Lernstile aus der Sicht des gehirngerechten Lernens Dr. Ilse Brunner Lernstile sind Präferenzen und natürliche Tendenzen, aber keine biologischen Gegebenheiten. Wir können unseren eigenen Lernstil bewusst ändern, wenn es notwendig ist. Aber in Stresssituationen werden wir auf den Stil zurückfallen, den wir uns als Kind angeeignet haben. Lernstile ändern sich mit der Zeit und sind kulturbedingt. Lernunwillige Schüler/innen können zu enthusiastischen Lerner/innen werden, wenn sie sich ihrer Lernpräferenzen bewusst werden und sie die Möglichkeit haben, oft ihre Präferenzen zu benützen. Abwechslung und Auswahl sind die wichtigsten Kriterien für den Unterricht. Lernstiluntersuchungen haben verschiedene Lernerprofile ergeben. Wenn wir den Lernprozess in vier Teilbereichen untersuchen, gibt es eine große Anzahl von Varianten in den Präferenzen und im Verhalten der Lernenden. Die wichtigsten Variablen sind hier kurz beschrieben. Wahrnehmung des Umfelds (context) Alle Kinder haben verschiedene Bedürfnisse in bezug auf ihr Lernumfeld. Die Effizienz ihres Lernens hängt von der passenden Umgebung ab. Mit den folgenden Variablen können Sie das Umfeld lernmotivierend gestalten. Wie kannst du dies in deiner Klasse erreichen? Biete jeden Tag verschiedene Umfeldvariablen an und gib vor allem Wahlmöglichkeiten. Achte auf die Schüler/innen, die weniger flexibel sind und gib ihnen, was sie brauchen und gib den flexiblen Schüler/innen viel Freiheit. Umfeldabhängig oder umfeldunabhängig Umfeldabhängige Lerner/innen lernen am besten in natürlichen Situationen, im reellen Leben, mit Experimenten: Lehrausgänge, Museumsbesuche, Beobachtung und Gespräche mit Menschen, die das zu lernende im Alltag anwenden, Experimente, bei denen sie Hand anlegen können, selbstverfasste Texte, die einem konkreten Zweck dienen, Mathematik, die gebraucht wird, sind Kontexte, die ihnen das Lernen erleichtern. Ihre Frage: Wozu brauchen wir das? Umfeldunabhängige Lerner/innen können überall lernen und sind auch mit abstrakten Repräsentationen zufrieden. Sie finden ihr Wissen in Büchern, auf Kassetten, im Computer, im Gespräch und in Vorträgen. Strukturiert oder flexibel Manche Lerner/innen brauchen ein strukturiertes Umfeld, um ihr Bestes zu geben. Licht, Temperatur, Geräusche, Musik, Lernplatz, Materialien müssen ihren Bedürfnissen angepasst sein. Sie brauchen oft Regeln, Regelmäßigkeit und klare Aufgabenbeschreibungen. Sie müssen sich bewusst werden, wie ihr bevorzugtes Lernumfeld gestaltet sein soll und dann Wahlmöglichkeiten haben. Viele Lerner/innen sind flexibel und können sich den Gegebenheiten anpassen. Dr. Ilse Brunner: Lernstile aus der Sicht des gehirngerechten Lernens © Oktober 2005 1 Abhängig, unabhängig oder interaktiv Abhängige Lerner/innen lernen besser zu zweit, oder mit mehr Partnern in Gruppen und Teams. Sie lernen am besten, wenn sie über die Aufgabe sprechen mit der sie beschäftigt sind. Ein aktives, lautes Umfeld und gute Beziehungen in der Gruppe motivieren sie zum Lernen. Unabhängige Lerner/innen arbeiten lieber allein oder höchstens mit einem Partner, der ähnliche Interessen hat. Interaktive Lerner/innen können gut allein arbeiten, sind aber bemüht anderen zu helfen. Ihnen ist der Erfolg der ganzen Klasse wichtiger als ihre eigenen Ergebnisse. Beziehungsorientiert oder inhaltsorientiert Beziehungsorientierte Lerner/innen brauchen einen starken positiven Bezug zur Lehrerin, zum Lehrer. Sie können nur dann effektiv lernen, wenn sie die Person wertschätzen und sich wertgeschätzt fühlen. Inhaltsorientierte Lerner/innen können auch von Lehrerinnen lernen, die sie eigentlich nicht mögen. Datenaufnahme (input) Alles was wir lernen wird durch unsere Sinne wahrgenommen. Während alle zwei Monate alte Babys den Geschmackssinn am meisten benützen, sind die meisten Kinder und Jugendlichen entweder visuelle, auditive oder kinästhetische Lerner/innen. Wichtig ist auch die Quelle des Lernimpulses: wir unterscheiden zwischen externen und internen Quellen. Extern visuell und intern visuell Extern visuelle Lerner/innen brauchen viele visuelle Anhaltspunkte. Sie schauen dem Sprecher ins Gesicht, möchten das Gesagte auch in schriftlicher Form bekommen, werden von Bildern mehr überzeugt als von Worten, lesen lieber selbst, als dass ihnen vorgelesen wird, machen sich visuelle Darstellungen von Gelesenem und Gehörtem, brauchen schriftliche Anleitungen. Intern visuelle Lerner/innen brauchen ein globales Bild von dem, was sie lernen sollen, bevor sie an die Details gehen können. Sie machen sich mentale Bilder von dem, was vorgetragen wird und verlieren sich oft in ihren Bildern, so dass sie den Faden verlieren. Sie suchen nach Mustern und Möglichkeiten und entfernen sich, von dem, was dargestellt wird. Sie kommen uns oft als Tagträumer vor. Extern auditiv und intern auditiv Extern auditive Lerner/innen können gut zuhören und müssen sich selbst sprechen hören. Sie reden viel mit sich selbst und anderen. Sie lernen Schritt für Schritt, beantworten gern Fragen, um sicher zu gehen, dass sie sich an das Gelernte erinnern. Sie können Vorträge und Gespräche in ihrem Kopf wie ein Tonband abspielen. Schreiben und Mathematik fallen ihnen oft schwer, dafür lesen sie gern vor und lieben Diskussionen. Intern auditive Lerner/innen stellen sich Fragen über das zu Lernende. Sie motivieren sich, indem sie sich fragen „Was weiß ich schon darüber? Was will ich wissen?" Sie Dr. Ilse Brunner: Lernstile aus der Sicht des gehirngerechten Lernens © Oktober 2005 2 haben starke metakognitive Fähigkeiten und machen sich Gedanken darüber, wie sie etwas lernen. Extern kinästhetisch und intern kinästhetisch Extern kinästhetische Lerner/innen können am besten lernen, wenn sie es selbst tun dürfen. Sie wollen alles gleich anfassen und manipulieren. Sie lieben Komfort und genügend Platz, um sich bewegen zu können, sie reden wenig und lassen ihren Körper sprechen. Sie lieben Aktivitäten und Ereignisse, wo sie sich aufhalten herrscht oft Unordnung und vieles wird durcheinander gebracht. Intern kinästhetische Lerner/innen lernen viel intuitiv und über das Gefühl. Sie müssen sich gefühlsmäßig an ein Thema heranarbeiten. Wenn ihnen der Inhalt gefühlsmäßig nicht passt, haben sie Schwierigkeiten ihn zu lernen. Einstimmung in ein Thema ist bei ihnen besonders wichtig. Sie hören oft nicht richtig zu, weil sie vor allem die Körpersprache beachten. Nicht das WAS, sondern das WIE ist ihnen wichtig. Sie reden wenig und man sollte auf ihre Körpersprache achten. Datenverarbeitung (processing) Bei der Datenverarbeitung gibt es gehirnhemisphärische Präferenzen. Wir manipulieren Lerndaten entweder global oder analytisch, konkret oder abstrakt, nacheinander oder gleichzeitig. Global, im Kontext oder sequenziell, linear, detailliert Globale Lerner/innen brauchen zuerst das „große Bild", den Überblick, das Wesentliche, die Schlüsselkonzepte und ihre Beziehungen zueinander. Sie lernen holistisch und brauchen die „Gestalt". Zweck und Ziel des zu Lernenden müssen ihnen klar sein, dann neigen sie dazu die Details selbst zu erarbeiten und oft mehrere Aufgaben gleichzeitig entweder parallel oder iterativ anzugehen. Sie arbeiten mit Intuitionen, Schlussfolgerungen, Approximationen, Mustern, Tendenzen, Bildern, Ikonen und Symbolen. Sie sind leicht ablenkbar, geben sich ungern mit Details ab und sind oft mit halbfertigen Aufgaben zufrieden. Sie langweilen sich oft im Unterricht, weil sie durch sequenzielle Aufgaben nicht genügend gefordert sind. Sequenzielle Lerner/innen lieben Rezepte. Sie wollen alles in kleinen Schritten, möglichst klar formuliert, in linearen Sequenzen. Wenn sie mehrere Aufgaben zur selben Zeit bekommen, konzentrieren sie sich voll auf eine Aufgabe und wenden sich erst nach deren Abschluss der nächsten Aufgaben zu. Sie sind analytisch, sehr genau, nehmen Aussagen wörtlich und wollen, dass sich alle an Vereinbarungen halten. Sie können sich gut konzentrieren, sind detailorientiert, verlässlich und sind bemüht die Lernaufgaben zu Ende zu bringen. Konzeptuell oder konkret Konzeptuelle Lerner/innen brauchen keine konkreten Vorgaben, um sich ein Bild ihrer Lernaufgaben zu machen. Sie verstehen abstrakte Konzepte und können sie in ihrem Kopf manipulieren. Die Welt der Wörter, der Bücher, der Computer, der Ideen und der Konversationen ist ihre Welt. Die Realität entsteht in ihren Köpfen. Konkrete Lerner/innen brauchen ihre Sinne auch zum Verarbeiten von Informationen. Sie brauchen konkrete Beispiele, Experimente, Aktion und Bewegung. Am besten lernen sie, wenn sie es selbst ausprobieren können. Dr. Ilse Brunner: Lernstile aus der Sicht des gehirngerechten Lernens © Oktober 2005 3 Lerner Reaktionen (response filters) Bevor wir auf das zu Lernende reagieren, benützen wir einen Filter, der uns bei der Entscheidung hilft, welches Verhalten adäquat ist. Extern oder intern ausgerichtet Extern ausgerichtete Lerner/innen sind abhängig von dem, was andere denken und halten sich an das, was von ihnen erwartet wird. Soziale Normen, Regeln, Traditionen sind für ihr Verhalten richtungsweisend. Intern ausgerichtete Lerner/innen sind unabhängig von sozialen Normen und fühlen sich als die einzig adäquaten Richter ihres Verhaltens. Angleichend (matching) oder gegensätzlich (mismatching) Angleichende Lerner/innen suchen nach Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen, Gleichheiten, Regelmäßigkeiten, positiven Beziehungen und Beziehungen zu einem größeren Ganzen. Sie ziehen es vor zu assimilieren und das Neue vorgegebenen Schemata anzupassen. Gegensätzliche Lerner/innen suchen nach Verschiedenheiten, Unähnlichkeiten, Ungleichheiten, Unregelmäßigkeiten. Sie suchen nach Fehlern in den Argumenten, Ausnahmen der Regeln und Gegenbeispiele. Sie fragen „Warum nicht? Was, wenn...?" Sie sagen „Ja, aber...". Sie halten sich nicht an Regeln und wünschen sich Abwechslung. Impulsiv experimentell oder analytisch reflexiv Impulsiv experimentelle Lerner/innen möchten jeden Gedanken ausagieren. Sie probieren etwas aus, bis es funktioniert. Am liebsten möchten sie alles Gelernte sofort in der Wirklichkeit umsetzen. Analytisch reflexive Lerner/innen beobachten genau und denken über verschiedene Möglichkeiten nach. Sie wollen das Gelernte nicht umsetzen, sehen sich aber gern Umsetzungen an, als Impulse für neue Möglichkeiten. Dr. Ilse Brunner Dr. Ilse Brunner: Lernstile aus der Sicht des gehirngerechten Lernens © Oktober 2005 4