(ABER BITTE MIT. ) Bitte mit Sahne/Rahm/Schlag: Plurizentrik im Deutschunterricht Was heißt Plurizentrik überhaupt genau? Wo begegnet man ihr und inwiefern betrifft sie den Deutschunterricht? Die deutsche Standardsprache ist in mehreren Ländern und Regionen zu Hause und dadurch ausgesprochen variantenreich. Was auf den ersten Blick vielleicht abschreckt, frustriert und nach mehr Arbeitsaufwand für Lehrende und Lernende riecht, ist in Wirklichkeit wie das Salz in der Suppe: Eine Prise reicht vollkommen, ohne ist sie jedoch fad. Der Beitrag macht deutlich, worum es in diesem Heft geht: Um die standardsprachliche Varianz (also nicht Dialekte!) im deutschsprachigen Raum, den linguistischen Hintergrund und die Sensibilisierung für die Varietäten sowie deren Akzeptanz im Unterricht. Auf Deutsch wortwörtlich „steif geschlagenen Süßrahm" zum Kuchen zu bestellen, ist eher umständlich und auch aufgrund der komplexen Partizipialkonstruktion als aktive Wendung für Deutschlernende sicherlich wenig schmackhaft. Aberbitte mit Sahne... geht einem da leichter über die Lippen und klingt nicht nur bei Udo Jürgens (s. u.) wesentlich cooler und unverfänglicher. Zumindest auf den ersten Blick. Zumindest in Deutschland. Aber die Sahne hat es in sich. Denn für „steif geschlagenen Süßrahm" gibt es keine einheit- 6 Bitte mit Sahne/Rahm/Schlag: Plurizentrik im Deutschunterricht liehe, keine gemeindeutsche Bezeichnung. Will man sich nicht umständlich-umschreibend ausdrücken, sondern die Sache direkt beim Namen nennen, outet man sich unweigerlich: Bestellt jemand nämlich „Sahne", stellt der linguistische Detektiv fest, dass die Person entweder in Deutschland (jedoch nicht im Südosten des Landes) isst oder ■ dass sie aus Deutschland (jedoch nicht aus dem Südosten des Landes) kommt oder • dass sie in Deutschland (jedoch nicht im Südosten des Landes) Deutsch gelernt hat oder • dass sie irgendwo auf der Welt „deutsch-ländisches" (s. Fachlexikon, S. 64) Deutsch gelernt hat. Na und, werden Sie jetzt vielleicht fragen, interessiert das irgendjemanden? Ist das irgendwie relevant? Es ist tatsächlich eher unwesentlich. Es sei denn, es wird Sahne bestellt und • man isst im Südosten Deutschlands, in Österreich oder der Deutschschweiz oder • man kommt aus dem Südosten Deutschlands, aus Österreich oder der Deutschschweiz oder • man hat im Südosten Deutschlands, in Österreich oder der Deutschschweiz Deutsch gelernt oder • man hat irgendwo auf der Welt österreichisches oder Schweizer Standarddeutsch gelernt. Trifft einer dieser Fälle zu (Udo Jürgens ist übrigens gebürtiger Österreicher), horchen Sherlock Holmes & Co. sofort auf und fragen sich: • Weiß dieser Jemand denn nicht, dass es in Süddeutschland, in Österreich oder der Deutschschweiz „Schlagrahm", „Schlag", „Schlagobers" oder „Rahm" heißt (vgl. Abb. 1)? • Will dieser Jemand etwa vertuschen, dass er aus dem Südosten Deutschlands, aus Österreich oder der Deutschschweiz kommt oder dass er da Deutsch gelernt hat? • Denkt dieser Jemand einfach, man würde „Sahne" besser verstehen? • Denkt dieser Jemand gar, „Sahne" wäre korrekteres Deutsch? Auch wenn es innerhalb der deutschen Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt, lohnt es sich durchaus, obigen Fragen nachzugehen. Sie beziehen sich auf die Variationen in der deutschen Standardsprache und thematisieren den muttersprachlichen Umgang mit dieser Realität. Somit sind sie für den Deutschunterricht relevant - vorausgesetzt der Unterricht will die Lernenden auf diese Realität vorbereiten und vermeiden, dass sie sich Sahne ü (ohne Südost) die; -, ohne Plur.: 1. -'Obers A-osl, /Ramm A CH D (ohne nordwest), ' Ninei. CH, 'Schmant D-mitteJoSt -oben schwimmender, fetthaltiger teil der Milch; flüssiger Süßrahm-: Sahne und Eigelbe miteinander verrühren, die Suppe vom Feuer nehmen und damit legieren (Palette 2/1998,49): 'erste Sahne »sehr gut, exzellente Bei meinen Torten muss auch die Deka erste Sahne fein Í Freundin 19/1997, tťiíi); 'saure Sahne: 'Schmant D-mittel >Sauerrahrn<: ... zwei Teller mit dampfender Toma-tensuppe, mit einem kräftigen Klecks saurer Saline in der Mitte ... (liick. Todliche Ostern 23 i. 2. "Schi.au A,^ Schlagobers A-mitte/ost, "Schlacrahm A lohne cwt) CH D-sttd, 'Nidex CH,/Rahm CH, 'Schi au sah ni: D {ohne Südost) 'Steif geschlagener Süßrahm-: Hin Viertel Liter steifgeschlagene Salme mit Erdbeermark aus.Silo Gramm durchgepressten Erdbeeren. 100 Gramm Zucker und sechs Blatt aufgelöster Gelatine vermengen (AZ 19. 6.1998, 26) - In A als fremd emplunden, aber in Fremdenverkehrsgebieten häufig gebraucht. Einige wenige Zus. mit Sahne sind auch in A und CH zunehmend gebräuchlich, obwohl sie als fremd empfunden werden, z.B. Sahnetorte in A und CH und der Produktename ? Sahnesteif in A--Dazu: Kaffeesahne ('Kaffee), -'Sahnebaiser, Sahne-creme ('Creme), Sahnedessert (-*Dessert), /Sahnehäubchen, 'Sahnemeerrettich D, Sahnepudding, * Sahnequark, " Sahnesoße,' Sahnestück D-nord/mit-tel, sahnig Abb. 1: Auszug aus dem Variantenwörterbuch Stichwort „Sahne" Eine plurizentrische Sprache ist eine V Sprache mit mehreren nationalen Zentren 1 und dort kodifizierten, unterschiedlichen 1 Standardvarietäten § irgendwo im deutschsprachigen Raum tieim Kuchenessen womöglich die Zähne ausbeißen. Deutsch ist - wie viele andere Sprachen auch - plurizentrisch Eine plurizentrische Sprache ist eine Sprache mit mehreren nationalen Zentren und dort kodifizierten, unterschiedlichen Standardvarietäten (zur Unterscheidung Varietät und Variante s. Fachlexikon, S. 64). Während im Englischunterricht jedes Schulkind lernt, dass man „lorry", „elevator" und „rub-bish" sagen sowie „colour" und „analyse" schreiben kann, dass aber - besonders in den USA -„van", „lift" und „garbage" bzw. „color" und „analýze" ebenso richtig sind, sind solche Unterschiede im Deutschen (noch) wenig bewusst. Dennoch gibt es sie. Und zum Teil werden sie durchaus reflektiert: „Du darfst und sollst schon .Guetzli' schreiben", korrigiert ein Primarlehrer im Aargau (CH) meine Schwester in der vierten Klasse, die in einem Aufsatz „Plätzchen" schreibt, ganz stolz, dass ihr das „hochdeutsche" (jedoch deutschländische) Wort eingefallen ist. Deutschschweizer Schriftsteller setzen sich mit solchen Variantenfragen ebenfalls auseinander - legendär und viel zitiert (z.B. Loetscher in: Bloch 1971, S. 92) ist Dürrenmatts Morgenessen-Episode. Auch in den Medien benutzt man vor Ort möglichst eigennationale Varianten. Im Vademe-cum der Neuen Zürcher Zeitung (2003, S. 46) Bitte mit Sahne/Rahm/Schlag: Plurizentrik im Deutschunterricht 7 \\ ährciid einer Probe des Stücks Homiilits der Große verlangte der deutsche Schauspieler als römischer Kaiser Romulus textgelmi das ...Morgenesseif'. machte jedoch den anwesenden Autor darauf aufmerksam, duss dies kein deutscher Ausdruck sei. es heiße „FrühstückDürrenmail schrieb die Szene daraufhin folgendermaßen um: ROMI LI 'S: Das Morgenessen. PYRAML 'S: l);,s Frühstück. ROMI LI S: Das Morgenessen. Was in meinem 1 lause klassisches Latein ist. bestimme ich. (Dürrenmatt, Romulus der Große. 17) Aus: Friedrich Dürrenmatt 'Romulus der Große', © 1998 by Diogenes Verlan AG, Zürich nalen Zertifikat Deutsch (ZD) zugrunde liegt? Welches Deutsch soJl man letztlich unterrichten? Und wie? Solche Fragen müssen vor dem linguistischen Hintergrund und im jeweiligen Unter -richtskontext immer wieder neu beantwortet werden: Schließlich spielt es eine Rolle, wen, wo und mit welchem Ziel Sie gerade unterrichten. So ist es ein Unterschied, ob Sie wie Markéta Šubová (S. 49) im tschechischen Brünn unterrichten, wo Wien gerade mal 150 km weit weg ist, oder ob Sie wie Petra Rannestad (S. 24) in Norwegen an einer Schule landen, wo ihre Schützlinge in Deutschland aufgewachsen bzw. sprachlich dahingehend orientiert sind. heißt es etwa: „Wir verwenden die in der Schweiz übliche Form .Helikopter', nicht .Hubschrauber'." Man kann ohne Weiteres eine deutschsprachige Zeitung allein aufgrund linguistischer Kriterien Deutschland, Österreich oder der Schweiz zuordnen. Gleiches gilt für Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen und nicht zuletzt für Muttersprachlerinnen und Muttersprachler selber, auch bzw. gerade wenn diese Standarddeutsch sprechen. Plurizentrisch sind die meisten sprecherreichen Sprachen der Welt, beispielsweise Englisch, Spanisch oder Arabisch. Man kann ohne Weiteres eine deutschsprachige Zeitung allein aufgrund linguistischer Kriterien Deutschland, Österreich oder der Schweiz zuordnen. Im Beitrag „Vom Ägyptisch-Arabischen zum plu-rizentrischen Deutsch" zeigt Susanne Schleif (S. 14), wie sie mit ihren Schülerinnen und Schülern solche muttersprachlichen Ressourcen im Unterricht effektiv genutzt hat. Deutsch unterrichten weltweit -aber welches? Linguistisch unbestritten ist für das Deutsche die Iixistenz verschiedener, standardsprachlicher Varietäten (vgl. Ammon 1995; Clyne 1992, 1995; Polenz 1999). Didaktisch unbestritten ist jedoch auch, dass man all diesen Varietäten und ihren Varianten im Deutschunterricht nur bedingt gerecht werden kann. Welches plurizentrische Wissen brauchen nun Deutschlehrende und -lernende, um im deutschsprachigen Raum zurechtzukommen oder zumindest mit dem pluri-/.entrischen Prinzip, das dem Österreichischen Sprachdiplom Deutsch (ÖSD) und dem trinatio- Linguistisches Hintergrundwissen Folgendes Modell versucht die Vielfalt regionaler Varietäten im deutschsprachigen Raum schematisch zu erfassen: Standard Dialekte nationale Standards nsti nst2 nstq regionale Standards rst, rst2 Regionalsprachen rst. © Baliler, Harald I Spiekermann, Helmut' Dialekt Abb 2: Modell regionaler Varietäten (Baßler/Spiekerman 2001) Das Modell unterscheidet „Dialekte" (d,, d2... dx), die sich durch eine sehr geringe kommunikative Reichweite auszeichnen (vgl. auch Fach-lexikon S. XXX), „Regionalsprachen" (r,, r2... rv) und „standardsprachliche Varietäten". „Regionalsprachen" basieren zwar auf Dialekten, haben Dialektales aber möglichst abgebaut und durch standardsprachliche Annäherungen ersetzt. Die „standardsprachlichen Varietäten" werden weiter unterteilt in „regionale Standardvarietäten" (rstj, rst2 ... rstz) und „nationale Standardvarietäten" (nsti, nst2« nstß). Während die Anzahl von regionalen Standards, Regionalsprachen und Dialekten nach oben offen ist (rst7, ry, dx), werden die nationalen Standards mit Bezug auf Clyne (1995) und Ammon (1995) auf drei begrenzt. Der „Standard" (st) wird in der Darstellung deutlich von den realisierbaren Varietäten getrennt und ihnen als reines Konstrukt gegenübergestellt, das sich in der Realität immer durch eine nationale Standardvarietät ausdrückt. Das Modell verdeutlicht die für viele plurizentrische d2 d3 d4 d5 ds 8 Bitte mit Sahne/Rahm,'Schlag: PSurixentrik im Deutschunterricht Sprachen typische Asymmetrie: Obwohl die nationalen Varietäten des Deutschen grundsätzlich gleichrangig sind, stehen sie in der Praxis in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander. Akzeptanz der asymmetrischen Verhältnisse Aufgrund der Größe, der wirtschaftlichen Stärke und der politischen Bedeutung Deutschlands ist die deutschländische Varietät (nst]) gegenüber dem österreichischen Standarddeutsch und dem Schweizer Hochdeutsch (nst2, nst3) dominant. Das bedeutet zum Beispiel, dass Varianten aus Deutschland (z.B. „Sahne") in der Regel in Österreich und in der Deutschschweiz bekannter sind (vgl. auch entsprechende Angaben im Variantenwörterbuch zu Sahne, s. Abb. 1) als umgekehrt Austriazismen und Helvetismen in Deutschland. Da man auch in Österreich und der Deutschschweiz deutsche Fernsehprogramme empfängt und deutsche Zeitschriften liest, ist man in der Deutschschweiz oder in Österreich in rezeptiver Hinsicht also relativ vertraut mit deutschländi-schen Varianten. Die standardsprachliche Varietät Deutschlands hat dadurch eine größere kommunikative Reichweite, ist also weniger stark regional markiert und wirkt dadurch neutraler. Dies erklärt, warum Übersetzungen ins Deutsche in der Regel Übersetzungen ins deutschländische Deutsch sind, und es erklärt, warum Deutschschweizer und österreichische Autorinnen und Autoren mit Blick auf den gesamten deutschsprachigen Markt häufig deutsche Lektoren haben. Entsprechend ist es natürlich auch für Udo Jürgens wirtschaftlich vorteilhaft, in der deutschländischen Varietät zu singen. Es ist also ein Merkmal dieser Asymmetrie, dass das deutschländische Deutsch nicht zuletzt auch von österreichischer und Schweizer Seite häufig als das korrektere, mit mehr Prestige behaftete und funktional leistungsstärkere eingestuft wird. Die asymmetrischen Verhältnisse gilt es zu akzeptieren: Sie sind für plurizentrische Sprachen nichts Außergewöhnliches und im konkreten Fall von Deutschland weder beabsichtigt noch zu vermeiden (vgl. Polenz 1999, S. 416). Setzt man jedoch die deutsche Standardsprache mit der Standardvarietät Deutschlands gleich, wird damit implizit häufig auch das Deutsch Österreichs und der Deutschschweiz (ausschließlich) für nichtstandardsprachlich gehalten und jeweils als Akzent oder Dialekt abqualifiziert. Österreicherinnen und Deutschschweizer, die in Deutschland oder im nicht- deutschsprachigen Ausland unterwegs sind, können ein Lied davon singen, was es heißt, sprachlich nicht ernst genommen zu werden, etwa, wenn das Gegenüber meint, man spreche mit ihm Dialekt, dies „süß" findet, einen reflexartig nachahmt oder gar nachäfft, meint, so genannte „Fehler" sofort korrigieren zu müssen, einem gar die muttersprachliche Kompetenz abspricht und ins Englische wechselt... Mit der gängigen und alltagssprachlichen Vorstellung, die deutsche Sprache sei „je norddeutscher, desto standardsprachlicher" bzw. „je mehr nach Süden, desto dialektaler", müssen wir erst einmal leben.1 Schlimmer ist jedoch, dass vielfach auch unter Fachleuten ein ähnliches Verständnis anzutreffen ist. In der DaF-Branche tätige Österrei-cher(-innen) und Deutschschweizer(-innen) machen immer wieder die Erfahrungen, „dass sich Unwissen / Welches Deutsch unterrichten wir? \ I Welches Deutsch akzeptieren wir im V Unterricht? 1 und falsche Normvorstellungen bei der Qualifizie-ning der Lehrpersonen bemerkbar machen: Lektorinnen und Lektoren, die nicht aus Norddeutschland stammen, sind offenbar als Lehrkräfte weniger begehrt, weil befürchtet wird, dass sie nicht das .richtige' Deutsch unterrichten." (Chri-sten/Knipf-Komlósi 2002, S. 15; vgl. auch Rans-mayr 2006) Die Frage ist also nicht nur: Welches Deutsch unterrichten wir?, sondern auch: Welches Deutsch akzeptieren wir im Unterricht? Die Antwort auf beide Fragen lautet - hier ist man sich in der Fachwelt einig: Standarddeutsch. Zu berücksichtigen ist hierbei allerdings die Tatsache, dass auch die Standardvarietäten Österreichs und der Deutschschweiz Teil der deutschen Standardsprache sind. Austriazismen, Helvetismen und ... „Teutonismen?" wird der einen Leserin oder den anderen Leser jetzt durch den Kopf gehen. „Ist man sich der Konnotationen nicht bewusst?" Doch. Jedoch ist „Germanismus" schon anderweitig besetzt und scheidet als Kandidat für die Bezeichnung der nationalen Variante Deutschlands aus. Teutonismus ist analog zu Austriazismus (der nationalen Variante Österreichs) und Helvetismus (der nationalen Varianten der Schweiz) gebildet, als Terminus leicht in andere Sprachen zu übertragen und dadurch Bitte mit Sahne'Rahm/Schlag: Plurizentrik im Deutschunterricht 9 international praktikabel. Die alternative Bezeichnung Deutschlandismus ist zwar konn'ota-tiv weniger bedenklich jedoch terminologisch unbefriedigend (vgl. hierzu auch Polenz 1999, s. 422). Wichtiger als die Bezeichnung ist das Bezeichnete :, selber. Gemeint ist die Unterscheidung zwischen ;n (gemeindeutschen) Konstanten, also sprachlichen Einheiten, die im gesamten deutschsprachigen : Kaum gleichermaßen gelten, und Varianten, die nur innerhalb Deutschlands üblich sind. Beispiele 1- lürTeutonismen sind: „Azubi" (Lehrling), „Tacker" r, (Hefter) oder „in trockenen Tüchern sein" (endlich zufriedenstellend abgeschlossen, erledigt il sein). Systematisch erfasst werden solche deutschländischen Varianten zusammen mit i- österreichischen und schweizerischen zum ersten Mal im Variantenwörterbuch des Deutschen. Die en Unterscheidung von gemeindeutschen Konstan-n ten und die Kennzeichnung auch deutschländi-scher Varianten machen nämlich deutlich, dass \ solche Varianten in der deutschen Sprache völlig I normal sind, dass das deutschländische Deutsch also auch eine (wenn auch die dominante) Varietät ist und dass es sich bei Austriazismen und Hel-vetismen entsprechend gar nicht um „Besonderheiten" handelt. Nationale Varianten sind per definitionem äf- standardsprachlich und finden sich nicht aus-ie schließlich im Bereich des Wortschatzes, doch fal-i- len Nichtlinguisten unter anderem solche lexikali-, sehen Varianten am meisten auf. Nationale Varianten finden sich auf allen sprachlichen Ebe-i nen, d.h. es gibt Aussprachevarianten genauso ch wie orthografische, grammatische, lexikalische, idiomatische und pragmatische Varianten. Je h- nachdem, ob die Varianten ausschließlich in einem oder in mehreren Zentren gelten, spricht man von spezifischen oder unspezifischen Varianten (z.B. bei „Marille'VA vs. „Aprikose"/ CH, D). Nationale und regionale Varianz Das Modell von Baßler/Spiekermann (s. S. 7) veranschaulicht nicht zuletzt die fließenden Übergänge zwischen den verschiedenen Varietäten. Nicht immer kann eine Variante eindeutig (nur) einer Varietät zugeordnet werden, nicht immer ist eine Variante eindeutig als standardsprachlich oder nichtstandardsprachlich einzustufen (hier spielt der Kontext eine ganz wichtige Rolle), und last nie ist eine Variante nur einem der deutschsprachigen Länder zuzuordnen oder gilt im gesamten jeweiligen Land. Tatsächlich sind die Verhältnisse sehr komplex. Dies zeigt sich u.a. im DANEMARK NIEDER- ,J LANDE J BELGIEN M DEUTSCHLAND 1 LUXEMBURG^ y TSCHECHIEN FRANKREICH / ajEOHT Y\ . -v-'-^ r^-J / S_ _OSTERREICH / ;?c»^p^~^~^X UNG 1 ITALIEN J ir-f SCHWEIZ Nationale Amtssprache Regional« Amtssprache Abb. 3: Karte: Deutsch als staatliche Amtssprache Variantenwörterbuch (2004), wo einerseits viele Lemmata als Grenzfall des Standards aufgenommen sind und andererseits bei den gleichen Lemmata gleichzeitig verschiedene Nationen oder Regionen angeführt werden. Der im Internet zugängliche Atlas der deutschen Alltagssprache (AdA) veranschaulicht dies auf Karten, die angeben, wo welche Variante im deutschsprachigen Raum de facto gebräuchlich ist: Stephan Eispaß stellt das Projekt in seinem Beitrag vor und diskutiert vor diesem Hintergrund das pluri-zentrische Modell sowie didaktische Konsequenzen (S. 31). Zu einem beträchtlichen Teil beruhen die unterschiede innerhalb der deutschen Standardsprache auf der ursprünglichen Vielfalt der Dialekte, aus denen einzelne Formen ins Standarddeutsche übergingen. Abb. 4: Karte: Dialektregionen 10 Bitte mit Sahne/Rahm/Schlag: Plurizentrik im Deutschunterricht Dies führt einerseits zu Abgrenzungsschwierigkeiten /wischen standardsprachlichen und nichtstandardsprachlichen Varianten. Andererseits kann eine auf den gleichen Dialekt zurückgehende, identische Form auf der einen Seite der Staatsgrenze Standarddeutsch sein, wohingegen auf der anderen Seite der Grenze ihr Standardcharakter zumindest angezweifelt werden kann. Identische Formen mit unterschiedlichem Status -je nach dem auf welcher Seite der Grenze eine Variante auftaucht - heißt aber auch, dass beispielsweise in Deutschland u. U. mehrere Varianten als standardsprachlich akzeptiert werden können. So ist im süddeutschen Raum sowohl „ich bin gestanden" als auch „ich habe gestanden" korrekt, während in Österreich letzteres in Aufsätzen durchaus als falsch angestrichen werden kann. Dieser sprachlichen Komplexität ist in Lehrwerken schwer gerecht zu werden. Einen Einblick in entsprechende Überlegungen und Lösungsvorschläge mit Beispielen geben Monika Clalüna, Roland Fischer und Ursula Hirschfeld, Autoren des Lehrwerks Dimensionen im Beitrag Alles unter einem D-A-CH-L? Oder: Wie viel Plurizentrik verträgt ein Lehrwerk? (S. 37) Sinnvoll ist sicherlich auch der Anspruch, den Petra Ranne-stad in ihrem Beitrag deutlich macht, in Lehrmaterialien die Varietäten möglichst mit eindeutigen Beispielen zu erfassen und darauf zu verzichten, mit offensichtlichen Dialektwörtern oder ausschließlich kulinarischen Bezeichnungen das Charakteristische z.B. des österreichischen Standarddeutsch darstellen zu wollen CS. 26). Hier knüpft der Beitrag Die Plurizentrik 10. Die deutsche Standardsprache ist ein abstraktes Konstrukt. Konkret realisiert ist die deutsche Standardsprache plurizentrisch, d.h. es gibt mehrere Standardvarietäten, nämlich deutschländisches, österreichisches und Schweizer Standarddeutsch. Schweizer Standarddeutsch ist nicht identisch mit dem Schwyzerdütschen, den in der Deutschschweiz unabhängig von Gesprächsinhalt und sozialer Schichtung gesprochenen Dialekten. Die nationalen Varietäten unterscheiden sich durch die nationalen Varianten. Das sind Austriazismen, Helvetismen und Teutonismen (Deutschlandismen). Nationale Varianten finden sich auf allen sprachlichen Ebenen (d.h. Aussprache, Orthographie, Morphologie, Wortschatz, Syntax, Pragmatik). Nationale Varianten sind per definitionem standardsprachlich. Bei aller Varianz überwiegen gemeindeutsche Konstanten. Die Standardsprache Deutschlands ist auch eine nationale Varietät, wenn auch durch die asymmetrischen Verhältnisse die dominante. Das heißt unter anderem: Teutonismen werden wegen der geografischen Größe und der wirtschaftlichen und politischen Stärke Deutschlands in Österreich und der Deutschschweiz eher verstanden als Austriazismen und Helvetismen in Deutschland. Grundsätzlich sind jedoch nationale Varietäten und ihre Varianten gleichwertig. Nationale Varianten gehen jedoch nicht ausschließlich auf Dialekte oder Kontakt-sprachen zurück, sondern stammen häufig aus dem Staatswesen bzw. aus staatlich \ verwalteten Institutionen auf den Punkt gebracht: Eine Wegleitung nicht nur für i-Tüpferl-Reitervon Sara Hägi an, der die Umsetzung des plurizentrischen Ansatzes in Unterrichtsmaterialien anhand eines Beispiels reflektiert (S. 46). Teilweise stammen die Varianten aus geografisch und/oder historisch bedingten Kontaktsprachen (z. B. der Helvetismus „Velo" aus französisch vélo(cipěde), oder der Austriazismus „Marille" aus italienisch armellino-vgl. Variantenwörterbuch, 2004). Gerade solche so genannten „Kontaktzentrismen" (vgl. Hägi 2006, S. 60f.) sind landeskundlich interessant und können im Deutschunterricht anregend aufgegriffen werden, wie u. a. der Beitrag von Markéta Šubová (S. 35) am Beispiel von Gemeinsamkeiten im Tschechischen und im österreichischen Deutsch zeigt. Nationale Varianten gehen jedoch nicht ausschließlich auf Dialekte oder Kontaktsprachen zurück, sondern stammen häufig aus dem Staatswesen bzw. aus staatlich verwalteten Institutionen (vgl. die Teutonismen „Abgeordnetenhaus", „Abitur" oder „Angelschein"). Die Tatsache, dass die Hauptagenturen der drei nationalen Vollzentren2 Berichte aus den anderen deutschsprachigen Ländern auch sprachlich bearbeiten (vgl. Ammon 1995, S. 464ff.), dass es beim Schweizer Radio DRS in den 80er Jahren Kündigungsdrohungen gegen Sprecherinnen und Sprecher gab, die kein spezifisches Schweizer Hochdeutsch sprachen (vgl. ebd., S. 304) sowie die sprachlichen Begleitumstände des österreichischen EU-Beitritts (mehr hierzu auf S. 26 im Beitrag von Petra Rannestad) verdeutlichen nicht zuletzt die politische Relevanz nationaler Varietäten. Neben dem Duden gelten in Österreich und der Deutschschweiz auch andere Sprachkodizes So ist beispielsweise das die nationale Varietät Österreichs maßgeblich stützende Österreichische Wörterbuch in den staatlichen Schulen Österreichs verbindlich. Deshalb gibt es durchaus und gerade in Bezug auf die Standardsprache auch Sprachgrenzen, die mit den nationaler Grenzen korrelieren: „Jänner" steht im entsprechenden Monat im Datum einer österreichische! Zeitung, ist in Österreich also (anders als in Deutschland und der Schweiz) standardsprach- Bitte mit Sahne/Rahm/Schlag: Plurizentrik im Deutschunterricht 11 lieh. Gleichermaßen kann man - analog zu „in" + „dem" = „im" - in Österreich auch „auf" + „dem" au „am" zusammenziehen und entsprechend „viel Geld am Konto" haben, während dies in 1 )eutschland und der Schweiz grammatisch unzulässig ist. (n der Schweiz wiederum ist eine .,Parkbusse" eine Geldstrafe und wird trotz „ss" (statt „ß") mit langem „u" gesprochen. „Und wie soll ich mir das alles merken und was heißt das für meinen Unterricht?", werden Sie sich nun vielleicht fragen. Gder anders: v»=:€ % iel Varietätenkenntnis brauchen Deutsch-Lehrende und Lernende tatsächlich? Um Lehr- und Lernziele eines plurizentrisch adäquaten Unterrichts benennen und erreichen zu können, braucht es in erster Linie eine entsprechende Grundausrüstung. Hierzu gehören • das plurizentrische Basiswissen (siehe Kasten), • die nötige Terminologie (s. Fachlexikon S. 64) sowie entsprechende Sicherheit in ihrer Anwendung und • ein paar einschlägige Beispiele als „Beweismaterial", die jederzeit der Illustration und Erhellung der Sachlage dienen können. Die Wege, die Sie in Ihrem Unterricht beschreiten, sind je nach Lernort und Zielgruppe ganz unterschiedlich und erfordern von Ihnen eine entsprechende Flexibilität. Aber keine Angst, das bedeutet nicht unbedingt, noch mehr können und wissen zu müssen, im Gegenteil: Lücken sind legitim Keine Deutschmuttersprachlerin und auch kein D-A-CH-DaF-Profi ist in sämtlichen standardsprachlichen Varietäten gleichermaßen kompetent. Das ist auch durchaus in Ordnung, solange man um dieses Nichtwissen weiß und es sich und anderen auch ein- und zugesteht. Deutsch-Muttersprachler verwenden unbewusst viele eigennationale Varianten. Gerade Deutsche (vgl. hierzu den Beitrag von Dagmar Giersberg „Hilfe, auch ich spreche anders!" S. 22) haben in der Regel keine Vorstellung von Teuto-nismen. (Wie denn auch? Im Duden beispielsweise werden sie nicht markiert, sondern fallen mit den gemeindeutschen Konstanten zusammen.) Aber auch Österreicherinnen und 1 )eutschschweizer verwenden manchen Austria-zismus bzw. Helvetismus, ohne darum zu wissen. Im Austausch mit Muttersprachlern anderer Varietäten werden einem nicht nur fremdnatio- nale, sondern auch eigennationale Varianten immer bewusster. Dies illustriert u. a. der Beitrag „Der Riese und die Erdbeerkonfitüre": Ein Didak-tisierungsuorschlag (S. 24). Aufbau einer rezeptiven Varietätenkompetenz Generell sprechen und schreiben wir nur ein ganz bescheidenes Deutsch gegenüber der sprachlichen Vielfalt, die wir verstehen. Das gilt sowohl für Schreibstile unterschiedlicher Epochen und Genres als auch für den individuellen Sprachgebrauch einzelner Sprecher. Entsprechend logisch ist die Forderung für den plurizen-trischen DaF-Unterricht, sich bei der Sprachproduktion an einem Standard zu orientieren. Bei diesem einen Standard kann es sich, abhängig vom Lernort und von konkreten Lernzielen, selbstverständlich um jede der drei nationalen Varietäten handeln. Für eine maximale kommunikative Reichweite ist es bei den rezeptiven Fertigkeiten angebracht, bereits in einem relativ frühen Stadium eine möglichst breite Varietätenkompetenz zu vermitteln. In der Regel ist genau dies gemeint, wenn von einem plurizentrischen Konzept die Rede ist, wie etwa im Österreichischen Sprachdiplom Deutsch, im Zertifikat Deutsch oder im Curriculum der Österreich Institute (http://www.oesterreichinstitut.at/curric.html). Damit verbunden ist das Ziel, eine grundsätzliche Wahrnehmungstoleranz bei den Lernenden aufzubauen (Studer 2002). So betonen auch die Autoren von Profile Deutsch (2002, S. 24), „dass die Toleranz zusammen mit dem Verstehen von Varietäten im Fremdsprachenunterricht einen zentralen Stellenwert einnimmt". Diese Wahrnehmungstoleranz fängt bei der Standardsprache an und ist die Voraussetzung für den Umgang mit authentischem Sprachmaterial. Der Aufbau einer rezeptiven Varietätenkompetenz ist für eine adäquate Umsetzung des plurizentrischen Ansatzes ganz zentral und steht im Mittelpunkt der verschiedenen Beiträge. Nachschlagen und Nachfragen „Sind .Fisolen' Bohnen?", erkundigt sich eine ehemalige Studentin bei ihrem Germanistikprofessor in Wien verzweifelt. „Meine Schüler möchten das bis morgen wissen ..." Die Frau ist Deutsche, unterrichtet an einem tschechischen Gymnasium und macht genau das Richtige: Sie nimmt die Frage ihrer (auch mit der österreichischen Varietät konfrontierten) Schüler ernst, 12 Bitte mit Sahne/Rahm/Schlag: Plurizertttik im Deutschunterricht erkennt ihre eigenen Kenntnisgrenzen an und fragt eine Fachperson um Rat. (Unterdessen hilft auch das Variantenwörterbuch (2004) hei solchen Fragen.) In Sachen Varietäten ist die Kooperation unter Fachleuten mit Blick auf die legitimen wie unvermeidlichen Lücken (s.o.) unerlässlich. Dies gilt für die Erstellung eines Variantenwörterbuchs genauso wie für DaF-Lehrmittel, die sich auf den gesamten deutschsprachigen Raum beziehen. Auch für ein Lehrerteam gilt: Je mehr Lehrpersonen aus verschiedenen deutschsprachigen Ländern, desto (varietäten)reicher der Unterricht. Vorsicht vor falschen Beispielen, irreführenden Pauschalisierungen und Klischees Man findet sie in gängigen Unterrichtsmaterialien auf Schritt und Tritt - hier die Verwendung von „Variante" anstatt „Varietät" (s. Fachlexikon S. 64), da ein nichtstandardsprachliches Beispiel zur Illustrierung standardsprachlicher Varietäten (ausführlicher hierzu Hägi 2006). Genauso werden gerne Schweizer Hochdeutsch und Schwyzerdütsch miteinander verwechselt (siehe „Des Schweizers Deutsch" S. 23 und Fachlexikon S. 64) oder Österreichern dann doch wieder pauschal unterstellt, sie sprächen halt leider kein so richtig gutes Deutsch ... Seien Sie auf der Hut vor unbedachter mono-zentrischer Sichtweise (s. Fachlexikon S. 64) und entsprechenden Fettnäpfchen. (Ihre „D-A-CH-Knigge-Festigkeit" können Sie übrigens auf S. 55 im Quiz von Sara Hägi und Nadja Zuzok überprüfen.) Wenn Sie allerdings das plurizentrische Basiswissen verinnerlicht haben, kann Ihnen so schnell kein Fauxpas passieren. Didaktische Prinzipien sowie plurizentrische Lehr- und Lernziele Die Auseinandersetzung mit den Varietäten und die Frage nach einer adäquaten Umsetzung im Deutschunterricht machen deutlich, dass es hier weder Pauschalwissen noch Pauschalantworten geben kann. Dem plurizentrischen Unterricht liegen vielmehr Prinzipien zugrunde, nämlich: • das rezeptionsorientierte Prinzip, • das exemplarische Prinzip, • das lernerorientierte Prinzip sowie • das prozessorientierte Prinzip. Bei den Lehr- und Lernzielen für einen plurizen-trisch adäquaten Deutschunterricht handelt es sich um die Vermittlung eines linguistischen Basiswissens, aber auch um die Entwicklung von Fähigkeiten, mit der sprachlichen Reaiität im deutschsprachigen Raum zurechtzukommen -und nicht zuletzt um eine Haltung, die es ermöglicht, vorurteilsfrei, tolerant und offen mit den Sprechern dieser Varietäten umzugehen. Für den Unterricht ist: in erster Linie also immer wieder die Sensibilisierung für die Varietäten relevant. Und genau diese ist ein Hauptanliegen dieser Ausgabe von Fremdsprache Deutsch. Die Beiträge zeigen, was und wie diesbezüglich didaktisch umgesetzt wird, etwa der oben beschriebene Aufbau einer rezeptiven Wahrnehmungstoleranz, die Auseinandersetzung auch mit der Muttersprache, der Einsatz geeigneter Nachschlagewerke und möglichst vielerlei authentischer Materialien sowie die Zusammenarbeit von Lehrkräften aus dem gesamt-deutschsprachigen Raum. Es ist kein Zufall, dass viele Autorinnen und Autoren des vorliegenden Hefts, etwa Jana Ratajova (S. 20) oder Stephanie von Gemmingen (S. 22), immer auch von persönlichen Erlebnissen im Umgang mit Varietäten berichten: Die Plurizentrik hat etwas mit Austausch zu tun, mit dem direkten Kontakt und Umgang mit Muttersprachlern, mit Erfahrungen, die jeder macht. Es ist bezeichnend, dass sich in den Beiträgen auch einiges wiederholt, da einfach regelmäßig ähnliche Erfahrungen gemacht werden, man immer wieder auf gleiche Varianten stößt. Dieses Heft möchte die Leserschaft mit dieser Normalität und dem Bewusstsein dafür vertraut machen. Und zu guter Letzt: Schibboleth-Effekt sogar bei Udo Jürgens? Sie treffen sich täglich um Viertel nach drei, ohoho, (oh yeah!) am Stammtisch im Eck, in der Konditorei, ohoho, (oh yeah!) und blasen zum Sturm auf das Kuchenbuffet, auf Schwarzwälder Kirsch und auf Sahne-Baisers, auf Früchteeis, Ananas, Kirsch und Banane, ABER BITTE MIT SAHNE! (Aber bitte mit Sahne) Sie schwatzen und schmatzen, dann holen sie sich, ohoho, (oh yeah!) noch Buttercremetorte und Bienenstich, ohoho, (oh yeah!) Sie pusten und prusten, fast geht nichts mehr rein, nur ein Mohrenkopf höchstens, denn Ordnung muss sein bei Mathilde, Ottilie, Marie und Liliane, ABER BITTE MIT SAHNE! (Aber bitte mit Sahne!) Und das Ende vom Lied hat wohl jeder geahnt, ohoho, (oh yeah!) der Tod hat reihum sie dort abgesahnt, ohoho, (oh yeah!) Die Hinterbliebenen fanden vor Schmerz keine Worte; mit Sacher- und Linzer- und Marzipantorte hielt als letzte Liliane getreu noch zur Fahne, ABER BITTE MIT SAHNE! (Aber bitte mit Sahne!) Bitte mit Sahne/Rahm/Schlag: Plurizentrik im Deutschunterricht 13 I incb auch mit Liliane war es schließlich vorbei, ohobo, (oh yeah!) sie kippte vom Stuhl in der Konditorei, ohoho, (oh yeah!) Aul dem Sarg gab's statt Kränzen verzuckerte Torten, und der Pfarrer begrub sie mit rührenden Worten: Dass der Herrgott den Weg in den Himmel ihr bahne, ABER BITTE MIT SAHNE! (Aber bitte mit Sahne!) Noch ein Tässchen Kaffee? (Aber bitte mit Sahne!) Noch ein kleines Baiser? (Aber bitte mit Sahne!) (gesprochen:) Oder soll's vielleicht doch'n Keks sein? 'Aber bitte mit Sahne!) Ab« bitte mit Sahne © Musik: Udo Jürgens, Text: Eckart Hacnteld. Vertag: montana, Aran Nationale und regionale Varianten können aufgrund ihrer Funktionen und Wirkungen stilistisch ganz unterschiedlich eingesetzt und wahrgenommen werden. Es gibt beispielsweise Varianten, die bewusst eingesetzt werden, um die nationale Zugehörigkeit zur Eigenvarietät zu markieren. Da man sich in Deutschland - im Gegensatz zu Österreich und der Deutschschweiz - einer eigenen nationalen Varietät nicht bewusst ist, handelt es sich bei solchen Varianten in der Regel um Austriazismen und Helvetismen. Sie können etwa in der Werbung (man denke an den Ricola-Slogan: „Wer hat's erfunden?") oder in der Tourismusbranche („Servus Österreich!") erwünscht sein. Ein Schibboleth3 hingegen ist sozusagen das Gegenteil: An einer unbewusst verwendeten Variante erkennen andere - nicht die Angehörigen der betreffenden Varietät selber - die nationale Zugehörigkeit eines Sprechers oder Schreibers. Solche Finessen der deutschen Sprache immer mehr herauszuhören oder mit ihnen zu spielen, ist sicherlich reizvoll. Einseitig betrieben oder gar übertrieben werden sollte es nicht: Empirisch belegt ist bisher wenig und entsprechend groß die Gefahr, zu pauschalisieren und in Klischees zu verfallen. Nichtsdestotrotz ist es natürlich spannend, solchen echten, bislang tinbeantworteten Fragen nachzugehen: Könnte es zum Beispiel sein, dass sich Udo Jürgens mit seinem makabren Aber bitte mit Sahne-Text nicht doch sprachlich ein bisschen als Österreicher outet, auch wenn dies kaum an Wortwahl oder Aussprache festzumachen ist?4 Ziel solcher Fragen kann und soll es nicht sein, sprachlich nun alles und jedes ausschließlich an den (nationalen) Varietäten aufzuhängen. Entsprechende Varianten aber als Anlass zu nehmen, sich tiefer mit einem Text auseinanderzusetzen, genauer hinzuschauen bzw. hinzuhören und sie als Anlass zu nehmen, sich einfach über den Reichtum der deutschen Sprache und an neuen Entdeckungen zu freuen - das lohnt allemal. Literatur Ammon, Ulrich: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationa len Varietäten. Berlin/New York: de Gruyter 1995 liaßler, Harald / Spiekermann, Helmut: Dialekt und Standardsprache im DaF-Unterricht. Wie Schüler urteilen -wie Lehrer urteilen. In: Linguistik online 9, 2/0! http://linguistik-online.de/9_01 /BasslerSpieker-mann.html Bloch, Peter André (Hg.): Der Schriftsteller und sein Verhältnis zur Sprache: dargestellt am Beispiel der Tempuswahl. Bern/München: Francké 1971 Christen, Helen / Knipf-Komlósi, Elisabeth: Falle, Klinke oder Schnalle? Falle, Klinke und Schnalle! - Informationen, Meinungen, Forderungen aus der Sektion „Deutsch als plurizentrische Sprache". In: Schneider. Günther / Clalüna, Monika (Hgg.): Mehrsprachigkeit und Deutschunterricht. Thesen, Beiträge und Berichte aus der Sektionsarbeit an der XII. Internationalen Tagung der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer IDT-2001 in Luzern. Bulletin vals-asla. Sonderheft 2002,13-19 Clyne, Michael (Hg.): Pluricentric languages. Differing norms in different nations. Berlin/New York: de Gruyter 1992 Clyne, Michael: The German language in a changing Europe. Cambridge: University Press 1995 Dürrenmatt, Friedrich: Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische Komödie in vier Akten. Neufassung. Zürich: Diogenes 1980 Hägi, Sara: Die nationalen Varietäten im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Frankfurt/M: Peter Lang 2006 Polenz, Peter von: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band III. 19. und 20. Jahrhundert. Berlin/New York: de Gruyter 1999 Ransmayr, Jutta: Der Status des Österreichischen Deutsch an deutschsprachigen Universitäten. Eine empirische Untersuchung. Frankfurt/M u. a.: Peter Lang 2006 Studer, Thomas: Dialekte im DaF-Unterricht? Ja, aber... Konturen eines Konzepts für den Aufbau einer rezeptiven Varietätenkompetenz. In: Linguistik online 10, 1/2 http://linguistik-online.de/10_02/Studer.html [Vademecuml Sprachlich-technisches Vademecum der „Neuen Zürcher Zeitung". 5. Ausgabe. Zürich: NZZ 2003 [Yariantenwörterbuch] Ammon, Ulrich/Bickel, Hans/Ebner, fakob et al.: Variantenwörterbuch des Deutschen. Die deutsche Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin u.a.: de Gruyter 2004 Anmerkungen 1 Ausdrücklich soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Norddeutschen ihre Varietät zugunsten der Standardsprache aufgegeben hatten und die Standardsprache aus den oberdeutschen Dialekten, nicht etwa aus dem, was wir heute Niederdeutsch nennen, entstanden ist. Es wäre also nicht nur ahistorisch, sondern auch ungerecht, wenn ihnen das Beherrschen dieser ehemaligen Fremdsprache zum Vorwurf gemacht werden würde. 2 Gemeint sind hier die Austria Presse Agentur (APA, Wien), die Deutsche Presse-Agentur (dpa, Hamburg) und die Schweizerische Depeschenagentur (sda, Bern). 3 Der soziolinguistische Terminus Schibboleth geht auf das Alte Testament (Richter 12, 5-6) zurück, wo besiegte ephraimitische Flüchtlinge ihre Herkunft leugnen, jedoch an ihrer Aussprache „Sibboleth" anstelle von „Schibboleth" (hebräisch „Strom, Ähre") erkannt, überführt und getötet werden. 4 Der Reim Kaffee auf Baiser am Endes des Liedes funktioniert jedoch nur, wenn Kaffee - wie in Österreich - auf der zweiten Silbe betont wird (in Deutschland wird hingegen, außer im Südosten, Kaffee meist auf der ersten Silbe betont, vgl. Variantenwörterbuch 2004).