16 Sprechen und Aussprache Solmecke, Gert (2003): Das Hörverstehen und seine Schulung im Fremdsprachenunterricht. In: Der Fremdsprachliche Unterricht: Englisch 64-65, 4-11. Spiegel, Carmen (2006): Heißt Kommunizieren etwa auch Zuhören? In: Roland Wagner/Andrea Brunner/Susanne Voigt-Zimmermann (Hrsg.): Hören - Lesen - Sprechen. München, 153-162. Wolff, Dieter (2002): Fremdspracheniernen als Konstruktion. Grundlagen für eine konstruktivistische Fremdsprachendidaktik. Frankfurt a. M. u. a. Sylwia Adamczak-Krysztofowicz 16 Sprechen und Aussprache Problemaufriss Die systematische Befähigung zum Sprechen der jeweiligen Zielsprache gehört seit etwa einem Jahrhundert zu den zentralen Aufgaben des schulischen Fremdsprachenunterrichts. Historisch betrachtet lässt sich die unterrichtliche Entwicklung, bezogen auf dieses spezielle Lehr- und Lernsegment (und den oben genannten Zeitraum), wie folgt skizzieren: Beginnend mit der prinzipiellen Aufwertung des Mündlichen im neusprachlichen Reformunterricht (Direkte Methode/Vermittelnde Methoden) erstreckt sie sich über die kleinschrittige Gewöhnung an das Sprechen im Sinne des medial gestützten Darbietens, Einschleifens und Anwendens von Sprachstrukturen (Audiolinguale/Audiovisuelle Methode) bis hin zum heutigen Bemühen um ein schülerorientiertes, zunehmend selbstreguliertes kommunikatives Sprechhandeln in realitätsnahen Kontexten bzw. in realen oder virtuellen interkulturellen Begegnungssituationen (Kommunikativer Ansatz/Interkulturelle Handlungsbefähigung) (vgl. Hüllen 2005: 73-156). Konstitutiv für die wissenschaftliche Diskussion um die Bedeutung des Sprechens für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen, die nicht losgelöst von den gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte und den damit verbundenen, in Teilen unterschiedlichen Erwartungen an das mündliche Sprachkönnen betrachtet werden darf, waren und sind bis heute das jeweils zugrunde gelegte Menschenbild sowie das spezifische Verständnis von Sprache und Sprechen, von Lernen und Lehren im Allgemeinen und von Sprachaneignung im Besonderen (vgl. Kurtz 2003). Während in der Vergangenheit eher einseitig verengte, d.h. eher auf die Sprache (langue, competence, language as a System) als auf das Sprechen (parole, Performance, language in use) sowie auf eine bestimmte Vorstellung von sprachlichem Lehren und Lernen fokussierte Theorieansätze dominierten (Instruktion, Transmission), hat sich der Blick auf die Förderung des Sprechens in den letzten Jahren erheblich geweitet (Konstruktion, Transformation). Dabei wird das Sprechen heute nicht lediglich als eine Fertigkeit neben anderen betrachtet, sondern als ein hochkomplexes, mit allen anderen sprachlich-interkulturellen Fähigkeiten, Kenntnissen 83 Ill Skills und Kompetenzen und Fertigkeiten eng verbundenes Phänomen, das sich in seinen wichtigsten Facetten folgendermaßen darstellt: ► als Erzeugung sprachlicher Laute und Lautkomplexe ► als (wichtigste) Form des Ausdrucks von Gedanken, Erfahrungen und Absichten, Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen ► als raum-zeitlich determinierte geistige und körperliche (bzw. körpersprachliche) Tätigkeit ► als Aktivierung von Wissensbeständen bzw. als Output des menschlichen Informationsverarbeitungssystems (Konzeptualisierung, Formulierung, Artikulation) ► als eine Disposition, die sich im zwischenmenschlichen sprachlichen Tun entfaltet und als Sprachkönnen manifestiert ► als Primärmodus des In-Beziehung-Tretens zwischen Menschen ► als zweckgerichtete, symbolisch vermittelte Handlung innerhalb des Gesamtvorgangs der gemeinsamen kommunikativen Bedeutungskonstitution ► als Realisierung von Sprachzügen und Koordinierung von Sprecherwechseln ► als Wechselspiel von sprachlichen Routine- und Stegreifhandlungen, von vorbereiteten und improvisierten Sprechsequenzen, die jedoch an weitgehend habitualisier-te kommunikative Praktiken bzw. verinnerlichte soziokulturelle Skripts gebunden sind ► als eine Gewohnheit, bei der auf sprachliche Formeln und (Diskurs-)Routinen zurückgegriffen wird ► als ein Akt sprechsprachlicher Kreativität im Sinne des generativen Prinzips ► als eine mit dem Hörverstehen und dem Hör-/Sehverstehen eng verknüpfte Fertigkeit, die ontogenetisch dem Schreiben vorausläuft und deren Entwicklung auch im Fremdsprachenunterricht vorrangig ist (Primat des Mündlichen) ► als eine von fünf funktionalen kommunikativen Fertigkeiten (listening, speaking, reading, writing, mediating), die für den Aufbau interkultureller Handlungskompetenz im Fremdsprachenunterricht von zentraler Bedeutung sind ► als Fähigkeit zur monologischen bzw. dialogischen mündlichen Textproduktion (zusammenhängendes Sprechen, an Gesprächen teilnehmen) Noch mangelt es allerdings an einer alle diese Aspekte umfassenden, empirisch hinreichend fundierten fremdsprachendidaktischen Theorie. Es ist überdies nicht hinlänglich geklärt, inwiefern sich Erkenntnisse zur mündlichen Sprachentwicklung in außerschulischen Kontexten mit denen zur Förderung von zielsprachlicher Sprechhandlungsfähigkeit in der Schule in Beziehung setzen lassen. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität werfen weitere wichtige Fragen auf. Stand der Forschung In der internationalen Forschung werden gegenwärtig vor allem zwei theoretische Ansätze verfolgt (vgl. Larsen-Freeman 2007): ► Theorien und Modelle, die das Sprechen und die Entfaltung mündlicher Handlungsfähigkeit aus der intraindividuellen Perspektive kognitionspsychologischer, 84 16 Sprechen und Aussprache psycholinguistischer oder neurobiologischer Forschung betrachten (focus on lan-guage as a mental construct, nature of learning: change in mental state). ► Theorien und Modelle, die das Sprechen und die Entfaltung mündlicher Handlungsfähigkeit aus der intenndividuellen Perspektive soziologischer, ethnografischer, soziokultureller oder pragmalinguistischer Forschung betrachten (focus on language as a social construct, nature of learning: change in social participation). Ob und in welcher Form sich diese Ansätze (einschl. der unterschiedlichen Forschungsmethoden) aufeinander beziehen und miteinander verknüpfen lassen, ist derzeit Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Diskussionen (vgl. Zuengler/Miller 2006, Firth/Wagner 2007). Unterrichtliche Implikationen Hinsichtlich des Sprechens im Fremdsprachenunterricht lässt sich vor diesem Hintergrund unter Einbeziehung praxisnäherer didaktisch-methodischer Erkenntnisse und Erfahrungen (vgl. Vollmer 1998, Kurtz 2001, Doff/Klippel 2007) das Folgende festhalten: ► Sprechen und mündliche Interaktion sind für das Fremdsprachenlernen unabdingbar, vor allem aufgrund der großen Bedeutung des zunehmend eigenständigen Formulierens und Artikulierens für den Grammatikerwerb und das kommunikative Sprachhandeln (vgl. hierzu die aktuelle Fassung der sogenannten Output-Hypothese, Swain 2005). ► Sprechen lässt sich nicht auf das rein Sprachliche reduzieren. Bei der Entwicklung mündlicher Handlungsfähigkeit im Fremdsprachenunterricht geht es von daher um weit mehr als um ein linguistic problem-solving in target language production. Aufgrund des diskursiven Charakters des Sprechens (Sprechen/Zuhören) müssen vielmehr die sprachliche, die inhaltliche und die zwischenmenschliche Dimension mündlicher Kommunikation in Einklang gebracht werden. Unterrichtsmethodisch gilt dabei nach wie vor der Grundsatz message before accuracy (kommunikatives Paradigma). Eine unsystematische Vermengung von sprachformbezogener und mit-teilungsbezogener Kommunikation sollte in diesem Sinne so weit wie möglich vermieden werden, d. h. in mitteilungsbezogenen Unterrichtsphasen ist Fehlertoleranz geboten (zentrales Kriterium: Verständlichkeit der Schüleräußerungen). ► Das Sprechen einer fremden Sprache lässt sich nicht erzwingen. Auch kann es über traditionelle unterrichtliche PPP-Sequenzen (presentation, practice, production) und IRF-Interaktionen (initiation, response, feedback) vom rein reproduktiv-imitativen über das responsiv-reaktive bis hin zum initiativ-kommunikativen Sprechen nicht optimal entwickelt werden. Es bedarf vielmehr einer abwechslungsreicheren, iterativ angelegten Unterrichtsgestaltung ohne Sprechhandlungsdruck, die es den Lernenden ermöglicht, vielfältige, nicht lediglich fremdbestimmte Partizipationserfahrungen zu sammeln - unter Einbeziehung von kontextualisierten (gegebenenfalls auch bilingual angelegten) vorkommunikativen Sprechübungen und aufforderungsstarken Information and opinion gap activities bis hin zu komplexeren 85 Ill Skills und Kompetenzen Spielen, Rollenspielen, Simulationen, Improvisationen, Diskussionen, Projekten u. a. (vgl. Butzkamm 2004, Klippel 2004, Siebold 2004). Dem Konzept der Aufgabenorientierung kommt vor diesem Hintergrund - als Gegenentwurf zur vorwiegend linearen Organisation der Lehr- und Lernprozesse - eine zukunftsweisende Bedeutung zu (vgl. Bausch et al. 2006). ► Eine sorgfältige, vom Hörverstehen (Hördiskriminierungsvermögen) bzw. vom Zuhören unter Aufmerksamkeitsschwerpunkten ausgehende Schulung der Aussprache ist unverzichtbar. Dies gilt insbesondere für den Anfangsunterricht in der Grundschule. Da hier der Grundstein für die gesamte weitere zielsprachliche Entwicklung gelegt wird, bedarf es geeigneter, durchaus auch drillartig angelegter und medial gestützter Übungs- und Spielformcn, insbesondere in denjenigen Bereichen der Aussprache und Intonation, die sich von der Mutter- bzw. der Herkunftssprache der Lernenden unterscheiden. Im weiterführenden und im fortgeschrittenen Unterricht erfolgt die Ausspracheschulung dagegen wesentlich stärker anlassbezogen-integrativ, d. h., sie wird unaufdringlich in das unterrichtliche Geschehen eingebunden. ► Die (nicht nur) für die Ausspracheschulung wichtige Frage, welche fremdsprachliche Norm in den Vordergrund zu stellen ist, wird derzeit intensiv diskutiert. Galt etwa im Englischunterricht vor einigen Jahren noch Received Pronunciation (RP) als der einzige allgemein anerkannte Standard, so werden heute weiter gefasste (sprech-)sprachliche Standards akzeptiert, in der Regel Standardvarietäten des British und des American English. Seit einiger Zeit wird überdies darüber nachgedacht, sich vom Konzept der muttersprachlichen Standards (Modilied Standards) als Zielvorstellung zu lösen und stattdessen Englisch als Weltsprache (Verständlichkeit als oberstes Kriterium) in den Vordergrund zu stellen. Dieser Ansatz ist jedoch keineswegs unumstritten. Fremdsprachenunterrichtlich (Bildungspläne, Lehrwerke, Handlungspraxis) ist er bislang noch von geringer Bedeutung (vgl. Doff/Klippel 2007). Schlussbemerkung Bei aller notwendigen Unterrichtsplanung muss das mündliche Ausdrucksvermögen der Lernenden in der jeweiligen Zielsprache (in Bezug auf Richtigkeit, Flüssigkeit, Komplexität und Angemessenheit) letztendlich im Hier und Jetzt jeder einzelnen Unterrichtsstunde kollektiv, individuell und differenziert entwickelt werden. Hierzu bedarf es einer entspannten Lernatmosphäre, vor allem aber auch hoch qualifizierter Lehrkräfte, die überdies fähig sind, mündliche Leistungen in all ihrer Komplexität zu bewerten (vgl. Luoma 2004, Kurtz 2008, Diehr/Fritsch 2008; -»Art. 47). Literatur Bausch, Karl-Richard/Burwitz-Melzer, Eva/Königs, Frank G./Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2006): Aufgabenorientierung als Aufgabe. Tübingen. 86 17 Lesen und Leseverstehen Butzkamm, Wolfgang (2004): Lust zum Lehren, Lust zum Lernen. Eine neue Methodik für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen. Diehr, Bärbel/Fritsch, Stefanie (2008): Mark their Words. Sprechleistungen im Englischunterricht der Grundschule fördern und beurteilen. Braunschweig. Doff, Sabine/Klippel, Friederike (2007): Englischdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin. Firth, Alan/Wagner, Johannes (2007): Second/Foreign Language Learning as a Social Accomplishment. Elaborations on a Reconceptualized SLA. In: The Modern Language Journal 91, 800-819. Hüllen, Werner (2005): Kleine Geschichte des Fremdsprachenlernens. Berlin. Klippel, Friederike (222004): Keep Talking. Communicative Fluency Activities for Language Teaching. Cambridge. Kurtz, Jürgen (2001): Improvisierendes Sprechen im Fremdsprachenunterricht. Tübingen. Kurtz, Jürgen (2003): Menschenbilder in der Theorie und Praxis des Fremdsprachenunterrichts. Konturen, Funktionen und Konsequenzen für das Lehren und Lernen. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 14/1, 111-121. Kurtz, Jürgen (2008): Sprechhandlungsfähigkeit entwickeln. In: Grundschulmagazin Englisch 3, 6-9. Larsen-Freeman, Diane (2007): Reflecting on the Cognitive-Social Debate in Second Language Acquisition. In: The Modern Language Journal 91, 773-787. Luoma, Sari (2004): Assessing Speaking. Cambridge. Siebold, Jörg (Hrsg.) (2004): Let's Talk. Lehrtechniken. Vom gebundenen zum freien Sprechen. Berlin. Swain, Merrill (2005): The Output Hypothesis. Theory and Research. In: Eli Hinkel (ed.): Handbook on Research in Second Language Teaching and Learning. Mahwah, NJ, 471 -483. Vollmer, Helmut J. (1998): Sprechen und Gesprächsführung. In: Johannes-Peter Timm (Hrsg.): Englisch lernen und lehren. Berlin, 237-249. Zuengler, Jane/Miller, Elizabeth R. (2006): Cognitive and Sociocultural Perspectives. Two Parallel SLA Worlds? In: TESOL Quarterly 1, 35-58. Jürgen Kurtz 17 Lesen und Leseverstehen Das Lesen ist nicht nur eine der Fertigkeiten, die zum Erlernen einer Fremdsprache notwendig sind, sondern eine Basiskompetenz für Lern- und Verstehensprozesse in allen Fächern. Definitionen: Leseverstehen und Lesekompetenz In der Forschung wird ,Leseverstehen' als ein Prozess der Informationsverarbeitung definiert, der sowohl physiologische als auch psychologische Leistungen umfasst und von der Worterkennung zum Textverstehen führt (vgl. Christmann/Groeben 1999). Zur Beschreibung dieses Prozesses hat sich das ,Interaktionsmodell' etabliert (vgl. Hudson 2007: 32 ff.). Es besagt, dass Lesen ein Akt ständiger Bedeutungskonstruktion ist. Dies 87