per.gen.art Ernst Seibert Die periphere Genese der österreichische Kinder- und Jugendliteratur Vorbemerkungen zum Thema „Klassiker der KJL“ Eine intensive und um Systematik und Wissenschaftlichkeit bemühte Diskussion zum literarischen Feld „Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur“ ist erst erstaunlich spät, Mitte der 1980er Jahre, in die Wege geleitet worden. Ausgangspunkt war eine Tagung des „Arbeitskreises für Jugendliteratur“ im Jahr 1984 (Informationen 1984), in denen erstmals theoretische Positionen zu dieser Frage formuliert wurden, die für die Bestimmung des Genres KJL von zentraler Bedeutung sind. Im gleichen Jahr erschien das von Klaus Doderer hrsg. „Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur“ (Doderer 1984), worin der vom Herausgeber selbst verfasste Artikel „Klassiker“ sehr klare Differenzierungen vorgibt. Doderer unterscheidet drei Ebenen der Kanonisierung und eröffnet damit einen Argumentationsrahmen, der in der nachfolgenden Diskussion bestimmend und dessen Komplexität nicht mehr zurück genommen werden sollte. In der ersten Ebene werden die jugendgemäßen Werke der als Klassiker anerkannten Nationalschriftsteller zusammengefasst wie Ludwig Anzengruber,[1] Wilhelm Busch oder Annette von Droste-Hülshoff; in der zweiten die Werke der Weltliteratur mit Betonung des internationalen Charakters, sowohl die ursprünglich als Erwachsenenbücher adressierten wie Jonathan Swifts Gulliver und Don Quijote von Miguel de Cervantes wie auch Carlo Collodis Pinocchio und in der dritten werden unter weiter gefassten Gesichtspunkten wie Sprache, Distribution, soziale Herkunft auch Werke oder eigentlich Figuren wie Winnetou oder Asterix ebenfalls zu den Klassikern gezählt. (ebd., Bd. 2, 217 ff.) Aus diesem Argumentationsraum entwickelten sich in der Folge mehrere Neuansätze, aus denen nur einige wenige hervorgehoben seien: · die weiteren einschlägigen Beiträge von Klaus Doderer "Die Suche nach den Klassikern oder der Zweifel an den ewigen Werten" sowie "Drei Entwürfe von Kindheit" (Doderer 1992, 133 ff. bzw. 88 ff.), · der Sammelband "Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur" (Hurrelmann 1995), · das Standardwerk „Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon“ (Kümmerling-Meibauer 1999) · sowie die einschlägigen Arbeiten von Emer O’Sullivan (2000), Heidi Lexe (2003) und nochmals Kümmerling-Meibauer (2003). Ergänzend ist auf das Einführungswerk „Themen, Stoffe und Motive in der Literatur für Kinder und Jugendliche“ (Seibert 2008) zu verweisen, worin im Rahmen dieses Diskurses zwei Aspekte fokussiert werden; zum einen wird ein erneuter, auf früheren Publikationen d. Verf. aufbauender Klassiker-Kriterienkatalog vorgestellt und zum andern darauf verwiesen, dass in der gesamten, der Materie entsprechend international orientierten Diskussion österreichische AutorInnenschaft im Konnex mit der Kanonfrage de facto kaum aufscheint. Unter dem ersten Aspekt werden 13 Kriterien unterschieden und im folgend wiedergegebenen Schema in vier Ebenen zusammen gefasst: Metaebene Zeitlosigkeit Autorebene Intentionalität, Singularität Werkebene Form Aventuire, Irrationalität, Reiseliteratur Inhalt Elternferne, Fremdes Kind, Inselmotiv, Lebensbedrohung, Rebellenmotiv Rezeptionsebene Internationalität, Programmatik der Titelfigur Der zweite Aspekt, die österreichische AutorInnenschaft, ist weitgehend Desiderat, und fast noch erstaunlicher, als das späte Einsetzen der Klassiker-Diskussion an sich ist das bislang noch gar nicht erfolgte Aufgreifen der Diskussion in Österreich mit Bezug auf die österreichische Kinder- und Jugendliteratur. Im genannten Lexikon von Kümmerling-Meibauer werden unter den über 500 Werken neben 29 Klassikern aus Deutschland allein zwei österreichische Werke genannt, Felix Saltens Bambi und Christine Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig. Dies ist hier nicht deshalb erwähnt, um die Auswahl-Kriterien des verdienstvollen Lexikons der deutschen Forscherin in Frage zu stellen, sondern weil sich darin die weitreichende Unsicherheit in der Einschätzung der literarhistorischen Situation in Österreich widerspiegelt, die vielmehr der mangelnden heimischen Theoriebildung selbst anzulasten ist. Immerhin wird durch die Nennung Saltens durch Kümmerling-Meibauer die nämliche österreichspezifische Ausgangssituation angesprochen, die auch dem genannten Einführungswerk (Seibert 2008) vorangehen, dort nochmals unter dem Titel „Paradoxien im deutschsprachigen Raum“ zusammengefasst sind (ebd., S. 140-144) und im Folgenden zu einer erweiterten Darstellung gebracht werden. Horizonte der Klassiker-Entstehung Im Hintergrund der im obigen Schema zusammen gefassten Kriterien stehen zwei Theoreme, aus denen sich in einem sehr relativierenden Sinn auch die Genese der österreichischen KJL erklären lässt.: Der kindheitstheoretischen Position einer Dichotomie von aufklärerischem und romantischem Kindheitsbild, die auf Hans-Heino Ewers zurückgeht, ist in Erweiterung dieser nicht nur literarhistorisch, sondern auch phänomenologisch gedachten Zweiteilung als drittes ein postromantisches Kindheitsbild gegenüber zu stellen; ein Ansatz dazu findet sich schon bei Doderer in dem genannten Beitrag „Drei Entwürfe von Kindheit“ (s.o.).Diesem dritten Kindheitsbild entsprechen im Wesentlichen die eigentlichen, also a priori intentional für Kinder bzw. Jugendliche gedachten Klassiker. Verstärken bzw. bestätigen lässt sich dieses kindheitstheoretische Theorem durch eine tiefenpsychologische Position, die in dem geistesgeschichtlich durchaus zeitbezogenen Begriff der Entfremdung verankert ist: Entfremdung insbesondere in philosophisch-materialistischer Konnotation manifestiert sich letztendlich auch in einem grundlegenden Wandel der Generationenbeziehungen, die nun in einem fundamentalen Paradigmenwechsel von der familiären Situation in vorindustrieller Zeit abgehoben sind. Die Erwachsenenwelt mit ihren Widersprüchen eines entfremdeten Daseins ist nach der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr das erstrebte Ziel aller Entwicklung, Bildung und Erziehung, sondern wird nun zunehmend dem (fiktionalisierten) kritischen Blick auch und gerade des Kindes unterworfen, das sich dieser Entfremdung zu verweigern sucht. Wesentliches Merkmal der Klassiker von Alice (1865, dt. 1869), Pinocchio (1880, dt. 1905), Mowgli (1894, dt. 1889), Peter Pan (1904, dt. 1948) und Nils Holgersson (1906, dt. 1907/08) bis hin zu Pippi Langstrumpf (1945) bzw. deren Gemeinsamkeit ist auf manifester Ebene mehr oder minder deutlich das Infragestellen von Autorität und im latenten Hintergrund die Verweigerung, sich dem auf die Industrialisierung zurück zu führenden Entfremdungsprozess zu fügen. Zu diesen beiden schon mehrfach erläuterten Positionen, der kindheitstheoretischen und der tiefenpsychologischen, kommt nun als dritte bekräftigend eine Position hinzu, die zwar in der gegenwärtigen allgemeinen literaturtheoretischen Diskussion breiten Raum einnimmt, bislang jedoch in der kinderliteraturtheoretischen Auseinandersetzung, zumal in Überlegungen zur österreichischen KJL-Geschichte noch kaum Platz gegriffen hat; gemeint ist die postkoloniale Literaturtheorie. Dabei ist zum einen von der Beobachtung auszugehen, dass die als österreichische KJL-Klassiker in Frage kommenden AutorInnen wie Charles Sealsfield, Marie von Ebner-Eschenbach, Felix Salten, Alois Sonnleitner, Franz Karl Ginzkey und Franz Molnar (chronologisch nach Geburtsjahren geordnet) aus den Gebieten der ehemaligen Kronländer (Böhmen, Mähren, Ungarn) immigriert sind und wohl nicht ganz zufällig kj-literarische Narrative gewählt haben, um eben diese soziale Differenz zwischen den peripheren Herkunftsländern und der Modernität der Reichs- und Residenzhauptstadt zu thematisieren. Zum anderen ist schlicht zu konstatieren, dass die Kronländer der Habsburger-Monarchie generell den Status von semikolonialen Provinzen hatten, und dass die Klassiker der österreichischen KJL offensichtlich auch ein nationalitätenpolitisches Spannungsfeld widerspiegeln. Wir haben es also in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. und dann bis in die Zeit der Ersten Republik mit einer völlig anderen kj-literarischen Situation zu tun, als in Deutschland bzw. mit dem Phänomen, dass die meist sehr frühen Übersetzungen der internationalen kinderliterarischen Klassiker (s.o.) in Österreich wesentlich anders rezipiert wurden, als in Deutschland. In Deutschland ist nach Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845) in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts als eigentlicher und bleibender Klassiker Wilhelm Buschs Max und Moritz zu nennen, und eben dieses ist eigentlich kein Kinder-, sondern ein "Anti-Kinderbuch" (Hurrelmann 1995, 48 ff.); Emmy von Rhoden, die mit ihrer Trotzkopf-Serie 1885 begann, fällt eben wegen der Serienhaftigkeit aus dem engeren Begriff der herausragenden Einzelwerke und noch mehr Karl May, der als Jugendbuch-Klassiker so ziemlich als einziger unter all den Genannten insofern außerhalb der meisten Kriterien steht, als seine Identifikationsfiguren Erwachsene sind. (Damit bestätigt sich einmal mehr, dass die Ebene der Kinderbuch-Entwicklung und die der Jugendliteratur auch und gerade in ihren Klassikern gänzlich unterschiedliche Verläufe aufweisen, die als genealogische Differenz zu beschreiben wäre.) So bleibt zu konstatieren, dass der Beitrag Deutschlands zum engeren Ensemble der Klassiker rein quantitativ eigentlich nur ein geringer ist. Waldemar Bonsels’ Biene Maja (1912) – im Interpretationsband von Hurrelmann erstaunlicherweise übergangen – ist fraglos eines der wichtigsten Werke der Vorkriegszeit in Deutschland. Danach folgt in erheblichem Abstand zum Ersten Weltkrieg Erich Kästner mit Emil und die Detektive (1929), als ein schon vom Schauplatz her und auch durch die Mittelstellung zwischen Kinder- und Jugendbuch gänzlich neuer Typ eines Klassikers. Die kj-literarische Situation in der Schweiz wird anhaltend aber auch sehr singulär durch Johanna Spyris Heidi (1880/81) vergegenwärtigt. Dieser heute als Kinderroman rezipierte Klassiker wäre über die hier angedeuteten Überlegungen hinaus Anlass für eine weitere prinzipielle Beobachtung, dass nämlich manche der Klassiker ursprünglich im Subsystem der Jugendliteratur konzipiert und rezipiert, jedoch später und besonders durch die heutige mediale Verwertung von der Rezeption her ins Subsystem der Kinderliteratur verschoben wurden. Die in diesem Roman angelegte Autoritätsproblematik wird von Hurrelmann als „Problem der Ablösung, des plötzlichen Verlustes von Vertrautheit“ (Hurrelmann 1995, 202) dargestellt, also als ein dem Entfremdungsprozess sehr ähnliches Phänomen. Aus dem Mainstream der österreichischen KJL in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, banale Besserungsstücke, religiöse Erbauung oder Ermahnung bzw. weit verbreitete kaisertreu-patriotischen KJL als Fortschreibung biedermeierlich-staatsbürgerlicher Erziehungsschriften hat sich nichts auch nur zu Longsellern entwickelt. Im Vergleich dazu zeigen sich bei dem Ensemble der genannten österreichischen, als Klassiker relevanten Werke doch erstaunliche konträre Narrative. Gemeinsam ist ihnen eine offenbar bewusste Abkehr von den genannten Erziehungsklischees mit Bildern von Kindheit und Jugend jenseits dieser gesellschaftlichen Funktionalisierungen; Es finden sich in ihren Werken schlicht andere Erlebnisräume, und das sind – an sich nicht überraschend – die Räume der Herkunftsländer ihrer AutorInnen, die Erblande der Habsburgermonarchie, Nationen mit nichtdeutscher Muttersprache und zumeist auf einem niedrigeren sozialen Status. Dabei wird auch erkennbar, dass das Genre Kinder- bzw. Jugendliteratur für die österreichischen AutorInnen eine besondere, neue Funktion hat: dem durch die Verbreitung der internationalen Klassiker erneuerten Genre wird die zusätzliche Qualität einer Thematisierung von Nationalitätenkonflikten verliehen, um in dieser Form, anders als im System der allgemeinen literarischen Entwicklung, gegen Autoritätsstrukturen anzuschreiben. Die schon genannten und im Folgenden etwas ausführlicher zu behandelnden österreichischen AutorInnen sind allesamt in den semikolonialen Erblanden verortet bzw. widerspiegeln auch ihre Werke diese Topographie. Auf österreichischem Boden ist der einzige Repräsentant, der ihnen zur Seite anhaltend als Klassiker zu beurteilen wäre, Peter Rosegger mit dem Roman Als ich noch ein Waldbauernbub war (in drei Teilen 1900-1902 in Leipzig erschienen), auf den die hier entwickelte Entfremdungsthese jedoch ebenfalls und in besonderer Weise zutrifft. Es scheint jedenfalls kein Zufall zu sein, dass die Werke, die bis in die Gegenwart als Klassiker der österreichischen Kinderromane gelten (bzw. lange galten) und zumindest bis in die Zeit nach 1945 auch von Kindern gelesen wurden, bis zurück zu dem im heutigen Tschechien geborenen Ahnherren einer Kinderliteratur mit literarischem Anspruch, Adalbert Stifter (1805-1868), geschrieben wurden. Das gilt für Marie von Ebner-Eschenbach, geboren in Zdislawitz in Mähren, Franz Karl Ginzkey, Sohn eines sudetendeutschen k. u. k.-Marinetechnikers in Pula/Kroatien aufgewachsen, und von Alois Tluchor, besser bekannt unter dem Namen A. Th. Sonnleitner, geboren in Daschitz bei Pardubitz in Böhmen. Mit Rücksicht darauf, dass die Herkunft der als Klassiker in Frage kommenden Autoren generell in die ehemaligen Kronländer führt, ist also von einer peripheren Genese der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur zu sprechen. Im Hintergrund der Entstehung dieses eigenen literarischen Feldes steht eine Entwicklung, auf die William M. Johnston in seiner "Österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte" hinweist, dass nämlich Adalbert Stifter das Erbe des Reformkatholizismus und insbesondere die Ethik Bernhard Bolzanos in seinen Werken reflektiert, wobei daran zu erinnern ist, dass Bolzano zu den Begründern des Bohemismus gehört, sich also zu einer die Nationen versöhnenden Denkweise bekennt, weswegen er letztendlich sein Lehramt verlor und zwischen 1820 und 1830 unter Polizeiaufsicht gestellt wurde (Johnston, 284). Vielleicht ist eben diese, jenseits der KJ-Literaturgeschichte liegende biographische Episode ein Symbol für die etwas rätselhafte Verborgenheit der historischen Wurzeln in der Entstehung österreichischer Kinder- und Jugendliteratur im frühen 20. Jahrhundert. Die Werke ihrer AutorInnen, teilweise noch in den Jahrzehnten vor dem Fin de siècle entstanden, haben mehrheitlich sehr wohl in die österreichische Literaturgeschichte Eingang gefunden, wenngleich man sie aber dabei mit dem Genre der KJL nicht identifiziert, obwohl sie es sehr wegweisend begleitet haben. In postkolonialer Perspektive handelt es sich dabei auch um frühe Formen einer Migrationsliteratur als die diese kindheits- und jugendadressierten Werke heute zu lesen sind. In den folgenden Kurzdarstellungen soll in Form eines kollektivbiographischen Ansatzes diesem Theorem einer peripheren Genese des Genres KJL in Österreich nachgegangen werden, wobei deutlich wird, dass die sehr ähnlichen Schreibanlässe jeweils im Migrationshintergrund der AutorInnen bzw. im Spannungsfeld zwischen erlebter eigener Kindheit in den Herkunftsländern und nun im Zentrum der Monarchie bzw. nach 1918 in der neu erstandenen Republik wahrgenommener Kindheit gelegen sind. Die Darstellung soll zuerst chronologisch nach Geburtsjahren der AutorInnen erfolgen und dann mit dem Versuch einer Werkchronologie abgeschlossen werden. Der erste dabei in Frage kommende Autor ist insofern gleich ein Sonderfall, als er erst posthum zum Jugendbuchautor wurde und dies nach einer sehr außerordentlichen Autorenkarriere im fernen Amerika. Nichtsdestoweniger waren gerade seine in Auszügen und Bearbeitungen lange Zeit kolportierten Jugendbücher wegbereitend für die Gattung der Abenteuerliteratur. Charles Sealsfield (1793-1864) – Das Cajütbuch (1841) Eben zur Zeit der polizeilichen Überwachung des Philosophen und Theologen Bernhard Bolzanos (1781 Prag–1848 ebd. – s.o.) vollzieht sich ein ähnliches Schicksal in der Biographie des südmährischen Schriftstellers Karl Postl, besser bekannt unter seinem späteren, amerikanischen Pseudonym Charles Sealsfield, geb. in Poppitz in Mähren, der 1823 als Priester aus dem Prager Kreuzherrenkloster floh und bald zu einem der meistgesuchten Staatsfeinde in der Habsburger Monarchie wurde. In seinem Buch Austria as it is (1828) weist er ausdrücklich auf die Tschechen als auf die in Europa am meisten unterdrückte Nation hin. Dieser Hinweis ist das politische Kalkül dessen, was ihn in seinen Romanen zur Konstruktion eines neuen Abenteuer-Typus veranlasst. Aus seinen Werken – gewiss auch kein Zufall – wurden bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts immer wieder Passagen zu Abenteuerromanen gestaltet, solange diese Gattung noch Konjunktur hatte. Anhaltend spürbar ist darin der Tenor, dass er der Despotie seiner österreichischen bzw. der tschechischen Heimat das Leben in einer freiheitlichen Welt gegenüberstellt, das allerdings im Unterschied zu seinem Vorbild James Fenimore Cooper weniger romantisch und vielmehr von den harten Strapazen gekennzeichnet ist, denen sich der Jäger in der Natur ausgesetzt fühlt und in denen er sich zu bewähren hat. Sealsfields Schriften fanden vom Bekanntwerden an bis in die Gegenwart als Jugendschriften Verbreitung, wenngleich Austria as it is bis 1919 in Österreich offiziell verboten war. (Vgl. Weinkauff 2011) Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) – Das Gemeindekind (1887); Ein Buch für die Jugend (1907) Die mit Sealsfield begonnene chronologische Reihung müsste eigentlich mit Adalbert Stifter weitergeführt werden. Wenngleich dieser unmittelbar mit seiner Novellen-Sammlung Bunte Steine mit seinen kindlichen Protagonisten und mittelbar als Schulbuch-Autor (in doppeltem Sinne: als Verfasser eines Lesebuches und als Schullektüre) der Jugendliteratur verbunden ist, steht er mit seinen der großen Roman-Entwicklung angehörenden Werken in einer Position, die als nur sehr partielle autortypologische Teilzugehörigkeit zu bezeichnen wäre. Die Fortführung der Kindheitsthematik nach Adalbert Stifter vollzieht sich zunächst im Werk der Marie von Ebner-Eschenbach, in Mähren als Tochter eines Freiheitskämpfers mit entsprechender Sensibilität für Nationalitätenkonflikte aufgewachsen, die als Hintergrund für ihre Kindergeschichten mit zu bedenken sind. Ähnlich wie Stifter mit seinen Bunten Steinen, verfasste sie ein von ihr selbst so genanntes Buch für die Jugend (1907), in dem sie unter anderen die Geschichten Der Fink, Die Spitzin, Der Muff und Krambambuli vereint. In dem 20 Zeilen umfassenden Geleitwort gibt die Verfasserin vor, von Müttern nach der Herausgabe eines solchen Buches gebeten worden zu sein und richtet sich sehr gezielt und persönlich an ihre Leserschaft, meine Kleinen am Inn und meine geliebten Großnichten und Großneffen bei uns daheim und im Schwabenlande und Ihr drei deutschen Knäblein in Rom, und Du, lieber Gerhard in Westfalen, mir fremd und doch so wohlbekannt, und Du, Harald, mein teurer und getreuer Korrespondent in Livland, für euch habe ich, im Einverständnis mit meinen Herren Verlegern, eine Lese in meinen Schriften gehalten und dieses Büchlein zusammengestellt. Was bei Ebner-Eschenbach spätestens 1907 unmittelbar als Kindheitsadressierung erkennbar wird, zeichnet sich jedoch schon früher ab. Vor allem ihr Roman Das Gemeindekind (1887) ist als Weiterentwicklung der von Stifter begonnenen Kindheitsthematik zu sehen, in dem, weniger verschlüsselt, als in den Tiererzählungen, die soziale Ungerechtigkeit gegenüber Kindern thematisiert wird. Wenn man den Roman etwa vergleichend mit Charles Dickens‘ Oliver Twist interpretiert, wird die eigentliche, geradezu sozialrevolutionäre Innovation dieses Werkes erst deutlich; und wenn diese andere Sichtweise auf diese Autorin einmal Platz gegriffen hat, wird etwa erkennbar, dass von diesem Werk an in ihren Erzählungen, nicht zuletzt im Genre der Autobiographie, fast immer auch das Kind oder der Jugendliche als impliziter Leser präsent ist. Darüber hinaus ist Marie von Ebner-Eschenbach eine der meistvertretenen Autorinnen in zeitgenössischen Jugendzeitschriften sowohl in Österreich als auch in Deutschland. Man sollte also immer dann, wenn man sie, wie es klischeehaft meist geschieht, als Repräsentantin der Frauenemanzipation tituliert, die Emanzipation von Kindheit in ihren Werken mit im Auge haben. Felix Salten (1869-1945) – Prinz Eugen der edle Ritter (1915); Bambi (1923) Mehr als eine Generation jünger als Ebner-Eschenbach sind die beiden aus Ungarn immigrierten Autoren Felix Salten und Franz Molnar (zu diesem s.u.), und ähnlich wie Ebner-Eschenbach hat sich auch Salten in der Gattung Tierbuch folgend mit seinem Bambi-Roman (1923) erst in einer späteren Phase seines Schaffens nicht generell der Kinderliteratur, doch aber einer kindlichen Sicht bzw. dem Kind als impliziten Leser zugewandt. Voran ging sein heute vergessener Roman aus den Kriegsjahren, Prinz Eugen der edle Ritter (1915), der, wenn man ihn als Hintergrundfolie zu Bambi mitliest, dem sogenannten Tierbuch einen völlig anderen Stellenwert verleiht. Der auch von Kümmerling-Meibauer als Klassiker anerkannte Bambi-Roman und alles was Salten im Gefolge daraus als Fortschreibung dieser anthropomorphisierenden Großmetapher weiterentwickelte, ist in engem Zusammenhang mit der umfangreichen und hier nicht zu erläuterten Parallel- oder Gegenerzählung Der Hund von Florenz (1923) zu sehen,. Von Interesse ist aber (auch oder vielmehr) das Kindheitsbild des inzwischen 54-jährigen Salten im Hinblick auf das fünf Jahre zurück liegende Ende des Krieges, der nicht nur die Nationen sondern auch die Generationen entzweit, ein Großreich zu Fall gebracht und das Verhältnis zwischen jung und alt, das Untertanenmodell, das nicht selten bis in die Familienstrukturen hinein gewirkt hat, grundsätzlich in Frage gestellt hat. Von den vielen in diesem Tier-Roman als Naturgeschehen verhandelten Ereignissen, die – doppelsinnig – auch als Gesellschaftsmotiven zu lesen sind, sei als ein Leitmotiv die eine und einzige Forderung von Bambis Vater herausgestellt, sein Sohn müsse lernen, allein zu sein. Wenn er, der als „Fürst“ alleine lebt, und, so selten er auftaucht, immer nur dies als oberste Maxime betont, kommt das der Forderung nach einer Abkehr von der Familie als Hort der (gesellschaftlichen) Erziehung gleich. Dass Familie und Gesellschaft in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen, ist eine Grundeinsicht von Saltens Landsmann Sigmunf Freud. Freud hat daraus in logischer Konsequenz das Konzept von Es, Ich und Über-Ich präzisiert, wobei sich im Über-Ich eben diese Spannung von Familie und Gesellschaft als eine antagonistische widerspiegelt. Saltens Vater-Figur verkörpert im Bambi-Roman den konsequenten Neubeginn einer Abkehr vom Über-Ich, das Familie und Gesellschaft gleichermaßen repräsentieren möchte. Fern sowohl von Familie als auch von Gesellschaft ist Bambis Vater nur noch ein in sich ruhendes Ich. Das komplexe psychoanalytische Modell von Freud wird von einer Dreiteilung der Person auf eine Zweiteilung reduziert, dem Ich steht nur das Es gegenüber. Es wäre zu fragen, ob sich die aphoristische Aussage Freuds: „Wo Es war, soll Ich werden.“ nicht als ein Leitbild der kindheits- bzw. jugendadressierten Literatur dieser Zeit schlechthin erweist. (Vgl. etwas ausführlicher dazu Seibert 2006) A. Th. Sonnleitner (1869-1939) – Bäckerfranzel (1907) und die Hegerkinder-Trilogie (1923-1926) Der mit Felix Salten gleich alte, aus einer verarmten Bauernfamilie stammende Autor wurde in Daschitz bei Pardubitz/Böhmen als Alois Tlučhoř geboren. Aus seiner sehr bewegten Biographie sei nur erwähnt, dass er seine Schulausbildung im Stiftsgymnasium Melk erfuhr, in Wien nach dem Kriegsende 1918 bei Karl Bühler und Robert Reininger studierte und als 55-jähriger mit einer philosophischen Dissertation promovierte. Mit dem Pseudonym Sonnleitner sind erst seine bekannteren Werke ab den frühen 1920er-Jahren verbunden, die Höhlenkinder- und die Hegerkinder-Trilogie, um die bekanntesten zu nennen, die noch viele Jahre nach 1945 neu aufgelegt wurden. Er begann jedoch schon wesentlich früher für Kinder und Jugendliche zu schreiben, zunächst mit Beiträgen in Jugend-Zeitschriften noch in den frühen 1890er-Jahren. Nach diesen frühen Versuchen, dürfte sein erstes größeres erzählerisches Werk Der Bäckerfranzel (1907), eine Besserungsgeschichte, noch unter seinem eigentlichen Namen Tlučhoř erschienen, gewesen sein. Von einigem Interesse ist dabei, dass der nun bereits 38-Jährige die durch die Zeitschriften-Beiträge angebahnten Beziehungen zur damaligen avantgardistischen Kunstszene in Wien von der kleinen Form in die größere und zur Selbständigkeit als Autor fortentwickelte. Die vermutlich im gleichen Jahr erschienene Bearbeitung Des Freiherrn von Münchhausen Abenteuer und Reisen, unter dem Pseudonym Alois Th. Schlagbrandtner herausgegeben, hatte, wie auch Der Bäckerfranzel F(ranz) K(arl) Delavilla (1884-1967) zum Illustrator. Während Sonnleitner in den Höhlenkindern, die man poetologisch als Kulturrobinsonaden titulierte, noch in einem eher ahistorischen und auch geographisch unbestimmten raum verblieb, sind die Hegerkinder sehr gegenwartsbezogen bezogen. Handlungreaum ist die in den Titeln genannte Lobau um Aspern, am Rande von Wien, nahezu ein Urwaldgebiet, das mit der Zivilisation der nahen Großstadt in schroffen Gegensatz gesetzt wird. Das von Sonnleitner gewählte Milieu betont nun wieder die Perspektive von außen auf die Reichs- und Residenzhauptstadt, was man vereinfachend Sozial- oder Gesellschaftskritik oder auch Stadt-Land-Gegensatz nennen kann, was aber doch auch dem kolonial-kritischen herkunftsbedingten Blick des Verfassers entspricht. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang das vierte der insgesamt sieben Kapitel „Von der guten alten Zeit“, in dem der an sich bedächtige Vater der Protagonistenkinder geradezu aufbrausend gegen das Vorurteil argumentiert, dass in der Monarchie früher alles gut gewesen sei. Franz Karl Ginzkey (1871-1963) – Hatschi Bratschis Luftballon (1904) [als Teil eines kinderliterarischen Quartetts] Auch der Autor des Klassikers Hatschi Bratschis Luftballon (1904), das von all den hier genannten Werken gewiss die auflagenstärkste Tradierung erfahren hat, Franz Karl Ginzkey, stammt aus einem Randgebiet der Monarchie. Sein Vater war sudetendeutscher Berufsoffizier und Marinetechniker in Pola, wo Ginzkey zur Welt kam und in Militärschulen erzogen wurde. Das Werk erschien als eines der frühesten Bücher des noch jungen, von Peter Rosegger geförderten Autors. Um die zweifelhaften, im allgemeinen Understatement der sogenannten schwarzen Pädagogik zugeordneten Tendenz dieses Bilderbuches aufzuklären, in dem noch alle Kinderängste des 19. Jahrhunderts aufgehoben scheinen, sollte man den Entstehungshorizont etwas mehr als bisher erhellen sowie auch die Position dieses Werkchens im Gesamtoeuvre des Autors bestimmen. Das meist nur singulär und immanent interpretierend be- und verurteilte Bilderbuch ist nur eines von mehreren kinderliterarischen Werken Ginzkeys, das zusammen mit zumindest drei weiteren, einander sehr ähnlichen als ein kinderliterarisches Quartett gesehen werden sollte, dessen Entstehung sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt.[2] Das scheinbar autoritäre Hatschi-Bratschi-Buch, in der Zeit 50 Jahre nach Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter entstanden, in der u.a. Paula und Richard Dehmel – mit ihrem Fitzebutze (1900, nach erster Konzeption 1894) – dazu ansetzten, die lange währende und als nicht mehr zeitgemäß empfundene Tradierung des Hoffmann‘schen Bilderbuchklassikers abzulösen, ist bei Betrachtung in diesem Kontext mehrfach erkennbar von Ginzkey in ähnlicher Absicht verfasst. Abgesehen vom gleichen Versmaß zeigt sich das in der ironische Überzeichnung aller Handlungselemente, woraus sich vermutlich auch seine Beliebtheit sowohl bei den vermittelnden Eltern, als auch bei den Kindern selbst erklärt, Ginzkeys Geschichte des kleinen Fritz, des eigentlichen Protagonisten in Hatschi Bratschis Luftballon setzt genau dort ein, wo Heinrich Hoffmanns letzte Geschichte, die vom fliegenden Robert, im Struwwelpeter endet: mit einem Kind, das von Vater und Mutter wegläuft. Bei vergleichender Lesung stellt man nicht nur Reim und Rhythmus-, sondern auch überraschende Wortparallelen fest: Hoffmanns Robert „aber dachte: Nein!“ und von Ginzkeys Fritz heit es: „Er aber lief zur Tür hinaus.“; Hoffmanns Robert „patschet […] mit dem Regenschirm umher“, von Ginzkeys Fritz heißt es, „springt er jetzt im Gras umher“ (Hervorhebungen vom Verf., E.S.). Die eigentliche Parallele zwischen der Schluss-Szene bei Hoffman und der Einleitungsszene bei Ginzkey ist aber das In-die-Luft-Fliegen, bei Hoffmann mit dem Regenschirm, bei Ginzkey mit dem Ballon, und was bei Hoffmann im Ungewissen endet, wird bei Ginzkey zur angstbesetzten Begegnung in der Luft, die allerdings mit der ersten Handlungssequenz gleich einmal mit der Vernichtung des Unhgeheuren, also mit einer Heldentat beginnt. Der im Titel der Geschichte gemeinte „Zauberer aus dem Morgenland“ ist also gar nicht Hauptfigur, vielmehr sein Ballon das Hauptrequisit; das Heldentum des eigentlichen Protagonisten scheint dadurch etwas relativiert; auch diese kleine Ungewissheit in der Frage nach dem eigentlichen Kern der Handlung mag zum Erfolg des Büchleins beigetragen haben. In dieser eigenartigen Konstellation ist der „Zauberer aus dem Morgenland“, dessen Name auch ein bisschen an die Begleitfigur Karl Mays im Orient erinnert (Hatschi Halef Omar …), zu einer Urfigur der österreichischen populären Kinderliteratur als Inkarnation des Fremden geworden, gleichzeitig eine Art Kinderschreck, der im Wien um die Jahrhundertwende gewiss auch mit orientalischer Herkunft assoziiert wurde. Man kann vielleicht sogar einen Nachklang orientalischer Märchen darin sehen, aber man sollte auch und gerade bei der Interpretation von Kinderbüchern nicht nur von einzelnen Bildern ausgehen, sondern sich den ganzen Text vergegenwärtigen: Am Schluss der Geschichte ist sehr ausführlich davon die Rede, dass Fritz am vorläufigen Ziel seiner Ballonreise im Morgenland auf gefangene Kinder stößt: „Gefang’ne Kinder sind’s, die schrei’n. / Der Hatschi Bratschi schloß sie ein. / Er trug sie her im Luftballon; / Da schmachten sie so lange schon!“ Mit dieser Wendung des Geschehens wird die kindliche Leserschaft – was Ginzkey ähnlich wie Dehmel ja wohl im Sinn hatte – sehr weit von Heinrich Hoffmann entfernt; solches Ausfabulieren führt über die Momentaufnahmen eines Hoffman weit hinaus. Ginzkey hat aber auch hier nicht einfach vor sich hin fabuliert, sondern er bewegt sich mit dieser Wendung am Schluss seiner Reise-Abenteuererzählung (die auch an Nils Holgerssen, Stockholm 1906/07 erinnert) plötzlich in einer ganz anderen Motivebene, die sich mit der griechischen Mythologie zusammenführen lässt. Das Motiv der Befreiung von gefangenen Kindern findet sich in den Erzählungen um den griechischen Helden Theseus und wird als sein größtes und abenteuerlichstes Unternehmen bezeichnet: Minos, der König von Kreta hat durch die Schuld der Athener seinen Sohn Androgeos verloren. Zur Sühne dafür hat er den Athenern einen schweren Tribut auferlegt. Alljährlich müssen sie sieben Knaben und sieben Mädchen nach Kreta schicken, die dem Minotauros zum Fraße vorgeworfen werden. Dem Helden Theseus gelingt es nun – mit Hilfe Ariadnes, der Tochter des Minos, deren Liebe er gewinnt – in das Lybyrinth des Minotauros einzudringen, diesen im Zweikampf zu besiegen, die gefangenen Kinder zu befreien und vor dem Gefressen-Werden zu bewahren. (Bei Ginzkey heißt es vom bösen „Zauberer aus dem Morgenland“: […] kleine Kinder fängt und beißt er.“) Wenn man nun die Geschichte des kleinen Fritz mit diesem Hintergrund liest (und dieser Hintergrund ist dem damals knapp über 30-jährigen Ginzkey gewiss geläufig gewesen) hat sie sehr deutliche Parallelen, nicht nur in der Schlussgeschichte, sondern auch die Abenteuer davor sind Stationen mit ähnlichem Motivhintergrund wie der in der griechischen Sage: der Suche nach dem Vater. Die Abenteuer des Protagonisten bei Ginzkey, die ja in späteren Ausgaben bekanntlich umgeschrieben wurden, weil sie in der Erstfassung, wo er etwa noch Menschenfressern begegnet, zu beängstigend schienen, waren also vor diesen „Bereinigungen“ der griechischen Sage näher. Aus dem schon erwähnten Zusammenhang dieses Kinderbuches mit den einschlägigen Werken Ginzkeys aus 1928, 1947 und 1952 ließe sich die sehr bewusst gegen die konventionell-triviale Auffassung des Werkes aus 1904 argumentierende Interpretation noch erweitern. Dies führte allerdings über den hier thematisierten Gesamtzusammenhang der Argumentation zu einer in peripherer Genese der KJL in Österreich vom Fin de siécle bis in die Erste Republik hinaus. Abgesehen davon führte es auch in ein anderes grundsätzliches Problem in der Interpretation von Ginskeys Werken, das zumindest andeutend erwähnt werden soll, seine Nähe zur NS-Kulturpolitik. Dazu sei hier nur auf ein umfangreiches, sehr differenzierendes Gutachten von Klaus Heydemann, dem wohl besten Kenner der Werkgeschichte Ginzkeys verwiesen, in dem er summierend feststellt: Ginzkey war zwischen 1938 und 1945 weder ein Parteibarde noch ein Autor des Nationalsozialismus; anderseits leistete er keinen Widerstand, war auch nicht in "innerer Emigration". Er suchte soweit ein Arrangement mit den gegebenen Zuständen, als dieses nötig war, um weiter schriftstellerisch tätig sein zu können. Daher war er im entsprechenden Umfang im offiziellen Wiener Literaturbetrieb präsent.[3] Ergänzend und auf das kinderliterarische Schaffen Ginzkeys fokussierend bleibt anzumerken, dass seine hier genannten Kinderbücher vor bzw. nach der NS-Zeit entstanden, und dass eine Lesart dieser Kinderbücher im Sinne einer „schwarzen“ oder „braunen“ Pädagogik sehr weit hergeholt wäre. Vor allem ginge eine auf ideologische Spurensuche ausgerichtete Interpretation daran vorbei, die eigentliche, intendierte Absicht der Kreation einer Form von Unsinnspoesie wie der von J. Ringelnatz oder eines C.Morgenstern völlig zu verkennen – allerdings einer Unsinnsposie mit sehr tiefgründiger, in der damaligen avantgardistischen KJL beliebten und verbreiteten Motivebene . Franz Molnar (1878-1952) – Die Jungen der Paulstraße (1907) Ein weitere Autor, der zur peripheren Genese der KJL beigetragen hat, ist der gegenüber Ginzkey um sieben Jahre jüngere Franz Molnar; sein eindeutig jugendadressierter bzw. mehrfachadressierter Roman Die Jungen der Paulstraße erschien drei Jahre nach Ginzkeys Hatschi Bratschi. Die zeitliche Nähe ist deshalb betont, weil auch hier von einem Kinderkollektiv die Rede ist. Zur anhaltenden Rezeption von Molnars Romans ist zu erwähnen, dass er zuletzt 1978 in der Reihe „wiedergefunden“ des Styria-Verlags mit Nachworten von György Sebestién und Hans Weigel neu aufgelegt worden ist. Allein durch diese Neuauflage ist der Klassiker-Status dieses Werkes erkennbar, durch die Wahl des Verlages allerdings auch die gänzliche Abkoppelung der neueren kj-literarischen Szene gegenüber ihren Klassikern. Zu erwähnen ist auch die Verfilmung des Romans mit Mario Adorf in der Hauptrolle (im Roman allerdings nur eine Nebenrolle), der in Österreich 2005 zur Aufführung kam. Molnar gestaltet in seinem Schüler-Roman den Kampf zweier rivalisierender Gruppen um eine unbenutzte Holzlagerstätte am Stadtrand von Budapest, die ihr Spielplatz ist. Der Ort der Handlung ist der Ort von Molnars Heimatstadt bzw. seiner Kindheit. Eine Gruppe von Jungen im Pubertäts- oder Vorpubertätsalter mit sehr unterschiedlichen Charakteren übt sich auf einem Bauplatz im militärischen Spiel. Die vordergründige Ebene der Handlung, in der die Jungen von Vaterland reden und ihren Spielplatz meinen, verweist damit sehr deutlich auf zeitgenössische nationale, politische Spannungen und damit auf mindestens eine Metaebene der Handlung. Im Handlungskonzept ist aber von Anfang an auch noch eine dritte Ebene eröffnet: Der kindlichen Illusion, dass immer alles so bleibe, wie es ist, steht die Macht oder die Autorität des Faktischen gegenüber, der zufolge sich jedes Sosein der Kindheit nicht zuletzt durch materielle Interessen der Erwachsenen-Welt (geschäftlich-spekulative Interessen an dem Areal, der den Kindern als Spielplatz dienst) radikal verändert. Durch den Vaterlandsbezug ist auch noch eine vierte Realitätsebene vorgegeben, die zwar außerhalb der Perspektive der kindlichen Protagonisten liegt, die jedoch in der Sicht des auktorialen Erzählers durchaus angesprochen ist, die Realität der österreichisch-ungarischen Monarchie und ihres Militarismus am Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Kampf der (Kinder- bzw. Jugend-) Gruppen ist im Grunde ein Kampf gegen die Entfremdung durch die Erwachsenenwelt und dergestalt eine in den Plural gesetzte Form einer Ästhetik des Widerstands. Ihre Legitimation ist die moralische Autorität von Kindheit und Jugend, die aber letztendlich vor der Wirklichkeit der nationalen Spannungen kapitulieren muss. KJL – ein kollektivbiographisches Desiderat In dem skizzierten Nacheinander einer Autortypologie mit dem Fokus auf Kindheits- und/oder Jugendadressierungen festigt sich der Eindruck, dass die genannten AutorInnen in ihren Schreibanlässen in einer unausgesprochener gemeinsamer Grundentscheidung stehen. Das wäre weiter nicht überraschend, kann man doch diese Entscheidung darauf reduzieren, dass sie eben einem Trend, einer Mode folgend sich auf ein heranwachsendes Publikaum einlassen – letzthin auch ein womöglich verlagsbedingt kommerzielles Motiv. Solche Einschätzung hat zur Folge, KJL, wie auch heute noch zu vernehmen, schlicht und pauschal als zielgruppenorientierte Trivialliteratur abzuqualifizieren. Es sollte aber erkennbar werden, dass die auffallende Kongruenz von Adressatenentscheidung und Herkunft der AutorInnen, verbunden mit der Durchsetzung als Longseller oder Bestseller oder eben Klassiker nicht als Zufall abgetan werden kann. Der Konnex von peripherer Herkunft als Schreibanlass und literarischem Erfolg, beschränkt sich ja keineswegs nur auf die hier einmal in etwas andern Ansätzen interpretierten Beispiele. Neben den genannten AutorInnen, deren Namen und Werke bis heute präsent sind, wäre eine Fülle von weiteren Beispielen zu nennen, bei denen eben dieser Konnex in gleicher Weise gegeben ist und die zu ihrer Zeit und darüber hinaus, wenn auch nicht anhaltend bis heute weite Verbreitung hatten. Am Rande sei erwähnt, dass der zu seinen Lebzeiten und noch lange danach wohl weitest verbreitete Illustrator der österreichischen Kinderliteratur, Ernst Kutzer (1880-1950), ebenfalls aus Böhmen stammte. Manche weitere Namen böhmisch-mährischer Immigranten wären noch zu nennen, die freilich kaum mehr als Klassiker in Erinnerung sind, wenngleich sie die österreichische Jugendliteratur ihrer Zeit geprägt haben: Leo Smolle (1848-1920), der in Böhmen und Mähren als Schulrat wirkte, und dessen "Prinz Eugen" (1913) ein Beispiel für das damalige patriotische Schrifttum ist, Hans Watzlik (1879-1948), der im Gefolge Stifters der Landschaft des Böhmerwaldes verbunden ist und dessen Märchenbücher nach dem Ende der Monarchie verbreitet waren und der ebenfalls aus Böhmen gebürtige Märchendichter Anton Haubner (1879-1961) wären unter vielen anderen zu nennen. Ergänzend ist auch auf Annelies Umlauf-Lamatsch (1895-1962) zu verweisen, die – in Dresden geboren - die Volksschule teilweise in Przemysl / Böhmen besuchte und dann die Höhere Töchterschule in Sarajewo. Ihre Werke erreichen bis heute in zunehmendem Maße höchste Antiquariatspreise und erscheinen auch mehrfach in Reprints. [DEL: :DEL] Gewiss ist es kein Zufall, dass sich eine ähnliche biographische Hintergrundkonstellation bei einer der bekanntesten österreichischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen der Gegenwart, nämlich bei Mira Lobe abzeichnet. Mira Lobe ist 1913 in Görlitz (Schlesien) geboren, stammte aus einer jüdischen Familie und emigrierte 1936 aus Deutschland nach Palästina. Insu Pu, ihr erster Kinderroman und damit eines der wichtigsten Werke der österreichischen Kinderliteratur der Nachkriegszeit, erschien zuerst 1948 in hebräischer Sprache. Das Theorem einer peripheren Genese könnte also über den Untersuchungszeitraum hinaus Geltung haben. Die folgende Tabelle soll in knappster Form eine Zusammenschau der bisherigen Nennungen und Überlegungen ermöglichen. Von den kj-literarischen Werken sind nur jeweils jene genannt, mit denen die einzelnen Klassiker-Karrieren begonnen haben, bzw. die aus dem weiteren Oeuvre mit KJ-Adressierung herausragen. Die Differenzzahlen in der rechten Spalte geben das jeweilige Lebensalter bei Erscheinen der erstgenannten Werke an. Gegenüber der zeitlichen Reihung nach Geburtsdaten sind in der chronologischen Reihenfolge der genannten Werke nicht unerhebliche Verschiebungen zu verzeichnen, aus denen in groben Zügen ein Entwicklungsgang der KJL-Hauptwerke bis Ende der 1920er-Jahre zu skizzieren ist. 1793 Sealsfield – Poppitz b. Znaim 1841 Das Cajütenbuch 48 1805 Stifter – Oberplan / Böhmen 1853 Bunte Steine 48 1830 Ebner-Eschenbach – Zdislawitz/Mähren 1887 Das Gemeindekind 1907 Buch für die Jugend 57 1843 Rosegger – Alpl / Steiermark 1902 Waldbauernbub 59 1867 Salten – Budapest > Wien > Zürich 1923 Bambi 56 1869 Sonnleitner – Daschitz b. Pardubitz / Böhmen 1907 Bäckerfranzl 1923 Hegerkinder 38 1871 Ginzkey – Pola / Kroatien 1904 Hatschi Bratschi 1928 Florian 33 1878 Molnar – Budapest 1907 Jungen d. Paul-Str. 29 1895 Umlauf-L – Przemyzl / ehem Galizien > Sarajevo > Wien 1920 Wiener Märchen 1925 Pilzmärchen 25 Frühester Wegbereiter einer nachhaltig rezipierten Jugendliteratur ist der als Jugendbuchautor erst später, jedoch sehr nachhaltig rezipierte Charles Sealsfield. Er ist, wie schon bemerkt, nur bedingt, und zwar in den Bearbeitungen seiner Werke, posthum, aber vielleicht eben deswegen umso anhaltender in der Jugendliteratur noch lange Jahre nach 1945 präsent gewesen. Der in einer Metaebene seiner Werke als Generalthema stark spürbare Widerstand gegen bzw. Ausbruch aus der Unterdrückung war offenbar eine latente Motivebene, die in der Jugendliteratur als Widerstand gegen bzw. Ausbruch aus der einengenden Erwachsenenwelt an sich gelesen wurde. Das ursprüngliche Thema des Nationalitäten-Konflikts wurde derart im Generationen-Konflikt aufgehoben Nach ihm sind es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die aus Böhmen und Mähren stammenden Adalbert Stifter und Marie von Ebner Eschenbach, die Kindheit auf eine eindringliche Weise zum Gegenstand literarischer Reflexion machen, wie vor ihnen – allenfalls vergleichbar – Charles Dickens. Der altersmäßig zwischen ihnen stehende Peter Rosegger tritt erst nach der Jahrhundertwende als Jugendschriftsteller hervor und ist in dieser Liste der einzige in den Grenzen der Erblande bzw. des Österreich nach 1918 Geborene. Er ist auch der in der Jugendschriftenbewegung meistumworbene bzw. beworbene österreichische Autor und weist in seinen Erzählungen manche Ähnlichkeiten mit den AutorInnen aus den Kronländern auf, die auf seine ländliche Herkunft zurück zu führen sind – bis hin zum Motiv der Reise in der Waldbauernbub-Episode Als ich das erstemal auf dem Dampfwagen saß. Was ihn mit diesen vergleichbar macht, sind die sozialen und topographischen Erfahrungen, die aus kindlicher Sicht geschildert werden. Vor 1914 sind zwei sehr wesentliche Neuansätze zu verzeichnen: Auf dem Sektor der Kinderliteratur Ginzkeys Bilderbuch Hatschi Bratschi und auf dem der Jugendliteratur Molnars Schüler-Roman, das einzige jugendliterarische Werk des damals 29-jährigen Autors. Ginzkey, der nicht zuletzt an das Reisemotiv anknüpft, ist, später gefolgt von Umlauf-Lamatsch, der erste und lange Zeit einzige Kinderbuchautor, der mit diesem und seinen späteren, heute weniger bekannten Bilderbüchern zu einem populären Klassiker geworden ist, alle anderen Genannten sind als Jugendbuchautoren einzustufen. Ginzkeys Erzählung von der abenteuerlichen Luftreise des kleinen Fritz ins Morgenland ist – der ursprünglichen Intention vielleicht näher – nicht so sehr als Ausflug in einen exotischen Raum zu lesen, sondern vielmehr als Konfrontation mit der realen Präsenz dieser Anderswelt in Wien vor dem Ersten Weltkrieg einschließlich der damit verbundenen Phantasien der Befreiung von zivilisatorischen Zwängen mit unverkennbaren Anleihen an die griechische Mythologie. Nach 1918 entwickelt Alois Sonnleitner eine sehr individuelle Erzähltechnik; vor allem seine Höhlenkinder wurden als Kultur-Robinsonaden bezeichnet. In den Hegerkindern wählt er sehr bewusst die Topographie einer weit abgelegenen Vororte-Landschaft, um auf diese Weise den Blick auf die Moderne zu relativieren. Der um nur zwei Jahre jüngere, als Literat bereits arrivierte Felix Salten schließt sich erst in dieser Zeit dem Jugendbuchschaffen an, das er dann zwischen 1938 und 1945 in seinem Schweizer Exil fortsetzt. Gleichzeitig mit Salten beginnt Annelies egerkindern Umlauf-Lamatsch ihre Kinderbuch-Karriere mit einer bis in die 1950er-Jahre zunehmenden Ausdifferenzierung einer naiv wirkenden aber höchst originellen Erzählweise, mit der sie – ähnlich populär wie Ginzkey – durch eine Vielzahl von Best- und Longsellern den Platz einer der meistgelesenen Kinderbuch-AutorInnen der Nachkriegszeit einräumt. Gerade bei dieser Autorin drängt sich der Begriff der Gegenmoderne als Charakteristikum auf, aber er ist sicher nicht ausreichend, um die Eigenart ihres Erfolges zu begründen. Sowohl bei ihr, als auch bei den anderen AutorInnen, die als immer wieder genannte auch populäre RepräsentantInnen einer seit der Jahrhundertwende entstehenden österreichischen KJL gelten, findet sich als ein Grundmotiv die Erinnerung an eine verlorene Kindheit, wobei der Verlust sehr konkret mit der besonderen historischen Entwicklung Österreichs begründet ist. Kindheitserinnerungen, die in diesem Ensemble von Klassikern thematisiert werden, sind vielfach auch Erinnerungen an eine Welt in präkolonialer Zeit in jenen Ländern, die nach 1918 nicht mehr zu Österreich gehörten. Auch dieser Erklärungsansatz ist jedoch nur bedingt ausreichend, um die Eigenart der österreichischen KJL dieser Jahrzehnte zu begründen und bedarf noch einer Ergänzung: Zu all den genannten Erklärungsansätzen für die lange anhaltenden Rezeption einzelner Werke wurde ausschließlich textbezogen argumentiert. Es darf jedoch nicht hintangestellt oder gar unerwähnt bleiben, dass wir es mit einem Zeitraum zu tun haben, in dem die Illustration von KJL eben in Österreich einen Höhenflug erreicht hat, wie kaum jemals zuvor und danach. Dazu liegt seit 2008 Friedrich C. Hellers opulentes Handbuch „Die bunte Welt“ vor, dessen genaueste und kenntnisreichste Erklärungen zu 1294 österreichischen KJL-Werken dieses Zeitraums mit ausführlichstem lexikalischem- und Register-Teil die andere Seite dieser Literatursparte, die Illustration, erschließt. Hellers unbestreitbar richtige Grundthese, dass das Kinderbuch immer auch zusammen mit seiner Bebilderung betrachtet werden muss, macht die interdisziplinäre Diskussion dieser Thematik unumgänglich. Freilich gibt es aber, wie auch Heller einräumt, eine Fülle von kj-literarischen Werken, die vom Text her nicht eben großes Interesse hervorrufen und zurecht vergessen wurden. Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Beitrag als ein Versuch zu sehen, aus der Vielzahl des Textkorpus unter einem Aspekt, dem einer textorientierten Klassiker-Genese, zu selektieren und ein Ensemble von Werken erkennbar zu machen, das in seiner Verbundenheit mit der allgemeinen literarischen Entwicklung in sehr engem Zusammenhang steht. Vielleicht könnte eine Koppelung der Text- und Bildzugänge in der Interpretation dazu führen, wie in anderen Sprachräumen, vor allem Skandinavien und England bereits gang und gäbe, auch in Österreich von einem Goldenes Zeitalter der Kinderliteratur zu sprechen. ________________________________ [1] Wohlgemerkt wählt Doderer den österreichischen Autor als Jugendschriftsteller. [2] Florians wundersame Reise über die Tapete (1928), Taniwani (1947) und Der Träumerhansl (1952) wären vergleichend und ergänzend mitzubetrachten. [3] Aus dem vom Verf. dankenswert zur Verfügung gestellten unveröffentlichten Gutachten für die Stadtgemeinde Salzburg über „Ginzkeys politisches Verhalten“ aus 1991.