Lesen in der Zweitsprache und Fördermöglichkeiten Swantje Ehlers Problemstellung Die Förderung von Lesefähigkeit in sprachlich und kulturell heterogenen Lemergruppen stellt eine besondere Herausforderung für die Deutschdidaktik dar, nicht nur weil die sprachlichen Lernervoraussetzungen unterschiedlich sind, sondern auch, weil sich das Lesen in Deutsch als Zweitsprache als problematisch erwiesen hat. Nach der PI SA-Studie (2001, 36ff.) beträgt der Anteil von Jugendlichen aus Zuwandererfamilien, die über die 1. Stufe einer elementaren Lesekompetenz nicht hinauskommen, 50 %. Der Anteil extrem schwacher Jugendlicher mit Elternteileh, die beide zugewandert sind, steigt um 20%. Auf die Frage nach den Ursachen für die geringen schulischen Leistungen, hohen Schulabbrüche und unzureichenden Lese-/Schreibfähigkeiten bei Minderheitenkindern konnte bislang in der zweitsprachlichen Lese- und Bilirigua-lismusforschung keine befriedigende Antwort gefunden werden. Es gibt jedoch einige zweitsprachen- und lesetheoretische Erklärungsansätze, die für die schulische Praxis Ansatzpunkte bilden können, um Lesefähigkeiten in der Zweitsprache Deutsch zu fördern. Was ist Lesen? Lesen ist ein zeitlicher Vorgang, der in unserem Kulturraum von links nach rechts verläuft und in dem der Leser schrittweise eine Bedeutungsstruktur aufbaut. In jedem Zeitmoment nimmt der Leser eine Fülle von Informationen auf, die er filtert, bewertet und mit dem bereits Aufgenommenen verknüpft. In diesem Zeitfluss kann der Leser innehalten, nach vorne gehen, Vorhersagen treffen, die er am Folgenden überprüft, oder zurückgehen. Geübte Leser haben eine gewisse Lesegeschwindigkeit, können großzügig über die Zeilen gleiten, Nebensächliches übergehen, dabei zugleich alles Wesentliche erfassen und so zu einem Verstehen dessen, was sie lesen, gelangen. Ein Hauptanliegen der empirischen Leseforschung besteht darin, zu klären, wie die hohe Lesegeschwindigkeit eines geübten, profizienten Lesers zustande kommt Aus diesem Grunde wird der Leseprozess in Komponenten auf der Wort-, Satz- und Textebene untergliedert, deren Beherrschung und Integration Le- sefähigkeit ausmacht Der Leseprozess beginnt mit der perzeptuellen Analyse, geht über die Erkennung von Buchstaben/Silben und der Zuordnung von Geschriebenem und Gedrucktem weiter zur Worterkennung und dem Erfassen von Wortbedeutungen. Der lexikalische Zugang ist eine Art Schaltstelle zwischen den Wortformen und der Bedeutung von Wörtern. Nachdem die Wörter erkannt sind, müssen die Begriffe in eine inhaltliche Beziehung gebracht werden. Dabei übernimmt die Syntax eine Hilfsfunktion. Das Ziel besteht darin, den Aussageinhalt eines Satzes zu erfassen {Propositionen). Da die Sätze nicht isoliert stehen, müssen die Verbindungen zwischen den Sätzen und ihre Integration in einen Textzusammenhang durch Herstellen anaphorischer und kataphori-scher Beziehungen1 hergestellt werden, bis eine Textkohärenz erreicht ist Zeichen eines überlegenen und profizienten Lesens ist die Effizienz in der Verarbeitung, d.h. die Schnelligkeit und Genauigkeit, mit der Leseaufgaben durchgeführt werden. Für die Leseflüssigkeit, die wiederum Voraussetzung für das Leseverständnis ist, spielt eine schnelle, kontextfreie Worterkennung eine zentrale Rolle. Eine zu geringe Leseflüssigkeit kann zu einem Bruch im Verstehen führen, weil das Arbeitsgedächtnis2 so überfrachtet wird, dass bedeutungsvolles Material zerfällt, bevor es mit der bereits aufgebauten Wissensstruktur verbunden werden kann. Lesen zeichnet sich durch selektive Prozesse aus. Der Leser wählt aus, was er für seine Zwecke und sein Verständnis braucht. Wohin der Leser seine Aufmerksamkeit wendet, was er aufnimmt, behält oder übergeht, hängt zum einen von leserabhängigen Faktoren ab, wie Interesse, Ziele, affektive Einstellungen, und der Lesesituation (z. B. Aufgabenstellung in Lernsituationen), zum anderen von textabhängigen, wie Textsorten-/Gattungsmerkmale, Erzähl- und Argumentationsstrukturen. Lesen ist durch Linearität und Hierarchisierung gekennzeichnet; der Leser muss im Voranschreiten zugleich durch Abstraktion höhere Konzepte/Einheiten bilden. Behalten werden die hierarchiehohen Konzepte. Ein anderes Charakteristikum des Lesens besteht darin, dass der Leser fortlaufend über das Gedruckte hinausgeht und mehr 4 Deutschunterricht 4/2004 liest, als in einem Text geschrieben steht. Er liest zwischen den Zeilen, stiftet Beziehungen zwischen Textteilen, überlegt, was hinter dem Verhalten von Figuren in einer Geschichte stehen könnte und schließt vom sichtbaren Verhalten auf innere Vorgänge von Figuren. Informationen, die der Leser beisteuert, um zu einer kohärenten Struktur zu gelangen, werden Inferenzen (Schlussfolgerungen) genannt. Inferenzen sind notwendig, da die Texte nicht alles explizit machen, was zum Verständnis dazugehört; vieles bleibt implizit und bruchstückhaft, wird vorausgesetzt im Vertrauen darauf, dass der Leser über das entsprechende Wissen verfügt, um es zu erfassen. Der Leser stützt sich beim Infe-rieren auf die Daten des Textes und auf sein mitgebrachtes Wissen über die Welt, die Sprache, Texte und Gattungen. Es gibt lokale Schlussfolgerungen. Sie beziehen sich auf die Prozesse unterhalb der Satzebene und verknüpfen z.B. Satzteile untereinander. Und es gibt globale Schlussfolgerungen, die das Thema eines Textes ableiten. Über Schlussfolgerungen hinaus, die für die Herstellung von Kohärenz und für die Sicherung des Textverständnisses gebraucht werden, kann der Leser den Text jedoch noch anreichern, indem er Textinhalte mit eigenen Erfahrungen und subjektiven Vorstellungen/Assoziatio-nen verknüpft. Durch solche als Elaborationen etikettierten Vorgänge der Vernetzung mit eigenem Wissen, Erfahrungen und Erwartungen wird eine reiche Bedeutungsstruktur erzeugt, Antizipationen (Erwartungen einnehmen und Künftiges vor strukturieren) und Flexibilität des Lesers sind weitere Fähigkeiten. Unter Flexibilität wird die Fähigkeit des Lesers verstanden, sein Leseverhalten entsprechend den Lesezielen, der Textsorte und der Aufgabenschwierigkeit auszurichten und mal genau zu lesen, mal selektiv, orientierend oder kursorisch. Die Förderung dieser Leseformen und -techniken ist fester Bestandteil der Lesepädagogik. Da der Leser in jedem Zeitmoment mehrere Leseaufgaben gleichzeitig bewältigen muss, braucht er Lesestrategien. Sie Ökonomisieren den Leseprozess. Strategien werden im Rahmen von Handlungstheorien als Handlungspläne definiert {Miller et al. 1960), d.h. die Fähigkeit, Ziele zu entwerfen und darauf das eigene Verhalten abzustimmen. Je höher die Zahl der Handlungspläne, über die ein Leser verfügt, und je leichter ihre Anwendbarkeit, desto flüssiger und gekonnter ist das Lesen. Zu den Lesestrategien gehören u.a. die Kontextnutzung, die Integration von Hintergrundwissen, Inferenzen. Das Lesen ist von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt, wie Interesse des Lesers, Vorwissen, Fer- tigkeitsniveau, Textsorte und Aufgabenschwierigkeit. Unter zweitsprachlichen Lesebedingungen verkompliziert sich die Lesesituation noch um weitere Faktoren, auf die ich jetzt näher eingehe. Lesen in Deutsch als Zweitsprache Lange Zeit wurde das Lesen in der Zweitsprache (L2) in Abweichung von den Normen und Standards muttersprachigen Lesens (LI) bestimmt und als eine Art defektes muttersprachliches Lesesystem aufgefasst. Demgegenüber hat sich inzwischen die Einsicht von der Eigengesetzlichkeit des Lesens in der L2 durchgesetzt, das durch eine eigene Dynamik und ein eigenes Zusammenspiel von Faktoren bestimmt ist. Beim Lesen in einer Zweitsprache ist im Unterschied zum muttersprachigen Lesen immer eine Erstsprache involviert und teilweise sogar noch eine zweite Sprache, wenn Kinder bilingual in der Familie aufwachsen. Das Verhältnis von Erst- und Zweitsprache ist vor allem an der Lesefähigkeit spezifiziert worden und wird in der fremdsprachlichen Leseforschung unter zwei Perspektiven thematisiert (s. Ehlers 1998): In der einen Perspektive wird Lesen als eine sprachübergreifende Fähigkeit betrachtet, die von einer Sprache zu einer anderen transferiert (Interdepen-denzthese). Diese These stützt sich vor allem auf Untersuchungen in der Bilingualismusforschung, wo hohe Korrelationen zwischen den Lesefertigkeiten in der LI und L2 festgestellt wurden (u.a. Cummins 1991). Danach sind gute Leser in der LI auch gute Leser in der L2 und werden Leseprobleme in der L2 zurückgeführt auf Leseschwierigkeiten in der LI und/oder auf mangelnden Transfer Deutschunterricht 4/2004 5 zwischen den Sprachen. Pädagogisch bedeutsam ist die interdependente Beziehung zwischen zwei Sprachen insofern, als je nach Kontext, Lernergruppe und -Voraussetzungen der Unterricht in der Zweitsprache auf erstsprachlichen Lesefähigkeiten aufbauen kann. Jüngere Studien zum Leseverhalten von türkischen Kindern in den Niederlanden konnten einen Transfereffekt von Wortdekodierfähigkeiten zwischen dem Türkischen und dem Holländischen nachweisen (Verhoeven 1994). Typisch für zweitsprachiges Lesen ist die verringerte Leseflüssigkeit. Das langsamere Lesen in der L2 steht in Verbindung mit längeren Fixa-tionszeiten und eingeschränkten Vokabel- und Syntaxkenntnissen. Mangelnde Vokabelkenntnisse begrenzen den Sichtwortschatz und behindern damit den lexikalischen Zugang, der wiederum Voraussetzung für eine schnelle Worterkennung ist. Fehlendes kulturspezifisches Wissen über Text-anhalte ist eine weitere Fehlerquelle. Da Inferenzen sich auf verschiedene Konzepte, wie Raum, Zeit, Kausalität, beziehen können, bilden sie unter zweitsprachlichen Lesebedingungen eine potenzielle Quelle für Missverständnisse. Lesenlernen baut auf mündlichen Sprachkenntnissen auf, die durch mündliche Interaktion erworben wurden und produktiv mit in die Leseerwerbssituation eingebracht werden. Sprechfertigkeiten reichen jedoch oft nicht aus, um erfolgreich in der Zweitsprache lesen zu lernen. Die Zweitsprachenkompetenz, die in der Forschung als Wortschatz und Grammatik operatio-nalisiert wird, ist eine wichtige Determinante zweitsprachlicher Lesefähigkeit. Die ineffiziente Verarbeitung auf den unteren Ebenen, die längeren Fixationszeiten, die Verlangsamung, die ungenaue Worterkennung hängen mit begrenztem Zweit-sprachenwissen zusammen. Unzureichende Vokabelkenntnisse und konzeptuelles Wissen beeinträchtigen die semantische Verarbeitung, ebenso morphosyntaktisches Wissen, das bedeutsam ist für die Satzverarbeitung und das Ausnutzen von syntaktischen und semantischen Signalen. In der zweitsprachlichen Leseforschung gibt es eine Kontroverse um die Frage, ob die Zweitsprachenkompetenz oder die zuerst in einer Sprache erworbene Lesefähigkeit das Lesenlernen in der L2 starker beeinflusst (Alderson/Urquart 1984). Die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten, aber tendenziell scheint sich die Zweitsprachenkompetenz beim beginnenden Lesenlernen stärker auszuwirken als die mitgebrachte Ll-Lesefähigkeit. Wie weit das Lesen in der Zweitsprache bei Minderheitenkindern vor allem ein Sprach- oder Leseproblem ist, ist eine zentrale Fragestellung für die schulische Lesepraxis, die jedoch angesichts der schmalen Forschungslage in Bezug auf Deutsch als L2 weitgehend ungeklärt ist. L2-Leseerwerb und sozialer Kontext Seit den 60er Jahren ist in der L2-Lese- und Bilin-gualismusforschung die Aufmerksamkeit zunehmend darauf gelenkt worden, dass Literalität ein kognitiver Prozess ist, der vom soziokulturellen Kontext abhängig ist. Zu den soziokulturellen Faktoren bei Minderheitenkindern gehören das Prestige der Sprache, das wiederum abhängig ist vom Minderheitenstatus, die Selbstwahrnehmung, die kulturelle Orientierung und die Dominanzverhältnisse zwischen Minderheiten und Mehrheiten. Im Zusammenspiel mit sprachlichen, kognitiven und pädagogischen Faktoren ist der soziale Fairtor der beherrschende. Gegenüber deutschen Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern und mit schwachen Leseleistungen kommen für Kinder aus Zuwandererfamilien also zusätzliche soziale, gesellschaftliche Faktoren und Phänomene wie Sprachkontakte, -häufigkeit, Sprachcnwechsel und -verlust ins Spiel. Kulturelle Orientierung spiegelt sich in der Sprachhäufigkeit und im Sprachkontakt zu Angehörigen der Mehrheitsgruppe. Bei einer positiven Orientierung in Bezug auf die Mehrheitskultur werden mehr Kontakte gesucht und wird durch Interaktionen die Sprechfertigkeit in der L2 gefördert, die gerade in den ersten zwei Jahren die Wortlesefähigkeit und das Leseverständnis in der L2 beeinflussen. Von beherrschendem Einfluss sind die Spracherfahrung und die literale Praxis im Elternhaus, die ein Hauptvorhersager für die Worterkennung und Entwicklung von Wortschatz ist. Juel et al. (1986) führen die schlechten Leseleistungen von Migrantenkindern teilweise auf eine geringere phonologi-sche Bewusstheit zurück und erklären diese mit mangelnden Wort- und Reimspielen im Elternhaus. Nachteilig auf die schulische Entwicklung von Literalität bei Minderheitenkindern wirkt sich offensichtlich der Bruch zwischen sprachlicher und kultureller Sozialisation in Elternhaus und Schule aus. Es empfiehlt sich, eine mangelnde literale Erfahrung im Elternhaus durch Reim-/Wort-spiele, Lieder, Bilderbuchgeschichten und Erzählen auszugleichen, sowie die Entwicklung von mündlichen Fertigkeiten vor dem Scliriftspracher-werb in der L2. Von maßgeblichem Einfluss auf den Leseerwerb in der L2 ist die Sprache, in der unterrichtet wird. Dem derzeitigen Beschulungsmodell der Integration von Kindern ndH in den Regelunterricht mit Deutsch als Unterrichtssprache liegt eine sprach-erwerbstheoretische Annahme zugrunde, die problematisch ist. Danach wirkt sich die Lernzeit, die für eine Lernaufgabe aufgewendet wird, fördernd auf die Lernleistung aus, d. h. ein Maximum an L2-Inputist lernfördernd (time-on4ask-These). Doch Deutschunterricht 4/2004 bestätigt sich diese These offensichtlich nicht, wenn die eingeschränkten Lesekompetenzen und die niedrigen Bildungsabschlüsse von Minderheitenkindern als Maßstab gelten. Es gibt eine anhaltende und kontrovers geführte Diskussion um die Rolle der Erstsprache für einen erfolgreichen Leseerwerb in der L2. Befürworter der These vom Fördereffekt der LI auf den L2-Leseerwerb gehen von der Interdependenz zwischen Erst- und Zweitsprache und Transfer von zuerst in einer Sprache (zumeist die Muttersprache) erworbenen Lesefähigkeiten auf den Leseerwerb in einer zweiten Sprache aus. Die Befunde sind nicht eindeutig, doch tendenziell scheint sich die Verankerung des Kindes in der Muttersprache, vor allem der Ll-Literalitätserwerb, positiv auf das Lesenlernen in der Zweitsprache bei Minderhei-tenkindern auszuwirken (u. a. Collier/Thomas 1989; Verhoeven 1994). Praktische Konsequenzen für den Lese-/ Lite ratu ru nter rieht Aus meinen Ausführungen ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen für den Deutschunterricht in sprachlich gemischten Klassen der Sekundarstufe, um den Lese- und Literaturunterricht unter den gegebenen Rahmenbedingungen der Einschulung von Schülern ndH in den Regelunterricht an allgemeinbildenden Schulen zu verbessern. • Es empfiehlt sich, eine zweitsprachliche Lesedidaktik zu entwickeln, die den Lernervoraussetzungen von Schülern ndH Rechnung trägt, eine Binnendifferenzierung ermöglicht und Sprachenlernen und Lesenlernen sowohl in Bezug auf Fachtexte als auch literarische Texte koordiniert (s. den Beitrag von G. Belke in diesem Heft). Dazu sollte systematisch Wortschatzarbeit geleistet werden, wobei es nicht nur um den Umfang des Wortschatzes geht, sondern vor allem auch um die Differenzierung von Bedeutungsaspekten eines Wortes und die Tiefe der Verarbeitung, die z. B. durch wiederholte Verwendung eines Wortes in unterschiedlichen Kontexten gefördert werden kann. In Bezug auf Fachtexte geht es neben der Vermittlung von Fachwortschatz um Hilfestellungen im syntaktischen Bereich (s. den Beitrag von Benholz/ lordanidou in diesem Heft). • Zweitsprachendidaktische Ansätze sollten fruchtbar gemacht werden für den Leseunterricht in mehrsprachigen Lernergruppen: Einsatz von Bildern als Semantisierungshilfe, Wortschatzarbeit (Entlastung), Schlüsselwortmethode, zusätzliche Erläuterungen, Stützgerüste mit Hilfen (Wörter, Artikel, Nummerierung), Bereitstellen und Explizitmachen von Lesestrategien, Aktivitäten vor der Abb. 2: Der Lesestratege (Wolfgang Hasenpusch) Lektüre (pre-reading-actwiäes), wie Bereitstellen von kulturellem Wissen und Wachrufen von vorhandenen Kenntnissen zu einem Gegenstandsbereich. • Die Lese-/Textarbeit sollte kleinschrittig sein, indem der Lektüreprozess untergliedert wird und durch gezielte Teilaufgaben das zuvor Gelesene verarbeitet/erschlossen und Künftiges vorbereitet wird durch Erzeugen eines Erwartungs- und Verständnisrahmens. • Der sozialen Situiertheit von L2-Lesenlernen kann durch Anknüpfen an kulturelle Erfahrungen der unmittelbaren Lebensumwelt von Schülern ndH, die Gestaltung des Klassenraumes als Lernort der Begegnung und Akzeptanz von sprachlichkultureller Andersheit und das Thematisieren von Differenzerfahrung Rechnung getragen werden. Prozesse der Verständigung in Bezug auf kulturell unterschiedliche Konzepte und der Reflexivität von Eigen- und Fremdwahrnehmung lassen sich über die Auswahl von Texten z. B. aus dem Bereich der Migrationsliteratur (s. den Beitrag von H. Rösch in diesem Heft) in Gang setzen. Mittels lyrischer Texte von Migrantenautoren können Sprachbewusstheit und Mulüliteralität gefördert werden (s. S. Luchtenberg in diesem Heft). • Die Lesedidaktik könnte bei Schülern, die bereits in ihrer LI lesen gelernt haben (Seiteneinsteiger z.B.), auf Transfeiieistungen zwischen den Sprachen aufbauen, indem die mitgebrachten Ll-Lesefähigkeiten produktiv für das Lesenlernen in der L2 genutzt werden (Lesestrategien, Wissen, dass Lesen auf die Konstituierung von Sinn zielt, dass man in Texten vor und zurück gehen kann). • Texte sollten so strukturiert sein, dass sie topic sentences und Signalwörter enthalten, die das Erfassen des Hauptgedankens erleichtern. Deutschunterricht 4/2004 7 • Ein wichtiger Bestandteil einer zweitsprachlichen Lesedidaktik sind Lesestrategien. Sie entlasten den Leser bei der Durchführung von Leseaufgaben und sind Teil von Lesekompetenz. Sie können nach Textsorten und Sachfächern variiert werden, um Lesen- und Fachlernen miteinander zu verbinden. Zu den Lesestrategien gehören: • Selektion von wichtig/nebensächlich • Antizipieren; Nutzen von.Bi|d-/T1tet-informationen. • Inferenzen ziehen (lokal und global) • Verstreute Informationen in ein gemeinsames Konzept integrieren • Vorwissen aktivieren und einbringen • Gliedern eines Textes in funktionale Sinnzusammenhänge, Gliederungssignale erkennen und nutzen • textsortenspeziffsche Merkmale, bzw.: Gattungsmerkmale wahrnehmen und ,,\. für die Interpretation nutzen !'"- • kognitive Flexibilität: Anpassung des Leseverhaltens an die Erfordernisse der Situation, der Aufgabe, des Textes und; die eigenen Leseziele.6 • metakognitive Strategien der Planung, Kontrolle und Steuerung des eigenen Leseprozesses Lesenlernen und erzählende Texte Die Aufmerksamkeit des Lesers ist selektiv. Aber: Wohin wendet sich der Leser? Was übergeht er? Was ist wichtig und wonach entscheidet der Leser, was wichtig ist? Ein Kriterium ist das Thema eines Textes. Oft enthalten Paragraphen von Texten zu Anfang topic sentences, die das Thema des Abschnitts zusammenfassen. Vor dem Hintergrund kann der Leser einzelne Informationen nach ihrer thematischen Relevanz bewerten. Ein Verfahren der Schulung selektiver Fähigkeiten ist die Schlüsselwort-Methode, bei der die Wörter, die die Hauptinformationen tragen, markiert werden. Worauf kann sich der Leser stützen, um eine erste Orientierung in einem Text zu gewinnen, von dem er vieles nicht versteht? Hilfreich ist die Strategie, sich auf Namen, Orte, Zahlen und Internationalismen zu stützen. Dazu kann dem Lerner das folgende Frageraster dienen, das auf die Identifikation von wichtigen Inhalten mittels sprachlicher Indikatoren bezogen ist: W-Fragen Fragen Antwort wer/was Namen von Personen oder Institutionen/Organisationen Titel von Personen; das Subjekt des Satzes was Verben für Tätigkeiten/Handlungen/ Geschehnisse wo Namen von Gebäuden/Straßen/Plätzen Adressen, Städte- und Ländernamen Präpositionen: vor, bei, in, neben, an wann Jahreszahlen, Datumsangaben, Wochentage, Monate, Uhrzeiten Zeitangaben: heute, gestern, morgen, letzte Woche, heute Abend, morgen früh warum weil, da, denn, verursacht durch, infolge, wegen wie mit Hilfe von, durch/dadurch/indem Hat der Leser Antworten auf diese Fragen gefunden, so hat er das Wichtigste eines Textes erfasst. Ein Gegentest besteht darin, einen Text zusammenzufassen. Bei einer Zusammenfassung wird das Wesentliche eines Textes komprimiert, sodass ein Leser in umgekehrter Richtung prüfen kann, was der Kerninhalt eines Textes ist. Weitere Aufgaben zur Selektivität sind das Sammeln von Eigenschaften zu einer Figur (Personenporträts); den Handlungsablauf in ein Flussdiagramm bringen, eine Mind-Map anfertigen, in der die zentralen Konzepte und ihre Beziehung abgebildet werden, oder eine Suchaufgabe stellen. Da die Fragen des Lesers eine leser- und aufmerksamkeitslen-kende Funktion haben, bietet es sich an, Lerner ihre eigenen Fragen an einen Text stellen zu lassen und damit den Leseprozess selbst zu steuern. Sie können zu Beginn über ein Bild, das semantisch zu einem Text passt, und den Titel wachgerufen werden. Z. B. provoziert das Bild zu der Geschichte „Der Nachtvogel" von U. Wölf et Fragen wie: • Wovor hat das Kind Angst? • Wo sind die Eltern? • Warum ist es allein? Vor dem Hintergrund ihrer Fragen, können Leser nach Antworten im Text suchen und andere Aspekte zunächst unbeachtet lassen. Zugleich wird durch diese Erzeugung von Erwartungen und Fragen Wortschatz aktiviert oder bereitgestellt. Über die Semantik des Bildes können auch kulturelle Unterschiede, wie sie von Lernern wahrgenommen werden, thematisiert werden: ein Zimmer für sich alleine, so viel Spielzeug, Kind allein lassen, was in vielen Kulturen undenkbar ist. 8 Deutschunterricht 4/2004 Abb. 3: Nachtvogel (S. Ehlers/K. Noguchi: Lesen literarischer Texte. Tokyo: Ikubundo 1981) Ein zentrales Auswahlkriterium bei erzählenden Texten sind Geschichtenkategorien: Figuren, Handlungen, zentrale Ereignisse, die eine Handlung in eine andere Richtung bringen, Konflikte, Lösungen, raum-zeitliche Verhältnisse. Inferenzen Schlussfolgerungen ziehen ist eine Schlüsselkompetenz, für deren Aufbau und3fFörderung Kenntnisse über verschiedene Typen/Klassen von Schlussfolgerungen hilfreich sind. Typischerweise werden in erzählenden Texten Ziele, Motive von Figuren, innere Vorgänge und Beziehungen zwischen Figuren nicht explizit mitgeteilt, sondern müssen vom Leser erschlossen werden. Es lassen sich bei narrativen Texten folgende Schlussfolgerungstypen, von denen ich einige an einem Textauszug aus „Der Hirbel" von Peter Härtimg veranschaulichen möchte, unterscheiden (vgl. auch die Tabelle auf Seite 10): Im Grunde war Hirbe] von allen ausgestoßen. Wahrscheinlich verstand er das nicht, aber er zeigte sehr deutlich, dass er die Leute, die mit Mühe heuchelten oder vortäuschten, nett zu sein, überhaupt nicht mochte. Der einzige Mensch, den er sehr gern hatte, war seine Mutter, und die kümmerte sich nicht um ihn. Es war nicht herauszukriegen, wo sie lebte und was sie tat. Zu den Besuchen tauchte sie von irgendwoher auf. Ein wenig schloss er sich auch Fräulein Maier an. Aber er blieb misstrauisch. Es gelang ihm immer wieder, sich von Gruppen, die spazieren gingen, zu entfernen. (S. 20} Die Ableitung von Zielen, Motiven oder Figurenbeziehungen ist teilweise nur unter Einbezie- hung eines größeren Textumfanges möglich, und fordert Hintergrundkenntnisse, wie in diesem Fall über Heime, Behinderung und den gesellschaftlichen Kontext des Umgehens mit Behinderten. Je nach Leserperspektive, weltbezogenem Kenntnisstand und sprachlichem Vermögen unterscheiden sich Umfang und Art der Inferenzen, sodass unterschiedliche Interpretationen entstehen. Im Unterricht setzen hier Prozesse der Verständigung und des Abgleichens von Bedeutungen ein, um eine intersubjektive Verständnisgrundlage zu gewinnen. Die Operationalisierung einer Schlüsselkompetenz, wie Schlussfolgerungen ziehen, bildet eine Grundlage für die Textarbeit und die Förderung von höherstufigen Ll-/L2-Lesefähigkeiten. Der Transfer und die Weiterentwicklung von Lesekompetenzen kann dann an weiteren Texten mit komplexeren Strukturen und anderen Themen und Wirklichkeitsausschnitten erfolgen. Zum Methodischen möchte ich anfügen, dass Schlussfolgerungen nicht unbedingt in der explizit kognitiv ausgerichteten Technik des Gesprächs und der Fragestellung erfolgen müssen, sondern auch implizit z. B. durch kreative, gestalterische Aufgabenstellungen oder Schreibaufgaben, die eine Schlussfolgerung fordern und erkennen lassen, ob der Leser diese auch vollzogen hat. Lesekompetenz in der Zweitsprache ist eine Voraussetzung für Lernerfolg nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in den anderen Fächern. Ihr systematischer Aufbau kann dazu beitragen, die schulischen Leistungen von Schülern ndH zu verbessern und eine erfolgreiche Bildungskarriere zu sichern. ■ Anmerkungen 'Bei der Identifikation, worauf sich ein Pronomen bezieht, unterscheidet man anaphorische Beziehungen, die rückwärts gewandt sind, von kataphorischen, die nach vorne verweisen. 'Individuelle Unterschiede im Sprachverstehen werden auf die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses'zurückgeführt, das zwei Funktionen hat: Es dient der Speicherung von Informationen und verarbeitet parallel dazu andere Informationen. Primärliteratur Härtung, P. (1991): Das war der Hirbel. München (Erstauflage 1973) Wöifel, U. (1982): Der Nachtvogel. In: Wülfel, U.: Die grauen und die grünen Felder. Ravensburg, S. 22-24. Sekundärliteratur Codier, V.P./Thomas, W.P. (1989): How quickly can immigrants become proficient in school English? in: Journal od Educational Issues of Language Minority Students S, p. 26-38. Cummins, J. (1979): Linguistic Interdependence and the Educational Development of Bilingual Children. In: Review of Educational Research 49 (2), p. 222-251. Cummins, J- (1991): Conversational and Academic Language Proficiency in Bilingual Context. In: AILA Revsew 8, p. 75-89. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): Pisa 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen Deutschunterricht 4/2004 9 Schlussfolgerungstypen Kurze Erläuterung Textbeispiel 1. Verknüpfen von Sätzen/Satzteilen Die Inferenz ist eine Verknüpfung zwischen zwei Ereignissen zweier benachbarter Sätze. nicht herauskriegen, wo die letzte /.../ und von irgendwo auftauchen 2. Ziet einer Figur Die Inferenz ist ein Ziel/Pian einer Figur, das/der ihr Handeln motiviert. will „echte" Zuwendung, keine geheuchelte 3. Motive Die Inferenz ist ein Motiv für eine Handlung. Motive der Mutter/der anderen sind an dieser Stelle noch undeutlich; insgesamt: Behinderung als Grund für Nicht-Kümmern/Ausgrenzung 4. emotionale Reaktion Die Inferenz ist eine Emotion bei einer Figur, die verursacht wurde durch ein Ereignis oder eine Reaktion auf ein Ereignis. Hirbel ist misstrauisch, traurig. 5. äußere Reaktion auf etwas Die Inferenz ist eine Handlung oder ein sichtbares Verhalten, die/das verursacht wurde durch ein Ereignis/ein Geschehen. Hirbel entfernt sich von Gruppen; Isolierung 6. Beziehungen zwischen Figuren Die Inferenz ist eine Beziehung zwischen oder eine Einstellung zu anderen Figuren (Feind, Freund etc.). sind problematisch, keine positiven Beziehungen zwischen Hirbel und den anderen 7. Verbindung zwischen Textteilen Die Inferenz ist eine Verbindung zwischen einem gegenwärtigen Ereignis/einer Handlung und dem vorhergehenden Kontext. Ausgestoßen sein und „Behinderung" von Hirbel 8. Verbindung zwischen Textinformation und/ Alltagswissen Die Inferenz ist eine Verbindung zwischen einer Situation/ einem Ereignis und vorausgesetztem Weltwissen. Umgehen mit Behinderung; Reaktionen von Menschen darauf; Wissen über Heime 9. Thema Die Inferenz ist der Hauptgedanke, die Moral, der Punkt, um den eine Geschichte kreist. Außenseiter/Ausgrenzung 10. Textintentionen Die Inferenz ist die Motivation für eine Geschichte, ihre Zielrichtung (Kritik, Moral). Kritik an Ausgrenzung Anderer; Verständnis; Mitgefühl für Hirbel 11. Emotionen des Lesers Die Inferenz ist die Emotion, die ein Leser während der Lektüre durchlebt: Mitleid, Angst. Parteinahme/Mitgefühl für Hirbel. Miller, G.AVGalanter, E./Pribram, K.H {1960):Plans and the structure of behavior. New York: Holt, Rinehart and Winston. Verhoeven. L. {1990): Acquisition of reading in a second language. In: Reading Research Quarterly 25, p. 90-114. Verhoeven, L (1994): Transfer in bilingual development. In: Language Learning 44, p. 381-415. Ehlers, S- (1998): Lesetheorie und fremdsprachliche Lesepraxis ausder Perspektive des deutschen als Fremdsprache. Tübingen Ehlers, S. (2001): Übungen zum Leseverstehen. In: Bausch, R. et al. (Hrsg.): Handbuch des Fremdsprachenunterrichts. Berlin, S. 286-292. Ehlers, S. 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