Babylonia 3/0441 www.babylonia-ti.ch Tema Lehrwerkanalyse – noch aktuell? Die Lehrwerkanalyse als Forschungsfeld der Fremdsprachendidaktik entstand Anfang der 70 Jahre mit dem Entstehen der wissenschaftlichen Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Ende der 70er Jahre wurden in dem Großprojekt „Mannheimer Gutachten“ die damals auf dem Markt befindlichen Lehrwerke untersucht und mehr oder weniger als defizitär eingestuft. In den 80er Jahren wurden die Kriterien des inzwischen aufgelösten Sprachverbandes Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e.V. zur Richtschnur der Zulassung von Fremdsprachenlehrwerken für die Kurse mit Arbeitsmigranten. Das Thema war eines der beliebtesten in Fortbildungsveranstaltungen für Lehr- personal. Mit dem Ende der fachdidaktischen Grundsatzdebatten und Richtungsstreits um die kommunikative Fremdsprachendidaktik ist es um das in den 80ern und frühen 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch intensiv diskutierte Thema still geworden. Die letzte Monographie zur Lehrwerkanalyse stammt immerhin aus dem Jahr 1996. Es scheint, als habe sich die Debatte eher in die Schulen und Kollegien verlagert. Verlage sprechen von der berüchtigten Daumenprobe, der Bewertung und Beschaffung von Lehrmaterialien nach dem ersten Eindruck, „aus dem Bauch heraus“. Die tatsächliche oder subjektiv empfundene Qualität eines Lehrwerks ist oft nicht einmal der wesentlichste Grund für die Einführung oder Ablehnung eines Werkes. Eine griechische Lehrerin berichtet beispielsweise aus ihrer Schule, man sei sich eigentlich bei der Beurteilung der Qualität eines Jugendlichenlehrwerkes einig gewesen und habe die Beschaffung beschlossen, Qualitätsmerkmale von Lehrwerken prüfen – ein Verfahrensvorschlag der Verlag eines Konkurrenzwerkes habe aber die Schule darauf hin derart üppig mit kostenlosen Exemplaren eingedeckt, dass man sich dann auf dessen Werk geeinigt habe. Preis und Marketing sind zweifellos nicht nur in Zeiten knappster Bildungsetats und Kostenvorgaben von Kursträgern wesentliche Argumente für oder gegen ein Lehrwerk. Internationale und überregionale Sprachkursanbieter wie etwa Inlingua, Berlitz oder die Migros Klubschulen verkaufen ihre Lehrmittel mit dem Kurs und entziehen sie damit de factosowohl der individuellen Disposition von Lehrenden und Lernenden als auch der fachwissenschaftlich-öffentlichen Qualitätskontrolle. Gleiches gilt für die Sprachlehrangebote von Fernuniversitäten. Auch ein weiteres Argument scheint zunächst die Lehrwerkanalyse überflüssig zu machen. Die meisten Lehrwerke der deutschen Verlage haben sich auf den ersten Blick auf eine nie gekannte Weise angeglichen. So gut wie alle haben inzwischen die Bedeutung der Phonetik entdeckt und den Wert von grammatischen Übersichten im Lehrwerk. Fast alle kleben inzwischen CDs ins Buch und bieten Internetseiten an. Alle beziehen sich explizit auf die Niveaustufen des Europarats. Fast alle verwenden bevorzugt die gleichen Übungsformen und bestellen ihre Bilder bei den gleichen Agenturen. Die Designer der Agenturen folgen den gleichen Farb-, Foto-, und Titeltrends: Junge, dynamische, fröhliche Menschen unterschiedlicher Herkunft – eine triste, schlecht ausgeleuchtete Jugendgruppe (wie auf dem Migros-Lehrmittel Lingua 21) fällt da schon sehr aus dem Rahmen. Wozu also Lehrwerkanalyse? Klar ist zudem, dass die Qualität des Lehrwerkes und die Qualität des LehrHermann Funk Jena Après avoir suscité un grand intérêt dans les années 70 et 80, l’analyse des manuels de langues étrangères ne semble plus avoir la cote. La question que l’on se pose actuellement est plutôt celle de savoir s’il ne vaudrait pas mieux bannir les manuels de la salle de classe. Funk évoque plusieurs raisons qui peuvent expliquer - à différents niveaux - ce changement de perspective. Parmi les “défauts” des manuels, on peut citer le fossé qui sépare souvent les thèmes et sujets traités des intérêts personnels des apprenants, ou encore l’écart entre la progression établie par les auteurs et le développement d’une autonomie d’apprentissage. Si Funk lance aujourd’hui un plaidoyer en faveur de ces derniers, il est pleinement conscient que cet instrument de travail doit s’adapter aux besoins modifiés et élargis des apprenants aussi bien que des enseignants. Dans cette perspective, le manuel doit devenir un élément parmi toute une gamme de supports diversifiés (CDs, CD ROMs, vidéos, informations et exercices supplémentaires fournis par l’éditeur via internet) ce qui permettra sans doute de parer aux problèmes évoqués ci-dessus. Pour soutenir les enseignants dans le choix d’un manuel adéquat, Funk distingue douze domaines de qualité qu’il propose comme outils d’analyse, à appliquer individuellement ou par groupe de collègues, afin qu’il soit possible de prendre une décision bien fondée. (réd.) Babylonia 3/0442 www.babylonia-ti.ch /Lernprozesses keine automatische Korrelation aufweisen. Schon früh wurde darauf hingewiesen (Kleppin 1984), dass eine rein hermeneutische Lehrwerkanalyse, die nicht empirische Daten der Verwendung des Werkes einbezieht, letztlich von begrenzter Aussagekraft bleibt. Das Ergebnis von Lehr-/Lernprozessen ist multifaktoriell bestimmt. Das Lehrmittel ist dabei nur einer dieser Faktoren. Nicht nur der Blick auf die Praxis lässt Zweifel aufkommen an der Notwendigkeit einer Debatte über die Qualität von Unterrichtsmaterialien. Wenige Fachdidaktiker beschäftigen sich mit der Analyse von Lehrmaterialien und Entwicklung von fachlich begründeten Arbeits- und Aufgabenformen (siehe u. a. Frank Königs zuletzt 1999). So stand das Lehrwerk beispielsweise im Februar auf dem Göttinger Kongress des AKADAF zwar im Mittelpunkt einer Tagung. Die kritische Position der meisten Beiträge summierte sich aber eher zu einem Generalangriff auf das Medium, anstatt Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen. Aus fachdidaktischer Sicht scheint das Sündenregister der Lehrwerke offensichtlich lang und so facettenreich wie die Fachdebatte selbst: • Aus der Sicht der didaktisch-methodischen Forschung sind Lehrwerke in der Regel defizitär in Bezug auf die nötige Vielfalt der Verarbeitungsprozesse. Sie transportieren in der Regel ein eingeschränktes Übungs- und Aufgabenrepertoire mit oft wenig Bezug zu den realen Sprachverwendungsmöglichkeiten der Zielgruppe. • Aus pädagogischer Sicht ist zu bemängeln, dass Lehrwerke immer zeit- und ortsfern zur aktuellen Lernsituation und ohne Kenntnis der konkreten Lerngruppe oder gar individueller Lernpotenziale und –probleme entwickelt werden. Der Vorwurf lautet. Lehrwerke stünden dem kreativen Unterrichtsgeschehen eher entgegen und behinderten die Entfaltung eines lernerorientierten Arbeitsklimas mit läppischen Exerzitien. Konsequent wird die Lehreräußerung: “Ich unterrichte ohne Lehrbuch!“ gemeinhin als Ausweis fachlicher, pädagogischer und kreativer Eigenständigkeit gewertet, wobei sie durchaus auch ein Hinweis auf unstrukturierte Lernprozesse, mangelnde Progression, Transparenz und Evaluation sein könnte. • Ein wichtiges Feld der didaktischmethodischen Forschung in den 80er und 90er Jahren, die Erforschung von Lernstrategien und individuellen Unterschieden, führte zur Forderung nach mehr Prozesskontrolle beim Sprachenlernen durch die Lerner, nach Lernerautonomie (u.a. Gick 1989, Giovannini in Babylonia.v.a.). Auch hier erschien das Lehrwerk als Haupthindernis auf dem Weg zur Autonomie (zur gegenteiligen Position vgl. Koenig 1996). • Aus der Sicht der konstruktivistischen Lerntheorie steht das Lehrwerk in seiner derzeit verbreiteten Form dem notwenigen Prozess der Wissenskonstruktion eher entgegen. Es verhindert den einzig möglichen Weg des Wissenserwerbs, den eigenständigen Aufbau von Kenntnissen und Fertigkeiten nach individueller Disposition und Motivation der Lernenden durch die pauschale und zentrale Vorgabe von Zielen, Materialien und Methoden. • Aus der Sicht der Universalgrammatik kommt strafverschärfend hinzu, dass Lehrwerke dem Aspekt learnability keinerlei Beachtung schenken, dass sie also eine in der Sequenzforschung in Umrissen erkennbare Abfolge der Lernbarkeit von grammatischen Regeln nicht beachten, und statt dessen grammatische Strukturen einführen, ohne auf Erwerbsreihenfolgen, das heißt auf vorhandene natürliche Lernprogressionen Rücksicht zu nehmen. Das Urteil kann angesichts dieses Sündenregisters nur auf Verbannung lauten – raus mit den Lehrwerken aus den Klassenzimmern. Das Lehrwerk: Auslaufmodell oder differenziertes Serviceangebot mit Zukunft? Ist das Lehrwerk angesichts all dieser ungelösten Fragen und der Attraktivität neuer Medien ein Auslaufmodell? Folgt es dem Sprachlabor in die Rumpelkammer der Didaktik? Gewichtige Gründe sprechen dagegen. Da ist zuerst das Interesse von Lehrenden und Lernenden an einer im doppelten Wortsinne “begreifbaren” Unterrichtsleitlinie. Lehrwerke sind nicht deckungsgleich mit Unterricht. Der Vorwurf, sie böten zu wenig Texte und Übungen und gingen manchmal an den Lernbedürfnissen von Zielgruppen vorbei, verkennt dies. Er ist daher ebenso berechtigt wie unsinnig. Lehrwerke können, besonders dann, wenn Theorie und Praxis zusammenarbeiten, ein gestuftes, geordnetes, theoretisch fundiertes Lernprogramm sein, eine Leitlinie, die Theorie- und Praxiserfahrung enthält und verfügbar macht, nicht aber ein alles umfassendes Angebot für den Unterricht. Sie können aber ein Instrument sein, das es den Lehrenden erlaubt, sich individuellen Lernerbedürfnissen zu widmen, indem es sie bei Unterrichtsvorbereitung und Materialrecherche, aber auch im Unterricht selbst entlastet, etwa durch die Anlage sich selbst tragender Lernsequenzen – auch zur Grammatik - ohne ständigen Interventionsbedarf des Lehrenden im Kursplenum. Hierin, und mehr noch in kreativen Vorschlägen zum schon aus motivationalen Gründen unverzichtbaren sozialen Miteinander im Sprachlernprozess liegt ihre Chance, nicht in der Bereitstellung von immer größeren Mengen an inzwischen durch die entsprechenden Autorentools von Lehrenden mühelos selbst herzustellenden Übungen vom Typ „Einfüllen“, „Ankreuzen“, „Zuordnen“ usw. Zum Angebot an kreativen Aufgaben zur Lernprozesssteuerung tritt ein weiterer Punkt hinzu: Wie immer man die potenzielle Rolle der Informationsund Kommunikationsmedien (IKT) Babylonia 3/0443 www.babylonia-ti.ch im Sprachlernprozess bewertet – prinzipiell und im konkreten Fall einer Kursplanung: Es steht außer Frage, dass ihre Verfügbarkeit – auch die des „klassischen Mediums Video - auch nach Erwartung vieler Lerner zu einer reichhaltigen Lernumwelt hinzu gehört – je nach Lerntyp unterscheidet sich diese Erwartung sicher in Form und Intensität. Die Bereitstellung von progressionsgerechtem, verarbeitbarem, landeskundlich aktuellem Informations- und Trainingsmaterial gehört inzwischen mehr oder weniger zum Serviceangebot der Verlage, sei es in der Form von didaktischen Vorschlägen und im genannten Sinne geprüften Internetadressen oder in der Form von Zusatzübungen auf CD ROM. Das Lehrwerk wird zum „Pflegefall“. Die Verlage müssen sich mehr und mehr der Aufgabe stellen, ein vielfältiges, von Lehrenden und Lernenden nutzbares Zusatzangebot zum Lehrwerk im Internet bereit zu halten und ständig zu erneuern. Allerdings: Das Herunterladen von kontextlosen Grammatikübungen aus dem Internet, die man früher anderswo kopierte, ist noch kein Fortschritt. Nur wenn Lehrwerke sich neuen Aufgaben stellen, bieten sie sich gleichzeitig als Instrument der Lehrerweiterbildung an, als eine Möglichkeit, Lehrende explizit und detailliert mit neueren didaktischen Ansätzen vertraut zu machen. Eine Vorgehensweise, die auch in der Weiterbildungsarbeit der Goethe-Institute genutzt wird. Die neue Bedeutung des Lehrwerks könnte in seiner Weiterentwicklung zu einem “sozialen Drehbuch” bestehen, einem script zur Organisation eines phantasievollen sozialen Miteinanders in einem Kurs, in dem die Zeit zu wertvoll ist, um sich mit dem Ausfüllen von Lückenübungen und dem Einüben in Formalitäten statt mit kommunikativem gemeinsamem Lernen zu beschäftigen. Diese Weiterentwicklung des Lehrwerks fordert von Autorinnen und Autoren nicht mehr die Umsetzung von letztlich programmierbaren Aufgabentypologien und –mustern sondern Einsicht in individuelle Lernverfahren und Gruppenstrukturen, in kognitive und emotionale Prozesse. Auf dieser Basis können im Lehrwerk Aufgabensequenzen bereit gestellt werden, die die Lernenden progressional gestuft sowohl zum Erkennen grammatischer Regeln als auch zur freien mündlichen und schriftlichen Textproduktion führen können. Ein genauerer Blick auf die oberflächlich betrachtet so ähnlichen Verlagsprodukte zeigt dann auch, dass sie sich in sehr unterschiedlicher Weise den Anforderungen stellen, die sich aus der sich verändernden Rolle des Lehrwerks in der geforderten reichhaltigen Lernumwelt ergeben. So reüssieren derzeit durchaus DaF-Lehrwerke, in denen keine systematische Textarbeit enthalten ist, für die der Begriff „Lernstrategien“ ein Fremdwort ist, ein didaktisches Konzept neben der Grammatik nicht erkennbar oder die Medienausstattung bescheiden ist. Alles Gründe, sich über die eigenen Qualitätsansprüche Gedanken zu machen, sie mit denen der Forschung zu vergleichen und genauer hinzuschauen. Literatur BARKOWSKI, H. u.a. (Hrsg.) (1980):Deutsch für ausländische Arbeiter: Gutachten zu ausgewählten Lehrwerken. Königstein/Ts. BÖRNER, W./VOGEL, K. (Hrsg.): Lehrwerke im Fremdsprachenunterricht. Lernbezogene, interkulturelle und mediale Aspekte. Bochum, AKS DIES. 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