WelMrFrau THEMENSCHWERPUNKT >> entwickeln". In den westlichen Industrienationen lautet das leitende Prinzip der Zukunft nicht mehr Wohlstand, sondern Sinn- und Wertschöpfung. Es dämmert, so Zukunftsforscher Zellmann, „das empathische Zeitalter der Harmonisierung" herauf, in dem Leistung und Lebensfreude keine Gegensätze mehr sein müssen. Eine Politik und Wirtschaft, die dem nicht Rechnung trägt und weiter an alten Belohnungs- und Arbeitsmodellen festhält, wird von dieser Entwicklung überholt werden, glauben die Expertinnen. Da sind sich inzwischen viele Kulturanthropologinnen, Soziologinnen und Zukunftsforscherinnen einig. NEUE BODENSTÄNDIGKEIT „Do it yourself" ist der Slogan dieser so gar nicht besonders kämpferisch auftretenden Gegenbewegung. Nicht nur das Nähen, Häkeln und Stricken, sondern sehr viele der wesentlichen Trends der letzten Jahre lassen sich unter den genannten Überlegungen zu einem Ganzen zusammenfügen: der Garten- und Koch-Boom, die Sehnsucht nach ländlicher Idylle, die sich auch im großen Erfolg von Zeitschriften wie „Landlust" oder „Servus in Stadt & Land" ausdrückt, die Bio-und Nachhaltigkeitsdebatte, die Renaissance von altem Handwerk oder der große Zulauf, den Heimwerkerund Handwerkskurse verzeichnen. Laut einer RegioPlan-Marktanalyse sind die Ausgaben der Österreicherinnen für Pflanzen und Gartenbedarf von 2002 bis 2010 um 60 Prozent gewachsen, und die heimischen Bau- Kulturanthropologe Christoph Kirchengast registriert die Sehnsucht, statt nur mit dem Kopf auch mit den Händen zu arbeiten. markte verzeichnen einen Run auf ihre Heimwerkerkurse - bei Männern, aber besonders auch bei Frauen. Auch Werkzeughändler wie die große deutsche Onlineplattform „Dictum" bieten in ihrem Kursprogramm mit größtem Erfolg und unter dem Motto „Mehr als Werkzeug" alles von Messerschärfen über Möbelrestaurieren und Einstielen von Werkzeugen bis zu schwedischem Blockhausbau an. Harry Gatterer, Geschäftsführer des „Zukunftsinstituts Österreich", formuliert es so: „Man hat als Wissensarbeiterin heute kaum noch das Gefühl, tatsächlich etwas erledigt zu haben. Es gibt viele offene Baustellen. Wenn man allerdings eine Pflanze setzt, ist das ein abgeschlossener Arbeitsvorgang. Das beruhigt." Und Zukunftsforscher Wenzel meint: „Man möchte seine eigenen Hände benutzen und sich weniger dem Konsum aussetzen. Die DIY-Bewegung kann man auch als subtilen Protest sehen." DIE SUCHE NACH BALANCE Die Sehnsucht nach mehr Autarkie ist groß. Immer mehr Menschen sitzen tagaus, tagein in Büros und vor Bildschirmen. Die Jobsicherheit ist gering. Aufstiegschancen eröffnen sich zumeist nur um den Preis stark eingeschränkter Lebensqualität. Immer mehr Stellen werden eingespart, und auf den Schultern des/der Einzelnen lastet immer mehr Unerledigtes. Da tut Ausgleich not, und idealerweise sucht und findet man ihn auf einem Gebiet, auf dem es nicht wieder um Wettbewerb und Selbsterschöpfung geht, sondern wo man selbst mitgestalten, den Kopf auslüften, ihn in anderer Weise beanspruchen und sich am Ergebnis unmittelbar erfreuen kann. So kommt es, dass erfolgreiche Grafikerinnen in ihrer Freizeit lustige Fantasiefiguren häkeln, Werber sich am eigenen Weinberg versuchen oder Software-Entwickler am Wochenende zum Hobel greifen. Denn die Angehörigen der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft arbeiten zumeist in Jobs, in denen „das Ergebnis der eigenen Arbeit selten physisch manifest wird", wie der Innsbrucker Kulturanthropologe Christoph Kirchengast sagt. Da überrascht es kaum, dass die Sehnsucht wächst, „wieder etwas mit eigenen Händen herzustellen - egal, ob die selbst gezüchtete Tomate, die selbst eingekochte Marillenmarmelade oder das selbst gezimmerte Regal." ERFOLGE WERDEN GREIFBAR Selbstbestimmung und der unmittelbar sichtbare Zusammenhang zwischen eingebrachter Arbeit und einem greifbaren Ergebnis sind die Was heißt denn das? DIY Das Kürzel steht für „Do it yourself" und ist die Sammelbezeichnung für die Selbermacher-Bewegung wie auch deren zentraler Slogan. Guerilla-Knitting In Analogie zu Guerilla-Gardening bezeichnet Guerilla-Knitting Strickaktionen im öffentlichen Raum, meist mit politisch-künstlerischem Hintergrund. Etsy.com ist die weltweit größte und bedeutendste Online-Handelsplattform für Selbstgemachtes und Außergewöhn- liches. Gegründet wurde sie 2005 in einer Studentenbude in New York. Strick-Cafes sind Orte, an denen man in angenehmer Umgebung mit Gleichgesinnten stricken, aber auch Stricken lernen kann. Sind in den letzten Jahren vor allem in Städten in großer Zahl entstanden, ebenso wie Näh-Cafes. DaWanda ist der Name der wichtigsten Online-Handelsplattform für Selbstgemachtes im deutschsprachigen Raum. 50 0112013