VI. Fach- und Wirtscha tssprachen 45. Fachsprache der Wirtscha t und des Tourismus 1. Einleitung 2. Fachsprachliche Merkmale der Wirtschaftskommunikation 3. Schriftliche Wirtschaftskommunikation 4. Mündliche Wirtschaftskommunikation 5. Praxisrelevanz 6. Literatur in Auswahl 1. Einleitung Eine Fachsprache der Wirtschaft oder des Tourismus gibt es nicht, wohl aber text- und gesprächsbezogene Charakteristika der Wirtschaftskommunikation. Diese werden sowohl von der Fachsprachenforschung (Hoffmann, Kalverkämper und Wiegand 1998/99) als auch von der Text- und Gesprächslinguistik (Brinker et al. 2000/01) untersucht. Unter Wirtschaft wird dabei der gesellschaftliche Tätigkeitsbereich der Produktion, Distribution und Konsumtion von Produkten und Dienstleistungen verstanden. Die Erforschung der Wirtschaftskommunikation hat sich inzwischen von der Konzentration auf das Einzelwort oder das einzelne syntaktische Element gelöst und ihr Interesse auf die sprachlichen Strukturen und die kommunikativ-kognitiven Funktionen von Texten und Gesprächen in verschiedenen Tätigkeitsfeldern ausgedehnt. Die Beschäftigung mit der (interkulturellen) Wirtschaftskommunikation (Bolten 2007) ist zwar beliebt, doch ist die linguistische Forschung sehr unausgewogen: Während die Werbung große Anziehungskraft genießt (vgl. Art. 50), werden der Tourismus (Weidemann 2007), die Wirtschaftswissenschaften (Grütz 1995) oder das Wirtschaftsrecht (Cebulla und Rodenbeck 2001) nur am Rande untersucht. 2. Fachsprachliche Ausprägungen der Wirtscha tskommunikation 2.1. Gliederung und Schichtung Grundannahme der Fachsprachenforschung ist, dass die Fachkommunikation horizontal gegliedert und vertikal geschichtet ist. Horizontale Gliederung bedeutet, dass in Abhängigkeit von den Fächergliederungen einer Gesellschaft unterschiedliche fachliche Kommunikationsbereiche (z. B. der Philosophie, Medizin, vgl. Art. 46) nebeneinander bestehen, von denen die Wirtschaftskommunikation eine typische Vertreterin ist. Vertikale Schichtung bezieht sich auf die wissensmäßigen Abstraktionsebenen in der fachsprachlichen Kommunikation. Idealtypischer Leitgedanke ist, dass in der fachinternen Verständigung zwischen Fachleuten ein Höchstmaß an Wissen bei einem Mindestmaß an sprachli- 45. Fachsprache der Wirtschaft und des Tourismus 459 cher Darstellung vermittelt wird. Die mathematische Formel und der wissenschaftliche Fachartikel sind hierfür Paradebeispiele. In der hierarchisch niedrigeren fachexternen Verständigung zwischen Fachleuten und Laien nimmt folglich der Abstraktionsgrad und somit der Grad der Fachsprachlichkeit ab. Die Zunahme an wirtschaftssprachlicher Ausprägung verdeutlicht das folgende Beispiel, in dem inhaltsähnliche Sätze durch Deagentivierung anonymisiert oder objektiviert werden (Roelcke 2005: 78): (1) Als ich die Zahlung aufschob, bekam ich Integritätsprobleme. (Konstruktion mit Agensnennung durch Personalpronomen und Konjugationsformen der 1. Person Singular Präteritum Aktiv im Neben- und Hauptsatz.) (2) Wenn man die Zahlung aufschiebt, kann man Integritätsprobleme bekommen.(Konstruktion mit Agensnennung durch unbestimmtes Personalpronomen und Konjugationsformen der 3. Person Singular Präsens im Neben- und Hauptsatz.) (3) Wird die Zahlung aufgeschoben, können Integritätsprobleme folgen. (Konstruktion ohne Agensnennung und Konjugationsformen des Präsens Passiv im Nebensatz und des Präsens Aktiv im Hauptsatz.) (4) Zahlungsaufschub kann Integritätsprobleme verursachen. (Hauptsatzkonstruktion ohne Agensnennung bei Determinativkompositumbildung im ehemaligen Nebensatz.) Es ist eine empirisch offene Frage, inwiefern solche fachsprachlichen Züge tatsächlich Texte und Gespräche im Bereich von Wirtschaft und Tourismus charakterisieren. 2.2. Lexik und Syntax Nach alter Vorstellung sind Fachwörter im Unterschied zu Allgemeinwörtern so beschaffen, dass sie in jedem beliebigen Kontext klar und deutlich verstehbar sind. Im Gegensatz dazu weist die kognitionslinguistische Fachsprachenforschung nach, dass auch Fachwörter grundsätzlich vage und mehrdeutig sind. Exaktheit und Eindeutigkeit erhalten Fachwörter erst durch Bezug auf kontextspezifische Kenntnis- und Handlungssysteme. Einem Einzelwort wie Geschäftsführer ist nicht anzusehen, ob ihm eine allgemeine Bedeutung wie „leitender Angestellter in einem Unternehmen“ oder eine fachinterne Bedeutung zukommt, die auch alle wirtschaftsrechtlichen Bestimmungen umfasst (Gabler 2004). Erst der Kontext entscheidet, ob ein Wort ein Fachwort der Wirtschaft ist und welcher Stellenwert ihm im Zusammenhang mit anderen Fachwörtern zukommt. In der ein- und mehrsprachigen Wirtschaftslexikografie und -terminologiearbeit werden deshalb grundsätzlich Begriffssysteme untersucht und es wird ausgewiesen, welche spezifischen Inhalte z. B. Funktionsbezeichnungen in Kapitalgesellschaften wie das deutsche Vorstand, das schwedische styrelse und das finnische hallitus haben und in welchem Verhältnis der Äquivalenz (Voll-, Teil-, Nulläquivalenz) sie zueinander stehen (Heyse und Rodenbeck 2003). Die fachinterne Kommunikation weist oft eine höhere Fachwortdichte auf als die fachexterne Kommunikation. Die Syntax der schriftnahen wirtschaftssprachlichen Kommunikation unterscheidet sich quantitativ und nicht qualitativ von der allgemeinsprachlichen Kommunikation. Be- VI. Fach- und Wirtschaftssprachen460 nennungsbedarf und Ausdrucksökonomie bedingen, dass bei der Wortbildung Verfahren der Komposition (z. B. Mehrwortbildung wie Absatzkanalstrukturfestlegung), der Derivation (z. B. un-Präfigierung wie in unbegrenzt oder -lich-Suffigierung wie in tarifvertraglich) und der Konversion (z. B. filtern) besonders produktiv genutzt werden, wobei im Deutschen Substantiv und Adjektiv eine bevorzugte Rolle spielen (Horst 1998). Charakteristisch ist ferner der Kurzwortgebrauch, wobei zwischen Buchstabenkurzwörtern wie E-Mail oder E-Commerce, bei denen E- für electronic steht, Silbenkurzwörtern wie EuroLand, wobei sich das Kopfwort Euro- auf die Währung Euro bezieht, und Morphemkurzwörtern wie Hannover Rück unterschieden wird, wobei Rück im Eigennamen für Rückversicherung steht (Steinhauer 2000). Erhöhter Beliebtheit erfreuen sich auch Anglizismen, aus dem Englischen in nicht-englische Sprachen übernommene Ausdrücke wie broker oder just-in-time (Be´chet-Tsarnos 2005). Syntaktische Elemente und Konstruktionsweisen wie Aussage-, Relativ-, Konditional- und Finalsatz, Hypotaxe (weil, obwohl), Funktionsverbgefüge (in Rechnung stellen), Nominalisierung (Discounter), Attribuierung (das umweltverträgliche Produkt), Präpositional- (infolge der Finanzkrise) und Partizipialkonstruktion (durch repräsentative Marktbefragung erzielte Erkenntnisse) kommen auch in fachinternen Wirtschaftstexten relativ häufig vor (Ohnacker 1992). Die kommunikativ-kognitive Funktion der als „Nominalstil“ bekannten Satz- und Textkomplexität besteht in einer Steigerung der Deutlichkeit und Objektivierung der Kommunikation. Im Gegenzug gibt es die Tendenz, durch Komplexitätsreduktion und Veranschaulichung die Verständlichkeit des fachsprachlichen Wissenstransfers zu optimieren (Antos und Weber 2006). 2.3. Metaphorik Lange Zeit wurde die Metapher als semantische Anomalie auf der Wortebene betrachtet, die einen Sachverhalt auf „uneigentliche“ Weise zum Ausdruck bringt. Aus dem fachsprachlichen Gebot, Dinge klar und deutlich auf den Punkt zu bringen, resultierte das Metapherntabu. Dieses Tabu ist inzwischen durch die kognitive Metapherntheorie, die den Nachweis erbrachte, dass der Gebrauch von Metaphern für das Erkennen und Verstehen von Neuem und Abstraktem zentral ist, erschüttert worden. Die kognitive Metapherntheorie belegt, dass neue Wissensbereiche im Rückbezug auf bereits vorhandenes Wissen erschlossen und angeeignet werden. An der Schnittstelle von Altem und Neuem dienen Metaphern der Bedeutungskonstitution, da sie über Analogie und Assoziation das Neue oder Abstrakte überhaupt erst begreifbar und sprachlich darstellbar machen (Jäkel 2003). In diesem Sinne kann ein abstraktes Konzept wie „Geld“ metaphorisch ganz unterschiedlich modelliert werden, wobei ein Modell wie lebewesen aus Submodellen wie wachstum oder krankheit besteht, z. B. (Hundt 1995: 263Ϫ264): lebewesen Ϫ wachstum „Dieses nur in Handelsbüchern lebende, auf den Kredit der Geldinstitute basierte Geld vermehrte sich …“ Ϫ krankheit „die Pathologie des Geldes“ Metaphorische Modelle sind polyfunktional und können dynamisch auf ganz unterschiedliche Sachverhalte angewendet werden. An die Stelle des Metaphernverbots tritt 45. Fachsprache der Wirtschaft und des Tourismus 461 so das Gebot, Metaphern sowohl in der fachinternen als auch in der fachexternen Wirtschaftskommunikation zu nutzen, z. B. bei der Verständlichmachung von Wirtschaftsnachrichten (Klein und Meißner 1999) oder bei der Organisation von E-Mail-Kommunikation (Tonfoni und Rothkegel 2007). Wie die Beispiele Nullwachstum und Entsorgungspark belegen, werden Metaphern jedoch auch euphemistisch und Tatsachen verschleiernd eingesetzt, oder sie können Gegensätzliches bedeuten wie die Ausdrücke Abfalltourismus und Mülltourismus, die sowohl den legalen als auch den illegalen Im- und Export von Abfällen bezeichnen (Liimatainen 2008: 305Ϫ306). Metapherngebrauch kann glücken und Verständigung erleichtern, er kann aber auch missglücken und Verständigungsprobleme verursachen (Habscheid 2003: 179Ϫ228). 3. Schri tliche Wirtscha tskommunikation 3.1. Wirtscha tstextsorten Im Tätigkeitsbereich der Wirtschaft haben sich geschichtlich unterschiedliche Sorten von Texten herausgebildet, die wie das Angebot oder der Kaufvertrag gesellschaftlich bewährte Muster zur Bewältigung wiederkehrender Aufgaben darstellen. Aus kommunikativ-kognitiver Sicht sind Textsorten als spezifische Textmuster beschreibbar, welche in der beruflichen Sozialisation anhand von guten Textexemplaren (Prototypen) angeeignet und kontextspezifisch verwendet werden. Eine erschöpfende Wirtschaftstexttypologie gibt es nicht, da Textsorten gemischt werden, alte verschwinden und neue entstehen (Diatlova 2003), wofür Hypertexte ein Beispiel sind (Thimm 2002). Durchgesetzt hat sich die Vorstellung, dass Wirtschaftstextsorten vertikal geschichtet sind und in der fachinternen Kommunikation die klarste fachtextspezifische Ausprägung aufweisen. Textmusterbeschreibungen fallen jedoch unterschiedlich detailliert aus: Sie können relativ abstrakt angelegt sein, indem sie z. B. informative, appellative und expressive Texte analytisch voneinander trennen und eine allgemeine Charakterisierung z. B. der Geschäftskorrespondenz vorlegen (z. B. Snell-Hornby u. a. 2003: 205Ϫ326) oder aber sie liefern feinmaschige Musterbeschreibungen einzelner Textsorten wie z. B. der Mängelrüge (Gönner und Lind 1990: 86): „Bezugszeichenzeile […] Betreff: Mängelrüge Inhalt: 1. Anrede 2. Empfangsbestätigung 3. Schilderung der Sachmängel 4. Gewährleistungsansprüche 5. Verbindlicher Schluss 6. Gruß“ In Lehrbüchern und in der Ratgeberliteratur werden zudem die rechtlichen Vorgaben einzelner Geschäftsbriefsorten sowie Textbausteine bzw. Formulierungsvarianten angegeben, indem man etwa zeigt, wie man den Ton eines Briefes sachlich und sprachlich- VI. Fach- und Wirtschaftssprachen462 textuell verschärfen oder entschärfen kann. Inzwischen liegen auch Beschreibungen von komplexen Textsorten wie dem Geschäftsbericht (mit den vier Grundelementen Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung, Anhang und Lagebericht; Bextermöller 2002) oder der Mitarbeiterzeitung (Schweizer 2004) vor, die insbesondere Aspekte von Intertextualität und Polyfunktionalität (z. B. Berichterstattung und Werbung) herausarbeiten (Ebert 2004). 3.2. Wirtscha tstextsorten im Kulturvergleich Übersetzungsvergleich und Paralleltextanalyse sind die bevorzugten Methoden der interlingualen kulturkontrastiven Textsortenbeschreibung. Werden Textsorten aus zwei oder mehr Sprachen und Kulturen miteinander verglichen, so gilt ihre funktionale und kommunikative Äquivalenz als tertium comparationis, d. h. als übereinzelsprachlicher Vergleichsmaßstab. Trotz ungelöster theoretischer Probleme liegen aufschlussreiche Paralleltextanalysen vor, die die sprachstrukturellen und textorganisatorischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede z. B. von Textsorten der Geschäftskorrespondenz ermitteln und Interferenzprobleme aufzeigen (Sˇukevicˇiu¯te 2004). Im Gegenzug problematisiert die Untersuchung paralleler Textsorten aber auch die voranalytisch angenommene Kulturspezifik und prüft, inwiefern Textsorten wie der Geschäftsbericht im Zuge der Globalisierung homogenisiert werden (Wawra 2008). Interaktive Studien, die Textproduktion und -rezeption berücksichtigen, belegen ihrerseits, dass Textmuster im interkulturellen Verkehr nicht immer konventionengetreu verwendet werden, sondern in Institutionen und Organisationen für spezifische Zwecke überarbeitet und umfunktioniert werden. Es liegt auf der Hand, dass kulturspezifische Textmusterkenntnisse gerade im Tourismus von großer Bedeutung sind, z. B. bei der massenwirksamen Vertextung und Übersetzung von Speisekarten und Reiseführern (Riley-Köhn 1999; Neumann 2003). 4. Mündliche Wirtscha tskommunikation 4.1. Wirtscha tsgesprächssorten In der Wirtschaft haben sich auch typische Gesprächssorten wie Verkaufs-, Reklamations-, Dienstleistungs- und Verhandlungsgespräch (Brünner 2000) oder Besprechung (Domke 2006) herausgebildet. Von diesen Gesprächssorten liegen ebenfalls Beschreibungen der so genannten Handlungs- oder Interaktionsmuster und ihren Komponenten vor. Das Handlungsmuster von Beratungsgesprächen etwa sieht wie folgt aus (Habscheid 2003: 127Ϫ130): 1. Gesprächseröffnung mit Herstellung der Beteiligungsrollen 2. Problempräsentation 3. Entwicklung einer Problemsicht 4. Lösungsentwicklung und Lösungsverarbeitung 5. Gesprächsbeendigung und Situationsauflösung 45. Fachsprache der Wirtschaft und des Tourismus 463 Solche Grundmuster werden von Beratern und Ratsuchenden kontextspezifisch abgearbeitet, wobei unterschiedliche sprachlich-kommunikative Strategien bei der Entwicklung von bestimmten Sichtweisen auf ein Problem oder bei der Erarbeitung geeigneter Lösungen eingesetzt werden. Beratende Züge weisen auch andere Gesprächssorten wie Verkaufsgespräch oder Mitarbeiterbesprechung auf. Bei solchen Gesprächen handelt es sich ferner um asymmetrische Kommunikation, die gekennzeichnet ist von der kooperativen oder unkooperativen Darstellung und Durchsetzung von Interessen. In Mitarbeiterbesprechungen gelingt es Vorgesetzten z. B. durch die Agendagestaltung, die Hervorhebung der eigenen Position und Verfahren der kommunikativen Ausgrenzung (Abwerten von Mitarbeiteraktivitäten, Zurückweisen von Initiativen und Problematisierungen, Relativieren und Umdeuten von Mitarbeiterbeiträgen usw.), ihren Willen durchzusetzen (Müller 1997: 185Ϫ289). Allgemeine Handlungsmuster werden individualisiert und kontextspezifisch funktionalisiert, was dazu führt, dass sogar die anonymen Agenten von Call Centern an Bündeln von gesprächsstilistischen Merkmalen (Anrede, Fragetechnik, Bekundung von Verständnis und Anteilnahme, Wortwahl und Stimmführung) als „ausführlich und höflich“ oder „polizeihaft“ wahrgenommen werden (Bendel 2007: 176Ϫ177). Dass Texte und Gespräche faktisch in einer unmittelbaren Wechselbeziehung stehen, lässt sich z. B. gut an der Gesprächssorte Bewerbungsgespräch erkennen. Das Bewerbungsverfahren gipfelt im Bewerbungsgespräch, in dem das Passungsverhältnis von Anforderungsprofil und Eignungsprofil geklärt wird. Erfolgreiche Bewerbungen gründen auf einer sorgfältigen Stellenanalyse und einer präzisen Stellenausschreibung, welche von Interessenten bezüglich Anforderung und Eignung kritisch analysiert und in Bewerbungsunterlagen umgesetzt wird. Im Bewerbungsgespräch übernehmen Vertreter des Unternehmens eine ausgetüftelte Gesprächsleitung, die auf relevante Selbstdarstellungen des Bewerbers und die Prüfung ihrer Stichhaltigkeit abzielt. Entscheidend ist hierbei, dass der Bewerber den impliziten Kontext der Fragen erschließt und zielführend darauf antwortet (Pache 2004). 4.2. Interkulturelle Wirtscha tsgespräche Neueste Ergebnisse der Analyse von Gesprächen in der interkulturellen Wirtschaftskommunikation zeigen, dass es meist nicht zu den allgemein erwarteten Verständigungsschwierigkeiten kommt. In Experteninterviews präsentieren Wirtschaftsleute zwar ein umfangreiches Wissen über kulturelle Unterschiede, doch zeigen sie in interkulturellen Begegnungen eine ähnlich hohe Selbstkontrolle wie Diplomaten und versuchen, ihre Geschäfte vor Irritationen zu schützen. Dabei zeigt sich, dass interlinguale Probleme nicht identisch sind mit interkulturellen Problemen: Kulturspezifische Realienbezeichnungen und Systemunterschiede werden z. B. auf eine ähnliche Weise erläutert wie unbekannte Begriffe und Fremdwörter in der Erstsprache (Siegfried 2005) oder „Abweichendes“ wird schlicht „normalisiert“ (Rasmussen 2000: 126Ϫ137). Zudem pflegen Geschäftsleute eine explizite Verständigungssicherung, indem sie z. B. den Zweck gemeinsamer Treffen und die jeweils erreichten (Teil-)Ziele ausdrücklich festhalten und kommentieren. Multimodale Analysen zeigen ferner, dass sich Geschäftsleute gekonnt am nonverbalen Verhalten ihrer Partner orientieren und ihre eigenen Beiträge kontrolliert auf die antizipierten Beiträge ihrer Partner zuschneiden (Tiittula 2007). Solche Befunde stützen die Annahme, dass Experten in interkulturellen Kontexten Techniken internationaler Professionalität VI. Fach- und Wirtschaftssprachen464 einsetzen und Kulturspezifik bei Bedarf gezielt neutralisieren oder inszenieren (Reuter 2007). Heute kommt es darauf an, einen dynamischen Kulturbegriff zu entwickeln und neben kulturellen Unterschieden auch kulturelle Gemeinsamkeiten wieder zu beachten. 5. Praxisrelevanz Forschungserträge fließen unmittelbar in den Wirtschaftsdeutschunterricht ein, der weltweit in Fachstudium und Berufsbildung nachgefragt wird. Seriöse Unterrichtsmaterialien sind reichlich vorhanden und orientieren sich entweder an der Fachsystematik von Betriebs- und Volkswirtschaftslehre oder an der unternehmerischen Berufspraxis. Absolventen erwerben durch fach- und sprachintegrierte Kursangebote (vgl. Art. 116) einstellungsrelevante Zusatzqualifikationen. Neben der bekannten Fächerkombination „Wirtschaft ϩ Sprache(n)“ (Breckle, Ba˚sk und Rodenbeck 2007) tritt vermehrt auch die Fächerkombination „Sprache(n) ϩ Wirtschaft“ in Erscheinung. Im In- und Ausland bieten germanistische Einrichtungen auch wirtschaftsbezogene Kurse und Studiengänge an, um die durch die Globalisierung der Arbeitsmärkte entstandene Nachfrage zu bedienen (HeßLüttich, Colliander und Reuter 2009; Reuter 2009). Anerkannte Prüfungen sind das Zertifikat Deutsch für den Beruf (ZDfB), die Prüfung Wirtschaftsdeutsch International (PWD) (www.goethe.de) und das Diplom Wirtschaftssprache Deutsch (www.osd.at). 6. Literatur in Auswahl Antos, Gerd und Tilo Weber (Hg.) 2006 Transferqualität. Bedingungen und Voraussetzungen für Effektivität, Effizienz, Erfolg des Wissenstransfers. Frankfurt a. M.: Lang. Be´chet-Tsarnos, Vale´rie 2005 Wirtschaftsanglizismen. Eine kontrastive Analyse des Französischen, Deutschen und Neugriechischen. Tübingen: Narr. Bendel, Sylvia 2007 Sprachliche Individualität in der Institution. Telefongespräche in der Bank und ihre individuelle Gestaltung. Tübingen/Basel: Narr Francke Attempto. Bextermöller, Matthias 2002 Empirisch-linguistische Analyse des Geschäftsberichts. Paderborn: Ewers. Bolten, Jürgen 2007 Einführung in die Interkulturelle Wirtschaftskommunikation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Brinker, Klaus, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager (Hg.) 2000/2001 Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16.1Ϫ2). Berlin/ New York: de Gruyter. Breckle, Margit, Märta Ba˚sk und Rolf Rodenbeck 2007 Wirtschaftssprache Deutsch in Studium und Beruf. Curriculumentwicklung an der Schwedischen Wirtschaftsuniversität in Finnland / Ekomomisk tyska i studier och yrkesliv. Utvecklingen av ett kursprogramm vid Svenska handelshögskolan. Helsingfors: Edita. Online: http://urn.fi/URN:ISBN:978-951-555-957-9. (letzter Zugriff am bb). 45. Fachsprache der Wirtschaft und des Tourismus 465 Brünner, Gisela 2000 Wirtschaftskommunikation. Linguistische Analyse ihrer mündlichen Formen. Tübingen: Niemeyer. Cebulla, Mario und Rolf Rodenbeck 2001 Deutsches Wirtschaftsrecht. Eine Einführung mit integriertem Fachsprachenkurs. München: Beck. Diatlova, Irina 2003 Unternehmenstexte. Textsorten, Textcluster, topische Muster. Frankfurt a. M.: Lang. Domke, Christine 2006 Besprechungen als organisationale Entscheidungskommunikation. Berlin/New York: de Gruyter. Ebert, Helmut 2004 Geschäftsbericht und Public Relations. In: Karlfried Knapp, Gerd Antos, Michael Becker-Mrotzek, Arnulf Deppermann, Susanne Göpferich, Joachim Grabowski, Michael Klemm und Claudia Villiger (Hg.), Angewandte Linguistik. Ein Lehrbuch. Mit CD-Rom, 276Ϫ294. Tübingen/Basel: Francke. Gabler Wirtschaftslexikon Ϫ Classic Edition. Die ganze Welt der Wirtschaft: Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, Recht und Steuern. 2004 16., vollständig überarbeitete und aktualisierte Aufl. Wiesbaden: Gabler Wirtschaftsver- lag. Gönner, Kurt und Siegfried Lind 1990 Unsere Wirtschaft. Volks- und Betriebswirtschaftslehre mit Schriftverkehr und Organisationslehre. 14., überarbeitete und erweiterte Aufl. Bad Homburg vor der Höhe: Gehlen. Grütz, Doris 1995 Strategien zur Rezeption von Vorlesungen. Eine Analyse der gesprochenen Vermittlungssprache und deren didaktische Konsequenzen für den audiovisuellen Fachsprachenunterricht Wirtschaft. Frankfurt a. M.: Lang. Habscheid, Stephan 2003 Sprache in der Organisation. 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Wawra, Daniela 2008 Public Relations im Kulturvergleich. Die Sprache der Geschäftsberichte US-amerikanischer und deutscher Unternehmen. Frankfurt a. M.: Lang. Weidemann, Arne 2007 Tourismus. In: Jürgen Straub, Arne Weidemann und Doris Weidemann (Hg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe, Theorien, Anwendungsfelder, 613Ϫ627. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler. Ewald Reuter, Tampere (Finnland) 46. Deutsch im medizinischen Kontext 1. Einleitung 2. Wurzeln und Entwicklungstendenzen deutschsprachiger Medizinkommunikation 3. Fachwortschatz 4. Schriftliche Kommunikation 5. Mündliche Kommunikation 6. Materialien zum Training von Medizinkommunikation 7. Literatur in Auswahl 1. Einleitung Die Medizin, zu der im weiteren Sinne auch die Zahn- und Tiermedizin gerechnet werden können, gehört zu den ältesten Wissenschaften. Gesundheit, Krankheit und Tod haben die Menschen beschäftigt, seit es sie gibt. Da diese Fragen und die Kommunikation mit dem Arzt für jeden Menschen von Bedeutung sind, kommt medizinischer Fachsprache eine besonders wichtige Rolle zu. Sie ist Reflexions- und Untersuchungsgegenstand in Medizin und Sprachwissenschaft. Die Emanzipation der Nationalsprachen im 18./19. Jahrhundert führte auch in der Medizin zu einem demokratischeren Zugang zu Expertenwissen. Antike und neue Verkehrssprachen üben jedoch auch heute einen großen Einfluss auf die deutsche Fachsprache der Medizin aus. Auffälligstes Merkmal ist die enorme Zahl an Fachwörtern verschiedener vorklinischer (Anatomie, Physiologie usw.) und klinischer (Innere Medizin, Dermatologie usw.) Disziplinen, die mit einer zunehmenden fachlichen Spezialisierung entstanden sind (Rothschuh 1965; Wiese 1984: 14). Aus kommunikativer Sicht sind theoretische und praktische Textsorten und Gesprächstypen abnehmenden Ab-