Enthüllen oder schweigen? Diese Frage stellt sich irgendwann jedem, der ein Geheimnis wahrt. Die Antwort darauf ist gar nicht so einfach „Wenn ich mein Geheimnis verschweige, ist es mein Gefangener; lasse ich es entschlüpfen, bin ich sein Gefangener. Am Baume des Schweigens hängt seine Frucht, der Friede", meinte Arthur Schopenhauer. Ähnlich rät auch der Volksmund zur Vorsicht, wenn es um die Enthüllung von Geheimnissen geht: „Wer schweigt, ist des Geheimnis' Herr, wer spricht sein Knecht." Oder: „Wer sein Geheimnis offenbart, verkauft seine Freiheit." Auch Psychologen und Familientherapeuten plädieren nicht immer und unter allen Umständen für die Offenlegung eines Geheimnisses. Grundsätzlich gilt, so die Familientherapeutin Evan Imber-Black: „Wenn eine Person ein Geheimnis hütet, das zunächst und vor allem ihr eigenes Leben betrifft, so .gehört' ihr dieses Geheimnis, und die Entscheidung, es für sich zu behalten oder mitzuteilen, liegt zu Recht einzig und allein bei ihr selbst." Das heißt: Niemand ist befugt, ein Geheimnis, das einem anderen gehört, zu lüften. Noch so viel - wirkliche oder vorgebliche - Wahrheitsliebe rechtfertigt es nicht, einen anderen bloßzustellen. Wer von einem Kollegen weiß, dass dieser schwul ist. darf ihn nicht outen. Wer von der außerehelichen Affäre der Freundin weiß, muss schweigen. Niemand sollte sich in selbstgerechter Weise als Hüter der Wahrheit aufschwingen, in der ..irrigen Annahme, man wisse am besten, was dem anderen nicht verborgen bleiben sollte", mahnt Imber-Black. Auch der Geheimnisträger selbst sollte genau prüfen, ob er sein Schweigen bricht. Wichtig ist, dass er sich über seine eigenen Motive im Klaren ist: Gebe ich das Geheimnis aus Verärgerung preis? Wenn ein Geheimnis plötzlich eingestanden wird, weil man auf den anderen wütend ist oder sich rächen will, wird die Enthüllung keine befreiende, sondern eine verheerende Wirkung haben. Gebe ich das Geheimnis preis, um Loyalitätskonflikte heraufzubeschwören? Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn ein geschiedener Vater seinem Kind ein Geheimnis über die Mutter erzählt. Will ich mich von einer Last befreien und sie dem anderen aufbürden? Evan Imber-Black warnt davor, die eigene Schuld auf den Schultern des anderen abzuladen: „Wenn Sie mit dem Gedanken spielen, ein wichtiges Geheimnis offen zu legen, und sich in Ihrer Fantasie ausmalen, Sie seien danach völlig erleichtert, der andere akzeptiere Sie voll und ganz und die Sache sei damit ein für alle Mal erledigt, dann sollten Sie dies als Warnsignal betrachten." Im Grunde gibt es nur zwei wirklich gute Motive, um ein Geheimnis zu lüften, meint Imber-Black: erstens, wenn man der ehrlichen Überzeugung ist, dass ein anderer Mensch ein Recht darauf hat, das Geheimnis zu kennen, weil dadurch seine eigene Lebenskraft gestärkt wird, und zweitens, wenn man durch seine Ehrlichkeit eine Beziehung retten oder wiederherstellen will. UN 24 I PSYCHOLOGIÍ HEUTE MÄRZ 2006