Leistunuskurs Geschichte (Sachsen): Abiturpri'Miiiiz l'i'Mi M 1: Gustav Freytag1 in seinem Werk „Bilder aus der deutschen Vergangenheit": Als die Freiwilligen des Jahres 1813 im Felde lagen, war ihre Hoffnung, einst in dem befreiten Vaterland mit ihren Freunden als Bürger zu leben, die Freiheit, den Frieden, das eroberte Glück genießend. So schrieben sie ihren Lieben in die Heimat. Aber es ist zuweilen leichter, für die Freiheit zu sterben als für sie zu leben. (...) 5 Jetzt ist eine Zeit gekommen, wo nicht selten schuldlose und gute Männer verfolgt werden, nicht nur um ihrer Handlungen willen, auch weil man bei ihnen Absichten und Entwürfe voraussetzt. (...) Es ist ein trauriges Blatt der deutschen Geschichte. Die unabhängigen Charaktere zogen sich verstimmt von dem engherzigen Regiment zurück, welches jetzt in den 10 meisten Staaten Deutschlands begann, die gemeine Mittelmäßigkeit trat wie im Anfange des Jahrhunderts wieder an das Steuer. (...) Es war nicht Preußens Schuld, daß die Hoffnung des Volkes auf einen neuen deutschen Staat vereitelt wurde. Aber eine andere Schuld lud die Regierung auf sich. Der König hatte versprochen, seinem Volke eine Verfassung zu geben. Wenn je ein 15 Volk, hatte sich das preußische das Recht auf einen Anteil am Staatsleben errungen. Aus tiefer Niederlage hatte es seinem Könige den Staat wieder emporgehoben. Hätte der größte Staat Deutschlands durch gesetzliche Formen die Möglichkeit einer politischen Entfaltung seiner Kraft erhalten, so wäre jeder verständige Preuße sehr bald befriedigt worden. Presse und Tribüne hätten allmählich in dem loyalen Volke 20 das Gefühl des Gedeihens und eines sichern Fortschritts verbreitet, offen hätten die Gegensätze einander bekämpft; auch die, welche für Deutschland mehr forderten, als jetzt zu erreichen war, hätten sich eng an Preußen angeschlossen. Der Charakter der Deutschen hätte sich von Schwächen befreit, welche ihm durch ein ganzes Menschenalter anhängen sollten. Auch durfte der Staat selbst die Teilnahme des Volkes 25 nicht mehr entbehren, wenn er nicht in die alte Unkraft, die ihn vor wenigen Jahren dem Untergange nahe gebracht, zurückfallen sollte. Es war jetzt, wo neue Ideen um das Leben rangen, wo in Hunderttausenden leidenschaftlicher Anteil an dem Staat aufgeblüht war, für die Krone selbst eine Verfassung die sicherste Stütze. Denn die Preußen waren nicht mehr ein einsichtsloses und willenloses Volk, über dessen 30 Schicksal ein einzelner selbstwillig verfügen mag. (...) Aber es kam die Heilung. Nach und nach und wieder auf einem Umwege, mit kurzen Anläufen und Rückschlägen, im ganzen seit 1830 ein unaufhaltsamer Fortschritt. Denn zu derselben Zeit, in welcher die Julirevolution wieder in weiten Kreisen ein Interesse an dem Staate rege machte, begann auf anderen Gebieten neue Entwicklung 35 deutscher Volkskraft. (...) In dem Getöse und der Verwirrung des Jahres 1848 begannen die Stämme des deutschen Volkes vereint den Kampf um eine neue politische Gestaltung des Vaterlandes. Die Reichsversammlung von Frankfurt dürfen wir schon jetzt als eine charakteristische Bildung unseres Lebens auffassen, welche in solcher Würde und 40 maßvollen Besonnenheit nur in Deutschland möglich war. Nicht als Resultat, sondern als Beginn des höchsten Kampfes, als einen großartigen dialektischen Prozeß, in welchem die Nation Bedürfnisse und Sehnsucht zu einer politischen Idee, zum Wollen und Entschluß abklärte. Was 1815 noch undeutliche Phantasie einzelner gewesen war, wurde durch sie zu einer formulierten Forderung des Volkes, um 45 welche seitdem die Bewegung in auf- und absteigenden Wellen daherwogt. (...) 96-1 Aber der gesamte politische Streit der Gegenwart, der Kampf gegen die Privilegien, die Verfassungsfragen, die deutsche Frage, sie alle sind im letzten Grunde nur innere preußische Fragen. Und die letzte Schwierigkeit ihrer Lösung liegt zunächst in der Stellung, welche das preußische Königshaus zu ihnen einnimmt. An dem Tage, wo die Hohenzollern sich warm und willig den Bedürfnissen der Gegenwart hingeben, wird ihrem Staate die langentbehrte Empfindung der Stärke und Gesundheit kommen, von da wird die Führung der deutschen Interessen, die oberste Leitung des deutschen Volkes ihnen fast mühelos, wie von selbst zufallen. Das wissen Freunde und Feinde. 1 Gustav Freytag (1816-1895), Kulturhistoriker und Schriftsteller. Die „Bilder aus der deutschen Vergangenheit" (5 Bde, 1859-1867} sind sein kulturgeschichtliches Hauptwerk Aus: Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenkeit, Bd. 3, Leipzig, o. J., S. 616 ff. Aufgaben: Skizzieren Sie die innenpolitische Entwicklung im Deutschen Bund vom Wiener Kongreß bis zur Wahl der Nationalversammlung 1848. Erarbeiten Sie aus M 1, wie Gustav Freytag die einzelnen Stationen der deutschen Geschichte beurteilt. Bestimmen Sie davon ausgehend den politischen Standort des Verfassers. Prüfen Sie, inwieweit die Frankfurter Nationalversammlung „Bedürfnisse und Sehnsucht" der Nation „zu einer politischen Idee, zum Wollen und Entschluß abklärte" (Z. 42 f.). In M 1 heißt es, „... der Kampf gegen die Privilegien, die Verfassungsfragen, die deutsche Frage, sie alle sind im Grunde nur innere preußische Fragen. Und die letzte Schwierigkeit ihrer Lösung liegt zunächst in der Stellung, welche das preußische Königshaus zu ihnen einnimmt." (Z.46ff.) Untersuchen Sie diese Aussage anhand der historischen Entwicklung vom Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung 1849 bis zur Reichsgriindung 1871. Erörtern Sie, ob sich mit der Verfassung von 1871 die Hoffnung Gustav Freytags auf einen „Anteil am Staatsleben" (Z. 15) für das Volk erfüllt hat. ! BE 12 BE 12 BE 14 BE 14 BE 60 BE 96-2 96-3 Lösungsvorschlag 1 Nach dem Sieg der verbündeten Mächte über Napoleon erfolgte auf dem Wiener Kongreß die Neuordnung Deutschlands und Europas. Dabei wurde die Gründung eines „Deutschen Bundes" von 39 Einzelstaaten, einschließlich Preußens und Österreichs, beschlossen. Laut Bundesakte hatte diese lockere Staatengemeinschaft den Zweck, die „Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten" sicherzustellen. Das einzige Organ dieses Bundes war ein Gesandtenkongreß, der Bundestag, in dem Österreich den Vorsitz führte. Die Bundesakte schrieb zwar für die Bundesstaaten landständische Verfassungen vor, was jedoch nur in Sachsen-Weimar, Bayern, Baden und Württemberg umgesetzt wurde. Die Gründung eines Deutschen Reiches war wegen des österreichisch-preußischen Dualismus, dem Festhalten der anderen deutschen Staaten an der einmal errungenen Souveränität und dem Desinteresse der übrigen europäischen Mächte an einem starken Reich in der Mitte Europas unmöglich gewesen. Die Bestimmungen der Bundesakte und die anschließende politische Praxis in den Bundesstaaten führten zu Enttäuschung bei Liberalen und Patrioten, die ihre im Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft und in den Befreiungskriegen verfochtenen Ziele verraten sahen. Diese liberal-nationale Bewegung sollte bis zur Reichsgründung 1871 maßgeblich auf die Geschicke Deutschlands einwirken. Zunächst jedoch war in der Epoche der Restauration bei den konservativen Staatsvorstellungen der Fürsten für liberales Gedankengut kein Raum. Ein Teil des Bürgertums fand sich auch mit der neuen Ordnung ab und zog sich ins Privatleben zurück. Erfüllung suchte man in dieser Zeit des Biedermeier nicht im gesellschaftlich-politischen Einsatz, sondern bei der beruflichen Tätigkeit und in der Familie. Nicht alle Deutschen fanden sich jedoch mit den aufgeklärt-absolutistischen Zuständen ab. So gründeten Studenten Burschenschaften mit nationalem und liberalem Gedankengut. Ein erster Höhepunkt der Opposition war 1817 das Wartburgfest, wo sowohl des 300. Jahrestags der Reformation als auch des Jahrestags der Völkerschlacht 1813 gedacht wurde. Luthers Wirken, gesehen als geistige Befreiung von Bevormundung, und die Befreiung von der französischen Fremdherrschaft, also religiöse und politisch-militärische Ereignisse wurden zusammen zu Sinnbildern für den zu erringenden freien deutschen Nationalstaat. Das Verbrennen und Verhöhnen von Symbolen der alten Ordnung verdeutlichte den aktuellen Bezug des Protests. Nach der Ermordung des anti-burschen-schaftlich eingestellten Dichters und russischen Staatsrats Kotzebues 1819 reagierten die Herrschenden durch die Karlsbader Beschlüsse auf die Umtriebe der „Demagogen". Man einigte sich auf ein gemeinsames Vorgehen, das durch Zensur, Überwachung,' Verbote und Verfolgung die Ausbreitung nationaler und liberaler Ideen verhindern sollte. Gesamtdeutsche Polizeimaßnahmen brachten Professoren, Schriftsteller und Studenten für zehn Jahre zum Schweigen. Erst nach der Julirevolution 1830 in Frankreich regte sich die nationale und liberale Bewegung wieder in Deutschland. Freiheitskundgebungen zwangen die Fürsten in mehreren Staaten wie Hannover, Kurhessen und auch in Sachsen, Verfassungen zu gewähren. Von den in dieser Zeit veranstalteten politischen Festen ragte an Bedeutung das Hambacher Fest (1832) heraus. Der Wunsch nach Freiheit und Einheit ließ sich nicht unterdrücken, die Fürsten reagierten mit Verfolgungsmaßnahmen. So wurden z.B. 1837 die sieben Göttinger Professoren, die gegen die Aufhebung der hannoverschen Landesverfassung protestierten, durch den König des Landes verwiesen. Die Februarrevolution in Frankreich 1848 führte in Deutschland zu den liberalen Märzforderungen nach mehr politischer Teilhabe und Freiheiten für die Bürger. Die meisten Fürsten gaben nach, setzen liberale Märzministerien ein, gestanden bürgerliche Rechte zu und stellten Verfassungsänderungen in Aussicht. In Preußen und Österreich jedoch konnte die revolutionäre Bewegung erst nach Straßenkämpfen siegen. Metternich floh schließlich nach England und der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., mußte den toten Barrikadenkämpfern die letzte Ehre erweisen. Der Weg zur Wahl einer deutschen Nationalversammlung war frei. 2 Freytag bewertet die Befreiungskriege positiv. Die Hoffnung der Freiwilligen dieser Jahre bestand darin, „einst in dem befreiten Vaterland mit ihren Freunden als Bürger zu leben." (Z. 2) Doch statt dessen folgte die Zeit der Restauration, „wo nicht selten schuldlose und gute Männer verfolgt werden" (Z. 5 f.). Das „engherzige Regiment", „welches jetzt in den meisten Staaten Deutschlands begann" (Z. 9 f.) ist für ihn ein „trauriges Blatt der deutschen Geschichte" (Z. 8). Die Ergebnisse des Wiener Kongresses und die Zustände in den Staaten des Deutschen Bundes werden von ihm also kritisiert, da sie die Wünsche des Volkes nach Einheit und Freiheit nicht erfüllt worden waren. Freytag spricht Preußen ausdrücklich von der Schuld am Scheitern des deutschen Nationalstaates frei (Z. 12 f.), nicht jedoch von der NichtVerwirklichung liberaler Verfassungsideen im Inneren. Dem König wird ausdrücklich der Bruch des Verfassungsversprechens vorgeworfen, denn das preußische Volk hatte „das Recht auf einen Anteil am Staatleben errungen", hatte es doch „seinem König den Staat wieder emporgehoben" (Z. 15 ff.). Das Volk hätte die Gewährung einer Verfassung durch Loyalität vergolten (Z. 18 ff.), und auch die Freunde der Einheit hätten sich Preußen zugewendet (Z. 21 f.). Die Teilnahme der Bürger an ihrem Staat sei die beste Gewähr, um einen Zusammenbruch Preußens wie unter Napoleon zu vermeiden (Z. 24 ff.). Aber für Freytag änderte sich die Lage 1830, denn „es kam die Heilung" (Z. 31). Durch die Julirevolution in Frankreich bedingt, sei das politische Interessse in Deutschland wieder gewachsen (Z. 31). Dieser Weg führte zur Frankfurter Nationalversammlung. Die Revolution von 1848 ist für Freytag ein neuer Höhepunkt der Entwicklung. In ihr sah er die Möglichkeit, die brennenden Fragen der Nation, die Einheit und Freiheit, die Ziele von 1815, abzuklären und zu entscheiden (Z. 41 ff.). Nun aber sei die Zeit nach 1848 bis in die sechziger Jahre eine Bewegung in „auf- und absteigenden Wellen", um die Forderungen von 1848 durchzusetzen. Die letzte Entscheidung über die Frage der Einheit hänge aber vom preußischen Königshaus ab (Z. 46 ff.), dem bei einem konsequenten Willen in dieser Frage die Führung in Deutschland „fast mühelos, wie von selbst" (Z. 53 f.) zufiele. Freytag befürwortete also einen einheitlichen deutschen Nationalstaat unter preußischer Führung. Dabei sollte das Volk am Staatsleben im Rahmen einer Verfassung mit monarchischer Spitze teilnehmen (Konstitufioftalismus). Seine Sympathie für die führende Rolle Preußens und für das preußische Königshaus ist deutlich spürbar. Freytag ist demnach ins rechte Lager des Liberalismus einzuordnen und kann als Nationaliberaler bezeichnet werden. 3 Bei den angesprochenen Bedürfnissen und der Sehnsucht der Nation handelt es sich um den Wunsch nach einem einheitlichen deutschem Nationalstaat und einer Beteiligung des Volkes am politischen Leben durch eine Verfassung. 96-4 96-5 Die Paulskirche, selbst ja das Ergebnis der von Freytag angesprochenen „Bedürfnisse und der Sehnsucht", stand also vor zwei schwierigen Aufgaben. Konnte auch das große Ziel der Einheit nicht erreicht werden, so wurde ein für die damalige Zeit modernes Verfassungswerk geschaffen. Die Nationalversammlung begann mit der Ausarbeitung der Grundrechte der Deutschen. Nach den Erfahrungen mit Restauration und Reaktion schienen den Abgeordneten rechtsstaatliche Sicherungen besonders dringend. Im Dezember 1848 war der Grundrechtskatalog fertiggestellt, der sich ganz an Forderungen des Liberalismus orientierte. Anregungen hinsichtlich sozialer Grundrechte wurden nicht berücksichtigt. Bei den Beratungen über die weitere Ausgestaltung der Verfassung ergaben sich bei den eigentlich politischen Entscheidungen weit auseinanderliegende Positionen. Da es politische Parteien im heutigen Sinne noch nicht gab, entstanden lockere Fraktionen von Gleichgesinnten, die nicht in allen Problemen übereinstimmten und wobei je nach Frage Umgruppierungen und Abspaltungen vorkommen konnten. Was die Staatsform anging, verlangte eine linke Minderheit die Errichtung einer Republik, hatte aber gegen die große Mehrheit der Befürworter der Monarchie keine Chance. Hiermit hing auch die Frage zusammen, ob die Volkssouveränität oder das Prinzip der Vereinbarung mit den Monarchen die Grundlage des neuen deutschen Staates darstellen sollte. Wie aber sollte in diesem neuen Reich das Verhältnis zwischen den Bundessstaaten und der Zentralgewalt beschaffen sein? Die Spannweite der Meinungen reichte von den Konservativen, die die Selbständigkeit der Einzelstaaten möglichst wenig einschränken wollten bis zu den Radikalen, die einen unitarischen, d.h. eher zentralistischen Aufbau des Reiches forderten. Zudem war die Frage zu klären, welche Rechte an der Staatsspitze dem Monarchen, welche dem Parlament zufallen sollten. Das konservativere Lager der Liberalen, das rechte Zentrum, sprach sich für eine starke Stellung eines Erbkaisertums aus, wobei der Herrscher gegenüber dem Parlament über ein Vetorecht verfügen sollte. Die gemäßigteren Kräfte des Zentrums plädierten für einen Wahlkaiser und nur ein aufschiebendes Veto. Bei beiden Positionen sollte die Volksvertretung sich auf die Aufgaben der Gesetzgebung beschränken und nicht in die Exekutive eingreifen. Beim Wahlrecht trat das liberale Bürgertum gegen die Linken, die das allgemeine Wahlrecht forderten, für ein Zensuswahlrecht ein, wobei das Wahlrecht an die Steuerleistung des einzelnen für den Staat gebunden ist. Schließlich aber überragte eine Frage alle anderen: die nach den Grenzen des neuen Staates. Die großdeutsche Position verlangte den Einschluß der Gebiete Österreichs, die bisher zum Deutschen Bunde gehört hatten, auch wenn sie nicht mehrheitlich von Deutschen bewohnt waren, wie Teile Böhmens oder Südtirols. Im Osten Preußens sollten die von Deutschen bewohnten Gebiete hinzutreten, die bisher außerhalb des Bundes standen. Die Kleindeutschen waren skeptisch, ob es möglich sein würde, die bisherigen bundeszugehörigen Teile der Donaumonarchie in ein deutsches Reich einzubeziehen und wollten daher darauf verzichten. Zunächst trat die ganz große Mehrheit des Parlaments für die großdeutsche Lösung ein. Die Entscheidung zugunsten der kleindeutschen Lösung fie! erst durch die zunehmende Stabilisierung der Donaumonarchie, vor allem durch die Politik des österreichischen Ministerpräsidenten Fürst von Schwarzenberg, der die Möglichkeit des Einschlusses nur der deutsch-österreichischen Teile endgültig scheitern ließ, da er nicht daran dachte, die Einheit des Habsburgerstaates zu,gefährden. Dieses Problem konnte auch die Idee, Österreich durch einen weiteren Bund mit dem neuen deutschen Staat dauerhaft zu verbinden, nicht lösen. Dennoch bedurfte es noch parlamentarischer Verhandlungen, bis ein mehrheitsfähiges Gesamtpaket vorlag. Um eine Mehrheit in der Paulskirche zu finden, wurden die verschiedene Probleme miteinander verknüpft. Die kleindeutsche Lösung wurde zugrunde gelegt und die gemäßigte Linke nahmen das Erbkaisertum, eine starke Gruppe der Liberalen das allgemeine Wahlrecht und das aufschiebende Veto des Kaisers an. Sicher sind manche Entscheidungen des Parlaments nur Kompromisse. Aber es spricht eben auch für die Reife des Hauses, daß solche erarbeitet werden konnten. Zudem tagte das Parlament keineswegs nur im „Elfenbeinturm", sondern Bürger und Verbände wandten sich mit zahlreichen Eingaben an ihre Abgeordneten, und sahen in ihnen also durchaus ihre Vertreter. Zwar lassen sich auch Proteste der Unterschichten mit weitergehenden Forderungen nach sozialer und politischer Umgestaltung feststellen, die keine Berücksichtigung in der Verfassung gefunden haben. Demgegenüber aber bleibt festzuhalten, daß die von der Nationalversammlung erarbeitete Verfassung ein von liberalen Grundsätzen geprägtes, tragfähiges Werk darstellte, das besonders in Gestalt der Grundrechte noch auf die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz Einfluß haben sollte. Sicher ist die Umsetzung der Verfassung an den Widerständen der alten Ordnung, am Machtproblem und Fehlern der Pauiskirchenversammlung gescheitert. Aber die Einheit hatte sich als unbestreitbarer Wunsch der Deutschen erwiesen und der Konstitutiona-limus hatte sich endgültig in Deutschland durchgesetzt. Auch Preußen erhielt eine Verfassung, wenn auch von Friedrich Wilhelm IV. oktroyiert. Nur Österreich stand noch abseits. Insofern hatte die Paulskirche trotz ihres Scheiterns dazu beigetragen, die Bedürfnisse und die Sehnsucht der Nation wohl „zu einer politischen Idee, zum Wollen und Entschluß" (Z. 42f.) abzuklären. 4 Der enge Zusammenhang zwischen der Lösung der deutschen Frage und der Haltung Preußens dazu ist bis zur Reichsgründung 1871 deutlich aufzeigbar. Im Mai 1849 lehnte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die ihm von der Abordnung der Nationalversammlung angetragene deutsche Kaiserkrone ab, da er sich als legitimer Herrscher von Gottes Gnaden verstand, der nicht bereit war, eine Krone aus der Hand des Volkes entgegenzunehmen. Mit dem anschließenden Scheitern der preußischen Unionspläne eines kleindeutschen Reiches mit Anbindung Österreichs aufgrund fürstlicher Vereinbarung unter Radowitz, wurde der Deutsche Bund wiederbelebt. Die deutsche Frage ruhte zunächst einmal auf Eis. Der preußisch-österreichische Dualismus verhinderte jeden Fortschritt. Wilhelm I. als Nachfolger seines Bruders war mehr militärisch geprägt und dachte daher an die Verstärkung der preußischen Armee, wobei die Rolle der Landwehr, das Symbol der Bürgerarmee, zurückgedrängt werden sollte. In der sich daraus ergebenden Auseinandersetzung mit dem preußischen Abgeordnetenhaus wußte sich Wilhelm nur durch die Berufung des Grafen Bismarck, eines bekannten Konservativen, zum Ministerpräsidenten zu retten. Damit erhielt auch die deutsche Frage neuen Anstoß, denn Bismarck wollte den deutschen Staat, und unter preußischer Führung. Österreich, in der Zwickmühle zwischer Eigenstaatlichkeit und deutscher Einigung, ließ sich von Bismarck in der schleswig-holsteinischen Frage noch einmal auf ein gemeinsames Vorgehen mit Preußen im Stile des alten Dualismus gewinnen. 96-6 96-7 Die beiden Sieger im Krieg 1864 gerieten jedoch bald über die weitere Behandlung der Beute aneinander und dies bot Bismarck die Chance, endgültig gegen Osterreich vorzugehen. Nach einigem diplomatischen Vorspiel beim Bundesrat in Frankfurt trat Preußen schließlich aus dem Deutschen Bund aus und den folgenden Krieg gewann es innerhalb von fünf Wochen (Schlacht bei Königgrätz). Österreich wurde im Frieden von Prag 1866 milde behandelt, mußte allerdings der Neuordnung Deutschlands ohne seine Beteiligung zustimmen. Danach entstand der Norddeutsche Bund und mit den süddeutschen Staaten wurden Schutz- und Trutzbündnisse abgeschlossen. Vor dem Hintergrund von Bismarcks Erfolgen konnte auch der Verfassungskonflikt beigelegt werden. Der Einheit stand jetzt nur noch Frankreich im Wege, daß die Veränderung des europäischen Gleichgewichts zu seinen Nachteil und zugunsten Preußen-Deutschlands nicht ohne Kompensationen hinnehmen wollte. Bismarck sah diese Auseinandersetzung als unvermeidlich an und wartete auf die Gelegenheit, um sie als Nationalkrieg führen zu können. Der Streit um die spanische Thronfolge bot ihm die Chance dazu. Obwohl der Hohenzollernprinz schließlich auf die Kandidatur verzichtet hatte, verlangte Frankreich eine Zusicherung, daß Preußen niemals wieder auf diese Kandidatur zurückkommen werde. Nach der Veröffentlichung der gekürzten Fassung des Gesprächs zwischen Wilhelm I. und dem französischen Botschafter Benedetti in der Emser Depesche erklärte Napoleon III. unter dem Druck der Öffentlichkeit Preußen den Krieg. Mit dem Sieg der deutschen Waffen war der Weg zur Ausrufung des Kaiserreiches in Versailles frei. Die geschilderte Entwicklung zeigt also, daß bei der Frage der deutschen Einigung es führend auf die Initiative Preußens ankam, der Behauptung Freytags also zugestimmt werden kann. Laut der Verfassung von 1871 war das Reich eine konstitutionelle Erbmonarchie, entstanden aus einem Bund von Fürsten. Das Volk hatte bei der Erarbeitung der Verfassung von 1871, im Gegensatz zur Erarbeitung der Paulskirchenverfassung, nicht teilgenommen. Dementsprechend enthielt die Verfassung auch keine Garantie der Grundrechte. Nach der Reichsverfassung hatte das Volk durch den Reichstag Anteil am Staatsleben. Er wurde in allgemeinen, direkten und geheimen Wahlen von Männern über 25 Jahren gewählt. Der Einfluß der Reichstages auf die Politik war jedoch begrenzt. Zwar besaß er das Gesetzgebungs- und Haushaltsrecht, mußte es allerdings mit dem Bundesrat, bestehend aus den Abgesandten der Regierungen der Bundesstaaten, teilen. Zudem war das Haushaltsrecht durch die Regelung des Septennats für miltärische Ausgaben ausgehöhlt. Auf die Regierungsbildung hatte der Reichstag keinen Einfluß. Sie war allein Sache des Monarchen und der Reichskanzler brauchte für seine Amtsführung auch nicht das Vertrauen des Reichstags. Der Reichskanzler war jedoch dem Parlament gegenüber verantwortlich, d. h. er mußte sich Interpellationen und Anfragen stellen. Allerdings blieb der Reichstag nicht ohne Einfluß auf die Regierungsarbeit, denn der Kanzler mußte bei Gesetzesvorhaben und Haushalt ja eine funktionierende Mehrheit für seine Politik im Parlament finden. Für den Fall, daß die Reichstagsmehrheit der Exekutive nicht folgte, hatte der Kaiser zusammen mit dem Bundesrat das Recht, den Reichstag aufzulösen, was auch 1878 und 1906 geschah. Darüber hinaus wurden Staatsstreichgedanken filtriert. Wurden sie auch nie umgesetzt, so werfen diese Überlegungen doch ein bezeichnendes Licht auf die Einteilung der Staatsführung zum Parlament. Die Mitwirkungsrechte des Volkes waren besonders im miltärischen Bereich eingeschränkt. Er unterstand nicht der politischen Kontrolle, sondern dem Monarchen, womit ein Kernbereich der Macht außerhalb des Verfassungsstaats stand. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß mit Bismarck zunächst zwanzig Jahre ein Kanzler an der Spitze der Regierung stand, der die Geschäfte autoritär führte und den Reichstag in seinem Sinne zu instrumentalisieren versuchte. Insgesamt läßt sich aus heutiger Sicht feststellen, daß obrigkeitsstaatliche Strukturen nur begrenzte Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes bzw. der Volksvertretung zuließen. Bei der Erstellung der Verfassung von 1871 bzw. ihres Vorläufers für den Norddeutschen Bund stand eben nicht die Leitidee des mündigen Bürgers Pate, sondern die Schaffung eines nationalen Machtstaates, der die Stellung der führenden Schichten sichern sollte. Demgegenüber bleibt festzuhalten, daß die ganz große Mehrheit der Deutschen diesem Obrigkeitsstaat annahm und auch von den Parteien zielstrebige Bemühungen zur Parlamentarisierung des Reiches nicht wirklich unternommen wurden. Dies geschah erst im Oktober 1918, nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und auf Befehl von oben. 96-8 96-9 Leistungskurs Geschichte (Sachsen): Abiturprüfung 200G Ersttermin - Aufgabe A M1: Flugblatt der Deutschnationalen Schriftenvertriebsstelle Berlin, den 27. März 1929 Die Verhandlungen über eine endgültige Regelung der deutschen Kriegstribute geben hervorragenden Mitgliedern des amerikanischen Volkes Gelegenheit, ihre gewichtige Stimme im Sinne einer endlichen Befriedung Europas und damit der Welt in die 5 Waagschale zu werfen. Diese Befriedung wird nur erreicht, wenn die endgültige Regelung den Grundsätzen der Vernunft und Gerechtigkeit entspricht und der Leistungsfähigkeit Deutschlands angepaßt wird. Sie wird nur erreicht, wenn Deutschland nicht die Möglichkeit genommen wird, Hüter der Kultur zu bleiben, wie es im gleichen Sinne auch die Vereinigten Staaten von Amerika nicht nur selbst wieder sein wollen, 10 sondern auch uns gönnen werden zu sein. Die äußeren und inneren Feinde des deutschen Volkes behaupten noch immer, Deutschland, und insbesondere seine rechts eingestellten Kreise, die mit dem unklaren Schlagwort „reaktionär" belegt werden, hätten den Krieg verschuldet. Die Aufklärungsarbeit namhafter Gelehrter [...] und das umfangreiche Aktenmaterial der geöff-15 neten Archive hat aber die Gültigkeit des Wortes bestätigt, das Hindenburg auf dem Schlachtfeld von Tannenberg prägte: „Mit reinen Herzen sind wir in den Krieg gezogen, und mit reinen Händen haben wir das Schwert geführt." Die Deutschnationalen wissen die Bestrebungen des Staatssekretärs Kellogg, durch einen Pakt alle Völker zur Ächtung des Krieges zu veranlassen, wohl zu würdigen. Wir 20 sympathisieren mit diesen Bestrebungen. Wenn wir uns trotzdem entschlossen haben, der Ratifizierung des Kelloggpaktes unsere Zustimmung zu versagen, dann geschah das, weil wir den unerträglichen Status quo, wie ihn der Versailler Vertrag geschaffen hat, nicht freiwillig anerkennen können. Der Versailler Vertrag hat das deutsche Reich seiner Hoheitsrechte beraubt und will 25 es zu einer Kolonie der Alliierten degradieren. Wir halten einen gerechten Frieden für angebracht, der Deutschland die tatsächliche Gleichberechtigung unter den Völkern gewährt. Wir wollen, daß das von Präsident Wilson verkündete Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für das deutsche Volk Gültigkeit erhält. Jeder neue Vertrag aber, der den Status quo von heute zur Grundlage hat, schafft eine 30 moralische Stütze für den Versailler Vertrag. Wir wollen keinen Krieg; aber wir wollen unser Recht und unsere Freiheit. Deutschland ist nicht in der Lage, die bisherigen Lasten aus eigener Kraft zu tragen. Nur die Anleihen, die ihm-in der Hauptsache von Amerika - gegeben wurden, ermöglichen die Zahlung der Tribute an die Alliierten. Aus eigener Kraft hat Deutsch-35 land seit dem Dawes-Pakt nichts zu zahlen vermocht. Zur Zeit zahlen also die Amerikaner die Tributlasten Deutschlands. Sie sind es, die -sicherlich ohne bösen Willen, aber tatsächlich - den Militarismus Frankreichs finanzieren, den Engländern ihren Flottenbau ermöglichen. Sie sind es, die auch dem Marxismus in Deutschland die Mittel in die Hand geben, staatssozialistische und wirt-40 schaftssoziaüstische Experimente zu machen. 2000-1 Unter der Last der mit Hilfe der Anleihen bezahlten Tribute verarmt Deutschland immer mehr. Es ist eine Lüge, daß Deutschlands Wohlstand wächst, so wie es eine Lüge ist, daß Deutschland zahlungsfähig sei. Die wachsende Last der Schulden gefährdet schließlich die Anleihen selbst sowie die deutsche Währung. Amerika hat also 45 auch mit Rücksicht auf das in Deutschland angelegte Kapital kein Interesse daran, die Jahreszahlungen über die Leistungsfähigkeit Deutschlands zu legen. [...] Nur eine gerechte Endlösung gibt dem deutschen Volke die Möglichkeit, die Aufgaben zu erfüllen, die ihm seine geographische Lage zuweist: den Schutz der zivilisierten Welt vor dem Bolschewismus - eine Aufgabe, in der eigentlich die gebildeten. 50 einsichtigen und fortschrittlichen Elemente der Welt zusammenstehen sollten. Treibt man es durch eine unvernünftige Politik und durch untragbare Lasten zur Verzweiflung, so treibt man es dem Bolschewismus in die Arme. Dann erst ist Deutschland in Gefahr. [...] Unsere Sache äst die Sache aller derjenigen Elemente, die den Kampf gegen das Chaos 55 wollen. Macht man uns durch eine unvernünftige Regelung der Tributlasten den Kampf unmöglich, dann bricht das Chaos über Deutschland und damit über Europa herein und bringt schließlich die ganze zivilisierte Welt in Gefahr. Denn der Bolschewismus und Sozialismus ist nicht eine Besonderheit Rußlands, sondern eine seelische Erkrankung der industriellen Menschheit, die unter Umständen 60 auch über den Ozean springt wie die Grippe. „Unsere Sache ist eure Sache!" (gez.) Alfred Hugenberg (Rechtschreibung und Zeichensetzung folgen der Vorlage) Aus: Flugblatt Nr. 517 a der Deutschnationalen Schriftenvertriebsstelle. In: Johannes Hohlfeld (Hrsg.): Dokumente der deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Bd. 3:1919-1933. Berlin 1973, S. 227-229 Aufgaben: 1. Stellen Sie die Rolle des Deutschen Kaiserreiches in der internationalen Politik von 1890 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges dar. 2. Erarbeiten Sie die Kernaussagen aus M 1 und leiten Sie daraus Absichten Hugenbergs ab. 3. „Der Versailler Vertrag hat das Deutsche Reich seiner Hoheitsrechte beraubt und will es zu einer Kolonie der Alliierten degradieren." (Z. 24/25) Prüfen Sie, inwiefern diese Einschätzung Hugenbergs für die Zeit der Weimarer Republik zutreffend ist. 4. Beurteilen Sie die Auffassung des Autors zur Kriegsschuldfrage. Beziehen Sie in Ihre Darlegungen verschiedene historische Erklärungsansätze zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein. 5. Skizzieren Sie die internationalen politischen Rahmenbedingungen zwischen 1945 und 1955 und die Auswirkungen auf Deutschland. 10 BE 12 BE 12 BE 14 BE 12 BE 60 BE 2000-2 2000-3 Lösungsvorschlag Nach dem Sturz Bismarcks durch Kaiser Wilhelm II. 1890 wurde ein neuer Kurs in der deutschen Außenpolitik eingeschlagen. Die fein austarierte und komplizierte Bündnispolitik wollten Bismarcks Nachfolger nicht weiterführen. Schon die Nichterneuerung des RückVersicherungsvertrags mit Russland 1890 unterminierte den kunstvollen Bau des Vertragswerks, denn sie führte zwischen 1891 und 1893 zum russisch-französischen Zweibund, einem militärischen Defensivbündnis, das für Deutschland die Gefahr eines Zweifrontenkrieges heraufbeschwor, den Bismarck immer hatte verhindern wollen. Die ehrgeizige neue Außenpolitik musste eine Vergrößerung der deutschen Kriegsmarine und des Heeres als Voraussetzung haben. Der konsequent betriebene Ausbau der Schlachtflotte unter dem Staatssekretär des Reichsmarineamtes Alfred von Tirpitz belastete vor allem das deutsch-englische Verhältnis, bis es im Laufe der Jahre zum deutschenglischen Gegensatz führte. Trotzdem suchte England um die Jahrhundertwende den Ausgleich mit Deutschland. In Berlin aber zeigte man sich England gegenüber reserviert, weil befürchtet wurde, dass England Deutschland in einen Krieg mit Russland treiben wollte, damit es für England „die Kastanien aus dem Feuer hole". Im weiteren Verlauf wandte sich England Frankreich zu, und beide vereinbarten 1904 nach der Faschoda-Krise nicht nur einen Interessenausgleich, sondern auch eine Gesamtbereinigung ihrer jahrhundertealten Feindschaft in einer vertraglich abgesicherten „entente cordiale". Nach der Krise Russlands und dem Krieg mit Japan sah sich England in der Lage, sich mit dem geschwächten Russland zu verständigen. Der von Frankreich diplomatisch heftig geforderte englisch-russische Ausgleich von 1907 offenbarte mit überdeutlicher Klarheit die trügerische Selbstgewissheit der deutschen Außenpolitiker, die davon ausgingen, dass der „russische Bär" und der „englische Walfisch" wegen ihrer Gegensätze in Ostasien niemals zusammenfinden würden. 1907 stand also Deutschland, im Dreibund mit Österreich-Ungarn und Italien, der starke Dreibund England-Frankreich-Russland gegenüber. Auch Reichskanzler Bernhard von Bülow erkannte die gefährliche Mittellage Deutschlands und sprach von einer beginnenden Einkreisung. Immer wieder spitzte sich die Lage in Europa in dem Jahrzehnt vor 1914 krisenhaft zu. In den beiden Marokkokrisen, 1905/06 und 1911, gerieten Frankreich und Deutschland in einen heftigen Interessenkonflikt. Auf der internationalen Konferenz von Algeciras, 1906, bekam Frankreich freie Hand im Sultanat Marokko, während die deutschen Interessen - nur von Österreich unterstützt - unberücksichtigt blieben. Die deutsche Regierung schickte 1911 mit einer Aktion, die man „Panthersprung" nannte, ein Kanonenboot nach Agadir, als französische Truppen wegen innerer Unruhen die marokkanische Hauptstadt Fes besetzten. Deutschland pochte auf ein Mitspracherecht und verlangte die französische Kongo-Kolonie, wenn Frankreich Marokko überlassen werden sollte. Schließlich wurde Marokko französisches Protektorat und Deutschland musste sich mit einer Vergrößerung seiner Kolonie Kamerun zufrieden geben. England stellte sich - eigentlich Konkurrent Frankreichs in Afrika - demonstrativ auf die Seite Frankreichs. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Bismarcks „Politik der Saturiertheit" längst vom „Neuen Kurs" Wilhelms II. abgelöst worden war, mit dem dieser einen Anspruch Deutschlands auf einen „Platz an der Sonne" im kolonialen Wettlauf geltend machen wollte. „Weltpolitik als Aufgabe, Weltmacht als Ziel, Flotte als Instrument" wurde als Maxime geräuschvoll vertreten und von der Nation begrüßt. Seit 1891 wurde diese Linie vor allem vom Alldeutschen Verband, beeinflusst vom Leiter der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, Friedrich von Holstein, verfolgt. In Überschätzung der eigenen Kraft begann der Zick-Zack-Kurs einer ziellos-schwankenden Außenpolitik. 2000-4 Die Krisengebiete verlagerten sich von Übersee auf den Balkan. 1908 annektierte Österreich die seit 1878 besetzten ehemaligen türkischen Gebiete Bosnien und Herzegowina, um die türkischen und serbischen Interessen abzublocken. Deutschland stellte sich in „Nibelungentreue" hinter Österreich. Russland, noch geschwächt durch den russischjapanischen Krieg, musste Österreichs Vorgehen hinnehmen. In der zweiten Balkankrise, als die Italiener die Türken besiegt hatten und vor allem Serbien auf Kosten der Türkei, Montenegros, Griechenlands sowie Bulgariens auf dem Balkan expandierte, sah sich Österreich ermutigt, mit bewaffnetem Einsatz zu drohen. In der Marokkokrise konnte sich Deutschland gegen die Entente-Mächte nicht durchsetzen, in der Balkankrise unterstützte es die österreichische Politik und machte sich damit Russland zum Gegner. Mit diplomatischem Ungeschick, lauten Machtdemonstrationen und säbelrasselnder Politik - die Krügerdepesche 1896, die Daily-Telegraph-Affaire und die „Hunnenrede" sollen als Beispiele genügen - rief die deutsche Außenpolitik Proteststürme im In- und Ausland hervor. Eine Zuspitzung erfuhr die krisenhafte Situation im Juni 1914. Die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand von Österreich durch einen Serben veranlasste Österreich-Ungarn zu einem scharfen Ultimatum an Serbien. Obwohl Serbien auf fast alle Forderungen einging, erklärte Österreich-Ungarn - von Deutschland in seinem Handeln bestärkt - Serbien den Krieg. Russland wollte seinen serbischen Verbündeten nicht im Stich lassen und verfügte die Mobilmachung seiner Truppen. Die Verhandlungsversuche scheiterten. Der deutsche Generalstab hielt einen Erfolg im Zweifrontenkrieg nur dann für möglich, wenn Russland keine Zeit zur Kriegsvorbereitung gelassen würde. Deshalb erklärte das Reich Russland und Frankreich den Krieg. Als die deutschen Truppen, dem Schlieffen-Plan entsprechend, in das neutrale Belgien einmarschierten, erklärte England Deutschland den Krieg. 2. Hugenbergs Kernaussagen: - Die auf der Basis der längst widerlegten angeblichen deutschen Kriegsschuld aufgestellten Reparationsforderungen sollten endlich zugunsten einer friedlichen Kooperation in Europas vernünftig und gerecht geregelt werden (Z. 1-17). - Alle Verträge - auch wenn sie inhaltlich annehmbar seien (Kellog-Pakt) - müssten von den Deutschnationalen blockiert werden, da sie in den Grundsätzen auf dem Versailler Vertrag beruhten (Z. 18-23). - Der Versailler Vertrag widerspräche den Zielen Wilsons und die Reparationen überforderten Deutschlands Wirtschaftskraft (Z. 24-28, 33/34). - Nur amerikanische Hilfe (Dawes-Plan) halte Deutschland noch zahlungsfähig, indirekt finanziere Amerika auf diese Weise aber den französischen Militarismus, den englischen Flottenbau sowie den deutschen Marxismus und gefährde damit sein eigenes Kapital in Deutschland (Z. 33-46). - Die geografische Lage weise Deutschland die natürliche Aufgabe zu, die Gefahr zu bannen, dass sich der Bolschewismus nach Westen ausbreite (Z. 47-50). - Wenn man Deutschland durch überzogene Forderungen daran hindere, erhöhten die westlichen Siegermächte die Gefahr, die der ganzen zivilisierten Welt durch Bolschewismus, Sozialismus und Chaos drohe (Z. 55-61). Absichten Hugenbergs: - taktisch geschickte Suggerierung eines ausgeprägten Gerechtigkeitssinns der Deutschnationalen zum Zeitpunkt der Young-Plan-Gespräche, - Aufzeigen angeblicher wirtschaftlich-politischer und kulturell-ideologischer Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und den USA, - erneute Anti-Versailles-Kampagne und damit eine Grundsatzerklärung der Deutschnationalen, 2000-5 - öffentliche, republikfeindliche Positionierung durch Distanzierung und Ablehnung von Entscheidungen der demokratischen Politiker, - Instrumentalisierung der Furcht vor dem „Bolschewismus" als Druckmittel gegen die Amerikaner. Die Einschätzung Hugenbergs konzentriert sich auf die zwei Gesichtspunkte, dass das Deutsche Reich durch den Versailler Friedensvertrag seiner Hoheitsrechte „beraubt und zu einer Kolonie der Alliierten degradiert" sei und dass der von den deutschen Vertretern am 28. Juni 1919 unterzeichnete Vertrag von Versailles vom Reich als „Diktat" gesehen und von vielen als nationale Schmach und schwere Bürde empfunden werde. Deutschland verlor EIsass-Lothringen an Frankreich, Eupen und Malmedy an Belgien, Posen und den größten Teil Westpreußens an die neu entstandene Republik Polen. Volksabstimmungen führten zu Abtretungen Nordschleswigs an Dänemark (1920), des wirtschaftlich wertvollen und volkreichen Teils von Oberschlesien an Polen (1921). Unter Einbeziehung des Weichseldeltas wurde Danzig zur Freien Stadt, das Memelgebiet dem Völkerbund unterstellt. Durch den so genannten Polnischen Korridor, der Polen einen Zugang zur Ostsee verschaffte, aber Ostpreußen vom übrigen Reichsgebiet abschnitt, wurde die territoriale Einheit Deutschlands zerrissen. Das Hultschiner Land fiel an die Tschechoslowakei. Das Saargebiet wurde dem Völkerbund unterstellt, die Saargruben gingen in französisches Eigentum über. Deutschland verzichtete ferner auf alle überseeischen Besitzungen, die zum Völkerbund kamen und als Mandate an andere Mächte weitergegeben wurden. Zur Einhaltung der militärischen Beschränkung musste Deutschland abrüsten. Es verblieben ihm ein Heer von 100 000 Berufssoldaten mit genau vorgeschriebener Bewaffnung und geringe Seestreitkräfte; Unterseeboote und Luftstreitkräfte wurden verboten. Beiderseits des Rheins wurde'eine entmilitarisierte und festungsfreie Zone geschaffen. Um die Durchführung der Verträge sicherzustellen, sollte das linksrheinische Gebiet während eines Zeitraums bis zu 15 Jahren durch Truppen der Siegerstaaten besetzt bleiben. Da Deutschland im Friedensvertrag von Versailles die Alleinschuld am Krieg gegeben wurde, forderten die Siegermächte von ihm die Wiedergutmachung der Verluste und Schäden, welche sie erlitten hatten. Diese Reparationslasten wurden auf Folgekonferenzen nach Versailles 1920 zunächst auf 269 Mrd. Goldmark, 1921 auf 132 Mrd., zahlbar in 37 Jahren, festgelegt; nach dem so genannten Dawes-Plan von 1924 sollte „Deutschland bis an die äußerste Grenze seiner Leistungsfähigkeit" gehen. Am 11. Juli 1923 marschierten französische und belgische Truppen unter dem Vorwand eines geringfügigen Rückstands der Reparationszahlungen ins Ruhrgebiet ein. Erst im Young-Plan von 1929 wurde die Reparationslast endgültig geregelt. Deutschland sollte in 59 Jahren - also bis 1988 - jährlich jeweils 0,7 bis 2,1 Mrd. Goldmark bezahlen; 1931 wurden die Zahlungen wegen der Weltwirtschaftskrise ausgesetzt, 1932 auf eine endgültige Zahlung von 3 Mrd. begrenzt und 1934 stellte Deutschland die Überweisungen wegen Zahlungsschwierigkeiten ein. Als vorläufige Bilanz kann festgehalten werden, dass der Versailler Vertrag zweifelsohne für die junge Republik eine schwere Hypothek darstellte. Die Reparationen, die Bevölkerungs-, Territorial- und Rohstoffverluste und der Kriegsschuldparagraph lasteten schwer auf dem Reich. Allerdings blieb Deutschland ein souveräner Staat; denn die Besetzung und Entmilitarisierung des linken Rheinufers auf 15 Jahre schränkten die Hoheitsrechte nur in einem äußerst geringen Maße ein. Auch in den Jahren bis 1923 konnte die Republik trotz rigoroser Durchsetzung alliierter Interessen, z. B. durch die Ruhrbesetzung, die Verfügung über die Staatsgewalt bewahren. So hatte sich Deutschland in freier Selbstbestimmung und durch freie Wahlen eine demokratische Verfassung gegeben. Schon 1922 versuchte sich Deutschland aus seiner außenpolitischen Isolation zu befreien und das System von Versailles zu durchbrechen. 2000-6 Im Vertrag von Rapallo 1922 kam es zu einer Verständigung mit der ebenfalls isolierten Sowjetunion über die Erstattung von Kriegsschäden. Deutschland bewies so, dass es als souveräner Staat außenpolitisch handlungsfähig war. Dies stellte den ersten Schritt zu einer selbstständigen Außenpolitik nach dem Ersten Weltkrieg dar. Nach 1923/24 begann sogar die Rückgewinnung internationaler Anerkennung. Unter der Leitung von Außenminister Gustav Stresemann kam eine Verständigung mit Frankreich zustande, indem man das französische Sicherheitsbedürfnis am Rhein im Locarno-Pakt 1925 zu befriedigen suchte. Die bestehenden Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich sowie zwischen Deutschland und Belgien wurden garantiert. Deutschland verzichtete auf EIsass-Lothringen und Eupen-Malmedy, erhielt dafür aber die Garantie der Westgrenze. England und Italien fiel die Rolle der Garantiemächte zu, die im Angriffsfall dem Angegriffenen Beistand zu leisten hatten. Die im Versailler Vertrag festgesetzte entmilitarisierte Zone blieb bestehen. Streitigkeiten sollten schiedsgerichtlich geregelt werden. Nach Unterzeichnung des Paktes wurde die nördliche Besatzungszone um Köln geräumt. Im Herbst 1926 wurde Deutschland in den Völkerbund aufgenommen. Es erhielt dort einen ständigen Ratssitz und war damit als gleichberechtigte Großmacht anerkannt. Im Berliner Vertrag wurde 1926 die deutsch-russische Freundschaft besiegelt. Er sah die gegenseitige Neutralität im Falle eines Angriffs auf einen der Partner vor. Dieser Vertrag von Berlin und der Locarno-Pakt verhinderten eine Erneuerung des französisch-russischen Bündnisses gegen Deutschland. Im Young-Plan entfiel die im Dawes-Plan festgelegte Kontrolle über deutschland. Auch insofern erlangte das Deutsche Reich nun seine Souveränität zurück. Die Annahme des Plans hatte die vollständige, vorzeitige Räumung des Rheinlandes von fremder Besatzung Ende Juni 1930 zur Folge. Damit wurde ein weiterer wichtiger Bestandteil deutscher Staatshoheit wiederhergestellt. Als Fazit lässt sich feststellen, dass auch unter Berücksichtigung der erschwerten Bedingungen für Deutschland durch den Versailler Vertrag sowie der partiellen Einschränkung von Hoheitsrechten für Deutschland-z.B. bei Durchführung einzelner Bestimmungen des Dawes-Planes - die Einschätzung Hugenbergs nicht zutreffend war. Sie erweist sich vielmehr als einseitig, parteipolitisch und ideologisch verkürzt und enthält viele populistische Phrasen. Hugenberg nutzte seine einflussreiche und beherrschende Stellung als „Medienzar" im deutschen Zeitungs-, Nachrichten- und Filmwesen, als Parteivorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP,) und Mitglied des Reichsausschusses für das deutsche Volksbegehren gegen den Young-Plan zum Kampf gegen das parlamentarisch-demokratische System und die Außenpolitik der Weimarer Republik. 4 Die eindeutige Ablehnung einer deutschen Kriegsschuld, wie sie Alfred Hugenberg vornimmt (Z. 11-13), entspricht nicht der geschichtlichen Wirklichkeit. Österreich-Ungarn fühlte sich durch die großserbische Bewegung bedroht, die die Vereinigung aller südslawischen Staaten - also Montenegro, Bosnien, Dalmatien - und Kroatiens anstrebte. Der Thronfolger Franz Ferdinand verfolgte das Ziel, die südslawischen Gebiete unter die Herrschaft des österreichischen Kaisers zusammenzufassen. Zu Österreich-Ungarn stand Deutschland und zu Serbien Russland, und beide waren bereit, zugunsten des jeweiligen Bündnisstaates zu intervenieren. Ein österreichischer Sieg hätte die Expansion Russlands zum Ägäischen Meer behindert. Die deutsche Regierung aber ermunterte geradezu Österreich oder hielt es zumindest nicht zurück, als die Entwicklung nach dem Mord von Sarajewo zu eskalieren drohte. Dass es von Deutschland in „Nibelungentreue" einen so genannten „Blankoscheck" für sein weiteres Vorgehen gegen Serbien bekommen hatte, bestärkte Österreich-Ungarn in seinen kriegerischen Absichten. Kaiser Wilhelm II. erachtete die zugespitzte Lage auf dem Balkan als günstige Gelegenheit, einen Krieg zu führen. 2000-7 Der Mord von Sarajewo war lediglich Anlass zum Krieg. Die Gründe lagen tiefer; sie reichten zurück in die internationalen Spannungen, die sich seit 1830 entwickelt hatten. Nachdem Österreich-Ungarn am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg erklärt hatte, antwortete Russland zuerst mit einer Teil-, dann mit einer VoHmobümachung. Aufgrund dessen gelangte die deutsche Reichsleitung zu der Überzeugung, dass der große Krieg zu diesem Zeitpunkt gewagt werden müsse, da das Reich später in einer militärisch aussichtslosen Lage sein würde. Der Mechanismus der Bündnisse und die militärischen Planungen bestimmten die Geschehnisse, die Europa schließlich in den Ersten Weltkrieg stürzten. Das deutsche Ultimatum an Russland, binnen zwölf Stunden die Kriegs maßnahmen gegen Österreich-Ungarn und Deutschland einzustellen, blieb unbeantwortet. Daraufhin erklärte das Deutsche Reich Russland den Krieg. Bei den bestehenden Bündniskonstellationen zog der Krieg mit Russland den mit Frankreich nach sich. Frankreich erklärte, f dass es „gemäß seiner Interessen" handeln werde. Am 3. August folgte die deutsche Kriegserklärung an Frankreich. Der Schlieffen-Plan, zunächst die Entscheidung mit einer starken Offensive gegen Frankreich zu suchen und gleichzeitig mit schwachen Kräften den Krieg defensiv im Osten zu führen, sah den Durchmarsch deutscher Truppen durch das neutrale Belgien vor. Diese Neutralitätsverletzung veranlasste schließlich England zum Kriegseintritt am 4. August. Deutschland wirkte nicht mäßigend auf die Politik seines Bündnispartners Österreich-Ungarn ein. Außerdem drängte der deutsche Generalstab auf den Kriegsausbruch 1914, da sonst die Voraussetzungen für eine rasche Niederwerfung Frankreichs nicht mehr gegeben wären. Insofern war das Deutsche Reich für den Verlauf der Ereignisse in beson- ' derer Weise verantwortlich. Die deutsche Reichsleitung ließ sich - getrieben von den kriegswilligen Militärs und indem sie die diplomatischen Schlichtungsmöglichkeiten nicht mehr nutzte - zu einer risikoreichen Könfliktstrategie hinreißen. Die Frage nach der Kriegsschuld ist eine der bekanntesten und umstrittensten Kontroversen der historischen Forschung. Der Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages schrieb dem Deutschen Reich die Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu. Deutschland habe daher auch alle daraus resultierenden Folgen zu tragen. Diese Bewertung wurde von den deutschen Historikern sofort vehement zurückgewiesen. Die deutsche Historiographie schloss sich eher der fatalistischen Aussage des englischen Premierministers Lloyd George an, der behauptete, dass keiner der führenden Männer den Krieg gewollt habe; sondern sie alle gewissermaßen in den Konflikt „hineingeschlittert" seien. Erst der Historiker Fritz Fischer löste 1961 mit seinem Buch „Griff nach der Weltmacht" eine wissenschaftliche Kontroverse um den Ausbruch des Ersten Weifkriegs aus. Er zeigte auf, dass Deutschland in der Julikrise den Krieg bewusst herbeigeführt habe, um die Hegemonialstellung in Europa und eine Weltmachtposition zu erkämpfen. ? Karl Dietrich Erdmann wies später darauf hin, dass keine der beteiligten Nationen den Frieden gewollt habe und es deswegen zum Krieg kommen konnte. Deutscher Militaris- , : mus und übersteigerten Nationalismus, Großserbische Vorstellungen, die innere Schwäche der Donaumonarchie, der Panslawismus und die alten Expansionsziele Russlands auf dem Balkan, Frankreichs Revanchegedanken sowie die Sorge Englands wegen der Vormachtstellung Deutschlands blockierten aktive Friedensbemühungen. Die historische Forschung ist aber noch immer nicht abgeschlossen. Eine neue - wenn auch etwas spekulative - Veröffentlichung aus Großbritannien beleuchtet die Rolle Englands am Vorabend des Ersten Weltkriegs neu. Sie betont Englands Machtinteressen, auf der Seite Frankreichs und Russlands in einen Krieg einzutreten, um einerseits einen deutschen Sieg unmöglich zu machen und andererseits am Sieg und den damit verbundenen Friedensverhandlungen beteiligt zu sein. Das Schwanken zwischen Neutralität und Parteinahme habe ganz wesentlich zur Eskalation des Konflikts beigetragen, was bei einer Neutralität Englands nicht der Fall gewesen wäre. 2000-8 Trotz aller Gegensätze im Detail weisen alle wichtigen neueren wissenschaftlichen Ansätze die Hauptschuld am Kriegsausbruch dem offensiv agierenden Deutschen Reich zu. Einem bestimmtem Staat oder gar einer Persönlichkeit die alleinige Schuld am Ausbruch des Krieges zuzuschreiben, ist aus heutiger Sicht nicht mehr ohne Weiteres möglich. Jedoch war die Katastrophe auf jeden Fall nicht schicksalhaft. Zunächst trifft alle fünf beteiligten Großmächte und Serbien Schuld. Dabei wird es kaum möglich sein, den Anteil jeder Regierung an dieser Schuld zu bemessen. Allerdings ist es möglich, aus dem verfehlten Krisenmanagement im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, Schlüsse zu ziehen und Friedensstrategiemodelle zu entwickeln, wie jeder Staat hätte handeln können, um den Frieden zu bewahren, statt die nationalen Egoismen zu pflegen. Aber Friedensvorstellungen oder gar pazifistische Ideen, z. B. die von Bertha von Suttner, hatten bei dem vorherrschenden nationalistischen und militaristischen Denken keine Chancen. Diese nationalistische Stimmungslage äußerte sich 1914 beispielsweise darin, dass die Soldaten - angefeuert von ihren Angehörigen - mit einer geradezu euphorischen Kriegsbegeisterung in die Schlacht zogen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Folge eines Bündels von Ursachen gewesen ist. Letztlich aber ist der Konflikt von Menschen gemacht und von ihnen nicht verhindert worden. 5 Die sich verändernden Beziehungen zwischen Deutschland und den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs bzw. zwischen der UdSSR und den westlichen Alliierten bilden die Rahmenbedingungen für die deutsche Entwicklung zwischen 1945 und 1955. Der totale Krieg endete 1945 mit der totalen Niederlage und der völlige Zusammenbruch Deutschlands war die Folge. Ganz Deutschland wurde von den alliierten Truppen besetzt. Mit der Absetzung der Regierung Dönitz hatte Deutschland zunächst seine Souveränität de facto verloren. Die Regierungsgewalt wurde dagegen von den Hauptsiegermächten übernommen und auf die Oberbefehlshaber der vier Besatzungsmächte übertragen. Diese regelten die gesamtdeutschen Angelegenheiten im Alliierten Kontrollrat in Berlin; Beschlüsse mussten einstimmig gefasst werden; jeder Oberbefehlshaber handelte nach den Weisungen seiner Regierung. Die Oberbefehlshaber der Besatzungszonen hatten die Ziele der Besetzung Deutschlands und die Grundlinien der Deutschlandpolitik zu verwirklichen, die die „Großen Drei", nämlich Truman, Attlee und Stalin, auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 u. a. festgelegt hatten: Vollständige Entwaffnung („Demilitarisierung"), Entwicklung einer örtlichen Selbstverwaltung („Dezentralisierung"), Entfernung von Nationalsozialisten aus öffentlichen Ämtern und verantwortlichen Posten („Denazifizierung"), Wiederaufbau des politischen Lebens auf demokratischer Basis („Demokratisierung"), Reparationen sowie „Westverschiebung" Polens. Die Anti-Hitler-Koalition hatte sich zwar auf formaler Basis geeinigt, aber bald zerfiel die Siegerkoalition von 1945 in den weltweiten Gegensatz zwischen Ost und West, nachdem der gemeinsame Aggressor Adolf Hitler besiegt war. Die ideologischen und weltanschaulichen Gegensätze waren die Ursachen für das Auseinanderdriften der Siegermächte. Die Phase der Kooperation war spätestens 1948 beendet. Mit dem „Kalten Krieg" begann die Konfrontation zwischen Ost und West auf globaler Ebene. Mit der Ausweitung des sowjetischen Einflussbereichs in Ost- und Ostmitteleuropa und der Errichtung von Volksdemokratien kommunistischer Prägung, der die Amerikaner mit der „Eindämmungs-Politik" und dem Marshall-Plan als einem wirtschaftlichen Wiederaufbauprogramm (ERP) begegneten, endete die Phase der Kooperation auf internationaler Ebene. Die globalen Rahmenbedingungen fanden ihren Ausdruck in Deutschland auf regionaler und in der Viersektorenstadt Berlin auf lokaler Ebene. 2000-9 Im Alliierten Kontrollrat entwickelte sich eine Kluft zwischen den Westalliierten einer-1 seits und der UdSSR andererseits, was letztlich aufgrund der Einsthnmigkeitsklausel zur Lähmung des Kontrollrats und zur Konfrontation führte. Die „Klimaverschlechterung" zwischen den ehemaligen Siegermächten erreichte im so genannten „Kalten Krieg" einen Tiefpunkt und dies zeigte sich auf der lokalen Ebene in der sowjetischen Blockade der Westsektoren Berlins als Reaktion auf die Währungsreform im Westen. Die Blockade scheiterte am Widerstand der Bevölkerung und an der Luftbrücke der Amerikaner. Auf regionaler bzw. nationaler Ebene entstanden 1949 aus den vier Besatzungszonen zwei deutsche Staaten mit entgegengesetzten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konzeptionen und Systemen und unterschiedlich ausgeformten begrenzten Souveränitätsrechten: Die Bundesrepublik Deutschland als freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat mit sozialer Marktwirtschaft und die Deutsche Demokratische Republik als ein unter dem SED-Führungsanspruch und mit einer Zentralverwaltungswirtschaft errichteter kommunistischer Staat. Unter Adenauer erfolgte die West-, unter Ulbricht die Ostintegration der jeweiligen deutschen Teälstaaten. Die Gründung der NATO (North Atlantic Treaty Organization) unter amerikanischer Führung war 1949 ebenfalls eine Folge der anhaltenden Ost-West-Spannungen. Beide Großmächte entwickelten Wasserstoffbomben und seit 1949 verfugte auch die Sowjetunion über Atombomben. Damit war ein „Gleichgewicht des Schreckens" erreicht, d. h. dass jede Macht, die als erste einen Atomschlag zu führen wagte, ihre eigene Vernichtung als Folge des Gegenschlags der anderen Atommacht riskierte. Die Sowjetunion und ihre europäischen Satellitenstaaten schlossen 1955 ebenfalls ein Militärbündnis, den so genannten Warschauer Pakt. 1955 traten beide deutsche Staaten in diese-Militärblöcke ein. Die Wiedervereinigung und damit die Lösung der deutschen Frage war in weite Ferne gerückt. Die internationale Lage ließ eine Lösung dieser Frage in damals absehbarer Zeit nicht zu. 2000-10 Leistungskurs Geschichte (Sachsen): Abiturprüfung 2005 Ersttermin - Aufgabe A M1: Adolf Hitler beim Stapellauf des Schlachtschiffes „Bismarck", 14. Februar 1939 Deutsche! Nach einem tiefen Zusammenbruch und Verfall hat der Nationalsozialismus die Nation hochgerissen und zu gewaltigen innen- und außenpolitischen Erfolgen gefuhrt. Ich glaube, aber gerade im Zeichen dieser Zeit verpflichtet zu sein, deren in tiefster Dank-5 barkeit zu gedenken, die durch ihr einstiges Wirken mit die Voraussetzungen gegeben haben auch für das heutige größere Deutschland. Unter all den Männern, die es beanspruchen können, ebenfalls Wegbereiter des neuen c. Reiches gewesen zu sein, ragt einer in gewaltiger Einsamkeit heraus: Bismarck. Das Leben dieses heroischen Mannes ist die Geschichte eines Zeitalters. [...] 10 Nach [...] Jahren beruft ihn ein charaktervoller König zur Führung Preußens und zur Leitung der auswärtigen Angelegenheiten. Und nun erfolgt im Zeitraum von knapp acht Jahren die Erhebung Preußens von der im Schatten habsburgischer Politik liegenden zweitrangigen Stellung zur Vormacht in Deutschland und endlich als Bekrönung die Gründung eines neuen Deutschen Reiches. 15 Es lag dies nicht - wie spätere Einfaltspinsel behaupteten - im Zuge der Zeit oder der Zeitereignisse, sondern es war dies das Ergebnis des Wirkens einer gottbegnadeten einmaligen Erscheinung. Und dieser Kampf um ein neues Deutsches Reich war ein Kampf gegen alle auch denkbaren inneren Kräfte und deren Widerstände. Liberale und Demokraten hassen den 20 Junker, Konservative beschwören noch 1867 den König, sich von diesem verderblichen Neuerer, Revolutionär und Vemichter Preußens zu lösen. Kirchenpolitiker wittern in ihm die Aufrichtung einer Reichsgewalt, die ihnen verhaßt ist, und bekämpfen ihn deshalb mit verbissener Zähigkeit. Dem Marxismus erscheint er als der Stabilisator einer Gesellschaftsordnung, die es am Ende unternimmt, die Sozialprobleme zur Lö- 25 sung zu bringen, ohne eine Welt in Brand zu stecken. Der Egoismus verbohrter kleiner Dynasten verbindet sich mit den Interessen machtgieriger Länderpolitiker. Der Ehrgeiz zügelloser Parlamentarier mobilisiert die Presse und verhetzt das Volk. [...] Auf Schritt und Tritt erheben sich die Nullen vor dem einzigen Genius der Zeit. Es ist ein Riesenkampf, den vielleicht nur derjenige ermessen kann, der selbst einer solchen 30 Welt von Widerständen entgegenzutreten gezwungen war. Was wir an diesem seltenen Manne nun bewundern, ist die ebenso große Einsicht und Weisheit wie die gewaltige Entschlußkraft, die ihn vor jedem feigen Ausweichen bewahrte. Dreimal drückte ihm das Pflichtbewußtsein das Schwert in die Hand zur Lösung von Problemen, die seiner heiligsten Überzeugung nach durch Majoritätsbe-35 Schlüsse nicht gelöst werden konnten. Wofür ihm aber alle Deutschen zu unauslöschlichem Danke verpflichtet sind, ist die Wandlung, die dieser Riese an sich selber vornahm. Er hat durch seine innere Entwicklung vom preußischen Politiker zum deutschen Reichsschmied nicht nur das Reich geschaffen, sondern die Voraussetzungen gegeben 40 für die Errichtung des heutigen Großdeutschlands. Er hat aber damit trotz allen Hemmungen auch den Grundstein gelegt für den nationalsozialistischen Einheitsstaat, 2005-1 denn er schuf den Anfang der sich dann zwangsläufig fortsetzenden Überwindung der psychologischen Stammes- und Ländervorurteile und Interessen. Da, wo sein Kampf aber erfolglos blieb, mußte er scheitern, weil es ihm am Instru-45 ment mangelte, einen solchen Kampf bis zur letzten Konsequenz durchzuführen. Sein Widerstand gegen die politisierende Zentrumspriesterschaft wurde genau so von innen her gelähmt, wie sein Versuch, den Marxismus mit allen Mitteln aus dem deutschen Volke auszurotten. Seine Erkenntnis der Notwendigkeit, durch eine große soziale Gesetzgebung die rein sozialistischen Probleme von Staatswegen zu lösen, war bewun-50 derungswürdig. Allein es fehlten alle Vorstellungen über die Möglichkeiten einer auch propagandistisch wirkungsvollen Durchführung - und vor allem - es fehlte ihm jenes weltanschaulich fundierte Instrument, das einen solchen Kampf allein auf lange Sicht hätte erfolgreich beenden können. So ergab sich die Tatsache, daß dieser Mann alle staatlichen Probleme seiner Zeit dank seinem Genius und seiner überragenden charak-55 terlichen tapferen Haltung mit den damals gegebenen staatlichen Mitteln gelöst hat, daß sein Versuch, die überstaatlichen Gewalten aber mit staatlichen Mitteln zu bekämpfen, oder gar zu brechen, zu keinem Erfolg führen konnte. Das Zweite Reich endete, wie er es selber in quälenden Ahnungen kommen sah. Er, dem die deutsche Nation alles verdankte, der nach endlosen Zeiten deutscher Schmach 60 und Schande den Namen unseres Volkes wieder zur höchsten Achtung erhob, der dem Kaiserreich die Macht und Stärke, durch den kolonialen Besitz weltweite Verbindungen gab, wurde schlecht belohnt. Seine Entfernung aus dem Amte und die spätere Haltung gewisser politisch feindseliger Kreise sind ein schmachvolles Kapitel nationaler Undankbarkeit. Die Vorsehung hat sich gerechter erwiesen, als es die Menschen 65 waren. Fürsten und Dynastien, politisierende Zentrumspriester und Sozialdemokraten, Liberalismus, Länderparlaraente und Reichstagsparteien sind nicht mehr. Sie alle, die das geschichtliche Ringen dieses Mannes einst so erschwerten, haben seinen Tod nur wenige Jahrzehnte überlebt. Der Nationalsozialismus aber hat in seiner Bewegung und in der deutschen Volksgemeinschaft die geistigen, weltanschaulichen und organisato- 70 rischen Elemente geschaffen, die geeignet sind, die Reichsfeinde von jetzt ab und für alle Zukunft zu vernichten. Im sechsten Jahre nach der nationalsozialistischen Revolution erleben wir heute den Stapellauf des dritten, nunmehr größten Schlachtschiffes unserer neuen Flotte. Als Führer des deutschen Volkes und als Kanzler des Reiches kann ich ihm aus unserer 75 Geschichte keinen besseren Namen geben, als den des Mannes, der als ein wahrer Ritter ohne Furcht und Tadel Schöpfer eines Deutschen Reiches war, dessen Wiederauferstehung aus bitterster Not und dessen wunderbare Vergrößerung uns die Vorsehung nunmehr gestattet. Deutsche Konstrukteure, Ingenieure und Werkarbeiter haben den gewaltigen Rumpf 80 dieses stolzen Riesen zur See geschaffen. Mögen sich die deutschen Soldaten und Offiziere, die die Ehre besitzen, dieses Schiff einst zu führen, jederzeit seines Namensträgers würdig erweisen! Möge der Geist des Eisernen Kanzlers auf sie übergehen, möge er sie begleiten bei all ihren Handlungen auf den glückhaften Fahrten im Frieden, möge er aber, wenn es je notwendig sein sollte, ihnen mahnend voranleuchten 85 in den Stunden schwerster Pflichterfüllung! Mit diesem heißen Wunsch begrüßt das deutsche Volk sein neues Schlachtschiff „Bismarck". Rechtschreibung und Zeichensetzutig folgen der Vorlage Aus: Domarus, Max: Hitler - Reden und Proklamationen 1932-1945, Teil II, Dritter Band, 4. Auflage, Leonberg 1973, S. 1077-1080 Aufgaben: 1.1 Erarbeiten Sie aus M 1 die Beurteilung Bismarcks durch Adolf Hitler und ordnen Sie die Rede in den historischen Zusammenhang ein. 12 BE 1.2 Weisen Sie die Ideologiegebundenheit von Hitlers Aussagen (Ml) zu Bismarck und seiner Zeit nach. 10 BE 2 In M 1 (Z. 65 ff.) werden Gegner Bismarcks genannt. Erläutern Sie anhand von zwei Beispielen aus M 1 (Z. 65 ff.) das Verhalten des Obrigkeitsstaates zur Zeit Bismarcks gegenüber seinen Gegnern. 12 BE 3 Hitler äußert sich in M 1 zu Feinden des Nationalsozialismus. Stellen Sie Mittel und Methoden zur Unterdrückung der von den Nationalsozialisten zu „Reichsfeinden" erklärten Personengruppen dar. 12 BE 4 Hitler bezeichnet das Deutsche Reich als alleiniges Werk Bismarcks. (M 1,Z. 15-17) Beweisen Sie anhand von ausgewählten Leistungen der nationalen und liberalen Bewegung im 19. Jahrhundert, dass das deutsche Reich keineswegs das alleinige Werk Bismarcks war, wie es Hitler in M 1 (Z. 15-17) behauptet. 14 BE 60 BE Lösungsvorschlag 1.1 Den Stapellauf des Schlachtschiffes „Bismarck" am 14. Februar 1939 nimmt Hitler zum Anlass, den Reichskanzler als herausragende politische Persönlichkeit zu beurteilen: - Der „heroische [...] Mann" rage unter den ,,Wegbereiter[n] des neuen Reiches [...] in gewaltiger Einsamkeit heraus" durch Weisheit, Entschlusskraft, Genialität und das Wirken einer „gottbegnadeten" Einmaligkeit. (Z. 7-9, 16/17, 28, 32) - Bismarck habe alle Widerstände gegen den Nationalstaat besiegt (Z. 18-30), sich vom „preußischen Politiker" zum „deutschen Reichsschmied" entwickelt (Z. 38/39) und die staatlichen Probleme mit „seiner überragenden charakterlichen tapferen Haltung mit den damals gegebenen staatlichen Mitteln gelöst". (Z. 54/55) - Bismarck verdanke die deutsche Nation alles, aber sein Wirken sei nicht gewürdigt worden. (Z. 58-64) - Bismarck sei ein ehrenwerter Namensgeber für das Schlachtschiff. (Z. 73-76) Die große politische Leistung Bismarcks sei nach Hitlers Meinung nur dadurch geschmälert worden, dass er keinen Erfolg bei - der Bekämpfung der „überstaatlichen Gewalten" (z. B. Marxismus, Sozialismus, Katholizismus) gehabt (Z. 44-48, Z. 56) - und ihm die dafür notwendigen politischen Mittel gefehlt haben. (Z. 51-53) Die historische Einordnung der Rede Hitlers vom 14. Februar 1939 wird durch wesentliche innen- und außenpolitische Entwicklungen und Ereignisse bestimmt: - Zu diesem Zeitpunkt hatte Hitler ein totalitäre Herrschaft aufgebaut, die nach dem Führerprinzip funktionierte. Alle Lebensbereiche waren im Sinne des totalitären Staatsgedankens „erfasst" worden und alle staatlichen und gesellschaftlichen Einrich- 2005-2 2005-3 tungen unterlagen der ständigen Kontrolle der Partei und waren dem Willen des Führers unterworfen. Die Schlüsselstellungen waren mit zuverlässigen Parteimitgliedern der NSDAP, die ebenfalls nach dem Führerprinzip aufgebaut war, besetzt worden. Was dem Volk nützte und was „gesundes Volksempfinden" sei, bestimmte der „Führer". - Weil Hitlers Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die Not großer Teile der Bevölkerung augenscheinlich linderte, begannen viele Menschen, sich mit dem nationalsozialistischen System abzufinden, auch solche, die es anfänglich abgelehnt hatten. Für die Finanz- und Wirtschaftspolitik bedeutete es z. B. durch Aufrüstung eine Anhäufung einer immensen Schuldenlast, die noch bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach in einer Katastrophe zu enden drohte. - Der Vierjahresplan von 1936 sollte Deutschland die wirtschaftliche Autarkie sichern und es von der Einfuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln möglichst unabhängig machen, um es auf den Krieg vorzubereiten. „Die deutsche Wirtschaft muss in vier Jahren kriegsfähig sein", hieß es in der Geheimen Denkschrift Hitlers von 1936. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Ausland erreichte Deutschland aber nie. Zu Kriegsbeginn führte Deutschland noch ca. ein Drittel aller Rohstoffe ein. - Hitler hat im Wesentlichen sein außenpolitisches Zwischenziel, „Großdeutschland" zu schaffen, im Februar 1939 erreicht. 1938 wurde der „Anschluss Österreichs" durch Volksabstimmung bestätigt und im Münchner Abkommen bekam er die deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens zuerkannt. Vier Monate später besetzten deutsche Truppen die „Rest-Tschechei" und bereits im März 1939 rückten deutsche Truppen ins litauische Memelland ein. Zwei Monate später, im Mai 1939, schlossen Deutschland und Italien ein Militärbündnis („Stahlpakt"), im August 1939 kam es zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt"), ehe deutsche Truppen auf Befehl Hitlers am 1.9. 1939 in Polen einmarschierten. 1.2 Der Nachweis der Ideologiegebundenheit der Aussagen Hitlers über Bismarck und seine Zeit kann mit folgenden Beispielen erbracht werden: - Hitler bezeichnet Zentrumsabgeordnete („politisierende Zentrumspriester", Z. 65), Sozialdemokraten, den Liberalismus, die Länderparlamente und Reichstagsparteien als Reichsfeinde (vgl. Z. 65-71). Engagierte Parlamentarier werden als „zügellos" (Z. 27) herabgewürdigt. Schon 1933 hatte Hitler mit dem Ermächtigungsgesetz den Reichstag als gesetzgebende Gewalt ausgeschaltet. Die parlamentarische Opposition wird als staatsfeindlich abgetan und als Lähmung „von innen her" (Z. 46/47) interpretiert. Eine außerparlamentarische Opposition hatte es zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr gegeben. Hier kommt Hitlers antiparlamentarische Grundhaltung zum Ausdruck. - Er will im zentralistischen und nationalsozialistischen Einheitsstaat die Volksgemeinschaft vereint sehen, für den Bismarck schon als Schöpfer des Nationalstaates im Kampf gegen die Partikularinteressen der Dynastien und der Länder den Grundstein gelegt hatte (vgl. Z. 38-43). - Hitler stilisiert Bismarck zur Führerfigur, die von allen Seiten bekämpft und angefeindet worden ist (vgl. Z. 9, 16, 28, 54). Nur seine überragenden Fähigkeiten setzten ihn in die Lage, als „Genius" gegen „die Nullen" „d[ies]er Zeit" (Z. 28) zu bestehen. In der „gottbegnadeten einmaligen Erscheinung" Bismarcks (Z.16/17) sieht Hitler sich selbst vorgeformt und in Ansätzen schon im zweiten Reich das verwirklicht, was er selbst im Dritten Reich aufzubauen gewillt war. Politische Führer werden von Hitler als Erlösergestalten gesehen, denen man im Führerstaat bedingungslos folgen müsse. - Hitler nährte seinen Führerwahn mit dem irrationalen Glauben an die „Vorsehung", die bei Bismarck (Z. 64, 77/78) auch schon am Werke gewesen sei. 2005-4 - Die Lösung von Problemen kann nicht durch „Majoritätsbeschlüsse" (Z. 34/35) herbeigeführt werden. Hier missbilligt Hitler ein demokratisches Grundelement, bezweifelt die demokratische Herrschaftslegitimation durch Mehrheitsbeschlüsse und manifestiert seine antidemokratische Grundhaltung. Er geht sogar noch weiter, indem er Bismarcks militärischen Versuch rühmt, zur Lösung von Problemen „das Schwert in die Hand" (Z. 33) zu nehmen. Darin zeigen sich gleichermaßen Gewaltprinzip und Militarismus als weitere Beispiele nationalsozialistischer Ideologie, die als akzeptable Lösungen von Problemen erachtet werden. - Hitler bringt das Image Bismarcks als „Eisernefr] Kanzler" (Z. 82) mit dem Schlachtschiff in Verbindung, um militärische Stärke zu demonstrieren. - Letztlich werden die expansiven außenpolitischen Absichten Hitlers deutlich, weil er für den Kolonialbesitz des Kaiserreiches eine große Sympathie entwickelt und dessen weltweite Macht und Stärke (vgl. Z. 61) preist. 2 An zwei Beispielen soll Bismarcks Politik gegenüber seinen politischen Gegnern erläutert werden. Zentrum In Preußen und im Reich hatte sich eine katholische politische Partei organisiert, die von Ludwig Windthorst angeführt wurde. Das Zentrum entwickelte sich rasch zum profiliertesten innenpolitischen Gegner Bismarcks. Bismarck hoffte, die katholische Kirche dem Staat auf dem Wege der Gesetzgebung unterordnen zu können. Das Zentrum forderte dagegen, dass die Reichsverfassung die Selbstständigkeit der katholischen Kirche gegenüber der Staatsgewalt verbürgte. Aus diesem Gegensatz erwuchs eine politische Auseinandersetzung, die als Kulturkampf bezeichnet wird. Er wurde mit besonderer Schärfe geführt und zeigte im Grunde das Verhältnis von Kirche und Staat. Am deutlichsten überschnitten sich die Belange von Kirche und Staat in den Fragen der Ehe, Familie und Schule, weil die Ehe nach katholischem Verständnis Sakrament der Kirche und unlösbar ist, und die Schule mit der Bildung religiöse und sittliche Ziele verbindet Bismarck führte, im Parlament von den Liberalen unterstützt, ein Verbot für Geistliche ein, über staatliche Angelegenheiten zu predigen. Er erließ als Reichsgesetz den sog. „Kanzelparagraphen", der den Missbrauch der Kanzel zu politischen Zwecken mit Gefängnis bedrohte. In den so genannten Maigesetzen von 1873 wurde die Anstellung von Geistlichen unter staatliche Kontrolle gestellt. Künftige katholische Geistliche mussten ihre Ausbildung an der Universität absolvieren und mit einem staatlichen Kulturexamen abschließen. Ihre Anstellung sollte dem staatlichen Einspruchsrecht unterliegen. Ein Landtagsbeschluss entzog den preußischen Geistlichen die Volksschulaufsicht und übertrug sie staatlichen Schulräten. Im Übrigen wurde der Jesuitenorden aus dem Reichsgebiet ausgeschlossen. 1875 wurde für das ganze Reich die obligatorische Zivilehe eingeführt und der Taufzwang aufgehoben. Die Beurkundung des Personenstandes erfolgte durch die Standesämter. Das Vorgehen Bismarcks gegen den politischen Katholizismus richtete sich gegen dessen Einfluss auf die Politik. Er wollte das Zentrum isolieren, da es sich seinem Herrschaftsanspruch nicht unterordnen wollte. Die Katholiken waren über diese Politik leidenschaftlich erbost. Das Zentrum verdoppelte aber seine Sitze im Reichstag zwischen 1871 und 1881 von 58 auf 100 Sitze. Unabhängig von dieser Auseinandersetzung gesellte sich das Zentrum später gelegentlich auch zu den wechselnden Anhängern Bismarcks. 2005-5 Der Liberalismus Bismarcks monarchische Staatsauffassung brachte ihn grundsätzlich in Widerstreit zu den Liberalen, die der Vertretung des Volkes sowohl das Recht der Gesetzgebung als auch den bestimmenden Einfluss auf die Regierung in die Hand geben wollten. Bis 1878 wurde aber die Politik Bismarcks von den Liberalen unterstützt. Vor allem begrüßten sie, wie Bismarck die Reichseinheit vollzog. Nach der Enttäuschung von 1848 hatte sich der politische Liberalismus vorwiegend wirtschaftlichen Interessen zugewandt und auf die Weiterentwicklung des demokratischen Gedankens weitgehend verzichtet. Vor allem die 1866 neu gegründete Nationalliberale Partei war weniger darauf bedacht, die demokratische Machtausübung anzustreben und begnügte sich mit der Erfüllung ihres Wunsches nach einer nationalen Wirtschaftseinheit („Einheit vor Freiheit"). 1879 brach das Bündnis mit den Liberalen auseinander, weil Bismarck von der Freihandels- zur Schutzzollpolitik überging. Für Eisen, Holz, Getreide und Vieh wurden Schutzzölle eingeführt. Neben der Landwirtschaft war insbesondere die Eisenindustrie auf Schutzzölle angewiesen, die mit dem billigen englischen Eisen kaum konkurrieren konnte. Die Erhebung der Zölle und zugleich der indirekten Steuern kam dem Reich zugute, denn dessen unmittelbare Einnahmen stiegen dadurch. Ferner geriet Bismarck auch in der Auffassung über staatliche Sozialpolitik und über die verfassungsrechtliche Stellung des Reichstags sowie der Parteien mit den Liberalen in Gegensatz. 1881 war die Zahl der nationalliberalen Abgeordneten wieder stark gesunken. Der linke Flügel der Partei, der eine entschiedene Gegnerschaft gegen Bismarck wünschte, hatte sich 1880 von den Nationalliberalen getrennt und verschmolz bald mit den alten liberalen Gegnern Bismarcks, der Deutschen Fortschrittspartei, zur Deutsch-Freisinnigen Partei. Nach der liberalen Ära grenzte Bismarck einen Großteil der Liberalen von den politischen Gestaltungsmöglichkeiten aus und taktierte'mit wechselnden Mehrheiten. Der NS-Staat trat „Reichsfeinden", d. h. innenpolitischen Gegnern, und ethnischen und sozialen Gruppen mit staatlichen Mitteln und Methoden gegenüber, die von brutaler Unterdrückung bis zur physischen Vernichtung reichten. Nach der Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 demontierte Hitler schrittweise die Demokratie, indem er im Februar 1933 die Grundrechte aufler Kraft setzte („Reichstagsbrandverordnung") und mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 die exekutive und legislative Gewalt in einer Hand vereinigte. Schon damit hatte Hitler diktatorische Vollmachten. Die Länder wurden „gleichgeschaltet", die Gewerkschaften und alle Parteien außer der NSDAP aufgelöst. Als hohe SA-Führer sich die Reichswehr unterstellen wollten, lies Hitler sie am 30. 6.1934 ermorden und schwang sich damit zum obersten Richter auf. Nach dem Tod Hindenburgs übernahm Hitler noch das Amt des Reichspräsidenten und war somit auch militärischer Oberbefehlshaber. In kürzester Zeit hatte Hitler die Exekutive, Legislative, Judikative und militärische Gewalt in seiner Hand und einen totalitären Staat aufgebaut. Parallel zur verfassungsrechtlichen Abschaffung der Demokratie und der in ihr verbrieften Grund- und Menschenrechte bediente sich Hitler zur Bekämpfung seiner Feinde der Mittel einer wirkungsvollen Propaganda und des Terrors. Der Reichsminister für „Volksaufklärung und Propaganda" Joseph Goebbels benutzte Rundfunk, Presse und Kino, um das Heldentum des Führers und der ihm ergebenen deutschen Menschen zu verherrlichen und seine Gegner zu beschimpfen. Politische und „rassische" Gegner wurden verächtlich gemacht, ausgegrenzt, systematisch verfolgt, inhaftiert und zu Tausenden ermordet. Unmittelbar nach der Machtübernahme entstanden auch schon Konzentrationslager. Eigentlich gerieten im weitesten Sinne alle Menschen mit Lebensvorstellungen, die nicht mit der NS-Ideologie konform waren, in Gegensatz zum nationalsozialistischen System. Ehemalige Politiker, insbesondere Kommunisten und Sozialdemokraten, stellten zuerst die Mehrheit der Häftlinge, dann kamen Angehörige aus allen Schichten des Volkes, Geistliche, Wissenschaftler, Künstler und eine große Zahl Deutscher jüdischen Glaubens. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) bekam die Aufgabe, alle „Staatsfeinde" zu verfolgen und Hitlers Macht nach innen zu sichern. Es wurde ein dichtes Kontrollnetz über Deutschland aufgebaut, sodass im Beruf und im privaten Bereich Spione und Spitzel einen Überwachungsapparat installierten, der das ganze Volk „erfasste" und kontrollierte. Mit Massenorganisationen, denen man sich kaum entziehen konnte, wurde versucht, den Einfluss des Elternhauses, der Kirche und der Schule zu verringern und eine weltanschauliche Ausrichtung der Bevölkerung entsprechend der Ideologie der NSDAP zu erreichen. Der nationalsozialistische Antisemitismus gipfelte im Mord an ca. 6 Millionen europäischen Juden. Die Entrechtung der jüdischen Bürger hatte bereits unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 mit einem Boykott jüdischer Geschäfte begonnen. Am 9. November 1938 veranlassten die NS-Machthaber die Zerstörung der Synagogen. Unter dem zunehmenden Terror flohen viele Juden ins Ausland. Im Krieg erreichte die Verfolgung ihren Höhepunkt. Seit Beginn des Polenfeldzuges übernahmen Einsatzgruppen der SS in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten Europas die Erfassung, Deportation und Erschießung von Juden. Die Menschenverachtung der Nationalsozialisten hatte ihren Ausgangspunkt im polarisierenden Freund-Feind-Schema und endete im gefährlichen von der sozialdarwinisti-schen Lehre herrührenden Elitedenken und im arischen Herrenmenschentum. Dieses Denken artete in Diffamierung, Ausgrenzung und schließlich in der Vernichtung vieler Andersdenkender aus. Im Grunde wurden alle Andersdenkenden attackiert und ein Regime von Angst und Schrecken aufgebaut. An dieser Stelle wird die grundlegende Verschiedenheit der Haltung und des Handelns Bismarcks und Hitlers gegenüber ihren politischen Gegnern deutlich. Ebenso klar wird die perfide manipulierende Absicht Hitlers entlarvt, mit welcher er den herausragenden Staatsmann Bismarck und dessen Politik für seine Zecke zu verwenden und im nationalsozialistischen Sinn umzudeuten versucht. 4 Das Streben der nationalen und liberalen Bewegung nach einem deutschen Nationalstaat soll mit Teil- und Zwischenergebnissen an ausgewählten Leistungen dargestellt und gewürdigt werden. Bis zur Revolution 1848/49 Der Wiener Kongress 1814/15 brachte die Restauration der alten Mächte mit sich. Die Entstehung des Deutschen Bundes, zu dem Österreich und Preußen neben vielen kleinen Partikularstaaten gehörten, enttäuschte viele deutsche Patrioten. Er war ein loser Staatenbund ohne nationale Bindung und Einheit. In Österreich wurden durch Metternich die alten politischen Zustände wiederhergestellt und in Preußen verloren nach 1815 die Reformer an Einfluss. Einige kleinere deutsche Staaten erhielten Verfassungen. In süddeutschen Landtagen zeigten sich zum Beispiel Anfänge eines parlamentarischen Lebens in Deutschland. Die Forderung nach nationaler Einheit wurde ergänzt durch eine liberale Geisteshaltung. Der Liberalismus forderte Freiheit in Staat und Wirtschaft. Mit ihm verband sich das Streben nach einem einheitlichen Nationalstaat. Vor allem die deutschen Burschenschaften, Studenten und Professoren waren Träger dieser Ideen. Die nationalen und liberalen Kräfte gerieten in Gegensatz zu der bestehenden staatlichen Ordnung. Auf dem Wartburgfest 1817 zeigte sich ihre Gesinnung. Durch die Karlsbader Beschlüsse gebot Metternich durch Zensur und staatliche Kontrollmaßnahmen den progressiven Kräften 2005-6 2005-7 Einhalt und verfolgte sie als „Demagogen". Auf Dauer konnten diese politischen Kräfte aber nicht unterdrückt werden, und schon auf dem Hambacher Fest 1832 wurde deutlich, dass sich die wachsende Unruhe auf immer weitere Kreise der Bevölkerung ausdehnte. Zehntausende Menschen, neben Studenten auch Kleinbürger und Handwerker und andere Volksgruppen, kamen zusammen, um ihrem politischen Protest gegen die Restauration Aufmerksamkeit zu verleihen. Vereinzelte Teilerfolge konstitutioneller Art, zum Beispiel in der sächsischen Verfassung von 1831, oder wirtschaftsliberaler Art, zum Beispiel in wirtschaftlichen Dingen durch den Zollverein 1833 mit der Abschaffung der Zollgrenzen, zeigten doch den Elan und die Durchschlagskraft nationaler und liberaler Bestrebungen. Allerdings blieb das Verlangen nach Einheit und Freiheit weitestgehend ohne Beteiligung der Masse des Volkes. So siegte fast überall die Reaktion und das Bürgertum begnügte sich mental vielfach mit einem zurückgezogenen Leben und politischer Enthaltsamkeit. Ungeachtet dessen durchbrachen sieben Professoren der Göttinger Universität, Schriftsteller des Jungen Deutschland, Journalisten, Kaufleute und Freiberufler - oder zum Beispiel Hoffmann von Fallersleben mit seinem Deutschlandlied - die selbstzufriedene biedermeierliche Welt und verschafften sich mit ihren progressiven Ideen Gehör. Aber ihr Drängen nach einem deutschen Nationalstaat und einer Entwicklung der staatlichen Verfassungen blieb im Vormärz ohne durchschlagenden Erfolg. Revolution von 1848/49 Die Februarrevolution von 1848 in Paris wirkte wie ein Fanal auf Deutschland. Ende Februar 1848 begann die Revolution in Baden, von wo sie auf die Klein- und Mittelstaaten übergriff. Überall waren liberaldemokratische und nationale Bewegungen die Triebkräfte. Die Monarchen wichen zurück und ernannten „Märzminister". In Wien wurde Metternich entlassen. In Berlin versprach König Friedrich Wilhelm IV. nach blutigen Barrikadenkämpfen, die Forderungen des Volkes zu erfüllen. In Frankfurt/M. kamen führende deutsche Liberale im „Vorparlament" zusammen und bereiteten die Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung vor. Am 18. Mai 1848 begannen die in allgemeinen, gleichen Wahlen gewählten Abgeordneten in der Frankfurter Paulskirche mit ihren Beratungen. Der liberal-konstitutionellen Bewegung gelang eine Politisierung breiter Schichten der Bevölkerung. Es entstanden unterschiedliche politische Gruppierungen - Republikaner, Liberale, Konservative die sich auf Grundrechte des deutschen Volkes als freiheitliches Fundament der Reichsverfassung einigten. Die Verfassung sah einen kleindeutschen Bundestag vor, also ohne Österreich, in dem die Regierung dem Parlament verantwortlich sein sollte. Als Staatsoberhaupt war Friedrich Wilhelm IV. von Preußen als erblicher Kaiser vorgesehen. Er lehnte die Krone ab. Damit war das Werk der deutschen Nationalversammlung gescheitert. Allerdings blieben die Grundrechte des deutschen Volkes und die Reichs Verfassung von 1848 richtungsweisend für die künftigen Entwicklungen, auch für die konstitutionelle Monarchie des Kaiserreiches von 1870/71, für die Entwicklung der deutschen Parteien seit Beginn der 1860er-Jahre, die erste Demokratie in Deutschland von 1919 und nicht zuletzt für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1948. Reichseinigung und Kaiserreich In Preußen und Österreich hatten die alten Mächte die revolutionäre Bewegung mit Waffengewalt unterdrückt. Überall in Europa hatten reaktionäre Kräfte die Revolution verhindert. Zu Beginn der 1860er-Jahre kam es zu einem Aufleben der nationalen und liberalen Kräfte, zum Beispiel durch Gründung der Deutschen Fortschrittspartei. Bismarck schuf mit der Verfassung des deutschen Reiches einen Kompromiss zwischen dem überlieferten monarchischen Staat und den Forderungen der Liberalen, die der Vertretung des Volkes sowohl das Recht der Gesetzgebung als auch den bestimmenden Einfluss auf die Regierung in die Hand geben wollten. Bismarcks Staat war im Grunde eine autoritäre Monarchie mit einem obrigkeitsstaatlich geführten demokratischen Zusatz. Der Reichstag hatte sehr begrenzte Rechte, da der Kanzler lediglich durch das Vertrauen des Kaisers getragen und auf die Mitwirkung der außerpreußischen Länder angewiesen war. Für die Gesetze freilich musste er jeweils eine Mehrheit im Reichstag finden. Bismarck hielt sich unabhängig von den Parteien und spielte sie - wie oben schon an Beispielen gezeigt -gegeneinander aus, wenn es galt eine Mehrheit zu finden. Bismarck gewann die kompromissbereiten nationalen und liberalen Kräfte für sich, zum Beispiel die Nationalliberalen, indem er zumindest teilweise auf den Freiheits- und Nationalgedanken einging, ihre Wahlrechtsvorstellungen umsetzte und das preußische Konzept eines deutschen Nationalstaates verwirklichte. So aber konnten wiederum diese ihre politischen Ziele durchsetzen. Mit der Reichsgründung gewann er deren größten Teil. Sie hatten sich nach der Enttäuschung nach 1848 mehr und mehr wirtschaftlichen Interessen zugewandt. Zwischen 1850 und 1870 hatte sich die folgenschwere Wandlung des bis dahin wesentlich idealistisch geprägten in einen vorwiegend wirtschaftlich orientierten Liberalismus vollzogen. Im Sinne von Friedrich List hatten die Liberalen um des wirtschaftlichen Aufstiegs Willen die nationale Einheit Deutschlands und die Teilnahme an der politischen Machtausübung gewünscht. Nun hatte sich der Wunsch nach einer nationalen Wirtschaftseinheit erfüllt. Die neu gegründete Nationalliberale Partei verzichtete jedoch darauf, auf die Exekutive direkten Einfluss zu nehmen. Die nationale Einigung erschien ihr wichtiger als der demokratische Gedanke des alten Liberalismus. Diese geistige Umstellung des Liberalismus hat die Entwicklung des demokratischen Gedankens in Deutschland stark verzögert. Das Zugeständnis Bismarcks war die Bereitschaft zu einer liberalen Wirtschaftspolitik, die er bis 1878 aufrecht erhielt. 2005-8 2005-9