Kultur braucht Auswahl (Gottfried Honnefelder) Elektronische Medien contra Buch Hätten die Bewohner Mesopotamiens statt der üblichen Tontafeln eine Art E-Mail für ihre Botschaften gebraucht, wir wüßten wohl 5 kaum etwas von ihnen. Wenn sich die elektronischen Datenträger so ferner Zeiten erhalten hätten, besäßen wir wahrscheinlich die Software nicht mehr, um sie zu lesen. Besäßen wir sie aber, dann wüßten wir in der Flut der dann vorhandenen Texte vermutlich das Unwichtige nicht von Wichtigen zu unterscheiden und wüßten daher ebenso 10 viel wie wenig. Für unsere Kultur ist die Schriftlichkeit seit Jahrtausenden zum nicht wegzudenkenden Merkmal geworden. Aber ist es mit der kulturellen Bedeutung dieses Merkmals nicht vorbei? Ist nicht längst an die Steile des Buches das Multimediageschehen getreten? Weltweit 15 werden im Jahre 2000 etwa 15 000 Fernsehkanäle zu empfangen sein. Aus Bibliotheken werden Navigationszentren der verschiedenen Medien, an die Stelle des Buches tritt die Bildplatte, an die des Lesens die audiovisuelle Interaktion. Ist dies, wie man befürchtet hat, das Ende des Lesens oder nur eine Weise seiner Transformation? 20 Wie steht es mit der Schriftlichkeit - hört sie auf, oder verändert sie sich? Bei allen diesen Veränderungen bleibt das Problem der Dauerhaftigkeit. [...] Das elektronische Medium versucht zwar einzuholen, was Tontafel, Pergament und Papier eigen war; überall da aber, wo 25 Sprache Dauerhaftigkeit gewinnen soll, in Testament, Vertrag und Urkunde, in wissenschaftlichen Dokumentationen und geschichtlichen Darstellungen und nicht zuletzt im sprachlichen Kunstwerk, bleibt man beim Papier - säurefrei - oder sucht digitale Formen der Dauerhaftigkeit. Nur wo das Sprachgeschehen Permanenz gewinnt, 30 schafft es Bindung, bewahrt es Gedächtnis und stiftet Identität, die dauert. Das elektronische Medium sucht aber nicht nur Ersatz für die Zeit überdauernde Präsenz von Tontafeln, Pergament und Papier, es sucht auch Ersatz für den Verlust von Öffentlichkeit. Je mehr Internet 35 jeden mit jedem verbindet, desto mehr Digitalkommunitäten werden möglich, aber die Öffentlichkeit droht verlorenzugehen. Wenn jeder sich sein Fernsehprogramm zusammenstellen kann, sieht zwar jeder, 67 was er mag, aber jeder sieht etwas anderes. Politische Demokratie aber braucht die Ausbildung öffentlicher Meinung, Kultur braucht 40 das öffentlich geführte Gespräch. Deshalb ist ein Gemeinwesen bislang nicht ohne die Zeitung möglich, und sei es die Wandzeitung, und Kultur nicht ohne die gedruckte Literatur und das Theater. Und was dem digitalen Medium bislang auch fehlt, ist die Selek- 45 tion, die vom Druck- und Verlagswesen durch Jahrhunderte übernommen wurde. Deshalb bedarf es dringender denn je der Verlage und Bibliotheken sowie des Buchhandeis, um auch im elektronischen Medium diese Auswahl-, Sicherungs- und Vermittlungsleistung zur Öffentlichkeit hin zu gewährleisten. Zu einer Kultur gehört das kollek- 50 tive Gedächtnis, das die Ausbildung von Tradition möglich macht, ihre Identität und Kontinuität überhaupt erst stiftet. Ohne literarischen Kanon bildet sich kein Geschmack, an ihm nimmt - immer noch - Literatur Maß, und in seiner Kritik erneuert sie sich. Wird jedwedes in gleicher Form festgehalten, wird alles letztlich gleichgül- 55 tig. Die Unterschiedslosigkeit der Form, der Bewahrung läßt den Inhalt beliebig werden. Kein Wunder, daß das elektronische Medium nach nichts so sehr Ausschau hält wie nach Instrumenten der Selektion, die das Wichtigste vom Unwichtigen trennen können und das 60 auszeichnen, was bewahrenswert ist, was jeder kennen und was für jeden verfügbar sein soll. Gesucht wird ein „Personal-Information-Management", das jedem die nötige - und zwar nur die nötige - Information als Basis seines Wissens geben kann: aus tausend weitweit erreichbaren Fern- 65 sehkanälen, aus Hunderten von Millionen digitalisierter Bücher, aus täglich Millionen Zeitungsseiten, aus nur digital publizierter und kommunizierter wissenschaftlicher Literatur. Dieses für die elektronische Kommunikation gerade in den letzten Wochen immer mehr geforderte „Information-Management" stellt ein Auswahlprinzip dar 70 unter den unendlichen Angeboten einer unendlichen Bibliothek. Schnell haben die neuen elektronischen Gestalten der Schriftlichkeit Züge angenommen, die bislang der unmittelbaren Kommunikation eigen waren. Gleichzeitigkeit, Interaktivität und Intimität sowie Offenheit für alles: der ganze oszillierende Reiz des Gesprächs. Schwer 75 aber tut sich das Medium darin, das wiederzugewinnen, was der alten Schriftlichkeit seit den Tontafeln eigen war: Permanenz, Öffentlichkeit und Auswahl unter dem vielen. B8 A u í gäbe n 1. Beantworten Sie folgende Fragen zum Text mit Ihren eigenen Worten! a) Welche Vorteile haben die herkömmlichen Medien gegenüber den elektronischen? (4 Funkte) b) Welche Probleme resultieren aus der „Augenblickhalligkeit" digitaler Medien? (4 Punkte) c) In welcher Hinsicht stellen die elektronischen Medien eine Gefahr dar für eine demokratische, d.h. eine auf Meinungsaustausch und Dialog gerichtete Gesellschaft? (4 Punkte) d) Welche Arten und Instanzen der Selektion bei Büchern nennt Hannefelder? Wie wirken sie? (6 Punkte) c) Warum ist es grundsätzlich schwieriger, solche Selektion im elektronischen Medium durchzuführen? (3 Punkte) Fl Welche Parallelen sieht Honnefelder zwischen den elektronischen Medien und der unmittelbaren Kommunikation? Was unterscheidet beide dagegen aus Ihrer Sicht? (6 Punkte) o) „Wie steht es mit der Schriftlichkeit - hört sie auf, oder verändert sie ° sich?" (Zeile 20 f.) Welche Position bezieht der Autor zu dieser Frage? (3 Punkte) 2. Erklären Sie folgende Begriffe und Ausdrücke n a c h i h r e r B e d e u t u n g im Text! (je 1,5 Punkte) Flut (Z. 8) stiftet (Z. 51) Navigationszentren (Z. 16) nimmt Maß (Z. 52 f.) eigen sein (Z, 24) bewahrenswert (Z. 60) Ausbildung (Z. 39) Züge annehmen (Z. 72) bedarf es dringender denn je (Z. 46) Intimität (Z. 73) 69 3. Ersetzen Sie die unterstrichenen Textteile der linken Spalte durch die Ausdrücke in der rechten Spalte. Formen Sie die Sätze nach Bedarf um, und schreiben Sie sie vollständig nieder! (insgesamt 18 Punkte; Zeilen 32-46 im Text). Das elektronische Medium sucht aber nicht nur Ersatz für die Zeit überdauernde Präsenz von Tontafeln, Pergament und Papier, es sucht auch Ersatz für den Verlust von Öffentlichkeit. Je mehr Internet jeden mit jedem verbindet, desto mehr Digitalkommunitäten werden möglich, aber die Öffentlichkeit droht verlorenzugehen. Wenn jeder sich sein Fernsehprogramm zusammenstellen kann, sieht zwar jeder, was er mag, aber jeder sieht etwas anderes. Politische Demokratie aber braucht die Ausbildung öffentlicher Meinung, Kultur braucht das öffentlich geführte Gespräch. Deshalb ist ein Gemeinwesen bislang nicht ohne die Zeitung möglich, und sei es die Wandzeitung, und Kultur nicht ohne die gedruckte Literatur und das Theater. Und was dem digitalen Medium bislang auch fehlt, ist die Selektion, die vom Druck- und Verlagswesen durch Jahrhunderte übernommen wurde. ersetzen verlieren [Beginnen mit:] Wenn ... Gefahr verwehrt sein [Beginnen mit:] Denn wie ... Öffentlichkeit verzichten [Beginnen mit:] Das digitale M. auswählen 4. Konstruieren Sie für die Fremdwörter Kultur und Medium je zwei verschiedene Bedeutungsumfelder, und geben Sie jeweils eine synonyme Wendung an (insgesamt 8 Punkte). Beispiel: Fremdwort Identität 1. Die Identität der Wasserleiche konnte erst nach zwei Wochen festgestellt werden. ( = Die Personalien der Wasserleiche) 2. Identität und Widerspruch sind zwei Grundkategorien der Logik. ( = Gleichheit und Widerspruch) 70