre später erregte sich Alexander von Roes über die Tilgung des Gebets für den König im Missale der päpstlichen Kapelle174', aber in den französischen 170) Materialreich Kienast (wie Anm. 142) 1, 198ff. Zur Bewertung der Vorgänge K.F.Werner, Aufstieg der westlichen Nationalstaaten. Krise der Theokratie: Ders., Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs. Sigmaringen 1984,377-445. Ders., Das hochmittelalterliche Imperium im politischen Bewußtsein Frankreichs (10.-12. Jahrhundert): Ders., Structures politiques du monde franc (VI*-XII' siecles). London 1979, Nr.X (1-60). Ders., Les nations et le sentiment national dans l'Europe medievale: Ders., Structures ... Nr.IX (285-304). 171) Quis Teutonias constituit iudices nationum? Quis hanc brutis et impetuosis hominibus auctoritatem contulit, ut pro arbitrio principem statuant super capita filiorum hominum? The Letters of John of Salisbury. Bd. 1: 1153-1161. Hrsg. v. W.J.Millor u. H.E.Butler. (Oxford Mcdieval Texts.) Oxford 1955, 206 Nr. 124. Vgl. W. L. Grünewald, Das fränkisch-deutsche Kaisertum des Mittelalters in der Auffassung englischer Geschichtsschreiber (800-1273). Diss. Frankfurt am Main 1961. Schon im 10. Jh. hatte man in Frankreich den Kaiser auf sein Imperium beschränkt und zugunsten des eigenen Königtums in den Hintergrund treten lassen. G. A.Bezzola, Das Ottonische Kaisertum in der französischen Geschichtsschreibung des 10. und beginnenden 11.Jahrhunderts. (Veröff. d. Inst. f. Österreich. Geschichtsforschung, Bd. 18.) Graz 1956. U.Turck, Das Bild der Deutschen und der deutschen Geschichte von 843-1142 in der zeitgenössischen französischen Historiographie. Diss. Ms. Bonn 1955. Das Urteil über das Imperium wird immer fester mit dem über seine Bewohner verbunden. Für Spätmittelalter und Renaissance O. Herding, Das Römisch-deutsche Reich in deutscher und italienischer Beurteilung von Rudolf von Habsburg zu Heinrich VII. (Erlanger Abhandlungen z. Mittleren u. Neueren Gesch., Bd. 25.) Erlangen 1937. F.Trautz, Die Könige von England und das Reich 1272-1377. Heidelberg 1961. Vor einer Unterschätzung der imperialen Idee für das Spätmittelalter warnte F.Baethgen, Zur Geschichte der Weltherrschaftsidee im späten Mittelalter: FS P.E.Schramm, Bd. 1. Wiesbaden 1964, 189-203. 172) Dagegen waren auf deutscher Seite die »unsicher wirkenden Äußerungen« (Kienast [wie Anm. 142] 2, 527) zur Bezeichnung des Reiches als eines fränkischen bei Otto von Freising schwache Waffen. Vgl. H.Grundmann, Das deutsche Nationalbewußtsein und Frankreich: Jb. d. Arbeitsgemeinschaft d. Rheinischen Geschichtsvereine 2, 1936, 51-60; hier 53. 173) Ludus de Antichristo (hrsg. v. F.Wilhelm. 3.Aufl. München 1932) vv. 49ff. Die Antwort des Kaisers ist nicht das Gegenargument, sondern ein siegreich beendeter Krieg. 174) Alexander von Roes (wie Anm. 130) 20 c. 2. Sein Zorn war umso größer, als er Deutscher war und somit zu denen gehörte, ad quos mundi regimen est translatum et ecclesie regimen est commissum; ebd. 28 c. 10. Er sah das bekanntlich als Teil einer sinnvollen Anordnung: Et est nota dignum, quod debitus et necessarius ordo requirebat, ut sicut Romani tamquam seniores sacerdotio, sie Germani vel Franci tamquam juniores imperio, et ita Francigene vel Galilei tamquamperspicatiores scientiariim studio ditarentur, ebd. 48 c. 25. Zu den Eigenarten der genannten Völker Alexander von Roes, Noticia seculi (MGH, Dt. MA. Kritische Studiemexte. Bd.4.) 84 c. 13. Über den historischen Zusammenhang W.Mohr, Alexander liturgischen Texten war schon seit dem 10. Jahrhundert imperátor durch rex ersetzt worden und das impérium Romanorum durch impérium Christianům}7^. Als Karli, von Anjou im Jahre 1272 seinem Neffen, König Philipp III. von Frankreich, das Kaisertum verschaffen wollte, konnte er auf eine lang herangewachsene französische Position in dieser Frage zurückgreifen176'. Die bei Otto von Freising sichtbar gewordene Verbindung von Kaiserwürde und deutschem Königtum hat darüberhinaus einen universalhistorischen Aspekt. Herrschte bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts noch der Gedanke einer von Karl dem Großen eingeleiteten renovatio imperii vor, so dominierte in der frühen Stauferzeit die Ansicht, damals sei eine translatio imperii von den Griechen auf die Franken und die Deutschen unwiderruflich eingetreten, weshalb man sich »nördlich der Alpen als >neues Reichsvolk< fühlen durfte«177'. Unter Konrad III. klingt der Gedanke einer übergreifenden Einheit der Kaiser von den Karolingern über Ottonen und Salier zu den Staufem an, wird seit Friedrich I. deutlich vertreten178'. Insofern hatten es die deutschen t von Roes - Die Krise in der universalen Reichsauffassung nach dem Interregnum: Universalismus und Partikularismus im Mittelalter. Hrsg. v. P. Wilpert. (Miscellanea Mediaevalia, Bd. 5.) Berlin 1968, j 270 -300. Kirn (wie Anm. 55) 105 schildert unbeabsichtigt Alexander von Roes als recht naiven Mann, der j bei seiner Entdeckung »erschrak ..., wie ein mittelalterlicher Mensch, dem das Imperium des Kaisers eine, j nein die von Gott gewollte Ordnung der Welt bedeutet, erschrecken mußte. Denn das Römische Reich I stürzen hieß ja nichts anderes, als das Kommen des Antichrist und die Endkatastrophe dieser irdischen Welt r herbeiführen.« Entweder waren die Kleriker der Kurie keine mittelalterlichen Menschen oder sie glaubten ( nicht an Antichrist und Weltgericht; beides ist schwer vorstellbar. In Wirklichkeit zeigt diese Stelle, daß die von Kirn als normativ-mittelalterlich geschilderte politische Eschatologie ihre Geltung in weiten Teilen i Europas längst eingebüßt hatte. i 175) Die Texte bei G. Teli.enbach, Römischer und christlicher Reichsgedanke in der Liturgie des frühen [ Mittelalters: SB Heidelberger Akad. d. Wiss., phil.-hist. KL, Bd.25,1. Berlin 1934/35, 52ff. Über die j Gefährdung des Kanongebets für den Kaiser seit Gregor VII. L. Biehl, Das liturgische Gebet für Kaiser { und Reich. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Staat. (Görres-Gesellschaft. f; Veröff. d. Sektion f. Rechts- u. Staatswiss., Bd. 75.) Paderborn 1937, 60ff. Solche Veränderungen sind an ! sich nichts Neues; bereits im 8. Jh. wurde in liturgischen Texten der römische Name durch den fränkischen ■( ersetzt. Tellenbach ebd. 20ff. 176) Kienast (wie Anm. 142) 2, 378ff. G. Zeller, Les rois de France candidats ä l'Empire. Essai sur i l'ideologie imperiale en France: Revue Hist. 173, 1934, 273- 311 und 497-534. Kampers (wie Anm. 157) ! 115ff. Zu Karl von Anjou und Papst GregorX. J.Haller, Das Papsttum. Bd.5. Darmstadt 1962, 28ff. ■j und 321 ff. ■ 177) W.Goez, Translatio imperii. Tübingen 1958, 104. ■ > 178) H.Appelt, Die Kaiseridee Friedrich Barbarossas. (SB Österr. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl., j Bd. 252,4.) Wien 1967, mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß Konrad III. »sich in seinen Urkunden als der ■ zweite seines Namens bezeichnete und nur den mächtigen Salier als seinen würdigen Vorgänger ansah, aber ■' den schwachen Konrad I., der weder die Kaiserkrone trug noch in Italien herrschte, überging« (ebd. 30). Etwas irreführend ist es, wenn Appelt hier von »dynastischer Einheit« spricht, wo es sich doch um eine imperiale Amtsträgerfolge handelt, wie sie in universalhistorischen Listenwerken immer wieder auftritt. Eine Rechtstheorie für die Einheit der im Imperium zusammengefügten regna Deutschland, Burgund und Italien wurde dagegen auch in der Stauferzeit nicht entwickelt. 52 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 53 Humanisten leicht, das Kaisertum national zu bewerten17", aber ihre Sicht war utopisch wie das seit der Mitte des 14. Jahrhunderts in Deutschland und Italien, ja selbst in Frankreich, mit dem Wunsch nach tiefgehenden Reformen verbundene Bild vom Kaisertum der prophetisch-sibyllinischen Überlieferung180'. Diesem Bild entsprach keine Wirklichkeit einer imperial überwundenen Pluralität, und die Ansätze zur Integration der regna konnten sich gegenüber der alltäglichen Erfahrung kaiserferner, regionaler Staatlichkeit mental nicht verfestigen. Das Kaisertum blieb Element der Einheit und des Zusammenhalts, ein großer Schritt auf dem Weg, angehalten weit vor seinem Ende. Im Zusammenhang mit der hier berührten geistigen Auseinandersetzung um Königtum, Reich, Kaiserwürde und Nation erhebt sich die Frage nach einem Nationsbewußtsein des deutschen Klerus. Gern wird vom »deutschen Episkopat« gesprochen: Seit wann gibt es Zeugnisse für ein entsprechendes Selbstverständis, wo sind sie entstanden und in welcher Gestalt liegen sie vor? Die integrierende Kraft des Königtums wird auch auf diesem Felde sichtbar, wenn wir die Personalbewegungen im deutschen Episkopat verfolgen, die seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts Angehörige aller Stämme in die Hofkapelle und von dort häufig f.in andere als die eigenen Stammesgebiete führte181'. Weil mit Ausnahme Bayerns die Kirchenprovinzen seit Karl dem Großen nicht mit den Siedlungsgebieten der Stämme identisch waren, hat von diesen Maßnahmen der Reichskirchenpolitik eine gewisse vereinheitlichende Wirkung ausgehen können182'. Ihr trat jene mit Rom und dem Kaisertum verbundene Missionsanstrengung der ottonischen Herrscher zur Seite, die im Osten und Südosten, bald auch im Norden, christliche Reiche entstehen ließ und so einen der wichtigsten Faktoren europäischer Politik, die geopoliti-sche Mittellage Deutschlands, hervorbrachte183'. Dabei haben auch Notwendigkeiten einer 179) Anders Schieblich (wie Anm. 38) 11, der den Gedanken der translatio imperii noch als Hindernis für eine solche Auffassung ansah. 180) Zu dieser Kampers (wie Anm. 157) 129ff. Vgl. auch die immer noch lesenswerte Einleitung von Paul Joachimsen: Der deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich den Großen. Dokumente und Entwicklung. Hrsg. v. P.Joachimsen. München 1921, bes. Xlff. Zum Ansehen des Imperiums im Spätmittelalter Schubert (wie Anm. 15) 207 ff., der eine hohe Bewertung der monarchia mundi annimmt. 181) Über die Anfänge unter Brun von Köln Fleckenstein (wie Anm. 136) 2, 55ff. Ebd. 176ff. über die Hofkapelle Heinrichs II. und 261 ff. zur Rolle des Stifts St. Simon und Judas in Goslar. 182) H. Büttner, Mission und Kirchenorganisation des Frankenreiches bis zum Tode Karls des Großen: Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben. Bd. 1: Persönlichkeit und Geschichte. Hrsg. v. H.Beu-mann. Düsseldorf 1965, 454-487; hier 484ff. Die Behauptung bei W.Holtzmann, Das mittelalterliche Imperium und die werdenden Nationen. (Arbeitsgemeinschaft f. Forschung d. Landes Nordrhein-Westfalen. Geisteswiss., H. 7.) Köln 1953; hier 7, »Im ottonischen System wurde der Stammesadel durch die Bischöfe paralysiert«, ist stark übertrieben. 183) Die enge Verbindung zwischen Ostpolitik und Kaisertum hat bereits Albert Brackmann zu erweisen gesucht und gegen die Alternative »Kaisertum und Italienpolitik« oder »Ostpolitik« herausgearbeitet. Vgl. A. Brackmann, Gesammelte Aufsätze. 2. Aufl. Köln 1967; dort besonders Der Streit um die deutsche herkömmlichen Grenzverteidigung eine Rolle gespielt und das Bedürfnis gerade des frühen sächsischen Königtums, sich über den Adel zu erheben und mit erfolgreicher Sicherung der f Integrität des Reiches legitimierende Binnenwirkung zu erzielen184', aber der Gedanke, ein í geistlicher Auftrag zum Heidenkrieg mache eine wesentliche Funktion des Reiches aus, hat tiefe j Spuren hinterlassen und prägte das eigentümlich beharrliche, konservativeReichsverständnis185'. Dieses Reichsverständnis erweist sich immer mehr als wesentlicher Inhalt des mittelalterli-j chen deutschen Nationsbewußtseins, als sein principe spirituelm>, unabhängig von Volkstum, j Sprache oder geographischen Voraussetzungen, aufgebaut auf dem Bewußtsein gemeinsamer Geschichte und dem Willen, zusammen zu bleiben. In der Historiographie dürfte sich dieses geistige Prinzip am deutlichsten auffinden lassen, sei es durch die Überlieferung und Umwandlung älterer Stammestraditionen187', durch den Blick der Zeitgenossen auf den Zusammenhang von Politik und Geschichte188' oder im Bezug einer Tradition auf eine Gemeinschaft und das Land, in dem ihre Träger lebten189'. Dabei wird es darauf ankommen, die Vorstellung eines Kaiserpolitik des Mittelalters (25-38) und die 39ff. unter dem Obertitel »Reichspolitik und Ostpolitik« zusammengefaßten Arbeiten der Jahre 1916-1939. Schon die Kaiserkrönung Karls d.Gr. habe mit der Slawenmission in Zusammenhang gestanden: A. Brackmann, Die Anfänge der Slawenmission und die j Renovatio imperii des Jahres 800.: Ges. Aufs. 56 - 75 und Ders., Die Anfänge der abendländischen f Kulturbewegung in Osteuropa und deren Träger: ebd. 76-107. Weiterführend jetzt Beumann (wie { Anm. 156) 433 ff. I 184) O. Engels, Mission und Friede an der Reichsgrenze im Hochmittclalter: FS F. Kempf. Sigmaringen :! 1983, 201-224; hier 206f. i 185) Heimpel (wie Anm. 130) 36ff. j 186) Renan (wie Anm. 20) 903. I 187) Dazu A. Grau, Der Gedanke der Herkunft in der deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters, í Diss. Leipzig 1938. Eine systematische Neubearbeitung dieses Themas wäre erwünscht, da F. Graus, í Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln I 1975, eine Fülle neuer Fragestellungen konzipiert hat. I 188) Dies hat B. Guenée, Histoire et culture historique dans l'Occident medieval. Paris 1980,332ff., unter { den »poids de l'histoire« sehr konzentriert und treffend beschrieben. Auch alle im I. Teil der Aufsatzsamm- j lung: B. Guenée, Politique et histoire au moyen äge. Recueil d'articles sur l'histoire politique et l'historio- I graphie medievale. (Publications de la Sorbonne, Série Réimpressions, Bd. 2.) Paris 1981, abgedruckten Arbeiten sind heranzuziehen, weil sie den in seiner Allgemeinheit scheinbar wohlbekannten Vorgang gegenseitiger Bedingtheit empirisch vielseitig erhellen. Für Deutschland wäre der im Spätmittelalter beachtete Unterschied von Christenheit - Reich - Deutsche Nation ein guter Ausgangspunkt; vgl. A. Schröcker, Die Deutsche Nation. Beobachtungen zur politischen Propaganda des ausgehenden 15. Jahrhunderts. (Hist. Studien, Bd. 426.) Lübeck 1974, bes. 120ff. 189) H. Patze, Adel und Stifterchronik. Frühformen territorialer Geschichtsschreibung im hochmittelalterlichen Reich: Blätter f. dt. LG 100,1964,8-81 und 101,1965,67-128,hat gezeigt, wiein Adelsgenealogien seitdem 10. Jh. eine Tradition der Lande und Regionen entstanden ist, die seit dem 11. Jh. zur Historiographie reift. Hier sieht man »die Entstehung einer neuen verfassungsgeschichtlichen Erscheinung, der Landesherrschaft, auch in der Struktur der historiographischen Werke« (100,79). Für Lothringen vgl. die in 14 Hss. seit der zweiten Hälfte des 12. Jh.s überlieferte Genealógia comitum Bulonensium; L. Genicot, Princes territoriaux et sang carolingien. La »Genealogia comitum Bulonensium«: Ders. , Emdes sur les principautés lotharingiennes. Recueil de travaux d'histoire et de philologie, 6e série, Fase. 7. Löwen 1975 , 217-306. X 54 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 55 größeren Landes vom einfachen Heimatgefiihl des älteren patria-Begrifis abzuheben, eines Landes, dessen Grenzen nicht genau bestimmt sein müssen, das aber als Ganzes der Personifikation sehr nahe kommen kann. Hier wird sich in Deutschland vermutlich nichts finden lassen, was der doulce France vergleichbar wäre190', dafür bezeichnenderweise aber eine Prägung des historiographischen Weltbildes durch das Kaisertum: im 12. Jahrhundert erlebte die Universal- > geschichtsschreibung in Deutschland ihren europäischen Höhepunkt191'. Sie hatte mit dem Kaisertum ja nicht nur die Weltgeschichte zum Gegenstand, sondern brachte mit der Bindung des Imperiums an die deutsche Monarchie auch ein starkes Element von Kontinuität und ', Integration literarisch zum Ausdruck. j Leider können wir für das mittelalterliche deutsche Nationsbewußtsein diesen Einfluß von ) literarischer Kultur und Sprache erst in Ansätzen beurteilen. Es genügt ja nicht, auf die ; bedeutenden Sprachkunstwerke zu verweisen und sie retrospektiv für eine nationale Literaturgeschichte in Anspruch zu nehmen, die ihrerseits ein Kind des 18. Jahrhunderts ist und im 19. mächtige Impulse erhielt. Wir haben demnach nicht von einem modernen Standort aus nach literarischer Qualität zu fragen, sondern wir müssen einen mittelalterlichen Bewußtseinsstand erheben, der die Sprach- und Kulturgemeinschaft als solche umfaßt hat und aus ihr politische j Folgerungen ziehen wollte. Für den modernen Nationalismus ergeben sich solche Konsequen- \ zen unmittelbar, ist ihm die Sprache doch einer der wichtigsten Legitimationsgründe1'2'. Für das Mittelalter hingegen haben wir mit dem Primat des Politischen zu rechnen, mit einem vom ; weltlichen und geistlichen Adel bestimmten Traditionskern, einer ständisch begrenzten Nation also, für die es wenig Bedeutung hatte, welche Sprache die Masse der Bevölkerung benutzte. Die mittelhochdeutsche Literatur muß im Umfeld unserer Fragestellung stärker als bisher üblich vom Historiker beachtet werden193', keinesfalls darf mehr angenommen werden, daß Kulturhöhe politisch nichts bedeute"4', aber die nationsbildende Wirkung der Sprache an sich Über Andreas von Regensburg H.Brack, Bayerisches Geschichtsverständnis im 15.Jahrhundert: FS J.Spörl. Freiburg i. Brsg. 1965, 334-345. Zum antitschechischen Affekt der polnischen Chronistik (Gallus anonymus und Vinccnz Kadlubek) J. Panek, La conception de l'histoire tcheque et des relations tcheco-polonaises dans les plus anciennes chroniques polonaises: Mediaevalia Bohemica 4, 1974, 5-124. 190) Zu dieser Kienast (wie Anm. 142) 3, 723 ff. ■ 191) H. Grundmann, Geschichtsschreibung im Mittelalter. Göttingen 1965, 18ff. und 61 ff. A.-D. ; v. d. Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising. Düsseldorf 1957, bes. 220ff. J.Ehlers, Historiographische Literatur: Neues Handb. d. Literaturwiss., Bd.7: Europäisches Hochmittelalter. Hrsg. v. H.Krauss. Wiesbaden 1981, 425-460; hier 454ff. 192) E.Lemberg, Geschichte des Nationalismus in Europa. Stuttgart 1950, 203ff. 193) Eine treffliche Vorarbeit zum Reichsbewußtsein im Spiegel der zeitgenössischen Literatur ist der Sammelband Die Reichsidee in der deutschen Dichtung des Mittelalters. Hrsg. v. R. Schnell. (Wege d. Forschung, Bd. 589.) Darmstadt 1983; die Einleitung des Herausgebers enthält (lff.) wichtige Hinweise zur Forschungsgeschichte und Methode. Monographisch zu vier wichtigen Texten E.Nellmann, Die Reichsidee in deutschen Dichtungen der Salier- und frühen Stauferzeit. Annolied - Kaiserchronik -Rolandslied - Eraclius. (Philol. Studien u. Quellen, Bd. 16.) Berlin 1963. 194) So Kienast (wie Anm. 142) 1, 47. ist an allgemeinen Befunden der Ethnosoziologie zu messen. Wenn die »Verbreitung bestimmter Verfassungseinrichtungen und Gemeinschaftsformen sich nicht mit den Sprachräumen deckt«195', so zwingt das zur Korrektur sehr alter, aber eben nicht induktiv gewonnener Uberzeugungen, die erstmals in der Zeit Karls des Großen die Sprache als ethnisches Kriterium erscheinen lassen und offensichtlich unter dem Einfluß der nun stärker werdenden christlichlateinischen Bildung standen196'. In diesen Bildungshorizont gehört auch jener erste Beleg für die Sprachbezeichnung in Verbindung mit der gens bei Gottschalk von Orbais (Gottschalk der Sachse, um 807-867/69), der sich in einem Brief aus seiner Klosterhaft in Hautvillers (nahe Epernay) findet, also in die Zeit nach 848 gehört1'7'. Gottschalk spricht dort von der gens teudisca, deren Sprache sich von dem unterscheidet, ut nos dicimusm). Nos sind in diesem Falle die lateinisch Sprechenden und Schreibenden, zu ihnen fühlt Gottschalk sich gehörig und nicht zur gens teudisca, der er für unsere Begriffe ethnisch angehört199'; gens teudisca heißt demnach nicht »deutsches Volk«, sondern meint jene, die nicht Lateinisch oder Romanisch sprechen200'. An Versuchen zur näheren Erklärung des Zusammenhangs von Sprachbezeichnung und 195) R. Wenskus, Probleme der germanisch-deutschen Verfassungs- und Sozialgeschichte im Lichte der Ethnosoziologie: Hist. Forschungen f. W.Schlesinger. Köln 1974, 19- 46; hier 19. Vgl. Wenskus (wie Anm. 49) 87ff. und Ders. (wie Anm. 135) 178 ff. (dort Ablehnung der Gleichung »Sprachgemeinschaft = Volksgemeinschaft«). Bereits H. L. Koppelmann, Nation, Sprache und Nationalismus. Leiden 1956, 29 ff. hatte sich mit dem Volksbegriff auseinandergesetzt und einen stringenten Zusammenhang zwischen Sprache und Rasse abgelehnt. Vgl. A. Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. 4 Bde. (in 6) Stuttgart 1957/58/59/60/61/63; hier 2,1, 542. 196) Wenskus (wie Anm. 135) 207ff. mit dem Hinweis auf Isidor von Sevilla. Dieser sah die Vielzahl der Sprachen aus dem Turmbau von Babel hervorgehen, und aus einer Sprache kamen viele Völker: Initio autem (sc. vor dem Turmbau, als alle Welt nur eine Sprache, nämlich Hebräisch, redete) quot gentes, tot Linguae fuerunt, deinde plures gentes quam linguae; qttia ex una lingua multae sunt gentes exortae. Er faßte das nochmals genetisch: Ideo autem prius de Unguis, ac deinde de gentibus posuimus, quia ex Unguis gentes, non cx gentibus linguae exortae sunt. Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX (hrsg. v. W. M. Lindsay. Oxford 1911.) IX.I.1 und X.I.14. Zur Wirkungsgeschichte Borst (wie Anm. 195). 197) Zu Leben und Werk Gottschalks K. Vielhaber, Gottschalk der Sachse. (Bonner Hist. Forschungen, Bd. 5.) Bonn 1956. 198) Gottschalk von Orbais, De praedestinatione (Oeuvres theologiques et grammaticales de Godescalc d'Orbais. Hrsg. v. D.C. Lambot. [Spicilegium sacrum Lovaniense. Etudes et documents, Bd. 20.] Löwen 1945.) [13] 195f. 199) Zur Stelle Weisgerber (wie Anm. 72) 137, der die gens teudisca als Sprachgemeinschaft versteht. Vgl. Vielhaber (wie Anm. 197) 40. 200) K.H.Rexroth, Volkssprache und werdendes Volksbewußtsein im ostfränkischen Reich: Aspekte (wie Anm. 22) 275-315; hier 289 ff., wertet den Beleg sehr hoch im Sinne eines durch ihn früh bezeugten Volksbewußtseins, das sich aus der Sprachgemeinschaft ergeben habe. Leider hat seine Untersuchung einen Nachteil, der ihren Wert für die weitere Forschung mindert: »Es ist hier nicht danach zu fragen, weshalb es im ostfränkisch-deutschen Reich nicht, wie in England, zu einer volkssprachlichen Geschichtsschreibung, zu einer reicheren volkssprachlichen Literatur überhaupt, gekommen ist.« Ebd. 299. Ablehnend gegenüber dem Volksbezug auch H.Thomas, Regnum Teutonicorum = Diutiskono Richi: Rheinische Vierteljahrsbll. 40, 1976, 17-45; hier 23ff. 56 joachim ehlers die deutsche nation des mittelalters als gegenstand der forschung 57 Volksnamen hat es bekanntlich nicht gefehlt201', aber entscheidend ist eher eine Antwort auf die Frage, ab wann eine althochdeutsche Schriftsprache so verbreitet war, daß sie auch »als Volkssprache, lingua proprio,, lingua patria, verstanden werden muß«202'. So weit wir bisher sehen können, hat sich ein Ubergang von der stammessprachlichen Bewußtseinsstufe zu einem allgemeinen deutschen Sprachbewußtsein zwischen dem 9. und dem Anfang des 11. Jahrhunderts vollzogen203', wobei das von der karolingischen Bildungsreform normierte Latein einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der überregionalen Vereinheitlichung des Althochdeutschen gehabt hat, indem auch die als Entlehnung erkannten althochdeutschen Wörter in den lateinischen Texten von der Normierung erfaßt worden sind. Wie weit dieser Prozeß der Vereinheitlichung vorangekommen ist, läßt sich schwer beurteilen204', seine Bedeutung für die Nationsbildung ist gering zu veranschlagen. Das entspricht nicht nur dem anderweitig festgestellten Primat des Staatlich-Politischen, sondern auch vergleichbaren Befunden außerhalb Deutschlands205'. »Die Stabilisierung der Sprachen ist das Resultat eines historischen Prozesses, und die Sprachen der einzelnen europäischen Völker (und späteren Nationen) sind nicht ursprünglich-primär, sondern erst relativ spät entstanden.«206' 201) W. Krogmann, Deutsch. Eine wortgeschichtliche Untersuchung. (Deutsche Wortforschung, Bd. 1). Berlin 1936. Weisgerber (wie Anm. 72). Ders., Deutsch als Volksname. Ursprung und Bedeutung. Stuttgart 1953. Der Volksname Deutsch. Hrsg. v. H. Eggers. (Wege d. Forschung, Bd. 156.) Darmstadt 1970. Kurzer Uberblick aus der Position der Abwehr nationalsozialistischer Tendenzen bei C. Erdmann, Der Name Deutsch: Karl der Große oder Charlemagne? Acht Antworten deutscher Geschichtsforscher. Berlin 1935, 94-105. Die von E. Rosenstock-Huessy, Unser Volksname Deutsch und die Aufhebung des Herzogtums Bayern: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 29, 1928, 1-66, und ders., Frankreich - Deutschland. Mythos oder Anrede. Berlin 1957, vertretene These, wonach das fränkische Heer tbeotisce, die »Sprache des Diot« (Volksname 47) als Rechts- und Kommandosprache benutzt habe, läßt sich nicht stringent beweisen, besonders nicht im Hinblick auf ihre Konsequenzen (z. B. der Schaffung eines deutschen Rechts durch Ausdehnung des Sprachgebrauchs auf Bayern). 202) S. Sonderegger, Tendenzen zu einem überregional geschriebenen Althochdeutsch: Aspekte (wie Anm. 22) 229- 273; hier 236. 203) Ebd. 237 ff. 204) Sonderegger urteilt wohl zu optimistisch, wenn er für die Zeit um 1000 feststellt: »Deutsch wird mehr und mehr die Einheit des Volkssprachlichen nördlich der Alpen, zwischen dem Romanischen im Westen und dem Slawischen im Osten sowie, in bestimmter Staffelung, südlich der Nord- und Ostsee.« Ebd. 273. Eine althochdeutsche Gemeinsprache dürfte auch am Hof nicht verwendet worden sein. 205) »... als die Dialektgeographie einwandfrei dargetan hatte, daß die sprachliche Entwicklung abhängig ist von der Geschichte des Landes, daß die Sprache von den politischen, kirchlichen, wirtschaftlichen Schicksalen der Sprecher beeinflußt wird, mußte der Historiker aufhorchen.« Steinbach (wie Anm. 101)5. Zur Sprache als Verständigungsmittel und zur praktischen Bedeutung der Volkssprache M.Richter, Kommunikationsprobleme im lateinischen Mittelalter: HZ 222,1976,43-80. Für Südosteuropa Stökl (wie Anm. 93). Für Frankreich zur Zeit Philipps des Schönen sehr anschaulich j. Favier, Philippe le Bei. Paris 1978,36:»Ajoutons que 1'idée ne s'est pas encore imposée de la superioritě de l'une des formes de francais sur les autres, et quel'essemieldemeure, pourles contemporains dePhilippeleBel, de s'entendre. Parier catalan ä lacour de Philippe le Bei, c'ests'exposerän'etrepascompris.maisil neviendraitäl'ideedepersonned'aiderun Picard äse débarrasser d'unparler quel'on entendfort bien et qui semblenormal dans la bouche d'un Picard.« 206) Graus (wie Anm. 7) 140. Nicht eine Geschichte der Sprache, sondern die der Sprecher steht freilich im Zentrum unseres Interesses. Deshalb ist eine genaue Erfassung, Analyse und Beschreibung der Trägerschicht des mittelalterlichen deutschen Nationsbewußtseins eine wichtige Aufgabe, zeigt eine solche Beschreibung doch den gesellschaftlichen Umkreis, innerhalb dessen die schichtenspezifische Nation existierte, läßt damit zugleich die Möglichkeiten für eine Traditionsübermittlung erkennen und gibt Hinweise für die Erklärung der jeweils aufweisbaren Inhalte solcher Traditionen. In ihrer Schichtenspezifik hegt ja der fundamentale Unterschied der mittelalterlichen zur modernen Nation, die »nach einer Richtung im Zeitalter der französischen Revolution, nach einer anderen mit der deutschen Romantik durch ältere Klassenschranken und lokale Barrieren hindurch« bricht207'. Als Träger des mittelalterlichen deutschen Nationsbewußtseins dürfen wir König, Hof und königsnahen Adel ansehen, Teile der Geistlichkeit, Juristen im Hofdienst; zu fragen wäre darüberhinaus nach den Fernkaufleuten, dem städtischen Bürgertum überhaupt, dessen Bindung an das Reich vielfach zugleich eine Überlebensfrage war208'. So wird ein vielfach geschichteter, zeitlich versetzt auf mehreren Ebenen des politischen, sozialen und geistigen Lebens sich abspielender Vorgang sichtbar, der eine gleichmäßige Verdichtung früher Elemente zur Nation in Deutschland freilich nicht bewirkt hat. * Dieser Versuch eines orientierenden Überblicks konnte und sollte kein generelles Schema für die Verlaufsform des mittelalterlichen deutschen Nationsbildungsprozesses vorschlagen. Nach den bisherigen Ergebnissen der neueren Forschungen zur Sache empfiehlt es sich wohl, zunächst systematisch vorzugehen und erst in einem zweiten Schritt genetische Darstellung zu versuchen. Dieses Verfahren befreit von der romantisch inspirierten Suche nach den »Anfängen« und damit von der meist unbewiesenen Ansicht, es habe eine (»organische«) Entwicklung gegeben, die sich rekonstruieren ließe. Außerdem sollte versucht werden, zwischen den »Anfängen der deutschen Geschichte« und den »Anfängen Deutschlands« zu unterscheiden, also die Sammlung jener Elemente und typologischen Merkmale, die eine »deutsche« Geschichte, ein »deutsches« Königtum gegenüber »fränkischer« Geschichte und »fränkischem« Königtum abheben, zu trennen von der Frage nach dem Zeitpunkt, von dem an eine repräsentative Zahl von Menschen sich veranlaßt sah, ihre politische Formation als »deutsches Reich«, sich selbst als »Deutsche« zu verstehen. Zwischen beiden Komplexen herrscht Ungleichzeitig-keit, weil neben einem noch dominierenden fränkischen Bewußtsein bereits Elemente des Neuen ausgebildet worden sind. Die deutsche Geschichte hat in der Epoche des fränkischen 207) H. Rothfels, Grundsätzliches zum Problem der Nationalität: HZ 174, 1952, 339-358; hier 342. 208) Entscheidende Einsichten dazu im Rahmen einer Erörterung des »Kohärenzproblems« jetzt bei Moraw (wie Anm. 31) 175 ff. Zum Bürgertum H. Schmidt, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter. (Schriftenreihe d. Hist. Kommission bei d. Bayer. Akad. d. Wiss., Bd.3.) Göttingen 1958, 34ff. Vgl. G.Landwehr, »Nation« und »Deutsche Nation«. Entstehung und Inhaltswandel zweier Rechtsbegriffe unter besonderer Berücksichtigung norddeutscher und hansischer Quellen vornehmlich des Mittelalters: FS W. Reimers. Berlin 1979, 1-35. 58 joachim ehlers Reiches mit gleichsam subversiven Elementen begonnen, ohne daß Deutschland als politischhistorische Realität schon vorhanden war. Der oft in seiner Bedeutung herausgestellte »gestreckte Prozeß«, in dessen Verlauf sich die Nachfolgestaaten des karolingischen Reiches formiert haben, kann mit der vorgeschlagenen Differenz präziser beschrieben werden. Natürlich darf die Nationenforschung über der Suche nach Verlaufsformen, Kontinuitäten und Traditionen nicht das personale Element aus den Augen verlieren, das die Epoche kennzeichnet und dem geschichtlichen Ablauf sein hohes Maß an Kontingenz verleiht. Moderne Nationenforschung zwingt daher den einzelnen, Begrenzung auf die eigene Nationalgeschichte aufzugeben, weil ihn nur der komparatistische Ansatz zu neuen Erkenntnissen führt. Dabei darf es sich nicht um die bloße Übernahme von Forschungsergebnissen zur Geschichte eines oder mehrerer europäischer Länder handeln, sondern gefordert ist vertiefte eigene Arbeit an den jeweiligen Quellen. Klare Antworten auf eine Fülle von Fragen, Lösungen gar im Anschluß an das heute beliebte »Aufarbeiten« bestimmter Gebiete und Quellenkomplexe, sind für die nächste Zukunft allerdings nicht zu erwarten. Wohl aber geht es um ein geschärftes Problembewußtsein, das neue Aufgaben stellt und neues Licht auf scheinbar altbekannte Phänomene wirft. Schließlich mag dieses Problembewußtsein, wenn es sich ausbreitet, dem immer noch virulenten Nationalismus wenigstens seine naive Selbstverständlichkeit nehmen und ihn auflösen in unpathetischer Sicht der Lage und Erkenntnis der eigenen Würde, die in Europa immer auch die der anderen gewesen ist. Das Königtum als Integrationsfaktor im Reich VON REINHARD SCHNEIDER Das Spannungsverhältnis von universalen und nationalen Ansprüchen gehört zu den wesentlichen »Aspekten der Nationenbildung im Mittelalter«. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Probleme der deutschen Nationsbildung, und in konsequenter Weise hat daher Helmut Beumann 1978 »die Bedeutung des Kaisertums für die Entstehung der deutschen Nation im Spiegel der Bezeichnungen von Reich und Herrscher« untersucht1*. Dabei war trotz der thematischen Eingrenzung auch die Rolle des Königtums zu behandeln, wenngleich die besondere Aufmerksamkeit seiner Ausweitung und Erhöhung zum Kaisertum galt. Die eher enger zu fassende Frage jedoch, ob dem Königtum eine integrierende Bedeutung im Prozeß der deutschen Nationsbildung zukomme, ist in jüngerer Zeit nicht erörtert worden, obwohl manche Forschungstendenzen in diese Richtung zielen könnten. Daher soll hier das Königtum in seinem vorrangig nordalpinen Funktionsbereich einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Über die spezielle Reichsbezeichnung und den Königstitel läßt sich freilich bei der Frage nach der integrativen Bedeutung kaum ein Zugang gewinnen, weil der deutsche König bis zu Heinrich IV. den absoluten Königstitel führte. Erst dann nannte er sich Romanorum rex, während die Kanzlei das Reich zunächst schlicht als regnum oder impérium bezeichnete13', ab 1157 als Sacrum impérium und parallel dazu als Romanům Imperium. Seit 1254 ist dann die volle Form: Sacrum Romanům Imperium üblich geworden. So lassen die kanzleimäßigen Bezeichnungen für König und Reich wenig Raum für unseren Aspekt der deutschen Nationsbildung und zwingen zu Umwegen. Im folgenden ist vom Königtum die Rede, also vorrangig der Institution. Wenn man an Ernst Kantorowicz' berühmtes Buch über »The King's Two Bodies« anknüpfen darf2', wird 1) H. Beumann, Die Bedeutung des Kaisertums für die Entstehung der deutschen Nation im Spiegel der Bezeichnungen von Reich und Herrscher, in: Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter (NATIONES, Bd. 1, 1978) S. 317-365. - Auf die Arbeiten der Nationes-Reihe wird grundsätzlich verwiesen, während sich die folgenden Anmerkungen auf knappste Hinweise beschränken. la) H. Beumann, Der deutsche König als »Romanorum Rex« (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. XVIII Nr. 2) Wiesbaden 1981; vgl. auch im folgenden: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG) s.v. Heiliges Römisches Reich (A. Erler, 1972). 2) E.H.Kantorowicz, The King's Two Bodies: A Study in Mediaeval Political Theology (Princeton 1957).