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31.03.2006

Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands (Bild: privat) Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands (Bild: privat)

Lehrervertreter für Ganztagsangebot an Haupschulen

Warnung vor Aktionismus in Debatte um Berliner Rütli-Schule

Moderation: Gerd Breker

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, hat sich gegen eine Abschaffung der Hauptschule ausgesprochen. Angesichts der der Probleme an der Berliner Rütli-Schule forderte er den Ausbau der Hauptschulen zu Ganztagsschulen. Ferner müssten an diesen Schulen bevorzugt Stellen für Schulpsychologen, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen eingerichtet werden.

Gerd Breker: Am Telefon begrüße ich nun den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus. Guten Tag, Herr Kraus!

Josef Kraus: Guten Tag, Herr Breker!

Breker: Ein Einzelfall, was sich an dieser Rütli-Schule in Neukölln ereignet, oder gibt es Ähnliches auch anderswo?

Kraus: Natürlich haben wir in Deutschland die eine oder andere Problemschule. Das ist ganz klar. Wir sollten aber auch nicht vergessen: Es gibt in Deutschland 42.000 Schulen und einen so spektakulären Fall hatten wir bislang Gott sei Dank noch nicht und wir hoffen auch, ihn nicht gleich wieder zu haben. Wenn dieser eine besondere Fall nun eine Diskussion anstößt und manche in der Politik und in der Gesellschaft wachrüttelt, dann hat es vielleicht auch sein Gutes gehabt bei aller Dramatik, die man natürlich bedauert.

Breker: Dennoch, Herr Kraus, muss man sich ja fragen, wie konnte es überhaupt so weit kommen. Ein Hilferuf der Lehrer! Lehrer, Sozialarbeiter, Polizisten gelten als Seismographen der gesellschaftlichen Entwicklung. Werden deren Aussagen, werden deren Wahrnehmungen ignoriert oder was ist damit?

Kraus: Das Gefühl habe ich schon ein bisschen. Das soll jetzt nicht nach Weinerlichkeit oder berufstypischer Lamoryanz klingen, aber wir Lehrer haben natürlich oft genug in der Öffentlichkeit, in der Politik gesagt Leute, so geht's nicht weiter. Wir können nicht die Probleme lösen, die die Gesellschaft in die Schule hineinschiebt. Um es mal deutlich zu machen: Wenn wir Gewaltzuwächse unter Heranwachsenden in der Gesellschaft insgesamt haben, kommt das in der Schule an. Wenn wir entstehendes politisch extremes Gedankengut in der Gesellschaft haben, kommt das in der Schule an. Wenn wir Drogenprobleme haben, kommt das in der Schule an. Wenn wir Sektenprobleme haben, kommen die in der Schule an. Wenn wir - das ist immer wieder gesagt worden, auch in vernünftiger und dezenter Form - Probleme haben mit der Integration von Migrantenkindern, kommt das natürlich auch in der Schule an. Anders ausgedrückt: Die Schule ist es natürlich irgendwann mal leid beziehungsweise fühlt sich überfordert, gesellschaftliche Probleme lösen zu müssen und lösen zu sollen, die die Gesellschaft nicht gelöst hat.

Breker: Wo andere versagt haben! Sagen wir es doch ganz deutlich.

Kraus: So kann man es auch deutlich sagen, ja.

Breker: Herr Kraus, das gesellschaftliche Engagement in diesem Bereich ist das eine, aber man muss natürlich auch nach der Schule selber fragen. Liegt es möglicherweise an unserem Schulsystem, an der Auswahl und möglicherweise dadurch bedingten Konzentrationen von Randgruppen in bestimmten Schulformen, wo man vielleicht auch Veränderungen vornehmen müsste?

Kraus: Sie haben diese Konzentration oder sagen wir es mal noch deutlicher eine Ghettoisierung oder das Entstehen gewisser Parallelgesellschaften aufgrund einer multiethnischen Herkunft in allen Nationen der Welt. In manchen Ländern, die völlig andere Schulsysteme haben, vielleicht sogar noch ein bisschen krasser. In England, in Frankreich, in den Vereinigten Staaten haben sie noch ein erheblich größeres Gefälle zwischen behüteten und teueren Privatschulen und Ghettoschulen andererseits. Am Schulsystem liegt es nicht und ich bitte auch herzlich alle Beteiligten darum, jetzt nicht alte ideologische Grabenkämpfe wieder aufzureißen: einheitliches Schulsystem versus differenziertes, gegliedertes Schulsystem. Das ist eine Problem-Klientel unter Heranwachsenden. Das sind übrigens nicht nur Migranten, sondern das sind natürlich auch teilweise Kinder mit deutschen Eltern. Die sind da und wenn ich das Schulsystem umtransformiere, dann habe ich auf diese Problem-Klientel nur ein anderes Etikett draufgeklebt. Das Problem ist damit keineswegs gelöst.

Breker: Also es liegt nicht an dem Umstand, dass es sich hier um eine Hauptschule handelt?

Kraus: Nein, überhaupt nicht! Ich habe größten Respekt vor den Hauptschulen. Was die Hauptschulen pädagogisch leisten müssen mit einer extremen Heterogenität von Schülerschaft, das ist wirklich bewundernswert. Das kommt in den Realschulen kaum vor. Das kommt in den Gymnasien überhaupt nicht vor, weil sie dort eine andere Schülerschaft haben. Man löst die Probleme nicht, indem man die Hauptschule abschafft. Im Grunde genommen wäre das Aktionismus. Wir müssen uns überlegen: Wie können wir Hauptschule oder Schule mit einer schwierigen Risiko-Klientel so gestalten, dass wir dort vorankommen. All das kostet Geld. Das muss man klipp und klar sagen. Da muss sich die Politik etwas einfallen lassen. Um es mal zu konkretisieren: Ich würde sagen solche Schulen müssen bevorzugt vor allen anderen Schulen zu Ganztagsschulen ausgebaut werden. Ich würde sagen solche Schulen müssen zusätzliche Förderlehrer bekommen, Lehrer für Deutsch als Fremdsprache bekommen, müssen bevorzugt Schulpsychologen bekommen, Sozialarbeiter bekommen und Sozialpädagogen bekommen. Da müssen halt vielleicht auch mal Gymnasien oder Realschulen ein bisschen zurückstecken. Das sage ich auch als jemand, der selber Leiter eines Gymnasiums ist.