Mehrsprachigkeit im Vorschulalter Jürgen M. Meisel Institut für Romanistik & Sonderforschungsbereich Mehrsprachigkeit 28. März 2006 Vorschau 1. Einleitung 2. Hypothesen zum Erwerb der Mehrsprachigkeit 3. Der simultane Erwerb mehrerer Erstsprachen 4. Der sukzessive Erwerb der Mehrsprachigkeit: fundamentale Unterschiede zwischen L1 und L2 5. Sensible Phasen der Sprachentwicklung 6. Schlussfolgerungen und Ausblick Mehrsprachigkeit als Gefahr Je n’ai trouvé nulle part une réponse à ce problème du bilinguisme reposant sur une étude sérieuse. Il faut, dans ce domaine, être prudent. (René Haby) Mehrsprachigkeit als Gefahr daß frühe Zweisprachigkeit mit bestimmten geisti-gen Folgeerscheinungen verbunden erscheint, die insgesamt als nachteilig für das Kind anzusehen sind. Die Ursache wird nicht so sehr in einer über-großen Lernbeanspruchung gesehen, wie darin, daß das sprachliche Wachstum des Kindes und die Entfaltung seiner Gesamtpersönlichkeit viel zu eng miteinander verbunden sind, als daß ein Abwei-chen von den natürlichen Bedingungen ohne störende Auswirkungen bleiben könnte. (p. 76) Mehrsprachigkeit als Gefahr „Absinken der Sprachkraft führt notwendig zu Einbußen in der Exaktheit des Denkens und des Handelns ... Vor allem aber gehen corruption du langage und corruption des moeurs Hand in Hand.” Das Ergebnis sind “geistige Mittelmäßig-keit ... Erschlaffung des Gewissens insgesamt ... die tiefsitzende Neigung zum Kritisieren (immer-fort genährt durch die Möglichkeit, alles von zwei sprachlichen Standpunkten zu betrachten).” (pp. 78ff.) Mehrsprachigkeit als Gefahr Solche Spitzenleistungen auf sprachlichem Gebiet werden immer Sache von besonders prädestinier-ten Einzelnen bleiben: dort wo Anlagen, Familien-verhältnisse, Lebensschicksale und unablässiges Mühen zusammenkommen, wird es unter tausend Fällen einmal gelingen, die ideale Form der Zwei-sprachigkeit zu gewinnen. (Weisgerber, p. 85). Ablauf 1. Einleitung 2. Hypothesen zum Erwerb der Mehrsprachigkeit 3. Der simultane Erwerb mehrerer Erstsprachen 4. Der sukzessive Erwerb der Mehrsprachigkeit: fundamentale Unterschiede zwischen L1 und L2 5. Sensible Phasen der Sprachentwicklung 6. Schlussfolgerungen und Ausblick Ausgangshypothese Die menschliche Sprachfähigkeit ist eine Disposition zur Mehrsprachigkeit, die jedoch nicht für unbegrenzte Zeit und vollständig zugänglich bleibt. Neuronale Reifung bewirkt Veränderungen im Verlauf des späteren Kindesalters Autonomiehypothese Arbeitshypothesen Vergleich: L1 ßà 2L1 ßà L2 Autonomie L1 ßà 2L1 Maturation: 2L1 ßà L2 Ablauf 1. Einleitung 2. Hypothesen zum Erwerb der Mehrsprachigkeit 3. Der simultane Erwerb mehrerer Erstsprachen 4. Der sukzessive Erwerb der Mehrsprachigkeit: fundamentale Unterschiede zwischen L1 und L2 5. Sensible Phasen der Sprachentwicklung 6. Schlussfolgerungen und Ausblick Das 3 Stufen Modell (Volterra & Taeschner 1978) – I. Das Kind verfügt über nur ein lexikalisches System, mit Elementen aus beiden Sprachen. – II. Es entwickeln sich zwei getrennte lexikalische Systeme, aber das Kind „(s/he applies) the same syntactic rules to both languages”. – III. Zwei getrennte grammatische Systeme entwickeln sich - Differenzierung der Sprachen. Belege für Sprachentrennung l Funktionale Trennung: Spätestens ab 1;10 treffen Kinder die Sprachwahl entsprechend der Situation, die durch Merkmale des Kontexts bestimmt ist, vor allem durch den Gesprächspartner; vgl. Genesee (1989), Goodz (1989), Köppe (1996, 1997). l Strukturelle Trennung: in etwa dem gleichen Alter, 1;10 – 2;0, verwenden Kinder funktional äquivalente Konstruktionen, für die in den beteiligten Sprachen formal unterschiedliche Ausdrucksmittel erforderlich sind, altersgemäß; vgl. Meisel (1989), de Houwer (1990). Monolingualer Erwerb der Verbstellung Monolingual Deutsch Monolingual Französisch I) Variable Wortstellung Variable Wortstellung Endstellung bevorzugt SVO (und OVS) Keine Finitheit Keine Finitheit IIa) Nicht-finite V in Endstellung SVO, sVOS, SsVO finite V in Zweitposition +/-finit und in Endposition IIb) Finite V kategorisch in SVO V2 Zweitposition III) Beginn des Gebrauchs untergeordneter Konstruktionen Verben systematisch in SVO HS/NS Endposition Differenzierung Deutsch - Französisch Phase (I) l Verben in Endposition im Deutschen - nie im Französischen l VOS im Französischen - nie im Deutschen Phase (II) l V2 Phänomene im Deutschen - nie im Französischen l XSV (V3) im Französischen - nie im Deutschen l Nicht-finite Verben in Endposition im Deutschen - nie im Französischen Schlussfolgerungen Hypothese: Sprachfähigkeit ermöglicht Mehrsprachigkeit. Argument: 2L1 unterscheidet sich nicht qualitativ vom monolingualen L1, weder im Erwerbsverlauf, noch in der letztlich erworbenen Kompetenz Evidenz: bilinguale Kinder 1) unterscheiden ihre Sprachen funktional im Alter ab etwa 1;10 2) erwerben grammatisch unterschiedliche Eigenschaften für funktional äquivalente Konstruktionen in beiden Sprachen, ab dem Alter von etwa 2;0 (MLU 2.0) 3) gleichen den entsprechenden monolingualen Kindern im Gebrauch von grammatisch äquivalenten, formal aber unterschiedlichen Konstruktionen 4) verwenden grammatisch äquivalente Konstruktionen in ihren Sprachen entsprechend dem jeweiligen zielsprachlichen Gebrauch, formal unterschied-lich in den (beiden) Sprachen. Ablauf 1. Einleitung 2. Hypothesen zum Erwerb der Mehrsprachigkeit 3. Der simultane Erwerb mehrerer Erstsprachen 4. Der sukzessive Erwerb der Mehrsprachigkeit: fundamentale Unterschiede zwischen L1 und L2 5. Sensible Phasen der Sprachentwicklung 6. Schlussfolgerungen und Ausblick Unterschiede (2)L1 und L2: Beobachtungen l Eingangsphase (initial state): L2 Äußerungen länger und komplexer, Gebrauch funktionaler Kategorien, etc. l Invariante Erwerbssequenzen im L1 und im L2 - jedoch nicht die gleichen in beiden Erwerbstypen. l Erwerbsgeschwindigkeit: schnell im L1; langsamer, oft stark verzögert im L2. l Uniformität: beim Vergleich verschiedener Lerner und von Erwerbsverläufen einzelner Lerner, erheblich mehr Variation im L2 als im L1. l Erwerbserfolg: L1 führt immer zum vollständigen Erwerb der Zielgrammatik, im L2 wird dagegen selten oder nie eine muttersprachliche Kompetenz erreicht. Unterschiede (2)L1 und L2: Erklärungen Invariante Prinzipien der UG sind im L2 Erwerb ebenso wirksam wie in der grammatischen Entwicklung der (2)L1. Für L2 Lerner sind nicht mehr alle Informationen der UG verfügbar. Sie haben keinen direkten Zugriff auf Optionen, die durch parametrisierte Prinzipien der UG angeboten werden. L2 Lerner können aber von bereits erworbenem grammatischen Wissen Gebrauch machen - (2)L1. L2 Lerner müssen andere kognitive Ressourcen nutzen, um nicht mehr verfügbares UG Wissen zu kompensieren. L2 Lerner sind auf induktives Lernen angewiesen, wo im (2)L1 implizites Wissen aktiviert wird, das im L2 Erwerb nicht mehr zugänglich ist. Das L2 Wissen ist daher ein hybrides System, das allgemeine und aufgabenspezifische Kategorien und Operationen vereint. Ablauf 1. Einleitung 2. Hypothesen zum Erwerb der Mehrsprachigkeit 3. Der simultane Erwerb mehrerer Erstsprachen 4. Der sukzessive Erwerb der Mehrsprachigkeit: fundamentale Unterschiede zwischen L1 und L2 5. Sensible Phasen der Sprachentwicklung 6. Schlussfolgerungen und Ausblick Schema: Sensible Phasen Vorläufige Bestimmung der Alterszeiträume 1) Simultaner Erstspracherwerb (2L1), wenn der Beginn des Erwerbs in den drei ersten Lebensjahren liegt; 2) kindlicher Zweitspracherwerb (cL2), Erwerbsbeginn der zweiten und weiterer Sprachen im Alterszeitraum von drei bis acht Jahren; 3) erwachsener Zweitspracherwerb (aL2), wenn eine Sprache nach dem achten Lebensjahr erworben wird. Es besteht dringender Bedarf an empirischen Studien zum sukzessiven Erwerb der Mehrsprachigkeit, vor allem im frühen Kindesalter bis zum sechsten Lebensjahr. Kindlicher L2 Erwerb Pienemann (1981) 2 italienische Kinder, Erwerbsbeginn 8 Jahre, Langzeitstudie, 60 Wochen. Der Erwerbsprozess gleicht dem von erwachsenen L2 Lernern in allen untersuchten Bereichen in Syntax und Morphologie. Hyltenstam (1992), Querschnittstudie. Keine muttersprachliche Kompetenz bei Erwerbsbeginn nach 6 Jahren. Unterschiedlicher Erwerbserfolg bei Erwerbsbeginn vor 6 Jahren. Paradis, Le Corre & Genesee (1998), White (1996) Erwerb der grammatischen Kongruenz etwa im Alter von 5 Jahren. Möhring (2001), Querschnittstudie. Erwerbsbeginn 2;10 – 3;7. L1 Deutsch - L2 Französisch. Genuserwerb. Qualitative Veränderungen um den Alterszeitpunkt 3;4. Loewe & Stöber (2005): Finitheit SCL mit finiten und nicht-finiten Verben Neurolinguistische Evidenz: Hypothesen und Resultate Die funktionale Organisation des Gehirns verändert sich hinsichtlich der Sprachverarbeitung im Verlauf der individuellen Entwicklung. Beginnt der Erwerb innerhalb der optimalen Periode, wird Sprache bevorzugt in den typischen Arealen verarbeitet. Dies ist auch dann der Fall, wenn in diesem Zeitraum mehr als eine Sprache erworben wird. Beginnt der Erwerb einer Sprache nach der optimalen Periode, sind zusätzliche Areale an der Sprachverarbeitung beteiligt. ERP Studien l H. Neville : Gehirnaktivitäten bei spanischen und chinesischen Immigranten, Alter 2-16 bei Einwanderung, grammatische und ungrammatische Sätze. Ab dem Alter von 4 Jahren, zunehmend rechtshemisphärische Verarbeitung. l E. Newport & J. Johnson: chinesische & koreanische Immigranten, Alter 3-46 Jahre, gleiche Aufenthaltsdauer. Grammatische und ungrammatische Sätze. Wenn Alter bei Einwanderung 4 Jahre und jünger: wie Muttersprachler, dann abflachende Kurve. l Hahne & Friederici (2001): Bei semantischen Verletzungen kein Unterschied zwischen L1 und L2, also zentral-parietaler N 400 Effekt. Bei syntaktischen Verletzungen bei L2 Lernern kaum Unterschiede zwischen grammatischen und ungrammatischen Stimuli. Auch kein ELAN Effekt, auch nicht bei sehr fortgeschrittenen Lernern. Also gerade nicht bei hoch automatisierten Prozessen. H. Neville et al. Rechts: linke Hemisphäre, links: rechte Hemisphäre Oben: Erwerbsbeginn 1-3 Mitte: Erwerbsbeginn 4-6 Unten: Erwerbsbeginn 11-13 Kim, Relkin, Lee & Hirsch (1997) Bildgebende Verfahren l Kim et al. (1997): vergleichen Kinder, die ihre beiden Sprachen seit ”early infancy” erworben haben mit sukzessivem Erwerb (11;2 im Durchschnitt). Früher Erwerb: beide Sprachen werden in den gleichen Arealen verarbeitet. Später Erwerb: räumlich getrennte Verarbeitung der beiden Sprachen. l Dehaene at al. (1997): größere und diffusere neurale Netze für die L2 ... first language acquisition relies on a dedicated left-hemispheric cerebral network, while late second language acquisition is not necessarily associated with a reproducible biological substrate. l Wartenburger et al. (2003): Erwerbsbeginn nach 6: stärkere Aktivierung bei Verarbeitung grammatischer Informationen, nicht bei semantischen. Ablauf 1. Einleitung 2. Hypothesen zum Erwerb der Mehrsprachigkeit 3. Der simultane Erwerb mehrerer Erstsprachen 4. Der sukzessive Erwerb der Mehrsprachigkeit: fundamentale Unterschiede zwischen L1 und L2 5. Sensible Phasen der Sprachentwicklung 6. Schlussfolgerungen und Ausblick Schlussfolgerungen und Ausblick Linguistische und neurophysiologische Befunde stützen die Annahme, dass ein Erwerbsbeginn nach der optimalen Phasen zu fundamentalen Unterschieden in der Kompetenz führen. Es gibt Hinweise, wonach innerhalb der „kritischen Periode“ sensible Phasen für spezifische grammatische Phänomene existieren („windows of opportunities“). Erwerbsbeginn innerhalb der optimalen Phase muss keine Gewähr sein für einen vollständigen Erwerbserfolg. Qualitativ oder quantitativ eingeschränkter Zugriff auf die Primärdaten könnte einen unvollständigen Erwerb zur Folge haben. Merci beaucoup! Muito obrigado! ¡Muchas gracias! Eskerrik asko! Vielen Dank! Merci vielmals! Verbstellung im Deutschen Ivar (i) da war das 2;03 (ii) wo is' teddy? 2;04 (iii) kaputt is der 2;04 Pascal (i) da in tasche mußt du das 2;02 (ii) wo is die schiff? 2;05 Caroline (i) ein grüner is das 2;04 (ii) da fährt die Caroline 2;03 (iii) wo's der opa? 2;02 Verbstellung im Französischen Ivar (i) ici on peut dormir 2;05,07 (ii) ça on met (iii) où il est baguette? Pascal (i) un petit peu ça pique 2;04,07 (ii) où il est le papa? 2;04,07 Caroline (i) là elle est cassée 2;02,09 (ii) la chaussure on va jouer 2;04,08 (iii) où l'est le papier? 2;04,08 Strukturunabhängige Organisationsprinzipien l NEG + X, unmittelbar vor dem zu negierenden Element (1) Ich kann nich sprechen in Deutschlan. Oder nich versteht ich auch Spanisch. (Rosemarie S, 15 Jahre/1 Jahr in Deutschland) l Satzfinale Position des Subjekts statt „Inversion“ (2) Bestimmt liebe diese Frau ich nix Da hatse sieben Kinder diese Frau (Franco I, 31 Jahre/10 Jahre in Deutschland) Beispiele: Nicht-finite Verben in finiten Kontexten (1) Nadja un petit [n]enfant qui mang[e] une pomme Paul et là jou[e] dehors/ Erich et il jou[e] / Veronika et après il(s) devenir cop-, deux copins,… Annette on vas-y,… Beispiele: Pronomina und Verbformen 2) Tom moi sais c’ que c’est (3)Paul et là c’est un jeu il cass[e] Erich ils jou[e] dehors Nadja et le canard là, elle dessin[e]