108. Vermittlung der Lesefertigkeit 975 108. Vermittlung der Lese ertigkeit 2976 1. Lesefertigkeit im Fremdsprachenunterricht: historische Perspektive 2977 2. Lesen als Prozess 2978 3. Lesen und Fremdsprachenerwerb 2979 4. Literatur in Auswahl 2980 1. Lese ertigkeit im Fremdsprachenunterricht: historische 2981 Perspektive 2982 Im grammatik- und übersetzungsorientierten Ansatz standen geschriebene Texte zwar im 2983 Mittelpunkt, jedoch nicht das Lesen als Prozess der Sinnentnahme. Es wurde gelesen, 2984 um Grammatik oder Wortschatz zu illustrieren und um das Übersetzen zu üben. Mit der 2985 direkten Methode verloren geschriebene Texte etwas an Bedeutung und in den audiolin- 2986 gualen und audiovisuellen Methoden wurden sie meist auf schriftlich fixierte gesprochene 2987 Sprache reduziert. Seit der kommunikativen Wende im Fremdsprachenunterricht wird 2988 dem Lesen als Sinnentnahme mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Lesen wird nicht mehr 2989 als „passive“ Fertigkeit betrachtet, da Lesende sich durch den Einsatz von Vorwissen 2990 und durch die Interpretationsleistung aktiv mit dem Text auseinandersetzen. Wichtig 2991 sind heute auch landeskundliche bzw. interkulturelle Aspekte. Daher wird der Einsatz 2992 „authentischer“ (d. h. ursprünglich nicht für den Fremdsprachenunterricht konzipierter) 2993 Texte gefordert (vgl. Art. 104 und 106). 2994 2. Lesen als Prozess 2995 In der muttersprachlichen Leseforschung, in der in den 1960er Jahren neben der Auffas- 2996 sung vom Lesen als Prozess der Hypothesenbildung (top down Modelle) auch datengelei- 2997 tete (bottom up) Modelle vertreten wurden, verbreitete sich Anfang der 1980er Jahre das 2998 interaktive Modell des Leseprozesses, wobei auf allen Verarbeitungsebenen Interaktion 2999 zwischen daten- und erwartungsgeleiteten Prozessen angenommen wird. Zusammen mit 3000 der kognitiven Wende in der Fremdsprachendidaktik, die zu Interesse für Strategien gu- 3001 ter und schwacher Lesender und für Strategien bei der Erschließung der Wortbedeutung 3002 führte, hatte diese Entwicklung zur Folge, dass die Aufmerksamkeit heute sowohl auf 3003 sprachbedingte wie auf inhaltliche Aspekte der Textverarbeitung gelenkt wird. Das Lesen 3004 als Prozess der Hypothesenbildung gilt als typische Strategie schwacher Lesender. Sie ist 3005 für das Lesen der Fremdsprache insofern von Bedeutung, als auch muttersprachlich ge- 3006 übte Lesende beim Lesen in einer neuen Sprache anfänglich schwache Lesende sind und 3007 sich kompensatorisch für Kenntnislücken und ungenügende Automatisierung der Fertig- 3008 keit auf das Inferieren verlassen müssen. Das Textverständnis ist beim inferierenden Le- 3009 sen aber oft sehr ungenau (Bernhardt 1993), was neben der Überforderung bei unzurei- 3010 chenden Sprachkenntnissen demotivierend wirken kann. 3011 X. Sprachenlehren: Zielsetzungen und Methoden976 2.1. Lesen als Prozess der In ormationsverarbeitung3012 Beim Lesen kommen zwei Verarbeitungstypen vor, die automatische und die bewusste3013 Verarbeitung. Die automatische Verarbeitung verläuft schnell, parallel und ohne An-3014 strengung oder Kapazitätsbeschränkungen. Parallel bedeutet, dass mehrere Prozesse3015 gleichzeitig eingesetzt werden können. Die bewusste Verarbeitung, die für Inhalte und3016 für neue, unerwartete und/oder unlogische Informationen erforderlich ist, verlangt Auf-3017 merksamkeit und Anstrengung. Hier sind Kapazitätsbeschränkungen beobachtbar: nur3018 ungefähr 7 Einheiten können gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis verarbeitet werden, wobei3019 allerdings die Informationsdichte dieser Einheiten (z. B. Buchstabe oder Theorie) keine3020 Rolle spielt. Schnellere (erfolgreiche) Verarbeitung kann daher nur durch weitere Auto-3021 matisierung und durch den Einsatz komplexerer Einheiten (Kenntniserweiterung und3022 Neuorganisation der Kenntnisse) erreicht werden.3023 2.2. Ebenen des Leseprozesses3024 Auf Grund der Art der verarbeiteten Informationen werden mehrere Ebenen angenom-3025 men, die in der Literatur meist in der Reihenfolge von den unteren zu den oberen Ebenen3026 (vom Zeichen zum Inhalt) beschrieben werden, weil dies dem ungestörten Leseprozess3027 geübter Lesender entspricht. Dabei muss beachtet werden, dass teilweise parallel verar-3028 beitet wird und dass bei jeder Wahrnehmung das Vorwissen über das, was wir wahrneh-3029 men, mit den wahrgenommenen Informationen interagiert. Die Einteilung der Verarbei-3030 tungsebenen variiert. Wichtig aus der Sicht der Fremdsprachendidaktik ist die Berück-3031 sichtigung der Teilfertigkeiten und Kenntniskomponenten im Leseprozess, die nicht alle3032 neu erworben werden müssen.3033 Die folgenden Ausführungen beruhen auf Hypothesen zum muttersprachlichen Lese-3034 prozess, die meist durch experimentelle Daten aus der Kognitionspsychologie unterstützt3035 werden (für die sehr umfangreichen bibliographischen Daten vgl. Lutjeharms 1994 und3036 2007).3037 Die graphophonische Ebene umfasst die Augenbewegungen, die visuelle Mustererkennung3038 und die phonologische Rekodierung, d. h. die Umsetzung der mit den Augen wahrge-3039 nommenen Zeichen in einen Ϫ möglicherweise sehr abstrakten Ϫ phonologischen Kode.3040 Geübte Lesende fixieren nur bestimmte Wortteile oder Wörter und nehmen dabei auch3041 das Umfeld wahr. Die periphere Sicht steuert die Wahl des nächsten Fixationspunktes.3042 Wahrscheinlich erkennen wir Rechtschreibmuster und/oder Morpheme, denn es wird ein3043 Wortsuperioritätseffekt beobachtet, d. h. Wörter werden schneller und besser gelesen als3044 eine Reihe einzelner Buchstaben. Dabei werden Redundanz in der Rechtschreibung und3045 Vertrautheit mit Wörtern ausgenutzt. Wortfrequenz ist ein wichtiger Faktor, denn bei3046 häufiger Aktivierung verringert sich die Verarbeitungszeit. Oft reicht der Wortanfang für3047 die Worterkennung. Das Wortende wird daher meist weniger beachtet.3048 Inwiefern geübte Lesende die phonologische Rekodierung zur Worterkennung brau-3049 chen, ist umstritten. Vieles deutet darauf hin, dass eine phonologische Repräsentation3050 zumindest aktiviert wird. Subvokale Tätigkeit wird vor allem bei schwachen Lesenden3051 und bei schwierigen Textvorlagen beobachtet. Sie hängt mit der bewussten Verarbeitung3052 im Arbeitsgedächtnis zusammen, bei der Informationen für kurze Zeit bereitgehalten3053 108. Vermittlung der Lesefertigkeit 977 werden müssen. Für verbale Informationen geschieht dies mit Hilfe des akustischen Ko- 3054 des, der allerdings nicht bis zur Ϫ äußerlich erkennbaren Ϫ subvokalen Tätigkeit zu 3055 gehen braucht. 3056 Bei der Worterkennung handelt es sich um den lexikalischen Zugriff auf eine Wort- 3057 form im mentalen Lexikon, bei dem ein Zeichen als Wort in einer bestimmten Sprache 3058 erkannt wird (vgl. Lutjeharms 2004). Das mentale Lexikon ist die Bezeichnung für das 3059 Sprachwissen im Gedächtnis. Bei fehlender Aufmerksamkeit oder bei einer Überlastung 3060 des Arbeitsgedächtnisses bleibt der Zugriff auf der Formebene stecken. Viele Forschungs- 3061 daten lassen eine wichtige Rolle der Morpheme bei der Worterkennung vermuten. Wörter 3062 in einem passenden Kontext werden schneller erkannt als isolierte Wörter. Dies hängt 3063 damit zusammen, dass beim Zugriff auf eine Wortrepräsentation ein ganzes Netzwerk 3064 oder benachbarte Stellen im mentalen Lexikon mitaktiviert werden (das sogenannte 3065 „priming“), was die Weiterverarbeitung beschleunigt. Dass morphologische Ähnlich- 3066 keit Ϫ auch sprachübergreifend Ϫ zu Primingeffekten führt, ist wiederholt gezeigt wor- 3067 den. 3068 Seit Ende der 1980er Jahre wird die syntaktische Verarbeitung in verschiedenen Spra- 3069 chen und auch im Sprachvergleich untersucht (vgl. Lutjeharms 1998). Die meisten dieser 3070 Untersuchungen wurden im Rahmen des Wettbewerbsmodells (competition model) von 3071 MacWhinney und Bates (1989) durchgeführt. Nach diesem Modell werden mehrere 3072 Oberflächenindikatoren gleichzeitig in unterschiedlichen Kombinationen und Ϫ je nach 3073 Zweckmäßigkeit Ϫ mit wechselnder Gewichtung verarbeitet. Bei diesen Auslösern han- 3074 delt es sich beispielsweise um Wortfolge, lexikalische Einheiten mit ihren Eigenschaf- 3075 ten Ϫ wie Belebtheit/Unbelebtheit oder Valenz Ϫ, um Kongruenz und andere morpholo- 3076 gische Informationen. Die Gültigkeit eines Auslösers ergibt sich während des Spracher- 3077 werbsprozesses aus der Anwendbarkeit und der Zuverlässigkeit, d. h. daraus, wie oft er 3078 vorkommt und wie oft er zu einer korrekten Lösung führt. Für das Deutsche gilt, dass 3079 auf Grund der morphologischen Informationen entschieden wird, sobald diese vollstän- 3080 dig sind, aber auch die Wortfolge spielt eine Rolle. 3081 Bei guter Sprachbeherrschung verlaufen die Worterkennung und die syntaktische 3082 Analyse automatisch. Diese unteren, formbedingten Verarbeitungsebenen werden als De- 3083 kodierung bezeichnet. Die semantische Verarbeitung, das eigentliche Textverständnis, ent- 3084 steht aus einer Interaktion der Ergebnisse der Dekodierprozesse mit inhaltlichem Vorwis- 3085 sen und erfordert Aufmerksamkeit. Das Vorwissen unterstützt das Antizipieren und Ein- 3086 ordnen der Informationen. Vielleicht muss von nur minimal organisierten Kenntnissen 3087 ausgegangen werden, mit deren Hilfe während der Verarbeitung eine aufgabenorientierte 3088 Kenntnisstruktur generiert wird. Neue Informationen können nur aufgenommen werden, 3089 wenn im Langzeitgedächtnis Begriffe aktiviert worden sind, anhand deren sie eingeord- 3090 net werden können. Eine Überschrift, ein passendes Bild oder eine vorangestellte Zusam- 3091 menfassung sind wichtige Verstehenshilfen, weil sie eine Erwartungshaltung auslösen, die 3092 den Einsatz der Dekodierprozesse unterstützt. 3093 Mit den Ergebnissen der Dekodierprozesse wird eine propositionale Repräsentation 3094 der Satzinhalte aufgebaut, die bei geübten Lesenden und bei für sie leichtem Textinhalt 3095 vielleicht automatisch geschieht, obwohl dabei schon Inferenzen erforderlich sind. Die 3096 propositionalen Repräsentationen bilden die Grundlage für die Konstruktion eines men- 3097 talen Modells des Textinhaltes. Das mentale Modell besteht aus verdichteten Textinfor- 3098 mationen und Vorwissen. In dieser Gedächtnisrepräsentation des Textes ist die Sprach- 3099 X. Sprachenlehren: Zielsetzungen und Methoden978 struktur nicht enthalten, d. h. sie ist nicht mehr abrufbar. Die Textoberflächenform ist3100 aber in einer anderen Repräsentation gespeichert, denn auch wenn eine Textvorlage nicht3101 (mehr) als bekannt empfunden wird, wird sie bei erneuter Lektüre schneller verarbeitet.3102 2.3. Lesen in einer Fremdsprache3103 Wenn muttersprachlich geübte Lesende eine Fremdsprache erwerben, kann es sein, dass3104 sie zuerst mit einer neuen Schrift konfrontiert werden. Viele Deutschlernende brauchen3105 allerdings keine (völlig) neuen Schriftzeichen zu erwerben, weil sie die lateinische Schrift3106 schon von der Ausgangssprache her oder durch den früheren Erwerb einer anderen3107 Fremdsprache Ϫ meist Englisch Ϫ beherrschen. Dann müssen nur einige Zeichen (Um-3108 laut, ß) sowie die Großschreibung der Substantive neu gelernt werden.3109 Bei bekannter Schrift führt Ϫ anders als beim muttersprachlichen Erwerb der Lesefer-3110 tigkeit Ϫ nicht die Mustererkennung zu Problemen, obwohl die Lesenden meist mit3111 neuen Häufigkeiten bestimmter Buchstabenkombinationen konfrontiert werden. Die Le-3112 senden der Fremdsprache werden zu schwachen Lesenden, weil es beim Dekodieren kei-3113 nen lexikalischen Zugriff geben kann, solange für die Wörter oder Morpheme keine men-3114 talen Repräsentationen im Lexikon vorhanden sind. Sogar sehr geübte Lesende einer3115 Zweitsprache lesen sie langsamer als die Muttersprache, was wohl auf geringere Automa-3116 tisierung der unteren Verarbeitungsebenen zurückzuführen ist. Allerdings wird für das3117 Wiedererkennen weniger Festigung verlangt als für den Abruf bei der Sprachproduktion.3118 Syntaktische Auslöser müssen Ϫ wie der Wortschatz Ϫ so weit erworben werden,3119 dass sie automatisch erkannt und verarbeitet werden können, jedenfalls wenn sie für das3120 Satzverstehen erforderliche Hinweise enthalten. Für Lernende, deren Ausgangssprache3121 eine feste Wortfolge hat, bildet die flexible deutsche Wortfolge oft die größte Herausfor-3122 derung. Aber auch Flexionsendungen, besonders die Kasusendungen, sind schwierig. Sie3123 können zwar redundant sein, aber ihre Dekodierung kann auch notwendig sein, um3124 Fehldeutungen zu vermeiden. Inhaltliches Vorwissen, Grammatikkenntnisse, text- und3125 satzbedingte Faktoren sowie die Ausgangssprache und sonstige Sprachkenntnisse bestim-3126 men mit wechselnder Gewichtung, welche syntaktischen Auslöser jeweils für das Verste-3127 hen erforderlich sind. Lesende einer Fremdsprache Ϫ so konnte im Rahmen des Wettbe-3128 werbsmodells gezeigt werden Ϫ setzen anfänglich muttersprachlich bedingte Strategien3129 der syntaktischen Verarbeitung ein. Sie behalten diese bei, wenn die Verarbeitung da-3130 durch nicht beeinträchtigt wird. Im Verlauf des Spracherwerbs kommen immer mehr für3131 die Zielsprache geeignete Strategien zur Anwendung.3132 Wenn die Verarbeitung der unteren Ebenen gestört verläuft, verlangen Worterken-3133 nung und syntaktische Analyse Aufmerksamkeit, die dann der semantischen Verarbei-3134 tung fehlt. Deshalb verlassen sich Lesende in der Fremdsprache häufig auf das Inferieren3135 oder übergehen Textteile, um eine unmittelbare Sinnentnahme zu ermöglichen. Diese3136 kompensatorischen Rate- und Vermeidungsprozesse werden oft automatisch eingesetzt,3137 führen also nicht immer zu einem gestörten Leseprozess. Wie sinnvoll sie sind, ist sehr3138 situations- und aufgabenbedingt. Bei Vertrautheit mit dem Textinhalt können sie erfolg-3139 reich sein; sie können aber auch zu einer völlig fehlgeleiteten Textdeutung führen. Beim3140 Versuch, Kohärenz herzustellen, kann die Fehldeutung eines Wortes oder einer Struktur3141 die weitere Textinterpretation stark beeinträchtigen. Auch fehlendes inhaltliches Vorwis-3142 sen kann trotz korrekter Dekodierung zu Fehldeutungen führen, wenn die Lesenden3143 108. Vermittlung der Lesefertigkeit 979 nicht die eigentlichen Adressaten sind, wie dies übrigens auch beim Lesen der Mutter- 3144 sprache vorkommt. Bei ungestörter Dekodierung geschieht die Sinnentnahme ähnlich 3145 wie beim Lesen der Muttersprache. 3146 2.4. Textschwierigkeit 3147 Die Textschwierigkeit kann nicht objektiv bestimmt werden, weil sie sehr adressatenab- 3148 hängig ist. Textexterne Faktoren wie Sprachkenntnisse und inhaltliches Vorwissen inter- 3149 agieren mit textinternen Faktoren wie Redundanz, Satzlänge, Wortreichtum usw. Daher 3150 helfen Formeln zur Bestimmung der Textschwierigkeit wenig. Im Allgemeinen sind lange 3151 Sätze Ϫ besonders bei Satzklammern Ϫ und lange Nominalphrasen schwierig, weil sie 3152 das Arbeitsgedächtnis überlasten können. Schriftlich fixierte Texte haben jedoch den 3153 Vorteil, dass man das Dekodiertempo selbst bestimmt und immer wieder zurückgehen 3154 kann. Im Anfängerunterricht kann mit sehr kurzen Texten bzw. Textausschnitten gear- 3155 beitet werden. 3156 3. Lesen und Fremdsprachenerwerb 3157 Lesen ist einerseits ein Mittel zum Erwerb von Sprachkenntnissen, andererseits ist 3158 Spracherwerb die wichtigste Vorbedingung zum Lesen der Fremdsprache (Art. 106). 3159 Konkrete Vorschläge und Anregungen zur Arbeit mit Lesetexten und zur Übungsgestal- 3160 tung bieten u. a. Lutjeharms 1994 und Ehlers 2006. Es folgen hier nur allgemeine Hin- 3161 weise: 3162 Aus mehreren Gründen darf die Aussprache Ϫ sogar wenn Lesen die einzige Zielfer- 3163 tigkeit ist Ϫ nicht vernachlässigt werden. Es ist zwar nicht sicher, aber doch möglich, 3164 dass der phonologische Kode für den lexikalischen Zugriff notwendig ist. Für die Verar- 3165 beitung im Arbeitsgedächtnis spielt der phonologische Kode eine wesentliche Rolle. Wir 3166 brauchen ihn weiter für den Wortschatzerwerb und für die Rezirkulation (das Aufrecht- 3167 erhalten von Informationen im Arbeitsgedächtnis) bei der Wörterbuchverwendung. Auch 3168 müssen Lernende nach Wortbedeutungen fragen können. Zudem sind sie meistens an 3169 der Aussprache interessiert. Dies bedeutet nicht, dass Texte laut (vor)gelesen werden 3170 sollten, auch wenn lautes Lesen von Textteilen sinnvoll sein kann, da es in Kombination 3171 mit der visuellen Vorlage das Einprägen der Wörter unterstützt und die Segmentierung 3172 der Wortsequenz verdeutlicht, was in der Anfangsphase des Spracherwerbs hilfreich ist. 3173 Eine zweckmäßige Lesestrategie ist es nicht. Das Umsetzen in Laute beansprucht Ge- 3174 dächtniskapazität und erschwert dadurch die Sinnentnahme. 3175 Um eine möglichst automatisierte Worterkennung zu ermöglichen, sind Wortschatz- 3176 übungen an Hand des Textes erforderlich, die einen wiederholten lexikalischen Zugriff 3177 bewirken. Wegen ihrer Bedeutung für die Worterkennung muss die Morphemebene be- 3178 rücksichtigt werden. Übungen mit morphologisch definierten Wortteilen verkürzen die 3179 Reaktionszeiten beim Zugriff auf alle Wörter mit diesen Morphemen. Daher sind Erken- 3180 nungsaufgaben zu Stammformen, Flexionsmorphemen und Affixen sinnvolle Übungen. 3181 Inwiefern die syntaktische Analyse geübt werden muss, ist stark vom Verhältnis zwi- 3182 schen Ausgangs- und Zielsprache abhängig, d. h. davon, wie erfolgreich muttersprachlich 3183 X. Sprachenlehren: Zielsetzungen und Methoden980 bedingte Ϫ oder auf Grund weiterer Sprachkenntnisse automatisierte Ϫ syntaktische3184 Verarbeitungsstrategien eingesetzt werden können. Fehleranalysen, eventuell kombiniert3185 mit Retrospektionsdaten und der Beobachtung der Lernenden, sind aufschlussreich für3186 die Übungsgestaltung. Erkennungsübungen zu für das Verstehen relevanten Flexionsen-3187 dungen unterstützen die Wahrnehmung und können zur Eliminierung unzweckmäßiger3188 Vermeidungsstrategien beitragen. Erst durch wiederholtes Lesen können sich allmählich3189 automatische Routinen entwickeln, die eine direkte Sinnentnahme ermöglichen.3190 Lesen ist immer eine Form der Fertigkeitsübung. Jedes Lesen verbessert die Dekodier-3191 fähigkeit, weil der Zugriff auf Wörter und syntaktische Auslöser durch Wiederholung3192 erleichtert wird. Besonders am Anfang des Spracherwerbs ist deshalb wiederholtes Lesen3193 derselben Textvorlage sinnvoll, aber damit die Wiederholung nicht demotivierend wirkt,3194 sind unterschiedliche Aufgaben zum Text notwendig. Eine sinnerschließende Aufgabe ist3195 ein guter Anfang, denn die Sinnentnahme ist das eigentliche Ziel, die Dekodierung nur3196 das Mittel. Dazu können Lesestile oder Lesestrategien eingesetzt werden, die durch die3197 Leseabsicht bedingt werden und je nach Textstelle variieren können. Die Bezeichnungen3198 sind nicht immer einheitlich, aber es werden im Allgemeinen vergleichbare Formen unter-3199 schieden. Beim suchenden Lesen wird nur nach einem Zeichen (Wort, Name, Zahl …)3200 gesucht, während man sich beim orientierenden Lesen einen schnellen Überblick über3201 Text und Textinhalt verschaffen möchte. Beim kursorischen Lesen folgt man dem Text-3202 aufbau und versucht, das Wesentliche des Inhaltes zu erfassen; beim totalen Lesen sollen3203 möglichst alle Informationen verarbeitet werden. Das argumentative Lesen ist eine inten-3204 sive Auseinandersetzung mit dem Textinhalt, wobei viel elaboriert wird, d. h. Inferenzen3205 zum Textinhalt gebildet werden, die von den Verfassenden nicht intendiert wurden.3206 Ein wichtiger Vorteil der Arbeit mit schriftlich fixierten Texten in einer Klassensitua-3207 tion ist, dass sie autonomes Lernen ermöglicht (vgl. Art. 128). Nicht alle Lernenden brau-3208 chen denselben Text zu lesen oder dieselben Aufgaben zu machen. Manche werden lieber3209 intensiv mit einem Text arbeiten, andere lesen lieber viele Texte. Beides ist sinnvoll. Wich-3210 tig ist, dass viel gelesen wird. Wenn die Lernenden selbst (z. B. im Internet) nach Texten3211 für die Arbeit im Unterricht suchen, unterstützt dies nicht nur die Motivation. So wird3212 zusätzlich viel gelesen, auch wenn es sich nur um orientierendes Lesen handelt. Differen-3213 zierung ist notwendig, weil die Zweckmäßigkeit von Erwerbsstrategien mit der Persön-3214 lichkeit der Lernenden zusammenhängt. Dies gilt auch für Lesestrategien wie kontextuel-3215 les Raten, Ausnutzen der Textstruktur, Unterstreichen der wichtigsten Inhaltswörter oder3216 Übergehen unwichtiger Wörter. Das Problem ist nämlich, dass Strategien mehr oder3217 weniger erfolgreich angewendet werden können. Manche Lernende müssen dazu ange-3218 halten werden, sich mehr zuzutrauen und kontextuelles Raten einzusetzen; andere müs-3219 sen lernen vorsichtiger zu sein und schneller zum Wörterbuch zu greifen. Sie sollten sich3220 daher des eigenen Strategieeinsatzes beim Lesen und dessen Erfolgschancen bewusst sein.3221 Beim Strategieeinsatz sind gute Lesende Ϫ wie auf allen Ebenen der Verarbeitung Ϫ3222 erfolgreicher, weil sie mehr Hinweise gleichzeitig verarbeiten können. Schwache Lesende3223 brauchen daher entsprechend mehr Sprachkenntnisse, um eine vergleichbare Sinnent-3224 nahme zu erreichen. Strategietraining ist eine der Möglichkeiten, sich wiederholt und3225 zielgerichtet mit der Textvorlage zu beschäftigen, was auf jeden Fall zum Spracherwerb3226 beiträgt.3227 108. Vermittlung der Lesefertigkeit 981 4. Literatur in Auswahl 3228 Bernhardt, Elisabeth B. 3229 1993 3230Reading development in a second language: Theoretical, empirical and classroom perspectives. Norwood: Ablex. 3231 Ehlers, Swantje 3232 2006 3233Entwicklung von Lesekompetenz in der Fremdsprache. Babylonia 3Ϫ4: 31Ϫ38. Koda, Keiko 3234 2004 3235Insights into Second Language Reading. A Cross-Linguistic Approach. Cambridge: Cambridge University Press. 3236 Küppers, Almut 3237 1999 3238Schulische Lesesozialisation im Fremdsprachenunterricht. Eine explorative Studie zum Lesen im Englischunterricht der Oberstufe. Tübingen: Narr. 3239 Lutjeharms, Madeline 3240 1994 3241Lesen in der Fremdsprache: Zum Leseprozess und zum Einsatz der Lesefertigkeit im Fremdsprachenunterricht. Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 5(2): 36Ϫ77. 3242 Lutjeharms, Madeline 3243 1998 3244Die syntaktische Verarbeitung bei der Rezeption von Sprache. In: Eberhard Klein und Stefan J. Schierholz (Hg.), Betrachtungen zum Wort. Lexik im Spannungsfeld von Syntax, 3245 Semantik und Pragmatik, 117Ϫ151. Tübingen: Stauffenburg Verlag. 3246 Lutjeharms, Madeline 3247 2004 3248Der Zugriff auf das mentale Lexikon und der Wortschatzerwerb in der Fremdsprache. Fremdsprachen Lehren und Lernen 33: 10Ϫ26. 3249 Lutjeharms, Madeline 3250 2007 3251Processing levels in foreign-language reading. In: Jan D. ten Thije and Ludger Zeevaert (Hg.), Receptive Multilingualism, 265Ϫ284. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins. 3252 MacWhinney, Brian und Elisabeth Bates (Hg.) 3253 1989 3254The cross-linguistic study of sentence processing. Cambridge: Cambridge University Press. Schmidt, Claudia 3255 2007 3256Lesestrategien. Französisch heute 38: 121Ϫ129. Schramm, Karin 3257 2001 3258L2-Leser in Aktion. Der fremdsprachliche Leseprozeß als mentales Handeln. Münster: Waxmann. 3259 Strohner, Hans 3260 1990 3261Textverstehen. Kognitive und kommunikative Grundlagen der Sprachverarbeitung. Opladen: Westdeutscher Verlag. 3262 Madeline Lutjeharms, Brüssel (Belgien) 3263