"Bitte, bleib bei mir" Textausschnitte, zusammengestellt von Ulrich Weinzierl (http://www.welt.de/print-welt/article362469/Bitte_bleib_bei_mir.html) Es sollte unser erster Urlaub in Thailand werden. Ko Phi Phi, zwei Schiffsstunden südlich von Phuket, hat in den letzten Jahren als Reiseziel zu boomen begonnen, nachdem auf einer unbewohnten Nachbarinsel der Film "The Beach" mit Leonardo DiCaprio gedreht worden war. Wir trafen am Abend des 24. Dezember ein, hatten - jeder heimlich für sich - Weihnachtsgeschenke mitgeschleppt. Eigentlich waren wir ein bißchen verärgert, daß die Frühstückszeit in unserem Bungalow-Hotel schon um zehn Uhr endete. Allein, auf diese Weise sind wir um halb elf, als der Tsunami über uns hereinbrach, längst aus dem Bett gewesen. Jene, die sich noch in den rund 200 Häuschen des Hotelkomplexes "Phi Phi Princess" aufhielten, sind allesamt umgekommen. Unsere 18jährigen Kinder, die Zwillinge Sophie und Elias, machten sich gerade für den Strand fertig, und wir überlegten, ob wir uns nicht nach einem Boot für einen Ausflug am Nachmittag umschauen sollten. Plötzlich liefen draußen Leute vorbei, meine Frau Edith meinte, es seien Jogger, doch es waren seltsame Jogger: Fast nur Hotelangestellte in ihren Uniformen, und sie liefen um ihr Leben. Hinter ihnen eine bloß kniehohe Flutwelle. Aber ich sah den Schrecken in den Gesichtern der Vorbeilaufenden und hörte gleichzeitig vom etwa hundert Meter entfernten Strand lautes Schreien. Da rannte ich in den Nebenbungalow und alarmierte unsere Kinder. Wir liefen den Angestellten nach, auf die Stiege eines zweistöckigen Gebäudes zu, das dicht neben dem mehrstöckigen, aus Beton gebauten Phi Phi-Hotel stand. Hinter uns liefen andere Menschen. Und dann war auch schon die Welle zu sehen. Sie überragte die Bungalows. Die Menschen drängten die Stiegen hinauf, aber es waren zu viele, wir kamen nicht weiter. Einzig unserer Tochter Sophie glückte es, sich außen am Geländer hochzuturnen. Die Welle erreichte die Bungalows und zersplitterte sie, eine Reihe nach der anderen. Die flogen regelrecht durch die Luft. Ich sagte: "Das wird ganz ganz schlimm." Und Edith sagte: "Bitte, bleib bei mir." Ich konnte sie nicht festhalten, als uns die Welle traf. Ich hatte mich mit dem linken Bein am Betongeländer festgehakt, irgendwann versagten meine Kräfte. Ich wurde von dem Strudel aus Wasser, Schlamm und Müll hinabgerissen und geriet unter ein großes Wellblechdach, auf dem sich andere verzweifelt zu retten versuchten. Da war ich mir ziemlich sicher, daß ich es nicht schaffen würde. Ich wurde in diesem Strudel herumgewirbelt und kam nicht mehr hoch. Es war vor allem das Gefühl eines absolut unwürdigen Sterbens. Und der Entschluß, bis zum Ende zu kämpfen. Irgendwie erwischte ich ein Stromkabel, an das ich mich krallte. Beim Wegdrücken des Wellbleches über mir zerschnitt ich mir die Hand und die Sehnen des kleinen Fingers. Ich tauchte auf, und da tauchte auch Edith neben mir auf. Wir retteten uns auf einen Mauervorsprung und wurden von dort mit Hilfe zusammengeknoteter Bettlaken von zwei Italienern auf ihren Balkon hochgezogen. Gegenüber auf dem Dach des Versorgungsgebäudes entdeckten wir Sophie. Sie hatte uns schon tot geglaubt. Elias wurde mit einer Stange aus den Fluten gefischt. Noch eine zweite Welle kam, sie war - obwohl sie wegen der weggerissenen Bungalows gewaltiger wirkte - niedriger als die erste. Wir fanden auf dem Dach des Hotels zusammen. Von dort brach ich jedoch bald auf, um Trinkwasser und frische Leintücher für die Verwundeten aufzutreiben. Im Erdgeschoß und im Halbstock lagen Tote. Die Gänge darüber füllten sich mit Schwerverletzten, von denen einige in den folgenden Stunden starben. Manche hatten abgerissene Gliedmaßen, andere innere Verletzungen. Alles war voll Blut. Ein Schwede, Erik, hatte in all dem Chaos die vernünftige Idee, einen Platz frei zu räumen, auf dem Hubschrauber landen könnten. Ich sah ein Mädchen auf dem Boden sitzen, apathisch und blutverschmiert. Als ich sie berührte, grüßte sie - wir waren gemeinsam mit dem Boot angereist. Der Freund der jungen Schweizerin, die wir zu uns nahmen, war und blieb trotz mehrstündiger Suche verschwunden. Am Nachmittag näherten sich kleinere Taucher- und Ausflugsschiffe der zerstörten Küste. Passagiere und Besatzung beobachteten aus sicherer Distanz das Inferno, niemand wurde an Bord genommen. In der Nacht flogen Hubschrauber mit Polizisten ein, sie brachten Medikamente - aber auch Nachrichten über neuerliche Flutwellen, was für Panik sorgte. Die Bevölkerung verhielt sich auf der Insel anders als auf dem Festland. In größter Angst wollten die Leute nichts als weg und haben die Touristen, als am 27. Dezember die ersten Evakuierungsboote anlegten, fast ins Wasser gestoßen. Wir wurden von einem Boot in die Hafenstadt Krabi gebracht, wo bereits am Steg eine Notkrankenstation eingerichtet war. Die Thailänder gaben uns zu essen und zu trinken. Ich mußte in ein Krankenhaus gebracht werden, habe aber darauf bestanden, nicht von meiner Familie getrennt zu werden. Dort wurden meine Finger genäht, aber gleich darauf wieder aufgetrennt, weil die Wunden infiziert waren. Danach wurden wir in ein buddhistisches Kloster, etwa 20 Kilometer außerhalb der Stadt, transportiert. Die Mönche dort waren ungemein freundlich und servierten uns lächelnd Reis und Wasser, doch wir wußten nicht, was wir hier verloren hatten. Es gab weder Telefon noch sonstige Verbindungen zur Außenwelt. Der deutsche Besitzer einer Tauchschule, der als Volunteer ins Kloster kam, brachte uns nach Krabi zurück, ins Maritime Hotel, das jeden Überlebenden bereitwillig und großzügig aufnahm. Man stellte Zimmer, den ganzen Fuhrpark, ein Ärzteteam und Gratistelefone zur Verfügung. Und als alle Zimmer voll waren, wurden Speisesäle in Schlafsäle umgewandelt. Eine deutsche Ärztin, gleichfalls Urlauberin, hat sich um die Gestrandeten gekümmert. Sie gab uns Valium für die Nacht. Aus dem Hotel konnte ich das erste Mal mit der österreichischen Botschaft in Bangkok telephonieren. Der Rat, uns auf eigene Faust nach Phuket durchzuschlagen, war nicht unbedingt realistisch. An diesem ersten Abend in Sicherheit ist dann alles hochgekommen. Eine Mischung aus Glück und Verzweiflung. Ich wartete, bis meine Frau und die Kinder eingeschlafen waren und ging in die Hotelbar, wo man mir ein Bier spendierte. Danach brach ich zusammen und konnte nur noch heulen. Ich nahm das Valium und schlief ein. Am frühen Morgen wurden wir nach Bangkok ausgeflogen. Thai Air beförderte Flutopfer kostenlos - eine Bestätigung der Behörden, daß man mittellos war, genügte. Auf dem Flughafen von Bangkok wartete ein Vertreter der österreichischen Botschaft. Er hatte einen schweren Job. Austrian Airlines weigerten sich, uns mitzunehmen, weil wir mit Eva-Air nach Thailand angereist waren. In diesem Fall war es günstig, daß ich in Spitalsbehandlung mußte. Das verschaffte uns schließlich die Tickets. Im Flugzeug waren zwei Mädchen, die ihre Eltern verloren hatten. Das österreichische Krisenmanagement war anfangs katastrophal. Die wenigen Beamten vor Ort haben Tag und Nacht gearbeitet, sind aber völlig überfordert gewesen. Das Flugzeug landete in Wien Schwechat auf Außenposition. Die Davongekommenen waren nur spärlich bekleidet, in Wien war es eiskalt. Irgendwann werde ich gewiß über all das schreiben, es wird gar nicht anders gehen. Vielleicht haben es Schriftsteller diesbezüglich leichter. Mein Sohn träumte letzte Nacht, daß er den Müll ausleerte. Da lag sein Vater tot im Hof. Er hat mich auf die Schulter genommen und zu seiner Mutter in die Wohnung hinaufgetragen - und wachte auf. Wir sind gegen solche Situationen nicht gewappnet, wir haben keinen Krieg und auch keine vergleichbaren Katastrophen erlebt. Mit dieser Form des Endes, mit Toten und Verstümmelten vor Augen, haben wir nicht umzugehen gelernt. Die Erfahrung, daß das vermeintliche Paradies - Sand, Sonne, Meer - sich im Handumdrehen in die Hölle verwandelt, haben wir bislang nur im Film ausgelebt. In der Realität läßt sie uns hilflos zurück.