Grundlagen Jeder epische, dramatische und lyrische Text stellt ganz eigene Anforderungen an das Verständnis des Lesers und ist auf individuelle Weise zu deuten. Dennoch gibt es für jede Textinterpretation ein grundlegendes Gerüst zur Vorgehensweise, an das Sie sich bei Ihrer Bearbeitung halten können und das Sie kennen sollten. Genauso wichtig ist es, entsprechendes Vorwissen aufzubauen. Um einen Text sachgemäß untersuchen und überzeugend deuten zu können, sollten Sie deshalb • die Arbeitsanweisungen und ihre Anforderungen verstehen, • über wichtige Interpretationsmethoden Bescheid wissen, • grundlegende Bearbeitungsbereiche kennen, • die notwendigen Arbeitstechniken beherrschen und die richtigen Arbeitsschritte wählen. Um einen komplexen literarischen Text in seinen einzelnen Bauelementen zu erfassen und seine Aussage zu entschlüsseln, ist es wichtig, die Vorgehensweise genau zu planen. Nur so erschließt sich Ihnen ein epischer, dramatischer oder lyrischer Text in seinen vielfältigen Facetten. 2 / Grundlagen Anforderungsbereiche, Operatoren und Arbeitsanweisungen / 3 1 Anforderungsbereiche, Operatoren und Arbeitsanweisungen 1.1 Anforderungsbereiche Bei der Bearbeitung von Prüfungsaufgaben sollen Sie Leistungen nachweisen, denen drei Anforderungsbereiche von unterschiedlichem Niveau entsprechen. Diese sind bundesweit festgelegt: • Der erste Anforderungsbereich (I) umfasst vor allem die Wiedergabe von Sachverhalten und Kenntnissen aus dem Unterricht. Dazu gehören die Vertrautheit mit Fachbegriffen und der Einsatz von Arbeitstechniken und Verfahren. • Der anspruchsvollere zweite Anforderungsbereich (II) betrifft die Anwendung des erworbenen Wissens und der eingeübten Arbeitstechniken. Hier geht es also um das selbstständige Auswählen, Anordnen, Verarbeiten, Erklären und Darstellen bekannter Sachverhalte unter vorgegebenen Gesichtspunkten. Sie weisen nach, dass Sie Gelerntes auf vergleichbare Zusammenhänge übertragen und anwenden können. • Der dritte Anforderungsbereich (III) zielt auf die Verarbeitung komplexer Sachverhalte. So sollten Sie in der Lage sein, selbstständig Lösungen zu finden, schwierigere Inhalte zu deuten und überzeugend zu argumentieren. Zur Bewältigung der Aufgabe wenden Sie geeignete Arbeitstechniken auf neue Problemstellungen an und reflektieren das eigene Vorgehen. Jede Prüfungsaufgabe berücksichtigt in ihren einzelnen zu bearbeitenden Teilen alle drei Anforderungsbereiche, doch liegt der Schwerpunkt der zu erbringenden Leistungen im Anforderungsbereich IL 1.2 Operatoren und Arbeitsanweisungen Die Lösung einer Aufgabe beginnt mit dem Verstehen der Arbeitsanweisung. Nicht selten treten bereits hier die ersten Schwierigkeiten auf. Nur wenn Sie von vornherein genau wissen, auf welche besonderen Aspekte Sie bei den einzelnen Arbeitsanweisungen zu achten haben, gewinnen Sie an Sicherheit, verringern Ihren Überlegungsaufwand und sparen auf diese Weise kostbare Zeit ein, die Sie an anderer Stelle sinnvoller einsetzen können. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, die Sie unterscheiden müssen: • Eine umfassende Arbeitsanweisung wie Interpretieren Sie den folgenden Text deckt alle drei Anforderungsbereiche ab. Sie lässt Ihnen einerseits Spielraum für eigene Schwerpunktsetzungen, bietet aber andererseits keine Strukturierungshilfe. • Differenzierte Teilaufträge sind dagegen einzelnen Arbeitsbereichen zugeordnet und haben den Vorteil, nur klar abgegrenzte Segmente zu betreffen. Grundlage für jede Aufgabenstellung bilden handlungsinitiierende Verben, die sogenannten Operatoren. Sie zeigen an, welche Tätigkeiten beim Aufgaben-lösen von Ihnen erwartet werden, und konkretisieren sich in den Arbeitsanweisungen. Die folgende Liste stellt eine Auswahl von Operatoren vor, die vor allem für Ihre Arbeit an literarischen Texten wichtig sind. Sie orientiert sich an den Vorgaben des „Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen" der Humboldt-Universität zu Berlin. Operator Beschreibung Arbeitsanweisung analysieren Ein Text wird als Ganzes oder nach be-(I ii inj stimmten Aspekten in inhaltliche, for- male und sprachliche Bereiche zerlegt. Diese werden einzeln und in ihrer Wechselbeziehung systematisch erschlossen und das Ergebnis strukturiert dargelegt. Analysieren Sie die erzählerische Gestaltung. (S. 56) Analysieren Sie die sprachlich-stilistische Gestaltung. (Vgl. S. 58) beschreiben (Ml) Diese Arbeitsanweisung richtet sich häufig auf Inhalt, Aufbau, Sachverhalte, Situationen, Vorgänge und Verhaltensweisen von Figuren. Formulieren Sie sachlich und verzichten Sie auf Erklärungen und Deutungen. Es erweist sich oft als hilfreich, dem Textverlauf zu folgen. Beschreiben Sie den inneren Aufbau des Textes. (Vgl. S. 48) beurteilen (II, III) Hier sollen Sie einen Sachverhalt, eine Aussage oder das Verhalten einer Figur unter Einbeziehung Ihres Fachwissens nach vorgegebenen Kriterien bzw. begründeten Wertmaßstäben einschätzen. Das Ergebnis muss auf sachlichen und nachvollziehbaren Fakten beruhen. Beurteilen Sie die im Text zum Ausdruck kommende Weltsicht. Grundlagen Anforderungsbereiche, Operatoren und Arbeitsanweisungen Operator Beschreibung Arbeitsanweisung charakterisieren (11,111) darstellen (MI) einordnen (zuordnen) (Ul) erläutern (11,111) erörtern (1,11,111) Sie arbeiten die kennzeichnenden Merkmale von Figuren, Sachverhalten oder Vorgängen heraus. Bei Figuren richtet sich das Interesse auf individuelle bzw. typische Eigenschaften, wie sie durch eigene Aussagen, Verhaltensweisen, Gedanken und Empfindungen, aber auch durch Hinweise anderer Figuren oder (in epischen Texten) des Erzählers deutlich werden. Die gefundenen Merkmale und Eigenschaften sollen schließlich ein Gesamtbild ergeben. Charakterisieren Sie den Protagonisten. (Vgl. S. 70) Arbeiten Sie heraus, wie der Bürgermeister Informationen manipuliert. (S. 117) Charakterisieren Sie den Gerichtsdiener Adam innerhalb seiner sozialen Beziehungen. (S.119) Sie zeigen Inhalte, Probleme, Sachverhalte und deren Zusammenhänge auf. Achten Sie dabei auf eine durchdachte, übersichtliche Struktur und die Verwendung fachsprachlicher Begriffe. Stellen Sie den Zusammenhang von äußerer und innerer Handlung dar. (S. 74) Stellen Sie Konfliktursachen und -entwicklungen dar. (S. 122) Stellen Sie den Dialogverlauf dar. (Vgl. S. 127) Sie stellen einen Text, ein Thema, einen Sachverhalt, eine Aussage, ein Problem begründet in einen (historischen, literarischen, thematischen oder motivischen) Zusammenhang und greifen dabei auf Ihr Vorwissen zurück. Ordnen Sie den Text der Romantik zu. (S. 186) Um schwierige Sachverhalte, Textaussagen oder Problemstellungen zu klären und zu verstehen, bedarf es zusätzlicher Informationen, Belege und Beispiele. Sie dienen der Veranschaulichung, der Einbindung in größere Zusammenhänge und machen durch Hinweise auf Ursachen und Wirkungen Komplexes einsichtig. Erläutern Sie f.. J die Bedeutung von Sprache. (S. 77) Erläutern Sie [.. ,J wesentliche Elemente des bürgerlichen Trauerspiels. (S. 134) Erläutern Sie die Bedeutung des Einsamkeits-Motivs. (S. 179) Sie sollen auf der Grundlage einer Textanalyse oder -auswertung eine These oder Problemstellung hinterfragen und zu einem Urteil gelangen. Erörtern Sie die Position des Protagonisten und berücksichtigen Sie dabei dessen persönliche und soziale Situation. Erörtern Sie das Verhalten des Protagonisten. Operator Beschreibung Arbeitsanweisung in Beziehung setzen (II, Hl) Sie sollen Zusammenhänge unter vorgegebenen oder selbst gewählten Gesichtspunkten begründet herstellen. Setzen Sie die Position des Autors in Beziehung zum Frauenbild des vorliegenden Textauszugs. interpretieren (I, II, III) Auf der Grundlage der Analyse eines vorgelegten Textes oder bestimmter Aspekte erschließen Sie Sinnzusammenhänge und gelangen so unter Einbeziehung von Inhalt, Form und Sprache zu einer schlüssigen Deutung. Interpretieren Sie den Text im Hinblick auf die Darstellung von Raum und Zeit (S. 66) Interpretieren Sie das folgende Gedicht. sich auseinandersetzen mit (II, IM) Sie sollen eine Aussage, These, Sichtweise oder Problemstellung argumentativ und urteilend abwägen und zu einem nachvollziehbaren Ergebnis kommen. Dabei können Sie linear oder dialektisch vorgehen und Ursachen und Folgen berücksichtigen. Setzen Sie sich mit der Weltanschauung des Protagonisten auseinander. überprüfen (II, III) Sie hinterfragen Aussagen/ Behauptungen kritisch und schätzen ihre Gültigkeit kriterienorientiert und begründet ein. Überprüfen Sie, inwieweit der Text den gattungsspezifischen Merkmalen einer Parabel (S. 88 f.), einer Kurzgeschichte (S. 90), einer Novelle (S. 93 f.) entspricht. vergleichen (II, III) Sie arbeiten nach vorgegebenen oder selbst gewählten Gesichtspunkten Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede heraus und wägen diese gegeneinander ab. Vergleichen Sie das Motiv der Einsamkeit in beiden Gedichten. (S.183) zusammenfassen (Ul) Hier sollen Sie Inhalte, Aussagen, Gedankengänge, Handlungsschritte komprimiert und strukturiert so darstellen, dass dabei das Wesentliche deutlich wird. Die Zusammenfassung kann entweder dem Textverlauf folgen (lineare Gestaltung) oder sich nach bestimmten in der Aufgabe angesprochenen Gesichtspunkten richten (aspektbezogene Gestaltung). Fassen Sie den Inhalt des vorliegenden Textes zusammen. (Vgl. Epik, S. 44; Drama, S. 93; Lyrik, S. 148) Die IQB-Operatorenliste finden Sie online unter. https://wwwjqbMu-berfin.de/bista/abi/deutsch/dokumente 6 f Grundlagen Interpretationsmethoden / 7 Zusätzliche Aufgabenpräzisierungen Mitunter wird den einzelnen Operatoren noch eine pointiertere Bestimmung angefügt. Diese fordert Sie auf, einzelnen Aspekten einer Aufgabe besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Beispiele: • ... arbeiten Sie dabei insbesondere... heraus. • ... berücksichtigen Sie dabei insbesondere... • ... und erläutern Sie dabei vor allem, wie... • ... und gehen Sie dabei vor allem darauf ein, wie... —TIPP- Auch bei der umfassenden Arbeitsanweisung „Interpretieren Sie die ausdrücklich keine weiteren Operatoren nennt, ist es zweckmäßig, wenn Sie bei Ihrer Vorgehensweise den Inhalten bestimmter Operatoren folgen. Fassen Sie also den Inhalt zusammen, beschreiben Sie den Aufbau und analysieren Sie die Sprache. 2 Interpretationsmethoden Die Suche nach brauchbaren Interpretationsverfahren beschäftigt die Wissenschaft seit Langem. Ein bedeutender Ansatz begann im 19. Jahrhundert unter naturwissenschaftlichem Einfluss. In der Folgezeit entwickelten sich verschiedene Methoden mit unterschiedlichen Schwerpunkten. 2.1 Positivismus In Anlehnung an die Naturwissenschaften entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine philosophische Richtung, deren Vertreter mit klaren, nachweisbaren Fakten arbeiten wollten. Diese Zielsetzung beeinflusste auch die damalige Textphilologie: Man sammelte Lebenszeugnisse des Autors, spürte den Entstehungsgeschichten von Werken nach und verglich die Bearbeitung von Themen, Motiven und Fassungen. Literatur erschien als Teil historischer Wirklichkeit und konnte durch sie beschrieben und sachlich erklärt werden. Konzentriert sich die Arbeit also weitgehend auf den Verfasser, so spricht man von der positivistischen oder auch biografischen Methode. Mit ihr sucht Der Begriff „Positivismus" geht auf den französischen Philosophen und Soziologen Auguste Comte (1798-1857) zurück. der Interpret im Leben des Autors nach Ereignissen, die zum Verstehen des Textes beitragen. Er erforscht Tagebücher und Briefkorrespondenzen und überprüft Aussagen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Allerdings darf das Biografische nicht zur Vernachlässigung des künstlerischen Aspekts führen. 2.2 Ceistesgeschichte Am Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte sich eine Gegenbewegung zum Positivismus. Ihre Vertreter sahen Dichtung in einem übergreifenden geistigen Zusammenhang von Kultur, Philosophie und Kunst. Nach ihrer Vorstellung spiegelt Literatur die geistigen Kräfte und tragenden Ideen der jeweiligen Zeit. Zum Verstehen eines Textes erschien ihnen deshalb eine bloß rational und analytisch ausgerichtete Vorgehensweise unzureichend. Sie betrachteten ihn vielmehr als ein Ganzes und versuchten, seine Aussage einfühlend nachzuerleben. Dem Gefühl und der Intuition, d. h. dem unmittelbaren Erfassen des Inhalts, wurde dabei eine besondere Rolle zugewiesen. Gegner werfen diesem Verfahren Subjektivität, Spekulation, Realitätsfremdheit und die Vernachlässigung detaillierter Analysen vor. 2.3 Werkimmanenz Bei dieser Methode, die sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an Universitäten und Schulen verbreitete, wird das dichterische Werk als ein autonomes Kunstobjekt betrachtet. Man versucht es aus sich selbst heraus (also immanent) zu verstehen. Die Arbeit am Text steht im Vordergrund. Biografische und historische Bezüge bleiben hier unberücksichtigt. Aufgrund intensiver Lektüre erfolgt die sorgfältige Untersuchung vor allem formaler Elemente. Aus ihrem funktionalen Zusammenspiel wird die Aussage erfasst und gedeutet. Die Textnähe macht diese Methode zur Grundlage jeder weiterführenden Interpretation. Kritische Stimmen verweisen allerdings auf die Gefahr von Einseitigkeit und lebensferner Literaturbetrachtung durch Ausklammern textexterner Einflüsse. Bei der werkimmanenten Methode interessiert den Betrachter nur das Werk seihst, also weder die Biografie des Autors noch ein historischer Bezug. 8 / Grundlagen Interpretationsmethoden / 9 2.4 Psychoanalytisches Verfahren Die Vertreter dieser Richtung berufen sich auf Sigmund Freud (1856-1939), den Begründer der Psychoanalyse. Nach ihnen lassen sich Stoff- und Motivwahl, Figurengestaltung und sprachliche Bilder auf verdrängte Triebe, Wünsche und seelische Verletzungen des Autors zurückführen. Die psychoanalytische Methode, die besonders in den 1960er-und 70er-Jahren verbreitet war, beschränkt sich aber nicht nur auf den Autor, sondern untersucht auch die handlungsauslösenden Kräfte und Verhaltensweisen der Figuren sowie mögliche Auswirkungen auf (unbewusste) Leserreaktionen. Das Verfahren bedeutet eine Abkehr von überzogenen idealistischen Vorstellungen. Allerdings lassen die enge Fixierung auf Psychisches und das Ausklammern des historisch-sozialen Umfelds unkritische Spekulationen befürchten. Außerdem besteht bei Anwendung dieser Methode die Gefahr, das Künstlerische des Werkes zu vernachlässigen. Sigmund Freud im Jahr 1909 wird, entfalten. So kommt es, dass Leser verschiedener Epochen unterschiedliche Zugänge zu seiner Aussage finden. Ein Leser der Gegenwart etwa versteht ein klassisches Drama anders als ein Leser um 1900. Die moderne Rezeptionsästhetik beschäftigt sich seit dem Ende der 1960er-Jahre bevorzugt mit Fragen, die die Wahrnehmung des Lesers beeinflussen, beispielsweise mit seinen Interessen, seiner Bildung und dem sozialen Umfeld, in dem er steht. Der Rezipient hat also durch seinen Verstehenshorizont Anteil an der Aussage des Textes. Entscheidend ist daher die Frage nach der Reaktion des Lesers: Findet bei ihm eine Erweiterung seines geistigen Horizonts statt? Oder ist sein Blickfeld so eingeschränkt, dass er die Tiefe der Textinformationen nicht erkennt bzw. diese völlig missversteht? Leser verschiedener Epochen haben einen anderen Zugang zum selben Text; Vincent van Gogh: Die Romonleserin (1888) 2.5 Literatursoziologie Für die Interpreten besteht ein enges Verhältnis zwischen Gesellschaft und Literatur. Vor allem interessiert sie die Frage, welche Antwort der Autor auf die gesellschaftlichen Wirklichkeiten seiner Zeit findet. Bei dieser Methode rücken also soziologische Themen in den Vordergrund, die allerdings mehr oder weniger mit einer bestimmten Weltanschauung, z. B. dem Marxismus, verknüpft sein können. Die Gefahr der Literatursoziologie liegt also in ihrer Einseitigkeit. Indem sie Literatur in den Dienst der Ideologie stellt, verfehlt sie die Komplexität eines Werkes. Zudem wird durch die Überbewertung des Gesellschaftlichen das Kunstwerk an den Rand gedrängt. 2.6 Rezeptionsästhetik Ein geschriebenes Werk ist bewusst oder unbewusst auf einen fiktiven Leser angelegt und auf sein Verständnis hin verfasst. Von diesem unterscheidet sich der reale Leser. Seine Wahrnehmung wird durch seine Individualität und seinen soziokulturellen Kontext beeinflusst. Die Textsignale erreichen ihn deshalb nur gefiltert. Das bedeutet: Ein literarischer Text wird sich immer entsprechend den Vorgaben und Bedingungen der jeweiligen Zeit, in der er gelesen 2.7 Übersicht wichtiger Interpretationsmethoden Die verschiedenen Varianten, an Textinterpretationen heranzugehen, bringen spezifische Vorteile, aber auch Probleme mit sich. Geistesgeschichte Q intuitives Nacherleben Q Subjektivität Werkimmanenz Q ausschließliche Arbeit am Text Q Vernachlässigung textexterner Bereiche Positivismus Q Berücksichtigung biografischer und epochaler Einflüsse Q Vernachlässigung des Künstlerischen Methoden der Textinterpretation Literatursoziologie ........... Q Literaturals Spiegel gesellschaftlicher Aus-einandersetzungen Q Ideologisierung der Kunst Psychoanalyse Q Bedeutung des Unbewussten Q Vernachlässigung des Künstlerischen Rezeptionsästhetik Q Leseranteil an der Textaussage Q Relativität der Lesererkenntnis 10 / Grundlagen Arbeitsbereiche / 11 In der Schule spielt die textimmanente Methode die wichtigste Rolle. Dies gilt besonders für Prüfungen, bei denen sich die Interpretation wesentlich auf die Textvorlage konzentrieren muss. Mitunter finden sich aber in den Aufgabenstellungen auch Elemente weiterer Interpretationsmethoden. So können Teilaufgaben Vergleiche mit anderen Werken fordern oder nach Zeithintergründen, Autoren und Leserreaktionen fragen. Beigefügte Materialien sind hier zu berücksichtigen. Vor allem aber wird man in Referaten oder Seminararbeiten, bei deren Bearbeitung der Zugang zu umfangreichen Materialquellen möglich ist, je nach Aufgabenstellung auf Elemente verschiedener Interpretationsverfahren zurückgreifen. 3 Arbeitsbereiche Eine umfassende Interpretation (lat. interpretatio = Erklärung, Auslegung) baut auf einer eingehenden Analyse auf, in der Inhalt, Form und Sprache in ihrer Wechselwirkung erschlossen werden. Die Ergebnisse der Analyse helfen Ihnen, den Text schlüssig zu deuten und die Aussageabsicht zu erkennen. Dabei können Figuren, Handlungen, Themen und Motive in den Vordergrund rücken. Mitunter erweisen sich die Einbeziehung des historisch-kulturellen Hintergrunds und/oder der Vergleich mit anderen Texten als sinnvoll. Erst eine Kombination verschiedener Untersuchungsbereiche bei der Erschließung und Interpretation von literarischen Texten führt zur entscheidenden Idee für die Textdeutung bzw. für die Entschlüsselung der Aussageabsicht Die folgende Auflistung enthält wichtige Arbeitsbereiche, die Sie bei einer umfassenden Interpretation eines Textes berücksichtigen sollten. Diese werden in den einzelnen Kapiteln dieses Buches Schritt für Schritt behandelt: • Einleitung: Angeben von Grundinformationen • Inhalt: komprimierte Wiedergabe wichtiger Textaussagen • Form: - Aufbau: Beschreiben der äußeren und inneren Textstruktur - Nachweis der Textart: z. B. Kurzgeschichte, episches Theater, Sonett - gattungsspezifische Aspekte: Untersuchen von Erzählstrategie (Epik), dramaturgischen Gestaltungsmitteln (Drama), Perspektive und lyrischem Ich (Lyrik) • Sprache und Stil: Analysieren der Funktion der sprachlichen Gestaltungsmittel im Hinblick auf Thema und Wirkungsabsicht • Raum und Zeit: Erschließen der inhaltlichen (thematischen und motivischen) Bedeutung und ggf. des literarhistorischen Bezugs • Figuren: Charakterisieren wichtiger Einzelfiguren/der Figurenkonstellation • Handlung und Kommunikation: Darstellen von Außen- und Innenhandlung; Handlungsräumen und -Zeiten; Handlungsabläufen und -Strategien; Gesprächsabläufen und -Strategien; Konflikten und Konfliktabläufen • Thematik und Motivik: Erkennen, Verstehen und Bewerten von Textaussage und -wirkung; Erklären der Wechselwirkung von Form und inhaltlicher Aussage • Epochenbezug und Kontextualität: literaturgeschichtliche Einordnung; Erläutern des Inhalts in seiner Beziehung zur Biografie des Autors, dessen Werk, den historischen (d.h. politischen, gesellschaftlichen, kulturellen) Ereignissen seiner Zeit und der Motivtradition • Schluss: Zusammenfassen der Ergebnisse; Formulieren eines Ausblicks Beachten Sie Entsprechend der Textgattung (Epik, Dramatik, Lyrik) und der konkreten Aufgabenstellung kommt diesen Arbeitsbereichen jeweils unterschiedliches Gewicht zu. Erschließen von R8uren I Grundlage diese betrifft Handlung und Kommunikation Inhalt r~\ \_i der Raum und Zeit Form : i Deutung Q \ mdb"M*^ Themen und Motive SPrache U | Epoche und Kontext / Grundlagen Arbeitsschritte / 13 4 Arbeitsschritte Im Prinzip folgen fast alle Lösungsmethoden folgenden Arbeitsschritten: 1 Klären der Arbeitsanweisungen, sorgfaltiges aufgabenbezogenes, reflektierendes Lesen des Textes, Aufgabenauswahl, Zeitplanung 2 Materialsammlung (markieren, notieren) 3 Materialsichtung und -Ordnung (auswählen, vernetzen, strukturieren, gliedern) 4 Ausführung (Ergebnisse formulieren) 5 abschließende Überprüfung (auf inhaltliche und sprachliche Fehler oder auf das Fehlen von wichtigen Aspekten hin kontrollieren) Um den vorgegebenen Zeitrahmen, der Ihnen für Ihre Aufgabe zur Verfügung steht, sinnvoll zu nutzen und nicht unter Druck zu geraten, erstellen Sie am besten zu Beginn einen groben Zeitplan. Er sollte Ihnen am Schluss eine letzte Überprüfung Ihrer Arbeit ermöglichen. Schritt 1 Klären der Arbeitsanweisungen, Lesen, Aufgabenauswahl und Zeitplanung Nehmen Sie sich Zeit, lesen Sie Arbeitsanweisung und Text gründlich durch und überlegen Sie, welche Anforderungen Sie erfüllen müssen. In Prüfungssituationen verführt gerade der Zeitdruck häufig zu einem oberflächlichen und hastigen Überfliegen des Textes, bei dem Ihnen wichtige Informationen entgehen könnten. Gründliches Lesen heißt nämlich wiederholtes Lesen. Nachdem Sie sich beim ersten Durchgang einen Überblick über Thematik, Inhalt und Aussage verschafft haben, konzentrieren Sie sich beim zweiten auf einzelne Textabschnitte. Sie lesen also strukturiert, d. h., Sie achten auf Zusammengehöriges, Sinneinheiten und inhaltliche Einschnitte. Das verlangt ein mehrfaches Einhalten, Zurückgehen und erneutes Aufnehmen einer Textpassage (reflektierendes Lesen). Der Vorteil ist, dass Sie so Ihren Verstehensprozess kontrollieren können. Anspruchsvolle literarische Texte geben ihre Geheimnisse nicht ohne Weiteres preis. Übrigens: Jede Teilaufgabe verlangt ein erneutes Lesen entsprechend dem angestrebten Ziel. So setzt beispielsweise die Sprachanalyse andere Schwerpunkte als die Darstellung des Handlungsverlaufs. —TIPP- Ein kleinschrittiges Vorgehen steigert Ihre Aufnahmefähigkeit; es fördert das Erkennen von Textstruktur, Handlungs- und Ceschehensablauf und damit das Verstehen der inhaltlichen Aussage. Entscheidend für den Erfolg Ihrer Bearbeitung ist zunächst auch die „richtige" Auswahl aus den vorgelegten Prüfungsaufgaben. Um die geeignetste Aufgabe zu finden, gehen Sie am besten so vor: • Lesen Sie alle Aufgaben und Texte genau durch, das heißt nicht nur auf die Gesamtaussage hin, sondern auch unter dem Aspekt einzelner Sinneinheiten. • Machen Sie sich die Inhalte der Arbeitsanweisungen bewusst (vgl. Anforderungsbereiche, Operatoren und Arbeitsanweisungen auf S. 2 ff). • Kontrollieren Sie Ihr Vorwissen im Hinblick auf die Ziele der Arbeitsanweisungen. Fragen Sie sich: Was weiß ich über ... ... Gattung bzw. Textart? -> Sie sind wichtig für die Analyse von Aufbau und Form sowie für die Deutung des Inhalts. ... Thematik und Motivik? —» Vorkenntnisse erleichtern den Zugang zu Begriffsinhalten, Variationen, Vernetzungen und Motivtraditionen. ... den Autor? —> Biografische Informationen können spezielle thematische Schwerpunkte und Motive erhellen. ... die Entstehungszeit? —> Sie gibt Auskunft über epochentragende Themen und Motive. • Wägen Sie nun sachlich ab, welche Aufgabe Ihren Kenntnissen und Fähigkeiten am besten entspricht. -> Nehmen Sie sich für diese Überlegungen Zeit, bleiben Sie aber dann bei Ihrer Entscheidung. —TIPP- Mitunter hilft Ihnen dabei auch das Ausschlussverfahren, bei dem Sie alle Aufgaben, mit denen Sie nicht zurechtkommen, aussortieren. Schließlich bleibt diejenige Aufgabenstellung übrig, bei der Sie die wenigsten Negativ-Punkte finden. Schritt 2 Markieren, Notieren, Sammeln Bereits mit dem zweiten Lesen beginnt das systematische Erarbeiten der Textaussage und der in den Aufgaben gesetzten Ziele bzw. Untersuchungsbereiche. Wesentliche Textaussagen werden nun schärfer erkannt als bei der ersten Lektüre. Deshalb fangen Sie erst jetzt mit dem Markieren und Notieren wichtiger Stellen an. Mit dieser Technik gestalten Sie den Text übersichtlicher. Benutzen Sie dazu Bleistift und Textmarker. Gehen Sie schrittweise vor: • Wenden Sie sich zuerst der inhaltlichen und formalen Struktur zu. I laben Sie die erkannten Sinneinheiten und Strukturelemente mit Stichworten am Textrand fest. 14 / Grundlagen Arbeitsschritte t 15 • Auch bei der Sprachanalyse leistet Ihnen das Markieren wertvolle Hilfe. Die Verwendung unterschiedlicher Farben hebt die Grundfunktionen der eingesetzten Mittel heraus und macht damit Intentionen deutlich. Beispielsweise kennzeichnen Sie alle rhetorischen Fragen, Antithesen und ironischen Wendungen mit der gleichen Farbe. Diese Mittel signalisieren häufig Spannung. Verbunden mit dem Kontext können sie auf ein ganz bestimmtes Verhalten hinweisen bzw. eine Situation verdeutlichen. • Vergessen Sie schließlich nicht, sich bereits in der frühen Phase der Inhaltsund Formerfassung erste Gedanken zur Deutung zu machen, indem Sie thematische Auffälligkeiten am Rand oder auf einem gesonderten Blatt stich-punktartig notieren und assoziativ mit Ihrem Vorwissen verbinden. Ihre Materialsammlung richtet sich nach den in der Arbeitsanweisung formulierten Zielen (z. B. Figurencharakteristik, Gesprächsstrategie, Motivik). Die relevanten Themenbereiche sind dabei nach den Elementen aufzuschlüsseln, die sie bestimmen (z. B. bei der Figurencharakteristik: äußere Merkmale, Einstellungen, Handlungen und Verhaltensweisen, soziale Beziehungen). An ihnen orientiert sich die Faktensuche. —TIPP- Markieren Sie arbeitsökonomisch überlegt und der Zielsetzung entsprechend. Eine weitere Lektüre kann sich dann auf die markierten Stellen beschränken. So sparen Sie Zeit und behalten leichter den Überblick. Schritt 3 Sichten und Ordnen Nachdem Sie den Text unter der Perspektive eigener oder in den Arbeitsanweisungen formulierter Ziele durchsucht und Material gesammelt haben, müssen Sie die Fakten auf ihre thematische Bedeutung hin überprüfen und ordnen: Uberprüfen heißt, Sie bestimmen den Stellenwert der einzelnen Informationen im Hinblick auf das Aufgabenziel. Sie fragen: Welche Fakten führen vom Thema weg, welche sind stichhaltig und verwertbar und welche für die Lösung der Aufgabe besonders wichtig? In der Regel erkennen Sie dabei bereits, dass einzelne Informationen sachlich zusammengehören. Bündeln Sie diese, bilden Sie Oberbegriffe und ordnen Sie sie steigernd nach ihrer Aussagekraft. Ihre Arbeit sollte zu einer Gliederung oder einem Schreibplan fuhren, die bzw. der eine schlüssige und überzeugende Darstellung erwarten lässt. Bei einer umfassenden Arbeitsanweisung sind im Hauptteil Ihrer Arbeit in der Regel drei Abschnitte enthalten: Textzusammenfassung, Analyse der formalen und sprachlichen Gestaltungsmittel sowie Textdeutung. Bei der Aufgabe „Interpretieren Sie den folgenden Text" erweist sich dieses Gliederungsmuster als sinnvoll: A Überblicksinformation [= Einleitung] B Interpretation [= Hauptteil] I Zusammenfassung des Inhalts und Beschreibung des Aufbaus II Analyse der formalen und sprachlichen Gestaltung III Textdeutung (unter Berücksichtigung von Motivik und gattungs-, text-und ggf. epochenspezifischen Besonderheiten) C Zusammenfassendes Ergebnis, Abrundung, Ausblick [= Schluss] Schritt 4 Ausführen Nun ist Ihr Ziel, die ausgewählten und strukturierten Einzelfakten sinnvoll zu einem Ganzen zu verbinden und abschließend in einem geschlossenen Text zu präsentieren. Es erleichtert Ihre Arbeit, wenn Sie die folgenden Kriterien stets im Auge behalten: • Sachlichkeit: Eine in der Textvorlage angelegte Spannung wird nicht übernommen, ebenso wenig dürfen sich kommentierende Wertungen finden. • Verständlichkeit: Bemühen Sie sich um treffende Adjektive und vermeiden Sie Schachtelsätze. Die Argumentation sollte eindeutig und nachvollziehbar erfolgen und keine Gedankensprünge enthalten. • Übersichtlichkeit: Ihr dienen Absätze sowie das Vermeiden trivialer Überleitungen und inhaltsarmer Füllwörter. Hilfreich ist dabei die Verwendung nebenordnender und unterordnender Konjunktionen (denn, darum, deshalb; weil, da, als,...). • Verwendung eigener Worte, indirekter Rede und des Präsens: Ihre Darstellung erfolgt in eigenen Worten. Wandeln Sie bei der Inhaltszusammenfassung direkte in indirekte Rede um. Formulieren Sie außerdem Ihre Ausführungen in der Zeitstufe des Präsens. • korrekte Zitierweise: Um Textstellen wiederzugeben und damit Ihre Untersuchungsergebnisse zu belegen, haben Sie zwei Möglichkeiten: das direkte bzw. wörtliche Zitat und das indirekte bzw. sinngemäße Zitat. 16 / Grundlagen Arbeitsschritte / 17 Richtig zitieren Unter Zitieren versteht man die wörtliche oder sinngemäße Übernahme von Textteilen. Mit Zitaten können Sie die eigenen Aussagen stützen und Thesen begründen. Zitate dürfen aber nicht dazu dienen, sich eigene Formulierungen zu ersparen - wählen Sie sie deshalb mit Bedacht aus. Vermeiden Sie auch eine reine Häufung von Zitaten, ohne aus ihnen Schlüsse (für die Deutung) zu ziehen oder mit ihnen eigene Erkenntnisse zu belegen. Ein wörtliches bzw. direktes Zitat verlangt eine exakte, buchstabengetreue Textwiedergabe. Diese steht in Anfuhrungszeichen und enthält anschließend die genaue Quellenangabe mit Zeilenverweis in Klammern: „ein altes, einem Marchese gehöriges Schloss" (S. 197, Z. 1 f.). Beachten Sie des Weiteren: • Bei nur einer Textvorlage genügt die Zeilenangabe. Handelt es sich um mehrere Texte, beispielsweise bei einem Vergleich, so enthält die Quellenangabe zusätzlich den Verfassernamen vor der Zeilenangabe. • Umfasst das Zitat zwei Zeilen, setzt man hinter die Zeilenangabe „f." für „und folgende Zeile"; „ff." = „und folgende Zeilen"; bei mehr als drei Zeilen setzt man in der Regel Ziffern, z. B. „Z. 11-14". • Auslassungen innerhalb des Zitats werden durch eckige Klammern angezeigt: „ein altes [...] Schloss" (Z. 1 f.) • Beim Einbau in eigene Sätze kann zwar die grammatische Struktur der Textstellen verändert werden, dabei ist aber jede Änderung durch eckige Klammern anzuzeigen: ... in ,,ein[em] alte[n] [...] Schloss" (Z. 1 f.) • Zitate innerhalb des übernommenen Textes (Zitat im Zitat) wechseln von doppelten Anführungsstrichen zu einfachen (,'). • Längere Textübernahmen setzt man aus Übersichtlichkeitsgründen als eigenen Textblock vom üblichen Text eingerückt ab. Hier werden keine Anführungszeichen gesetzt. • Bei Gedichten zeigt man den Verswechsel durch eine Virgel (/) an. —TIPP- Ubernehmen Sie keine belanglosen Textteile nur um des Zitierens willen. Überlegen Sie deshalb: Können Sie die Information auch mit eigenen Worten wiedergeben? Schritt 5 Überprüfen Der zu Beginn Ihrer Arbeit erstellte Zeitplan zahlt sich nun aus. Nachdem Sie Ihre Ausführung beendet haben, lesen Sie in Ruhe noch einmal den gesamten Text durch und überprüfen ihn auf Rechtschreibung, Grammatik und Stil. Streichen Sie fehlerhafte Formulierungen sauber mit einem Lineal durch und schreiben Sie die verbesserte Fassung darüber. Längere inhaltliche Berichtigungen und Ergänzungen sollten an den Schluss gesetzt werden. Verweiszeichen (ggf. durchnummeriert) im Text machen darauf aufmerksam. Schritt für Schritt zum Ziel: einem gelungenen Interpretotionsaufsotz! Beim sinngemäßen bzw. indirekten Zitieren geben Sie eine Textstelle in eigenen Worten wieder, jedoch ohne den Inhalt zu ändern („sinngemäß"). Auch optisch unterscheidet sich ein indirektes Zitat deutlich von einer direkten Wiedergabe: Sie setzen keine Anführungszeichen und geben die Quelle in Klammern mit „vergleiche" an: (vgl. Z. xx). 18 / Grundlagen Hinweise zu übergreifenden Bearbeitungsbereichen / 19 5 Hinweise zu übergreifenden Bearbeitungsbereichen 5.1 Die Einleitung Nach der Aufgabenwahl wenden Sie sich der Einleitung zu und halten die dafür notwendigen Informationen fest. Mit ihnen eröffnen Sie dem Leser den Zugang zum Text. Sprechen Sie deshalb folgende Punkte an: Textart Grundinformationen Erscheinungsjahr Hauptfigur(en) bzw lyrischer Sprecher und Adressat(en) Beachten Sie > Angabe des Erscheinungsjahrs: Das Jahr der Erstveröffentlichung steht meist nach dem Titel in Klammern. Die Textvorlage kann jedoch einer späteren Veröffentlichung entnommen sein. Vergleichen Sie dazu den Quellennachweis am Textende. Des Weiteren sind bei dramatischen Werken Erscheinungsjahr und Uraufführung zu unterscheiden. > Angabe des Themas: Viele Abiturtexte enthalten eine sich steigernde innere Dramatik. Es genügt deshalb nicht, nur äußere Ereignisse in die Überblicksinformation aufzunehmen, vielmehr müssen auch entstehende Gegensätze und Konflikte kurz genannt werden Bei einer umfassenden Interpretation, in der Sie auf einzelne Teilaspekte ausführlicher eingehen, empfiehlt es sich, in der Einleitung Ihr methodisches Vorgehen kurz zu erläutern. Gegebenenfalls lässt sich ein Einleitungsgedanke so formulieren, dass Sie ihn im Schlussteil wieder aufgreifen und auf diese Weise Ihre Arbeit abrunden können. Bei der Lösung von Teilaufgaben gestalten kurze themenrelevante Einführungen die Übergänge flüssiger. Näheres zum Thema „Einleitungen" finden Sie in den gattungsspezifischen Kapiteln dieses Bandes (zur Epik siehe S. 42; zum Drama siehe S. 92; zur Lyrik siehe S. 146). 5.2 Inhalt und Aufbau Eine komprimierte Zusammenfassung erleichtert den Zugang zur folgenden Analyse und Deutung. Orientieren Sie sich bei der Ausgestaltung Ihres Textes an den Geschehens- und Handlungsabläufen, den Sinneinheiten und Leitmotiven. Halten Sie sich an die Grundsätze: knapp, sachlich, klar und übersichtlich. Verwenden Sie eigene Worte, schreiben Sie im Präsens und vermeiden Sie Textubernahmen, auch in Form von Zitaten. Eigene Meinungen, Kommentare und überflüssige Details gehören nicht in eine Zusammenfassung. Jeder Text ist auf bestimmte Weise formal und inhaltlich gegliedert: Die äußere Struktur erkennt man an Kapitel-, Akt- oder Strophencinteilung, den inneren Aufbau an inhaltlichen Einheiten, wie Hinführung (Einleitung), Darstellung (Hauptteil) und Abrundung (Schluss) eines Themas. Bei der Suche nach Aufbauprinzipien ist in der Regel die Textart hilfreich. Vielen Texten liegt ein kompositorisches Muster zugrunde, das von der Gattung bestimmt wird. So gibt es zahlreiche epische, dramatische und lyrische Texte mit weitgehend fester Bauart (z. B. Anekdote, Parabel, Kurzgeschichte, Novelle, klassisches Drama, Sonett). Grundsätzlich geben auch Veränderungen stets Hinweise auf die Struktur eines Textes. Achten Sie deshalb auf einen Wechsel in den Bereichen: • Perspektive, • Ort und Zeit, • Figurenauftritt, • thematische Schwerpunkte, • Geschehens- und Handlungsabläufe sowie • Wirklichkeitsbereiche (innere - äußere Handlung). Oft entspricht die äußere Form der inhaltlichen Aussage, d. h., eine neue Sinneinheit wird meist auch an einem neuen Absatz erkennbar. Beachten Sie Mitunter, v. a. bei kürzeren Texten und Gedichten, bietet es sich an, Inhalt und Aufbau als einen gemeinsamen Bearbeitungsbereich zu behandeln. Aber auch dann sollte der Unterschied zwischen inhaltlichen und formalen Elementen deutlich werden. / Grundlagen Hinweise zu übergreifenden Bearbeitungsbereichen / Texte weisen außerdem entweder eine eher offene oder geschlossene Form auf. Die Elemente, die inhaltlich einen Text gestalten, stehen nämlich in unterschiedlicher Beziehung zueinander. Sie können in zeitlicher und kausaler Konsequenz und durch Leitmotive fest verknüpft aufeinanderfolgen. Besitzen sie zudem einen klaren Anfang und einen eindeutigen Schluss, handelt es sich um einen geschlossenen Text. Zeigen die Textelemente hingegen Eigenständigkeit, sind sie locker zusammengefügt, wirken Gedankengänge, Handlungen und Geschehen gebrochen, unverbunden und montiert, spricht man von einer offenen Form. Traditionelle Texte spiegeln eher eine geschlossene, überschaubare Welt, moderne Texte dagegen oft eine desillusionierte, gebrochene Welt. Um die Struktur eines Textes zu erfassen, müssen Sie also zusammenfassend Folgendes berücksichtigen: Erkennen inhaltlicher und formaler Strukturelemente Inhaltliche Gliederung > Geschehens- und Handlungsabschnitte > Sinneinheiten, gedankliche Einheiten > Leitmotive innerer Aufbau > Einleitung, Hauptteil, Schluss ■ Exposition, Steigerung, Peripetie, fallende Handlung, Katastrophe ■ feste Kompositionsschemata ■ Verknüpfung durch Leitmotive äußere Form > Kapitel, Absätze > Akte, Szenen > Strophen, Verse -TIPP--___ Bereits beim ersten Durchlesen stellen sich weiterführende Gedanken und Assoziationen zu einzelnen inhaltlichen Aussagen ein. Notieren Sie diese stichpunktartig am Rand Sie erleichtern Ihnen die folgende Form- und Sprachanalyse und dienen als erster Interpretationsansatz. Achten Sie aber darauf, Inhalt und Interpretationsansätze klar zu trennen. Deutungen haben bei einer Inhaltszusammenfassung keinen Platz! 5.3 Sprache und Stil Neben der Inhaltszusammenfassung und Aufbaubeschreibung bildet die Sprachanalyse ein weiteres Element der Texterschließung. Konzentrieren Sie sich dabei auf Auffälligkeiten bei Wortwahl, Syntax, Stil und rhetorischen Mitteln. Es genügt jedoch nicht, nur einzelne Fakten zu sammeln und diese voneinander isoliert aufzulisten. Vielmehr gilt es, deren funktionale Beziehungen zur Aussageabsicht zu erkennen, um auf diese Weise zum Textverständnis zu gelangen. Wortwahl Wörter tragen Bedeutungen. Sie sind von Vorstellungen besetzt und lassen in ihrer Verwendung Wirklichkeitssicht und Intentionen des Autors erkennen. Achten Sie deshalb bei Ihrer Untersuchung ganz besonders auf Schlüssel und Leitwörter. Als sinntragende Wörter öffnen Ihnen Schlüsselwörter den Zugang zur Textaussage (vgl. die Verben „beschauen" und „betrachten" in den Quartetten des Gryphius-Sonetts, Text 14). Sie erweisen sich als besonders hilfreich, um vieldeutige und rätselhafte (sogenannte „hermetische") Inhalte aufzuschließen, die einen raschen Zugriff verwehren (vgl. moderne Lyrik). Charakteristisch für Leitwörter ist ihr wiederholtes Auftreten an wichtigen Textstellen. Dadurch gliedern sie den Inhalt, verbinden seine Teile und heben besondere Aussagen hervor. Auch sie sind einer bestimmten Idee zugeordnet (vgl. „unschuldig" im Drama Hebbels, Text 5). Mitunter können Wörter zugleich als Schlüssel- und Leitwörter fungieren. Ebenso ist der Übergang von Leitwörtern zu Leitmotiven fließend. Beispielsweise hat das Adverb „immer" im Auszug von Eugen Rüge (Text 2) so- 22 / Grundlagen Hinweise zu übergreifenden Bearbeitungsbereichen ^ 23 wohl Schlüssel- wie Leitfunktion. Es führt den Leser in die Zeitmotivik ein und leitet ihn durch seine einprägsame Wiederholung durch den Text. Emotional aufgeladene Wörter können stimmungstragende, aber auch Spannung auslösende Wirkungen hervorrufen. Vor allem in moderneren Texten finden sich häufig gruppenspezifische Ausdrücke. Dabei kann es sich um berufliche Fachausdrücke, um regionalen (Dialekt) oder sozial gebundenen (z. B. Vulgärsprache) Wortschatz handeln. Gelegentlich spielen auch nichtssagende Floskeln eine Rolle. Schlüsselwörter? emotionale Ausdrücke? Leitwörter? Wortwahl -__j gruppenspezifische Ausdrücke? (soziale, regionale, berufliche Einflüsse) Floskeln? Bei der Untersuchung der syntaktischen Besonderheiten eines Textes sollten Sie nicht zuletzt möglicherweise vorhandene Satzfiguren berücksichtigen (vgl. Liste der rhetorischen Mittel, zu denen auch die Satzfiguren gehören, auf S. 25ff.). Konzentrieren Sie sich auf: Wortverbindungen (Asyndeton, Polysyndeton), Worteinsparungen (Ellipse), Worthäufungen (Akkumulation) und Besonderheiten der Wortstellung (Parallelismus, Inversion, Chiasmus). Satzarten (Aussage-, Frage-, Aufforderungssatz) Satzgliederung (Ordnung und Bedeutung der Satzglieder) Satzfiguren (Wortverbindungen, -einsparungen, -Häufungen, Wortstellung) Syntax Satzarten bringen die im Text vorhandenen Grundabsichten zum Ausdruck: Sie teilen etwas mit, formulieren Fragen, geben einen Ausruf wieder oder fordern zu einer Tätigkeit auf (Aussage-, Frage-, Ausrufe- und Aufforderungssätze). Treten in einem Text bestimmte Satzarten auffällig oft oder an besonders prägnanter Stelle auf, können sie für die Deutung relevant sein. Schenken Sie insbesondere allen aus der Norm fallenden Satzformen Interesse: Dominieren nebensatzarme Parataxen (= Abfolge von Hauptsätzen), um den Blick auf wesentliche Aussagen zu lenken, oder herrschen hypotaktische Strukturen (mit verknüpften Haupt- und Gliedsätzen) zur Darstellung komplexer Themen vor? Jeder Satz besteht aus Wörtern, die Satzteile bilden und damit den Satzbau bestimmen. Achten Sie bei Satzgliedern vor allem auf ungewöhnliche Anordnung, Auslassung oder Häufung. Dem Prädikat, dem eigentlichen Geschehenskern, kommt dabei besondere Bedeutung zu. Dieses Geschehen kann aus unterschiedlichen Perspektiven (Handlungsrichtungen) betrachtet werden: Im Aktiv ist das Subjekt Träger des Geschehens, im Passiv geschieht umgekehrt mit dem Subjekt etwas, es kann sogar ganz verschwinden. Stil In der Literaturwissenschaft versteht man unter Stil die sprachliche Ausdrucks- und Gestaltungsart eines Textes (also wie bzw. auf welche Art und Weise Inhalte ausgedrückt werden). Dabei wirken verschiedene Faktoren zusammen: • grammatische Gestaltungsmittel: Bedeutung der Tempora, der Kasus, des Wortschatzes (vgl. Verbalstil, Nominalstil), der Syntax (vgl. parataktischer Stil, hypotaktischer Stil), • phonetische Gestaltungsmittel: Rhythmus, Metrik, Sprachmelodie, Akzentuierung, Klanggestaltung bei lyrischen Texten, • rhetorische Gestaltungsmittel: rhetorische Mittel, v.a. der Bildlichkeit (Metapher, Allegorie, Symbol). Man unterscheidet verschiedene Stilebenen: Stilebene hohe Ebene gehobene, gewählte Sprechweise mit zahlreichen rhetorischen Figuren mittlere Ebene unterhaltend, allgemein verständlich, umgangssprachlich niedere Ebene einfach, z.T. saloppe Wendungen, z.T. ins Vulgäre abgleitend 24 / Grundlagen Hinweise zu übergreifenden Bearbeitungsbereichen / 25 Einzelne Künstler zeichnen sich oft durch einen ganz persönlichen Stil (Indi-vidualstil) aus, und auch Epochen werden durch stilistische Grundmuster geprägt (Epochalstil). Der Stil kann zudem von der Textart vorgegeben sein (vgl. Bericht-Stil), einen geographischen (regionaler Stil, Dialekt), sozialen (Bil-dungs-, Vulgärsprache; Ethnolekt = Sprechstil einer sozialen Minderheit in einem begrenzten Sprachraum), beruflichen (Fachsprachen, Behörden-Stil) Hintergrund haben oder altersbedingt sein (Jugendsprache). Rhetorische Mittel In einer emotional gesteigerten Situation verwenden wir oft ganz spontan sprachliche Wendungen, die unsere Aussagen anschaulicher, eindringlicher und spannender gestalten und die Kommunikation intensivieren. Bereits in der griechischen Antike wurden rhetorische Figuren bei Gerichts-, Fest- und politischen Reden bewusst zur Beeinflussung des Publikums eingesetzt. Heute gehören sie zum festen Bestandteil der Werbesprache. Bei der Analyse literarischer Texte bilden sie eine wichtige Grundlage für das Verstehen des Inhalts und der Aussageabsicht. Ein guter Redner weiß, wie er sein Publikum überzeugen kann. So baut er seine Rede geschickt auf, setzt rhetorische Mittel ein und versteht es, auch stimmlich, gestisch und mimisch seine Zuhörer mitzureißen. Die Grundlagen der Rhetorik und der bewussten Verwendung von rhetorischen Mitteln liegen in der griechischen Antike und bestimmen auch heute politische Reden. Eine besonders eindringliche Wirkung hatten etwa die Anaphern (z. B. „Yes, we can") in den Wahlkampfreden Barack Obamas, des ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten. Maßgeblich ist stets die Funktion im Zusammenspiel mit anderen sprachlichen Elementen. Man unterscheidet folgende Grundfunktionen: • Veranschaulichung und Verdeutlichung durch Formen der Bildlichkeit, des Vergleichs -» z. B. Allegorie, Beispiel, Metapher, Metonymie, Personifikation, Symbol, Synästhesie, Vergleich • Eindringlichkeit und Bekräftigung durch Formen der Wiederholung, der Häufung, der Steigerung, der Umschreibung -> z.B. Akkumulation, Anapher, Asyndeton, Ausruf, Correctio, Ellipse, Emphase, Epanalepse, Epi-pher, Hyperbel, Klimax, Lautmalerei, Parallelismus, Personifikation, Wiederholung Spannung durch Formen der Normabweichung, des Gegensatzes (z. B. von Gesagtem und Gedachtem), der Anspielung, des Verschweigens -» z.B. Allusion, Antithese, Contradictio in Adjecto, Inversion, Ironie, Litotes, Oxymoron, rhetorische Frage, Synästhesie Kommunikation durch Formen der Anrede, der Frage -> z.B. Anrede, (rhetorische) Frage Übersicht: Rhetorische Mittel Rhetorisches Mittel Erklärung Beispiel Akkumulation Allegorie Alliteration Allusion Anapher Anrede Antithese Aphorismus Apokope Anhäufung von Wörtern ohne Nennung eines Oberbegriffs systematisierte Metapher, durch Reflexion zu erschließen gleicher Anlaut aufeinanderfolgender Wörter Anspielung Wiederholung eines Wortes/ einer Wortgruppe zu Beginn aufeinanderfolgender Sätze, Verse oder Strophen Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Stadt' und Felder (Paul Gerhardt) Justitia (= Gerechtigkeit) Haus und Hof; Kind und Kegel Sie wissen, was ich meine. Wir fordern, dass... Wir fordern, dass ... Hinwendung an den Adressaten Meine Damen und Herren, Gegenüberstellung von gegensätzlichen Gedanken/Aussa-gen/Begriffen knapp formulierter Sinnspruch Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein. (Gryphius) jenes Thal und diser Felsen Höh' (Gryphius, Text 14, V. 3) Der Klügere gibt nach. Wegfall eines Lautes oder einer ich hab' dich, Silbe am Ende des Wortes; meist ich lass' dich durch Apostroph verdeutlicht Archaismus veralteter sprachlicher Ausdruck Asyndeton Reihung ohne Konjunktionen abhold Er kam, sah, siegte. 26 / Grundlagen Rhetorisches Mittel Erklärung Beispiel Ausruf Stirb! Beispiel beispielsweise ... Chiasmus Überkreuzstellung von Satzgliedern Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben. (Goethe, Faust 1) Chiffre sprachl. Bild (Symbol), mit einer rätselhaften, komplexen Bedeutung, die entschlüsselt werden muss (häufig in moderner Lyrik) schwarze Milch der Frühe (Celan), des Abends blauer Flügel (Trakl,Text15, V. 11) Contradictio in Adjecto Widerspruch zwischen Substantiv und Adjektiv blaues Blut Correctio Verbesserung eines Ausdrucks, der zu schwach erscheint Die Schulaufgabe ist schlecht, ja geradezu miserabel. Diminutiv Verkleinerungsform Stübchen, Schifflein (Eichendorff, Text 12, V. 14, 23) Elision Wegfall eines auslautenden unbetonten Vokals vor einem folgenden Vokal da steh' ich, hätt' ich doch Beschau' ich, Betracht' ich, Grund' all (Gryphius, Text 14, V. 3,6,7) Ellipse unvollständiger Satz durch Auslassung eines Wortes oder Satzteils Schaute hinaus in die Welt. Irgendwie bunter. Idiotischer. (Rüge, Text 2, Z.5und 7) Emphase akustische Steigerung, betonte Verwendung eines Begriffs Das Volksvermögen wird bewacht in der Nacht, der Nacht und vor allem in der Nacht. Epanalepse Wiederholung eines Wortes oder Satzteiles, jedoch nicht unmittelbar hintereinander Erlief und lief. Und hier und dort (Trakl, Text 15, V. 7) Epipher Umkehr der Anapher (Wiederholung eines Wortes/einer Wortgruppe am Ende aufeinanderfolgender Sätze oder Verse) Nicht jetzt, sagt er... später, sagt er. Euphemismus Beschönigung, Verschleierung „dahinscheiden" statt „sterben" Hyperbel Übertreibung ein Mund, groß wie ein Scheunentor Rhetorisches Mittel Erklärung Hinweise zu übergreifenden Bearbeitungsbereichen / 27 Beispiel Inversion Ironie Katachrese Klimax Litotes Metapher Metonymie Neologismus Onomatopoesie Oxymoron Paradoxon Parallelismus In seinen Armen das Kind war tot. (Goethe, Text 13, V. 32) Umstellung von Satzgliedern, abweichend vom normalen grammatikalischen Gebrauch Das Gegenteil des Gesagten ist Du siehst heute aber gut aus! gemeint. Vermengung von nicht zu- Der Zahn der Zeit, der schon sammengehörenden Bildern manche Träne getrocknet hat, wird auch über diese Wunde Gras wachsen lassen. Steigerung In jeder Partei gibt es Eifrige, Übereifrige und Allzueifrige. Bejahung durch doppelte Verneinung sprachl. Bild, bei dem ein Ausdruck durch einen anderen, meist anschaulicheren Begriff mit ähnlicher Bedeutung ersetzt wird; oft als verkürzter Vergleich, bei dem zwei Vorstellungsbereiche ohne „wie" verbunden sind Die Schüler sind nicht unwillig. Redefluss [= unaufhörliches Reden] Quelle [= Ursache] der Freude die toten Fenster (Rüge, Text 2, Z. 21 f.) [verdeutlichen den kulturellen Verfall] Umbenennung, Übertragung Wortneuschöpfung Goethe lesen, ein Glas trinken, Italien friert „Aufschieberitis" [die für Krankheiten typische Endung -itis bezeichnet hier die Angewohnheit, unangenehme Arbeiten hinauszuzögern] Lautmalerei bei Wortbildungen Es knistert und knastert. Zusammenfügen entgegengesetzter Begriffe scheinbar widersprüchliche Aussage, die sich bei näherer Betrachtung als richtig erweist alter Knabe, bittere Süße, beredtes Schweigen Weniger ist mehr. Ich weiß, dass ich nichts weiß. gleichartiger Satzbau Erfasst ihn sicher, er hält ihn warm (Goethe, Text 13, V. 4) 28 / Grundlagen Hinweise zu übergreifenden Bearbeitungsbereichen / 29 Rhetorisches Mittel Erklärung Beispiel Parenthese Paronomasie Periphrase Personifikation Polyptoton Polysyndeton Rhetorische Frage Symbol Synästhesie Synekdoche Synkope Vergleich Zeugma Zitat Einschub Wortspiel Ich möchte Ihnen - ich fasse mich kurz - über den Vorfall berichten. Wir fürchten niemals Verhandlungen, doch wir werden niemals aus Furcht verhandeln. Umschreibung eines Begriffs „der Allmächtige" statt „Gott" Der dunkle Herbst kehrt ein [.. (Trakl,Text15, V.1) Vermenschlichung eines Gegenstandes Wiederholung desselben Wortes in verschiedenen Flexionsformen das Beste vom Besten Aneinanderreihung von Wörtern/Satzteilen, die durch dieselbe Konjunktion verbunden sind Scheinfrage bildhafter Ausdruck, der auf etwas Abstraktes (einen Begriff, eine Idee) verweist Vermischung v. Sinnesgebieten Ein Teil steht für das Ganze. Ausfall eines kurzen Vokals im Wortinnern Verknüpfung zweier Sachverhalte oder Bildbereiche durch Hervorhebung des Gemeinsamen (durch das Wort „wie") Verbindung von Substantiven durch ein Verb, das zu jedem einzelnen, nicht aber zu beiden passt Und wiegen und tanzen und singen dich ein. (Goethe, Text13,V. 20) Wer glaubt denn das noch? „Sonne" für „Gott", „Wasser" für „Leben", „Taube" für „Frieden", „Wüste" für „Einsamkeit" (vgl. Gryphius, Text 14, V.1) goldene Töne „Klinge" statt „Schwert" ew'ger Friede stark wie ein Löwe Er schlug das Fenster und den Weg zum Bahnhof ein. Textübernahme (Wort, Satz, Abschnitt) der Ausdruck „bunte Büsche" (Z....) 5.4 Zur Textdeutung Bei der Textdeutung verbinden Sie drei Bereiche miteinander: die Ergebnisse der Analyse, zentrale inhaltliche Aussagen und Ihr vorhandenes Wissen Berücksichtigen Sie Aspekte, die durch Häufigkeit, Intensität und Verknüpfungsart auffallen (Handlungen, Begriffe, Sachverhalte, Motive). Dabei erweisen sich die erschlossenen formalen, sprachlichen und inhaltlichen Fakten als hilfreich. Das eigene Vorwissen stellt den Inhalt in größere Zusammenhänge. So lassen sich Sinn und Absicht der oft verschlüsselten literarischen Aussage leichter erkennen. Vorwissen / / Deutung / * * \ Formale und - sprachliche Aspekte Motive Selbst wenn die Aufgabenstellung nicht explizit von Ihnen verlangt, einen literarischen Text auf ein bestimmtes Motiv hin zu untersuchen, kann es für die Interpretation durchaus wichtig sein, sich mit vorhandenen Motiven zu befassen. Das Motiv ist ein kleines Bauelement, das als Bedeutungsträger einem Text eine bestimmte Richtung gibt. Es löst Handlungen aus, begleitet in verschiedenen Erscheinungsformen das Geschehen, verbindet Sinneinheiten und hält diese zusammen. Da sich dasselbe Motiv oft in verschiedenen Texten findet und über Epochen hinweg verfolgen lässt, spricht man auch von Motivtradition. Ein Beispiel dafür ist die Zeit-Motivik. Sie setzt in der Renaissance ein (Tepl: Der Ackermann aus Böhmen), verdichtet sich während des Dreißigjährigen Krieges im Barock (vgl. Gryphius-Sonette, auch Text 14) und erhält seit dem 19. Jahrhundert durch die verstärkte Orientierung des Menschen im Diesseits neue Aspekte (vgl. Zeitromane), die in der Moderne noch weiter differenziert werden (unverarbeitete Vergangenheit, Zukunftsängste). „Zeit" ist auch das Grundmotiv im Textauszug von E. Rüge (siehe Text 2). Sie wird als Vergänglichkeit erfahren und konkretisiert sich in Krankheit, Persönlichkeitsverlust, verfallender Kultur und bedrohlicher Natur. Ein wichtiges Erkennungsmerkmal von Motiven ist die Wiederholung. Achten Sie also auf sich wiederholende Situationen, Räume, Gegenstände, Ereignisse, Figuren, Eigenschaften, Verhaltensweisen, Bilder. Auf diese Weise er- 30 / Grundlagen Hinweise zu übergreifenden Bearbeitungsbereichen / 31 fassen Sie auch Leitmotive als häufig wiederkehrende, kleine formale und inhaltliche Einheiten. In dramatischen Texten finden sich oft auf Spannung ausgerichtete Motive (z.B. feindliche Brüder); in der Lyrik werden Motive häufig bildhaft dargestellt (z.B. Dämmerung, Nacht, Frühling, Einsamkeit), in epischen Texten breiter angelegte bevorzugt (z. B. Selbstverwirklichung, Lebensweg, Künstlertum, Familie, Ehebruch). Mitunter verrät Ihnen bereits der Titel das tragende Hauptmotiv: Der Tod in Venedig; Buddenbrooks: Verfall einer Familie; Der Herbst des Einsamen. Auch eine Mindmap kann Ihnen helfen, Motive zu erfassen und aufzuschlüsseln (vgl. zusätzlich: Clustering, assoziative Methode). Das folgende Beispiel zeigt Ihnen, wie eine solche Mindmap zu einem Textmotiv aussehen könnte. Beispiel: Vergänglichkeitsmotiv im Text von Eugen Rüge (vgl. Text 2): Verunsicherung ins Niveaulose Alter Veränderungen Verluste Natur (Herbst) als Widersacher Gesundhe Persönlichkeit Kommunikations fähigkeit menschliche Kultur - Bedrohung - Chaos —TIPP Ein Kriterium für die Qualität des Motivs ist sein Fundort. Kommt es an zentralen Stellen vor, spricht dies für seine Intensität. Motive haben unterschiedliche Funktionen. Sie können • Handlungen auslösen und als Sinnträger fortlaufend begleiten (Leitmotive), • auf entscheidende Textstellen aufmerksam machen, • Textelemente verknüpfen und zu einer Einheit verbinden, • dem Text eine ihn tragende Stimmung verleihen und ihm so eine bestimmte Wirkungsrichtung geben und • kennzeichnende Merkmale von Epochen sein (z. B. das Nacht-Motiv für die Romantik). Wenn Sie bestimmte Motive eines Textes darstellen wollen, können Sie auf unterschiedliche Weise vorgehen. Oft lässt schon der Textinhalt einen Gliederungsweg erkennen: • Bei Entwicklungen strukturieren Sie nach Ursachen, Kennzeichen und Wirkungen bzw. zeitlichen Veränderungen (z. B. krankheitsbedingte Veränderungen: siehe Text 2; schicksalhafte Entwicklung: siehe Textl; Lebenswege: siehe Text 12; sich wandelnde Natur: siehe Text 11); • bei thematischen Variationen nach Erscheinungsformen, Eigenschaften und inhaltlichen Vernetzungen (z. B. unterschiedliche Erscheinungsformen einer Krankheit: siehe Text 2; Erscheinungsformen von Einsamkeit: siehe Texte 14,15); • bei Relationen stellen Sie die einzelnen Perspektiven und Aktionen dar (z.B. die Einstellungen der Figuren zum Krieg: siehe Text7; zwischenmenschliche Konflikte: siehe Texte 5, 6). So wie in der Literatur spielen Motive auch in der bildenden Kunst eine Rolle; Vincent van Gogh: Sternennacht (1883), Charles Allan Gilbert: All is Vanity (1892), Alfred Kubin: Der Krieg (1901/02) Vergleichende Deutung von literarischen Texten Die Arbeitsanweisung „Vergleichen Sie [...]" verlangt von Ihnen, dass Sie vorgegebene oder selbst gewählte Texte, Textteile, Themen, Motive, Figuren, Verhaltensweisen oder andere Aspekte einander gegenüberstellen und in Beziehung setzen. Ziel ist es, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten oder Unterschiede zu ermitteln. Sie haben zwei Möglichkeiten: Sie untersuchen die Texte bzw. gewünschten Themenbereiche zunächst gesondert nacheinander, um anschließend in einem dritten Hauptpunkt Gemeinsamkeiten und Unter- 32 / Grundlagen Übersicht über die literarischen Epochen / 33 schiede festhalten zu können (diachrone Methode). Bei der zweiten Vorgehensweise (synchrone Methode) vergleichen Sie die Texte parallel. Bei einer allgemein formulierten Aufgabenstellung orientieren Sie sich an den üblichen Untersuchungskriterien der Interpretation. Stellen Sie gegenüber: • Informationen der Einleitung (Autor, Titel, Erscheinungsjahr, Epoche) • Thema und inhaltliche Vermittlung • formale Aspekte • sprachliche Auffälligkeiten • inhaltliche Schwerpunkte (z. B. Figuren, Motive) Beachten Sie Auf Details werden Sie nur dann ausführlich eingehen können, wenn Ihnen beide Texte, wie bei einem Gedichtvergleich, vorliegen. Hier ist es sinnvoll, vorbereitend mit einer Tabelle zu arbeiten, in der Sie in nebeneinander gesetzten Stichpunkten Unterschiede und Gemeinsamkeiten festhalten (vgl. S. 184). Meist jedoch bezieht sich ein Vergleich auf einzelne inhaltliche Aspekte (z. B. Liebe, Krieg, Stadt, Natur, Gesprächsstrategie). Fächern Sie solche Begriffe nach den im Ausgangstext vorhandenen Hinweisen auf. Fragen Sie nach Entwicklungen, thematischen Variationen und Relationen. Soll etwa ein bestimmtes Motiv in verschiedenen Texten verglichen werden, so fragen Sie nach seinem Stellenwert im Text (—» Hauptmotiv?), seinen formalen Funktionen (strukturbestimmendes Leitmotiv?), seiner sprachlichen Realisation, seinen Erscheinungsformen, seinen inhaltlichen Funktionen (Herstellen inhaltlicher Zusammenhänge, Handlungs- und Stimmungsauslöser, Bedeutungsträger?), ggf. seiner Wirkung auf den Leser. —TIPP-- Stellt Ihnen die Arbeitsanweisung die Wahl eines Vergleichstextes frei, so empfiehlt es sich, auf gegensätzliche Inhalte zu achten. So können Unterschiede klarer und einfacher herausgearbeitet werden. Beim Vergleich lyrischer Texte werden zunehmend zwei Aufgabenteile angeboten. Die erste Arbeitsanweisung bildet den Arbeitsschwerpunkt und verlangt von Ihnen eine umfassende Interpretation des ersten Gedichts. Die zweite Teilaufgabe zielt auf einen aspektorientierten Vergleich mit einem weiteren Text (Thema, Motiv, Form, Sprache). 6 Übersicht über die literarischen Epochen Barock (1600-1720) • Hintergründe: Entwicklung der modernen Wissenschaften; Aufblühen des Humanismus; Absolutismus mit extremen sozialen Spannungen; große Religiosität und Religionskonflikte; Dreißigjähriger Krieg mit verheerenden Auswirkungen • Vanitas (lat. „leerer Schein, Nichtigkeit, Eitelkeit") als zentrales Motiv —» Memento mori (lat. „Gedenke des Todes"): Abkehr von der Welt und Konzentration auf das Jenseits oder Carpe diem (lat. „Genieße den Tag"): Genuss des flüchtigen Augenblicks -> Streben nach Ordnung in Form und Inhalt • starkes Formbewusstsein und Dominanz geregelter Formen, z. B. Sonett mit Alexandriner in der Lyrik, um antithetisches Denken auszudrücken —> Regelpoetik: poetisches Schreiben durch Orientierung an Regeln • Lyrik (v. a. Sonette) und Drama (Tragödien mit mythologischen Stoffen) als dominierende Gattungen • vorherrschende Themen: Krieg, Tod, Vergänglichkeit Aufklärung (ca. 1720-1785) • Hintergründe: (aufgeklärter) Absolutismus; Säkularisierung und Deismus (rationaler Zugang zu Gott); Aufstieg des Bürgertums • Orientierung an der menschlichen Vernunft —> distanziertes Verhältnis zu Emotionen; dagegen -> Empfindsamkeit mit Aufwertung des Gefühls als Gegenbewegung • autonomes Individuum mit Menschenrechten im Zentrum —> Toleranz als zentraler Wert • lehrhafte Kurzformen der fiktionalen Literatur: Fabel, Parabel, Lehrgedicht, Epigramm, Ode und Fortsetzungsroman —> Literatur soll nützlich sein • Themen: Ständekritik, Toleranz, Bildung, Humanität, Erkenntnisfähigkeit des Menschen • Stilideal der Klarheit und Verständlichkeit Sturm und Drang (ca. 1765-1785) • Hintergründe: große soziale Ungerechtigkeit; absolutistische Machtpolitik und Fürstenwillkür —> Aufbegehren der jungen Generation • starker Subjektivismus mit Mensch als erlebendem und empfindendem Subjekt im Mittelpunkt —> Gefühlskult und Aufbruchsstimmung • Aufwertung der Emotionalität und des ganzen Menschen als Gegenbewegung zum Rationalismus der Aufklärung • jugendliche Protestbewegung die Fürstenwillkür, soziale Ungleichheit, materielle Not und rigide Moralvorstellungen anprangert 34 / Grundlagen • Autonomie des Künstlers und seines Kunstwerkes -> Geniekult, Schöpfergedanke • Themen: Herz, Natur, Freundschaft, Liebe, Freiheit, polit. Widerstand, Gerechtigkeit • Abkehr von Regelpoetiken —* Leidenschaftlichkeit der Sprache: Ausrufe, Hyperbeln, Metaphern, Kraftausdrücke und Neologismen • Erlebnislyrik: Wiedergabe der unmittelbaren Empfindungen des lyrischen Ich in freien Rhythmen, reimlosen Versen und hohem Pathos, aber auch in der Einfachheit des Volkslieds • Tendenz zur freieren Form des offenen Dramas und zum Briefroman Klassik (ca. 1786-1805) • Hintergründe: Französische Revolution mit Terrorherrschaft; „Musenhof' unter Herzogin Anna Amalia in Weimar (Zusammenarbeit von Goethe und Schiller) • Leitgedanken: Harmonie, Ausgleich der Gegensätze, Würde, Humanität, Toleranz, Selbstbestimmung, Beherrschung und Mäßigung (Edle Einfalt, stille Große) • Ideal des Guten, Wahren und Schönen —> Forderung nach ethischer Vervollkommnung durch Orientierung an der Antike —» Erziehung des Menschen als Aufgabe der Kunst • überzeitliches Humanitätsideal -> historische Umstände, Alltagssprache oder politisches Ideal spielen keine Rolle —> Vorwurf an Klassik, bestehende Verhältnisse zu stützen • Themen: Humanität, Freiheitsidee, Harmonie von Pflicht und Neigung • Ideal der Formstrenge: harmonische Verbindung von Inhalt, Sprache und Aufbau • Lyrik: klassische Formen, z. B. Elegien und Epigramme; Drama: metrisch gebundene Sprache (Blankvers), hoher Stil, geschlossene Form, historische oder antike Stoffe; Epik: Bildungsroman Romantik (ca. 1795-1830) • Hintergründe: Französische Revolution mit Terrorherrschaft; zunehmendes Nationalbewusstsein durch Kriege gegen Napoleon • Idee der Abhängigkeit des Menschen von einem Absoluten oder Unendlichen —> Wiederannäherung an religiöse Denkformen -> Poesie als Medium des Absoluten (Universalpoesie, in der alle Gattungen und Künste vereint sind) —> Streben nach Gesamtkunstwerk • Blick nach innen -»„Blaue Blume" als Symbol für metaphysische Sehnsucht nach dem Fernen und Unerreichbaren sowie den eigentlichen Seinszusammenhängen • Themen und Motive: Natur als Bereich des Unendlichen, Sehnsucht, Traum, Wahnsinn, Entgrenzung, Einsamkeit, Vergänglichkeit, Reisen, Wandern, Nacht, Fantastisches • Ideali sierung des Mittelalters im Zuge des aufkommenden Nationalbewusstseins —> Interesse an Volksdichtung, z. B. Volkslied und Märchen -> leichte Verständlichkeit, Wohlklang und „musikalische" Sprache Übersicht über die literarischen Epochen / 35 • Anschreiben gegen Philistertum und Bürgerlichkeit • „romantische Ironie": Aufzeigen der Unerreichbarkeit des Absoluten durch Texte, die sich selbst und ihre Entstehungsbedingungen reflektieren oder kommentieren • Roman als universale Form, die Gedichte enthalten kann Restaurationszeit (ca. 1815-1848) • Hintergründe: Wiener Kongress 1815 und Restaurationspolitik; Märzrevolution 1848 • zunehmende Einschränkung von Freiheitsrechten, Zensur —> verschiedene Strömungen: Biedermeier (Resignation und Rückzug ins Private), Vormärz und Junges Deutschland (Aufbegehren und politische Agitation) • rationale Haltung und Orientierung an Fakten —> Abkehr von der Romantik • Themen des Biedermeier: Familie, Ordnung, Beschaulichkeit, Idylle, Schicksalsergebenheit —> Schaffen einer heilen poetischen Welt • Themen des Vormärz, des Jungen Deutschlands: soziale und politische Missstände —> Kampf gegen soziales Elend und Unterdrückung als Aufgabe der Literatur • Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften —»vorwiegend kleinere literarische Formen Realismus (ca. 1848-1890) • Hintergründe: Scheitern der Revolution von 1848; Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 —> preußischer Militarismus; Bürgertum als führende Schicht; Verschärfung der Sozialen Frage durch Industrialisierung; Verstädterung —> Orientierungslosigkeit durch Verlust von Normen • „objektive" Darstellung der unmittelbaren Lebenswelt, aber Ausklammerung des Hässlichen und Niederen sowie der Sozialen Frage, um bürgerliches Ideal zu entwerfen —> Poetisierung der Wirklichkeit • Bürgertum als tragende Schicht —> Schilderungen des bürgerlichen Milieus vorherrschend, daneben historische Stoffe mit überzeitlichem Geltungsanspruch —> Streben nach Nationalliteratur, aber auch Aufwertung von Heimat- und Mundartdichtung • Themen: Liebe, Vergänglichkeit, Heimat, Naturerleben • Entstehung eines großen Literaturmarktes —> Zunahme des Lesepublikums —> Unterhaltungsliteratur (z. B. Abenteuerromane) • Roman und Novelle als zentrale Gattungen; in der Lyrik v. a. Balladen • Stil: gewählte, neutrale Sprache, Humor und Ironie 36 / Grundlagen Naturalismus (ca. 1880-1900)_ • Hintergründe: Milieutheorie = Mensch als Produkt der ihn umgebenden Verhältnisse: Vererbung, Milieu, historische Umstände; Industrialisierung und Proletarisierung —> Verschärfung der Sozialen Frage, Anwachsen der Großstädte zu Metropolen • radikalisierter, konsequenter Realismus mit Wegfall der verklärenden Poetisierung -> Blick auf hässliche Wirklichkeit sozialen Elends und Kritik an sozialen Verhältnissen • „Kunst = Natur-X" (A. Holz): möglichst Entsprechung von Kunst und Natur, Faktor X (Autor und seine Subjektivität) soll möglichst klein sein • Themen: Armenmilieus, Familienprobleme unterer Schichten, Doppelmoral, Großstadt, dunkle/hässliche Seiten des Lebens, Kriminalität, Geisteskrankheit, Alkoholismus • sozialkritisches Drama als bedeutendste Gattung • präzise Beobachtungen, Sekundenstil (Deckungsgleichheit von Erzählzeit und erzählter Zeit), natürliche Sprache (Dialekt, Soziolekt, Umgangssprache) Übersicht über die literarischen Epochen / 37 • pathetische Beschwörung eines neuen Menschen, der Liebe und Verbrüderung lebt („O-Menschľ -Expressionismus) • Großstadt (v. a. Berlin) als Ort der Reizüberflutung, Anonymität, Orientierungslosigkeit und Verdinglichung des Menschen • Erfahrung der Kaiserzeit als verkrustet und erstarrt —> Kriegsbegeisterung bei einigen Autoren, nach Kriegserfahrung häufig Pazifismus und Verarbeitung der Erlebnisse • Themen: Lebens- und Vitalkult, Krieg und Pazifismus, Weltende und Apokalypse, Krise des Ich, Tabus (Ästhetik des Hässlichen: Geisteskrankheit, Prostitution, Verbrechen), Großstadt • Lyrik als präsenteste Gattung, die der schnellen Lebenswirklichkeit entspricht -> Reihungsstil, elliptische Konstruktionen, Neologismen, Farbmetaphorik, Auflösung syntaktischer Regeln, Verdinglichung • Dramatik: Stationendrama mit lose aneinandergereihten Szenen, Wandlungsdrama mit Wandlung des Einzelnen als erstem Schritt zur Änderung der Welt Strömungen der Jahrhundertwende (ca. 1890-1910) • Hintergründe: Infragestellen der Selbstbestimmtheit des Menschen durch Erkenntnisse der Psychoanalyse; starrer Wilhelminismus -» Entstehung eines grundlegenden Krisenbewusstseins -» Strömungen des Impressionismus und Symbolismus als Weg nach innen • Idee einer reinen, sich selbst genügenden Kunst („rart pour l'art") als Gegenströmung zum Naturalismus —> keine politische Funktion der Kunst, sondern Flucht in eine Gegenwelt • Träger: großbürgerliche Boheme, die sich in Kaffeehäusern selbst feiert • Impressionismus: Wiedergabe eines subjektiven Sinneseindrucks mit höchster Intensität; Symbolismus: Absolutheitsanspruch der Kunst, gegen Abbildungsfunktion der Kunst gerichtet • Themen: Abgrenzung zum naturalistischen Erfassen der Realität, Besinnung auf das „Ich", Individualität, Subjektivität, Sprache, Kultur • kürzere, zum Teil auch experimentelle Formen, symbolische Verdichtung, Verfeinerung sprachlicher Mittel, Auflösung traditioneller Formen, Bewusstseinsstrom, innerer Monolog, erlebte Rede Expressionismus (ca. 1910-1925) • Hintergründe: Verstädterung und Anonymisierung, technischer Fortschritt, erstarrte wilhelminische Gesellschaft, Funktionalisierung des Menschen —» verschärftes Krisenbewusstsein, Sinnkrise, Erster Weltkrieg • Pathos des Aufbruchs und unbedingter Wille zum Ausdruck des Erlebens • Bedrohung des Subjekts durch Ich-Zerfall —> Darstellung des Körpers in Verfallszustän-den Neue Sachlichkeit (ca. 1920-1933) • Hintergründe: von vielen abgelehnte Weimarer Republik; wirtschaftliche Schwierigkeiten aufgrund von Reparationslasten; „Goldene Zwanziger" mit kultureller Vielfalt • dezidierte Abkehr vom Expressionismus; Hinwendung zur Lebensrealität mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen und zum sachlich-nüchternen Schreiben • Bewusstsein von Desillusionierung und Übergang in eine neue Zeit (Schwellenzeit Gefühl) • Themen: Großstadt, Verarbeitung des Kriegs, Probleme der „kleinen Leute", Alltagsleben • Gesellschafts- und Zeitromane, Dokumentartheater und Episches Theater, „Gebrauchslyrik" (Lyrik, die aufgrund ihrer Alltagsnähe für den Leser „verwendbar" ist) • Mischung von journalistischen, dokumentarischen und literarischen Anteilen —» kühldistanzierte, einfache, verständliche Sprache NS-Zeitund Exil (1933-1945) • Hintergründe: nationalsozialistische Herrschaft mit totalitärer Durchdringung des gesamten Lebens —> „Gleichschaltung" der Kunst und Literatur durch Bücherverbrennung Verfolgung und Zensur; Zweiter Weltkrieg, Erfahrung des Exils —> Freitod zahlreicher Autoren • NS-Literatur: regimekonform; Gestaltung ideologischer Motive wie Rasse, Führer-tum, Deutschtum, Kampf, Gewalt, Blut-und-Boden-ldeologie —»stereotype Metaphern • innere Emigration: getarntes Schreiben als geistige Opposition gegen Ungeist des NS-Regimes —» gehobene, oft verschlüsselte Sprache; Schreiben in europäisch-humanistischer Tradition 38 / Grundlagen Übersicht über die literarischen Epochen / 39 • Exilliteratur: Ideen von Humanität, Opposition zur NS-ldeologie, Repräsentation des „anderen" Deutschland • Roman vorherrschende Gattung (Reflexion der eigenen Situation), Drama nur Nebenrolle (Ausnahme: Bertolt Brecht), Verarbeitung der emotionalen Situation in der Lyrik • Abkehr vom Stil des Expressionismus -> Bevorzugung traditioneller Formen Literatur der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus (1945 bis ca. 1960) • Hintergründe: Ende des Zweiter. Weltkriegs; Welt in Trümmern; „Stunde Null"; Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen; Wiederaufbau; Gründung der Bundesrepublik und der DDR; „Kalter Krieg"; Wirtschaftswunder; Scham, Schuld und Verdrängung angesichts der NS-Verbrechen • „Trümmerliteratur": Betonung der Traumatisierung durch Krieg und Zerstörung • „Literatur des Kahlschlags": Betonung des Neubeginns wegen Belastung der Sprache durch Missbrauch im NS-System -> Frage, inwieweit Dichtung nach NS-Verbrechen noch möglich ist • Themen: Schrecken des Kriegs, Heimkehr, Orientierungslosigkeit, Schuld, Scham, Klage und Anklage, Versuch der Aufarbeitung der Vergangenheit • Aufkommen der Kurzgeschichte, zeitkritische Dramen, oft hermetische Lyrik mit schwer verständlichen Chiffren oder konkrete Poesie als sprachexperimentelle Lyrik • Stilideal der Nüchternheit, Verzicht auf Pathos -h> schmucklos-karge Sprache, indirekte Ausdrucksformen (Parabeln, Chiffren, Gleichnisse) Politisierung der Literatur (1960er-Jahre) • Hintergründe: existenzielle Bedrohung durch „Kalten Krieg" —> Angst vor einem Atomkrieg; Vietnamkrieg —> Distanzierung von den USA; Große Koalition -) Entstehung der APO —> 68er-Bewegung als Protestbewegung mit antiautoritären und pazifistischen Zielen • Diskussionen über Verhältnis von Literatur und Politik -> Gesellschafts- und Zeitkritik als Aufgabe der Literatur -> Politisierung der Literatur • Themen: gesellschaftspolitische und soziale Probleme, Kritik an Verdrängung der NS-Vergangenheit, Frage nach Rolle der Eltern im NS-Staat, deutsche Teilung • politischer Zeitroman, Dokumentartheater, politische Lyrik und experimentelle Gedichte • Forderung von Verständlichkeit und Abkehr von jeglichen Ideologien -) teilweise Auflösung der Grenzen zwischen literarischen und nicht-literarischen Formen Neue Innerlichkeit/Neue Subjektivität (1970er-Jahre) • Hintergründe: Rückzug aus politischem Engagement oder Radikalisierung (RAF-Terror); Entstehung der Frauenbewegung; Entspannung im Ost-West-Konflikt (Ostpolitik Brandts, KSZE-Schlussakte in Helsinki) • Resignation und Identitätssuche —» Aufwertung des Individuums und seiner Subjektivität —» Neue Subjektivität/Neue Innerlichkeit: Gestaltung subjektiver Wirklichkeit und Verarbeitung innerer Erfahrung —> Tendenz zu autobiografischer Bekenntnisliteratur • feministische Literatur mit gesellschaftskritischen Ansätzen und Infragestellung der traditionellen Rollenbilder • Themen: Selbstfindung, Selbsterfahrung und Innenschau, Alltag und Beziehungen, inneres Erleben des Einzelnen im Spannungsfeld zur Gesellschaft, Frauenfrage, Gewaltstrukturen im Geschlechterverhältnis • Lyrik und Epik als bevorzugte Gattungen zur Darstellung von Innerlichkeit; zeitweilig befürchtet man das Ende der Gattung Drama • Streben nach Authentizität: Tendenz zu sprachlicher Kunstlosigkeit und Umgangssprache, zugleich emotionale und subjektive Sprache Literatur der DDR (1950-1989) • Hintergründe: Gründung der DDR als Teil des totalitär regierten, sozialistischen Machtblocks unter der Herrschaft der Sowjetunion; Abschottung gegenüber dem Westen; Stasi -» Kontrolle und Zensur; ab 1985 Stärkung der Bürgerrechtsbewegung; 1989 friedliche Revolution und Mauerfall • staatlich verordnete Strömung des Sozialistischen Realismus: antifaschistisch, antikapitalistisch, arbeiternah -* Ideal des selbstlosen und leistungsbereiten Arbeiters für das Gemeinwohl • staatlich verordnete Aufbauliteratur der 1950er-Jahre: Überlegenheit des Sozialismus gegenüber Faschismus/Imperialismus • „Bitterfelder Weg": Arbeiter als Schriftsteller und Schriftsteller als Arbeiter -» Idealisierung des Arbeiters in der Literatur • staatlich kontrollierte Ankunftsliteratur der 1960er-Jahre: Einrichten im Sozialismus • nicht systemkonforme Literatur: subversive Aussagen, die durch Anspielungen, Verschlüsselungen und Verlegungen des Stoffs in den Mythos an Zensur vorbeikommen • Epik und Lyrik als zentrale Gattungen; Liedtexte als kritische Ausdrucksform 40 / Grundlagen Postmoderně (Strömung der 1980er-Jahre bis heute) • Hintergründe: Ökologie als neues Thema in der Politik; allmähliche Liberalisierung des Ostblocks durch Gorbatschow; atomare, ökologische und soziale Katastrophen —> neues Krisenbewusstsein • zunehmende Vielgestaltigkeit der Literatur und Fortwirken der Tendenzen der 1970er-Jahre • Nebeneinander verschiedener „Literaturen": Jugendliteratur, Trivialliteratur, experimentelle Literatur, gesellschaftskritische Literatur • Annahme der Beliebigkeit von Wirklichkeit —> Infragestellen von Ideologien und Werten • Konstruktivismus: Wahrheit als gesellschaftliches Konstrukt —> Pluralität von Sinnentwürfen • Aufwertung der Unterhaltsamkeit von Literatur -> Öffnung hin zu „Trivialgattungen" wie Schauerroman oder Kriminalroman • Roman als bevorzugte Gattung —> zahlreiche intertextuelle Bezüge • Nebeneinander und Montage verschiedener Stile und Formen, Vorliebe für Ironie Tendenzen der Gegenwartsliteratur (1990 bis heute) • Hintergründe: Wiedervereinigung 1990; Vormarsch digitaler Massenmedien (Internet, Smartphones, E-Books, soziale Netzwerke); islamistische Terroranschläge und Kampf gegen den Terror; Globalisierung; Flüchtlingsproblematik; Umgang mit Daten • Pluralismus: gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener Menschenbilder und Kulturen —> Herausforderung für Literatur, komplexer werdende Welt zu verarbeiten • Vermarktbarkeit als zentrales Kriterium für Literatur —> zunehmende Produktion von Unterhaltungsliteratur bzw. von Übersetzungen aus dem Ausland • Themen: Identität des Einzelnen in globalisierter Welt, Auseinandersetzung mit DDR (Wendeliteratur), provokante Selbstinszenierung junger Schriftsteller und Aufgreifen von Alltagsthemen und medialer Sensationsmache (Popliteratur), Fremdheitserfahrung (interkulturelle Literatur), biografisches Schreiben • Roman als vorherrschende Textform • facettenreiche Sprache, die teilweise an Ausdruckskraft verliert, um sich auf breites Publikum auszurichten Epische Texte interpretieren Epische Texte sind erzählende Texte. Bei ihnen erfolgt die Vermittlung der fiktiven Ereignisse durch einen Erzähler, der nicht mit dem Autor identisch ist. Seine Vorgehensweise bestimmt wesentlich die Darstellung des Geschehens. Er wählt die Gestaltungsmittel aus, um Räume und Zeiten, Figuren, Themen und Motive entsprechend seinen Absichten zu präsentieren. Damit sind bereits wichtige Untersuchungsbereiche genannt. An ihnen orientieren sich auch die Prüfungsanforderungen. Obwohl es Parallelen zwischen Goethes Romanfigur Werther und dem Autor gibt, darf der Ich-Erzähler aus Werthers Briefen nicht mit Goethe gleichgesetzt werden. Illustration (um 1880): Werther liest Lotte vor. Bearbeitungsschwerpunkte Die umfassende Interpretation eines epischen Textes beginnt mit einer Einleitung. Es folgen Inhaltszusammenfassung und Beschreibung des Aufbaus. Anschließend bearbeiten Sie weitere prüfungsrelevante Bereiche. Diese zielen häufig auf: • die Welt des Erzählers, seine Position und Strategie, • die Wirkung der sprachlich-stilistischen Mittel, • die Darstellung von Raum und Zeit, • die Charakterisierung einzelner Figuren und das Beschreiben ihrer sozialen Beziehungen (Konstellation), • das Verhältnis von äußerer und innerer Handlung, • die Aussage von Thematik und Motivik, • die Bestimmung der gewählten Gattung. / Epische Texte interpretieren Wiedergeben des Inhalts / 43 —TIPP ——--- In Prüfungen müssen nicht immer alle dieser Untersuchungsbereiche (ausführlich) behandelt werden. Oft gibt Ihnen bereits die Aufgabenstellung vor, welche Schwerpunkte Sie setzen sollen. Überlegen Sie auch bei jedem Text, wo dessen Besonderheiten liegen und welche Bearbeitungsbereiche sinnvoll sind. Beachten Sie Die Beispiele und Lösungsvorschläge zu den einzelnen Untersuchungsbereichen sind exemplarisch und deshalb ausführlich bearbeitet. In einer Prüfungssituation ist eine knappere Ausführung denkbar. 1 Verfassen einer Einleitung Ihre Einleitung soll das Interesse des Lesers wecken, ihn zum Thema hinführen und dabei mit den wichtigsten Grundinformationen vertraut machen. Falls Sie bestimmte Sachverhalte oder inhaltliche Schwerpunkte eingehender interpretieren wollen, können Sie hier kurz Ihre Absicht begründen. Bei der Bearbeitung von Teilaufgaben ist es mitunter zweckmäßig, eine knappe Einführung zur speziellen Thematik zu geben. Arbeitsschritte-- 1 Lesen Sie den Text sorgfältig durch und machen Sie sich mit dem Inhalt vertraut. 2 Halten Sie die Schlüsselinformationen stichpunktartig fest: Autor, Titel, Textart, Erscheinungsjahr, Thema, Hauptfiguren, ggf. Handlungsort und -zeit sowie bei Auszügen die Textstelle. 3 Verfassen Sie die Einleitung. ■ Beispiel Heinrich von Kleist, Das Bettelweib von Locarno (Text 1, S. 197) Lösungsvorschlag: 1810 erschien Heinrich von Kleists (1777-1811) kurze Erzählung Das Bettelweib von Locarno. Darin wird berichtet, wie eine Bettlerin durch die rüde Geste eines Schlossherrn tödlich verunglückt, aber als Spukerscheinung weiter existiert und zu dessen Untergang führt. 2 Wiedergeben des Inhalts Die geraffte Textzusammenfassung bildet einen wichtigen Arbeitsteil Ihrer Interpretation. Mit ihr weisen Sie nach, dass Sie Wichtiges von weniger Wichtigem unterscheiden und sich auf thematische Schwerpunkte konzentrieren können. Bereits während der ersten Lektüre fallen Ihnen in der Regel Text-strukturierungen auf, sowohl an äußeren Absätzen als auch an Einschnitten im Handlungs- und Geschehensablauf. Diese verweisen auf Sinneinheiten, die als inhaltliche Textbausteine aus Situationsbeschreibungen, Geschehensabschnitten, Handlungsschritten und Gedanken bestehen können. Sie sind miteinander thematisch und motivisch verbunden und ergeben in ihrer Gesamtheit den Textinhalt, besitzen aber andererseits eine gewisse Eigenständigkeit. Diese wird oft an Eingangs- und Schlussformulierungen erkennbar. Mitunter lassen sich kürzere Sinnabschnitte zu größeren Einheiten zusammenfassen und umgekehrt umfangreichere Textblöcke in kleinere Teile zerlegen. —TIPP--- Indem Sie sich auf diese Weise bereits am Beginn Ihrer Interpretation mit den entscheidenden Textaussagen vertraut machen, schaffen Sie eine sichere und notwendige Grundlage für die Bearbeitung weiterer Aufgabenbereiche. Arbeitsschritte - 1 Lesen Sie den Text sorgfältig auf inhaltliche Akzentuierungen und Veränderungen sowie Einschnitte im Handlungs- und Geschehensablauf hin durch. 2 Überprüfen Sie, inwieweit die äußere Gliederung in Absätzen der inneren Struktur entspricht und Situations-, Perspektiven- und Handlungsveränderungen auf Sinneinheiten schließen lassen. Auch die feste Komposition bestimmter Textarten könnte sich als hilfreich erweisen. Überlegen Sie, ob sich kleinere Inhaltselemente zusammenfassen und größere weiter untergliedern lassen. Markieren Sie auf dem Textblatt die von Ihnen erkannten Inhaltssegmente farbig. 3 Halten Sie die Sinneinheiten stichpunktartig am Rand der Textvorlage oder auf einem Notizblatt fest. Folgen Sie dabei dem Textverlauf. 4 Formulieren Sie nun die Inhaltszusammenfassung. Schreiben Sie im Präsens, verwenden Sie eigene Worte und konzentrieren Sie sich stets auf das Wesentliche. Geben Sie am Ende jeder Sinneinheit den Zeilenumfang der beschriebenen Textpassage in Klammern an, und zwar nach dem Punkt am Satzende. 44 f Epische Texte interpretieren Wiedergeben des Inhalts ^ 45 TIPP Überprüfen Sie bereits jetzt im Hinblick auf eine folgende Beschreibung des Aufbaus, ob sich die von Ihnen erkannten Inhaltselemente formal benennen lassen. ■ Übungsbeispiel Heinrich von Kleist, Das Bettelweib von Locarno (Text I, S. 197) Arbeitsanweisung: Fassen Sie den Inhalt zusammen. Lösungsvorschlag: Schritt 1 und Schritt 2 Sinneinheiten erkennen Der Text besteht aus vier unterschiedlich langen Absätzen. Sie bilden bis auf eine Ausnahme weitgehend geschlossene Inhaltssegmente. Dies wird durch inhaltliche Schwerpunkte, Handlungs- und Perspektivenwechsel sowie Schluss-und Anfangsformulierungen bestätigt: • Z. 1-12: „niedersank und verschied" (Z. 12) zeigt ein Ereignisende an, während der folgende Satzbeginn „Mehrere Jahre nachher" (Z. 13) einen zeitlichen Abstand signalisiert. • Z. 13-28: Mit den Worten „niedergesunken sei" (Z. 23) beendet der Gast seinen Bericht. Die Perspektive wechselt zwar kurz zum Schlossherrn („Der Marchese, erschrocken, [...]", Z. 24), doch dessen Überredungsversuch scheitert. Mit der Abreise des Ritters ist diese kurze Episode beendet („reiste ab", Z. 28). Insofern lassen sich trotz des neuen Absatzes beide Teile zu einer Sinneinheit verbinden. • Ein neuer Textabschnitt beginnt („Dieser Vorfall [...]", Z. 29) und führt die Geschichte absatzlos bis zum Ende. Diese längere Texteinheit (Z. 29-76) lässt sich inhaltlich aufteilen in - Z. 29-64: die drei Initiativen des Schlossherrn, - Z. 65-68: seinen folgenden Wahnsinnsausbruch sowie - Z. 68-76: seinen Tod in den Flammen. Der Text Das Bettelweib von Locarno lässt sich also in insgesamt fünf Sinneinheiten einteilen. Schritt 3 Sinneinheiten formulieren > Der brüske Befehl des Schlossherrn führt zum Tod einer Bettlerin. (Z. 1-12) » Spukerlebnisse verhindern den erhofften Verkauf des Schlosses. (Z. 13-28) > Trotz mehrfacher Versuche gelingt es dem Besitzer nicht, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Die Ereignisse eskalieren. (Z. 29-64) > Sie treiben ihn in den Wahnsinn und machen ihn zum Brandstifter. Seine Frau flieht aus dem Schloss. (Z. 65-68) • Für den Marchese gibt es keine Rettung. Er kommt in den Flammen um. (Z. 68-76) Schritt 4 Ausformulierung Die mitleidvolle Hausherrin eines oberitalienischen Schlosses gewährt einer alten Bettlerin Obdach. Ihr verärgerter Ehemann vertreibt diese jedoch von ihrem Lager. Dabei stürzt die Alte unglücklich und zieht sich tödliche Verletzungen zu. (Z. 1-12) In den folgenden Jahren gerät der Schlossbesitzer in wirtschaftliche Schwierigkeiten und möchte sein Anwesen veräußern. Ein erster potenzieller Käufer verliert jedoch sein Interesse an diesem Objekt. Ursache ist ein nächtlicher Spuk in eben dem Raum, in dem vormals die alte Bettlerin den Tod fand. Das Gerücht verbreitet sich umgehend und schreckt weitere Käufer ab. (Z. 13-28) Der Marchese versucht nun, solche Spukgeschichten aus der Welt zu schaffen. Doch in der Nacht, die er in dem besagten Zimmer verbringt, hört auch er furchterregende Geräusche. (Z. 29-39) Dies ändert sich weder in der folgenden Nacht, in der er von Frau und Diener begleitet wird (Z. 39-49), noch in der dritten, in der sogar der Haushund knurrend auf den Spuk reagiert (Z. 49-64). In Panik stürzt die Marquise aus dem Raum, während ihr Mann wie von Sinnen mit seinem Degen einen unsichtbaren Gegner zu treffen versucht. Völlig außer sich steckt er das Gebäude in Brand. (Z. 65-68) Seine Frau, gerade im Begriffe das Schloss fluchtartig zu verlassen, entdeckt das Feuer. Ihr Hilferuf bleibt erfolglos und der Marchese kommt in den Flammen um. (Z. 68-76) Tod einer Bettlerin, verschuldet durch einen Marchese Beginn des Spuks und erste Auswirkungen vergebliche Versuche des Marchese, die Situation in den Griff zu bekom- Wahnsinn des Marchese Tod des Marchese 46 / Epische Texte interpretieren Beschreiben des inneren Aufbaus t 47 3 Beschreiben des inneren Aufbaus Epische Texte besitzen nicht nur eine inhaltliche Gliederung, sondern auch eine formale Struktur, sie folgen dem einfachen Kompositionsschema Einleitung - Hauptteil - Schluss, unterscheiden zwischen Haupt- und Nebenhandlungen oder bestehen aus einer Binnen- und Rahmenhandlung. Beachten Sie Der formale Aufbau lässt sich auch unter dem Bereich „Darbietungsweise des Erzählers" behandeln, kann aber bei besonderer Auffälligkeit (dramatische Struktur) gesondert untersucht werden. Bei kürzeren, klar strukturierten Texten können Sie-falls nicht anders verlangt - Inhalt und Aufbau in einem Gliederungspunkt bearbeiten. Freilich müssen auch hier deren Unterschiede deutlich werden. Montagetechnik lockere Verbindung formal und/oder inhaltlich unterschiedlicher Erzählelemente (z. B. Lied, Zitat, Zeitungsartikel,...); dadurch Auflösung des chronologischen und kausallogischen Handlungsablaufs; erzeugt Überraschungseffekte; dient als Spiegel einer widersprüchlichen Welt Rückblende oder Vorausdeutung (vgl. Text 2) • Der Erzähler blickt bei einer Rückblende von einer Handlungsgegenwart auf vergangene Ereignisse zurück und holt diese in das eigentliche Geschehen herein. • Bei einer Vorausdeutung rückt der Erzähler zukünftiges Geschehen in den Blickpunkt, beispielsweise wenn er Wünsche äußert oder künftige Lebensentwürfe vorstellt. 4 7 8 *• 9 —►© ——►€> —►O —fO Epische Strukturelemente linear ablaufende Handlung (vgl. Texte 1,3) einfaches Erzählmuster, bei dem der Erzähler seine Geschichte ohne Abschweifung von Ereignis zu Ereignis voranschreitend darbietet mehrsträngige Handlung Rahmenhandlung (vgl. Text 1) Aufsplitterung der Geschichte in Einzelabläufe und mehrere Handlungsstränge, die der Erzähler abwechselnd aufgreift und am Ende zusammenführt; dabei geht es oft um die Lebensgeschichten gegensätzlicher Figuren Eine epische Einheit umschließt die eigentliche Geschichte (= Binnenerzählung); dadurch werden Sachlichkeit und Distanz vermittelt. Handlungsphasen, inhaltliche Verdichtungen innerhalb von Handlungssträngen; relativ Erzählphasen abgeschlossene Sinneinheiten, die durch Spannungselemente, Figuren-, Zeit- und Ortswechsel bestimmt sind .....^^h^^ Einleitung Vorstellung der Figuren, Einführung in Situation und Grund- (= Exposition) Stimmung dramatische Strukturen, z. B. bei Novellen (vgl. Text 1) Leitmotiv pyramidale Struktur Höhepunkt Spannungs-Steigerung ^ o Exposition o Spannungsabfall o Katastrophe • dialektische Struktur: Handlung *7 Kontrasthandlung häufig an Kernstellen wiederkehrendes inhaltliches Element (Worte, Begriffe, Gegenstände, Symbole) zur Herstellung von Zusammenhängen 48 / Epische Texte interpretieren Beschreiben des inneren Aufbaus / 49 Arbeitsschritte - 1 Orientieren Sie sich an den äußeren Absätzen und der bereits erarbeiteten inhaltlichen Struktur (Sinneinheiten): Beim Erfassen des Inhalts haben Sie sich von den Schwerpunkten des Geschehens-/Handlungsablaufs leiten lassen. Auf diese greifen Sie nun zurück. 2 Überprüfen Sie dabei am Text die einzelnen Inhaltsabschnitte auf formale Aufgaben und markieren Sie auf dem Textblatt die von Ihnen festgestellten Strukturelemente: Kompositionsschemata (z. B. Rahmen, pyramidale oder dialektische Struktur, Verknüpfung durch Leitmotive), Unterbrechungen, handlungsauflösende und -verzögernde Elemente im Handlungsverlauf (beschreibende Einschübe, Rückblenden, Zukunftsentwürfe) 3 Halten Sie die erkannten Kompositionseinheiten stichwortartig fest. 4 Beschreiben Sie den Aufbau. ■ Übungsbeispiel Heinrich von Kleist, Das Bettelweib von Locarno (Text 1, S. 197) Arbeitsanweisung: Beschreiben Sie den inneren Aufbau des Textes. Lösungsvorschlag: Schritt 1 und Schritt 2 Inhaltauf Strukturelemente überprüfen Unschwer erkennen Sie einen kurzen einleitenden Abschnitt, einen Teil, in dem die Spannung zunehmend ansteigt, einen Wende- und Höhepunkt und eine anschließende unabwendbare Katastrophe. Der Schlusssatz weist durch eine Wortwiederholung auf den Beginn zurück. Schritt 3 Formale Struktureinheiten benennen • Rahmen mit Exposition und erregendem Moment (Z. 1-12) • Steigerung (Z. 13-64; Abschnitte: Z. 13-15, 15-28, 29-64) • Höhe-und Wendepunkt (Z. 65-68) • Katastrophe (Z. 68-73) • Schluss mit Rahmen (Z. 73-76) Die Komposition verweist auf eine dramatische Grundstruktur, wie sie sich auch in Novellen findet. Schritt 4 Ausformulierung Eine kurze Exposition führt in Situation und Grundstimmung ein, nennt die beteiligten Figuren und den Handlungsort. Außerdem enthält sie das entscheidende Ereignis, das als erregendes Moment das folgende Geschehen auslöst. (Z. 1-12) DerTempus-wechsel in der zweiten und dritten Zeile verweist auf einen Erzählrahmen, der sich am Ende schließt. Es folgt eine schrittweise Steigerung zum Höhepunkt hin. Dem Protagonisten entgleitet dabei zunehmend die Handlungsinitiative. (Z. 13-64) Dies zeigt der Hinweis auf ein schicksalhaftes Geschehen: Krieg und Missernte haben bereits die Handlungsmächtigkeit des Marchese auf den notwendigen Verkauf des Schlosses eingeschränkt. Der Leser erkennt bei ihm ein Gefühl des Bedrängt- und Ausgeliefertseins. (Z. 13-15) Dem Schlossherrn gelingt es nicht, seine Absicht zu verwirklichen, denn der Ritter, der seine finanzielle Lage entschärfen und damit seinen Handlungsspielraum vergrößern könnte, nimmt Abstand vom Kauf. Er schlägt auch das Angebot des Marchese, mit ihm die Nacht im Spukzimmer zu verbringen, aus. Das ist der zweite Schicksalsschlag. Die Spannung wächst. (Z. 15-28) Noch immer ist der Schlossherr verblendet und will seine Ohnmacht nicht wahrhaben. In drei weiteren Phasen wird nun sein Ende schnell vorbereitet. Der einstige Jäger wird selbst zum Gejagten. Vorgeführt wird dies in seinen drei Aufenthalten im Spukzimmer. Bereits der erste Besuch, den er allein unternimmt, verunsichert ihn (Z. 29-39), der zweite, zusammen mit seiner Frau und einem Diener, löst „Entsetzen" aus (Z. 39-49). Der dritte Aufenthalt bringt die letzte Steigerung. Sie zeigt die Macht des Bedrohlichen über jegliche Kreatur, sei es Mensch oder Tier. (Z. 49-64) Der folgende Abschnitt enthält den Höhe- und Wendepunkt der Erzählung in der einzigen wörtlichen Rede des Textes, den Worten des Marchese „wer da?" (Z. 66). Sein vergebliches Herumschlagen mit dem Degen führt endgültig die Sinnlosigkeit seines Handelns vor Augen. (Z. 65-68) Die Katastrophe ist nicht mehr abwendbar. Außer sich steht der Marchese unter der Macht des Rätselhaften, und wie unter dessen Zwang richtet sich sein Handeln gegen das eigene Leben. (Z. 68 -73) Das Anstecken des Schlosses und der Tod des Marchese werden vom Erzähler nachgetragen. (Z. 70-73) Mit dem erneuten Tempuswechsel ins Präsens und dem Temporaladverb „jetzt" (Z. 74) schlägt der Erzähler am Schluss (Z. 73-76) den Bogen zum einleitenden Satz. Einleitung und Schluss bilden so den Rahmen der Geschichte. Rahmen mit kurzer Exposition und erregendem Moment Steigerung: fortschreitender Verlust der Handlungsautonomie 1. Abschnitt 2. Abschnitt 3. Abschnitt Höhe- und Wendepunkt: Wahnsinn Katastrophe: Tod des Marchese Schlussrahmen 50 4 Epische Texte interpretieren Untersuchen der erzählerischen Gestaltung 4 4 Untersuchen der erzählerischen Gestaltung Charakteristisch für epische Texte ist ein Erzähler, der als Vermittler zwischen Autor und Leser steht. Er ist eine Erfindung des Autors und darf mit diesem nicht verwechselt werden. Um seinen Lesern eine Geschichte zu präsentieren, stehen dem Erzähler dabei viele Gestaltungsmittel zur Verfügung. So kann er Geschehen und Ereignisse nach seinen Vorstellungen ordnen, seinen Blick (und damit auch den des Lesers) auf bestimmte Aspekte richten, manche betonend in den Vordergrund rücken und anderen weniger Aufmerksamkeit schenken. Mitunter verweilt er lange und ausführlich bei Details, in anderen Fällen beschränkt er sich auf eine knappe Skizzierung. Er vermag es, Figuren ins Rampenlicht zu stellen, sie zu bevorzugen und ihnen die Protagonistenrolle zuzuweisen, Handlungen zu bewerten und sprachliche Mittel so einzusetzen, dass sie - entsprechend seinen Intentionen - den Leser beeinflussen. epischer Text: Damit wird deutlich: Erst durch das Handeln des Erzählers realisiert sich die Geschichte. Er gibt ihr die besondere, einmalige Note. Aus diesem Grund werden Sie als Leser den Text nur verstehen, wenn Sie sich auch mit dem Erzähler, seiner Position, seiner Strategie (Erzählweise) und Absicht beschäftigen. Folgende Elemente der erzählerischen Gestaltung gilt es also bei einer Untersuchung zu berücksichtigen: Erzählform Elemente der erzählerischen Gestaltung Zeitgestaltung Darbietungs- Erzähl-perspektive Erzählverhalten Beachten Sie Während die einmal gewählte Erzählform meist beibehalten wird, können sich die anderen Erzählelemente im Texrverlauf verändern. Aussagekräftig sind besonders Wechsel bei Erzählperspektive, Erzählverhalten, Darbietungsweise und Zeitgestaltung, denn sie geben Aufschluss über die Position des Erzählers und damit oft auch über den literarhistorischen Hintergrund des Textes. 4.1 Die Erzählform Der Erzähler hat die Wahl zwischen der Ich- oder der Er-/Sie-Form. Verwendet er die Ich-Form, bleibt die Darstellung zwar weitgehend auf den subjektiven Erfahrungsbereich dieses Ich beschränkt, zugleich verringert sie aber die Distanz zum Leser. Dieser nimmt dessen Erlebnisse und Handlungen intensiv wahr und findet sich in die Gedanken- und Gefühlswelt des Ich leicht hinein. Allerdings gibt es auch in der Ich-Erzählung die Möglichkeit zur distanzierten Darstellung, und zwar dort, wo das erzählende Ich in die eigene Vergangenheit zurückgreift und diese kritisch betrachtet. Mit der Er-Form hingegen tritt der Erzähler in einen größeren Abstand zum Geschehen. Mehr oder weniger spürt der Leser die Anwesenheit einer vermittelnden Instanz. Diese Darstellung erweckt in ihm den Eindruck von Objektivität, denn der Erzähler teilt hier fremde Schicksale mit. 52 / Epische Texte interpretieren Untersuchen der erzählerischen Gestaltung / Erzählform Kennzeichen Wirkung Ich-Form • Erzähler als erlebende und handelnde Figur intensiv, besonders • eingeschränkte, subjektiv bestimmte Erfah- bei Darstellung psy-rungswelt chischer Vorgänge • Trennung zwischen erzählendem und erlebendem Ich Er-/Sie-Form • Erzähler berichtet über andere Figuren Vermittlung von • meist distanzierte Darstellung vielfältiger Distanz und Ob Erfahrungswelten jektivität • kommentierende Eingriffsmöglichkeit des Erzählers 4.2 Die Erzählperspektive Die Position des Erzählers verdeutlicht auch die Perspektive, die er einnimmt. Manche Texte vermitteln den Eindruck eines allwissenden Erzählers, als befände sich dieser gleichsam über den Ereignissen, andere Texte zeigen den Erzähler dagegen mitten im Geschehen. In beiden Fällen kann man von Standorten reden, die der Erzähler einnimmt, um von dort seinen Blick schweifen zu lassen. Dabei kommt es auch darauf an, wie eng oder weit sein Blickfeld ist, ob er seinen Standort verändert und welchen Figuren und Ereignissen sein Interesse gilt. Aussagekräftig ist überdies, welche Sichtweise der Erzähler wählt und ob er neben äußeren (Außensicht) auch auf innere Vorgänge achtet (Innensicht). Der Standort besitzt eine lokale und eine zeitliche Dimension: Der Erzähler kann sich beispielsweise an Vorgänge erinnern, die in der Vergangenheit liegen, und diese beschreiben. Von Bedeutung ist zudem, mit welcher Einstellung der Erzähler den Ereignissen und Figuren gegenübertritt und inwieweit sich diese im Verlauf der Handlung verändert. Standort des Erzählers i Nähe/Distanz zum Geschehen?' fest/sich verändernd? Einstellung des Erzählers ! gegenüber Figuren/Ereignissen I Sichtweise des Erzählers: außen/innen Untersuchung der Erzählperspektive 3 Erzählinteresse des Erzählers gering/stark Blickfeld des Erzählers eng/weit Der Erzähler kann zwischen verschiedenen Perspektiven wechseln: Er heftet sich z. B. in einer Erzä'hlpassage an die Fersen seiner Hauptfigur und betrachtet dann wieder das Geschehen distanziert aus der Vogelperspektive. 4.3 Das Erzählverhalten Die Perspektive, die der Erzähler einnimmt, kann bereits sein Verhalten gegenüber Geschehen, Figuren und Leser erkennen lassen. Man unterscheidet drei Formen: Eigenschaften des Erzählers____ auktoriales Der Erzähler Erzählverhalten , wjrkt allwissend, • überblickt das Geschehen, • kann dieses kommentierend begleiten • und den Leser ansprechen. personales Erzählverhalten neutrales Erzählverhalten Der Erzähler • bleibt unauffällig, • tritt hinter die Figuren zurück, • übernimmt die Perspektive einer Figur bzw. mehrerer Figuren und • kann ihre/deren Gedanken und Gefühle mitteilen. Der Erzähler • wirkt abwesend (die Figuren scheinen selbstständig zu agieren), • vermittelt das Geschehen unbeteiligt aus der Distanz, • oft in der direkten Rede. / Epische Texte interpretieren Untersuchen der erzählerischen Gestaltung / 4.4 Die Darbietungsweisen des Erzählens Zur Wiedergabe der Geschichte stehen dem Erzähler verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Wenn er sich im Erzählerbericht bzw. Erzählerkommentar äußert, dann berichtet er über Ereignisse, Handlungen, Gedanken und Gefühle, beschreibt Figuren, Verhaltensweisen, Gegenstände und Situationen oder kommentiert das Geschehen. Der Erzähler kann aber auch Formen der Figurenrede wählen, d. h. direkte oder indirekte Rede, erlebte Rede oder inneren Monolog. Diese erkennt man an folgenden Merkmalen: Direkte Rede • Sie zeichnet sich meist durch Redeeinleitung oder -abschluss sowie Anführungszeichen aus. Beispiel: Erfragte sie: „Soll ich morgen fahren?" • Gesprochenes wird in der 1. Person Indikativ wiedergegeben. • Der Erzähler tritt hinter die Figuren zurück. • Der Leser fühlt sich in das Geschehen hineinversetzt. • Erzählzeit und erzählte Zeit (s. u.) decken sich. • Dadurch erhält bei einem längeren Gespräch die Darstellung szenischen Charakter. Indirekte Rede • Äußerungen oder Gedanken anderer werden durch den Erzähler wiedergegeben, meist in der 3. Person Konjunktiv. Beispiel: Erfragte sie, ob er morgenfahren solle. • Der auktoriale Erzähler wird als vermittelnde Instanz spürbar. • Der Leser empfindet Distanz zum Geschehen. Erlebte Rede • Der Erzähler wählt die 3. Person Indikativ Präteritum; Formen der Redeeinleitung bzw. des Redeabschlusses („er dachte"/„dachte er") fallen weg. Beispiel: Sollte er morgen fahren? • Gedanken (Innensicht) werden in einer Zwischenform zwischen direkter und indirekter Rede wiedergegeben. • Die Anwesenheit des Erzählers ist noch spürbar. • Es ist oft schwer zu entscheiden, ob der Erzähler oder die Figur spricht. Innerer Monolog • Gedanken werden in der 1. Person Präsens Indikativ wiedergegeben, jedoch ohne Anführungszeichen und Formen von Redeeinleitung oder -abschluss. Beispiel: Soll ich morgen fahren? • Es handelt sich um einen Gedankenstrom. • Der Erzähler tritt hinter die Figur zurück. • Der Leser fühlt sich unmittelbar in das Geschehen hineingezogen. • Wird die Syntax weitgehend aufgelöst und werden lediglich noch Bruchstücke von Gedanken einer Figur in einer assoziativen Kette dargestellt, spricht man vom Bewusstseinsstrom („stream of consciousness") - dieser ist eine extreme Variante des inneren Monologs (vgl. das wohl bekannteste Beispiel: James Joyce, Ulysses). 4.5 Die Zeitgestaltung Dem Erzähler stehen verschiedene Mittel zur Zeitgestaltung zur Verfügung: Zeitraffung, Zeitdeckung, Zeitdehnung, Rückblenden und Vorausdeutungen. Man unterscheidet zwei Zeitkategorien: die Erzählzeit (EZ), also die zum Erzählen bzw. Lesen aufgewendete Zeit, und die erzählte Zeit (eZ), d.h. die Dauer des erzählten Vorgangs. Diese können in ganz unterschiedlichem Verhältnis zueinander stehen: eZ>EZ Zeitraffung: Erzählerbericht auf Wesentliches konzentriert, Auslassung von Zeitspannen; Zeitsprünge eZ = EZ Zeitdeckung: Figurenrede; szenische Darstellung eZ EZ) Zeitdeckungen (eZ = EZ) Rückblenden Fazit und Eriähler-position: auktorialer Erzähler mit personalen Zügen; wird Teil der Geschichte schwache Erzä'hler-position 58 / Epische Texte interpretieren 5 Analyse der sprachlich-stilistischen Gestaltung Die Untersuchung der sprachlich-stilistischen Gestaltungsmittel erfolgt immer inhaltsbezogen. Die entscheidende Frage lautet also: Wie stützen die sprachlichen Mittel die inhaltliche Aussage? Die Analyse der Sprache konzentriert sich - wie im Grundlagenkapitel dargestellt - auf folgende Bereiche: Wortwahl, Stil, Syntax und rhetorische Mittel (vgl. S. 25 ff.). Dabei müssen Sie die Aufmerksamkeit auf die Funktionen der eingesetzten Mittel richten. Neben den grundlegenden Aufgaben (Veranschaulichung, Bekräftigung, Spannungserzeugung und Kommunikationsförderung) kommt es vor allem auf spezifische Leistungen an, die sich aus Thematik, Motivik und Erzählerintentionen ergeben. epischer Text: Arbeitsschritte-- 1 Halten Sie Themenschwerpunkte, Hauptmotive und/oder Erzählerintentionen (und damit erste Deutungsansätze) fest. 2 Lesen Sie den Text auf sprachliche Auffälligkeiten in den Bereichen Stil, Wortwahl, Syntax, rhetorische Mittel durch. Bestimmen Sie deren Grundfunktionen und markieren Sie die gefundenen Stellen mit unterschiedlichen Farben. 3 Versuchen Sie nun, die speziellen Aufgaben der sprachlichen Mittel im Hinblick auf Thematik, Motivik und Erzählerabsicht zu erkennen. 4 Analysieren Sie die sprachlich-stilistische Gestaltung des Textes. 5 Formulieren Sie Ihre Analyse in einem zusammenhängenden Text. Analyse der sprachlich-stilistischen Gestaltung 4 59 Beachten Sie Meist ist es sinnvoll, bei der Analyse dem Textverlauf zu folgen. Um Wiederholungen zu vermeiden, ist es jedoch mitunter geschickter, die Ergebnisse nach bestimmten Gesichtspunkten zusammenzufassen (z. B. nach Figuren, Teilthemen, Motiven). —> Im folgenden Beispiel bietet sich der Fortgang nach dem Textverlauf an. ■ Übungsbeispiel Eugen Rüge, In Zeiten des abnehmenden Lichts (Text 2, S. 199) Arbeitsanweisung: Analysieren Sie die sprachlich-stilistische Gestaltung im Hinblick auf das zentrale Motiv des Textes. Lösungsvorschlag: Schritt 1 Hauptmotiv, Themenschwerpunkte, Erzählerintention festhalten • Zeit-Motiv als zentrales Motiv, vor allem als Vergänglichkeits-Motiv; diesem untergeordnet ist die Naturmotivik (Herbst, Verfall) • Sohn-Vater-Thematik; Probleme durch Krankheit und Persönlichkeitsverlust • Erzählerintention: Lenken des Leserinteresses auf die Vergänglichkeitsproblematik Schritt 2 und Schritt 3 Sprachliche Mittel und ihre Funktionen erkennen Stil: mittlere Ebene: Umgangssprache (z. B. „Keine Wirkung. Null.", Z. 66), einige abwertende Formulierungen (z. B. „beinahe krepiert", Z. 79) Wortwahl: • viele Wörter im Text kreisen um Zeit, Tod, Vergänglichkeit/Verfall („wie tot", Z. 2; „Krankenhausluft", Z. 3; „Herbst", Z.9; „stillzustehen", Z. 19f.; ,,[m]orsche", Z. 21; „toten Fenster", Z. 22; „tödlich verschluckt", Z. 54; „Verfall", Z. 74; „krepiert", Z. 79; „Vergangenheit", Z. 80; etc.) -» vom Verfall gekennzeichnete Naturbeschreibung symbolisiert den Zustand des Vaters • auffällig: Temporaladverbien („immer", „noch", „schon") als Schlüssel-und Leitwörter -> dadurch Verbalisierung des Zeitmotivs; drücken Spannung zwischen Wunsch nach Bleibendem und Erfahrung des Befristeten aus Syntax: • dominierende Ellipsen (z.B. „Hatte gehabt. Fernste Vergangenheit", Z. 80) -» dadurch eindringliches Aufzeigen von Verlusten (Gesundheits-, Persönlichkeits- und Kommunikationsverlust) 60 / Epische Texte interpretieren Analyse der sprachlich-stilistischen Gestaltung / 61 • Inversionen, Einwortsätze, Aufzählungen (z. B. „Lächelte, nickte.", Z. 85; „Stopfte, kaute.", Z. 95; „Komisch aber auch", Z. 77) —> dienen der Bekräftigung; zeigen Veränderung des Gewohnten als verunsicherndes und bedrohliches Moment auf; geben Hinweise auf unumstößlich Endgültiges Rhetorische Figuren: • Vergleiche, Metaphorik (z. B. „wie ein Geist", Z. 33 f.) ■>-» zur eindringlichen Veranschaulichung; Personifikation der Natur mit negativer Konnotation (Natur als Widersacher des Menschen, z. B. „Der Herbst hatte sich eingeschlichen, hinterrücks.", Z. 9) • rhetorische Fragen, Pausen, Antithetik (z.B. „Und - hatte sie?", Z. 6; „Sauberer?", Z. 7; „Der letzte Satz, den Kurt zusammenhängend hatte sagen können, war: Ich habe die Sprache verloren.", Z. 80 f.) —» dienen der Spannungssteigerung (auch provozierend); verdeutlichen Hilflosigkeit gegenüber einem unausweichlichen Schicksal • Formen der Wiederholung (z.B. „Ja, sagte Kurt", Z.44, 50, 52, 58) —> dienen der Eindringlichkeit; erfüllen unterschiedliche Funktionen: sowohl Ausdruck für den Wunsch nach Bleibendem als auch Hinweis auf Formel- und Klischeehaftigkeit; veranschaulichen Unfähigkeit zur geistigen Verarbeitung und Veränderung • wiederholte Anreden („Erkennst du mich, fragte Alexander.", Z. 43; „Hast du Hunger, fragte Alexander.", Z. 49) -> stellen vergebliche Kommunikationsversuche dar • Ironie (z. B. „Auch nicht schlecht.", Z. 81 f.; „Verglichen mit seinem heutigen Repertoire eine Glanznummer.", Z. 82) -> erzeugt Spannung; verdeutlicht Ablehnung einer Situationsveränderung; zeigt selbstquälerischen Rückblick Schritt 4 Ausführung Der Text ist der mittleren Stilebene zuzuordnen: Die vom Erzähler gewählten Wörter entstammen der Umgangssprache, es finden sich weder Fach- noch Dialektausdrücke. Einige Formulierungen haben jedoch abwertenden Charakter. Schon der Titel des Romans In Zeiten des abnehmenden Lichts, die dem ersten Kapitel vorangestellte Jahresbezeichnung 2001 und der Vergleich in der ersten Textzeile „wie tot" verweisen auf die Bedeutung des Zeit- bzw. Vergänglichkeits-Motivs. Auch der Inhalt untermauert diese Behauptung: Alexander Umnitzer ist nach vier Wochen aus der Klinik mit der Diagnose entlassen worden, unheilbar an Krebs erkrankt zu sein. Das unerwartete und in seiner Endgültigkeit schockierende Untersuchungsergebnis begleitet ihn auf dem Weg zu seinem dementen Vater. Stilebene Bedeutung des Zeit- und Vergänglichkeits-Motivs im Textausschnitt Das Schlüsselwort „immer" führt am Textbeginn in die Schlüsselwort „immer" Motivik ein. So soll der nachgestellte Vergleich „wie immer" Vergleich (Z. 5) betont auf eine gewohnte Handlung verweisen, die an keine außergewöhnlichen, auffälligen Abweichungen denken lässt. Doch vor dem Hintergrund seiner aktuellen physischen und psychischen Situation fragt sich Alexander, ob sich in der kurzen Zeitspanne von vier Wochen etwas an seiner „Welt"-Sicht „verändert" (Z. 5 f.) habe. Der Furcht vor einer neuen Perspektive wird der unterschwellige Wunsch nach Bleibendem („immer", Z. 5) entgegengesetzt. Dabei verraten bereits die Ellipsen (Z. 5 f.) einen Verlust (s.u.). Die rhetorische Frage „Und - hatte sie?" (Z. 6), als erlebte Rede formuliert und provozierend mit Konjunktion und Pause eingeleitet, drückt zusätzlich eine innere Unsicherheit aus. Der Komparativ „sauberer" (Z. 7) steht als weiteres Indiz für eine Veränderung; er löst sofort eine neue Frage aus, die als Einwortsatz und Wiederholung besonderes Gewicht bekommt: „Sauberer?" (Z. 7) Die anschließenden knappen Antworten in Steigerungsform „Irgendwie bunter. Idiotischer." (Z. 7) lassen mit dem Adverb „irgendwie" und dem abwertenden Adjektiv „idiotischer" erkennen, dass Alexander wenig Interesse verspürt, diesen Veränderungen weiter auf den Grund zu gehen. Vielmehr stellt er gegen sie eine definitive Behauptung: „Der Himmel war blau, was sonst." (Z. 8) Der Zusatz „was sonst" soll das Wahrgenommene bestätigen, öffnet aber als verschleierte rhetorische Frage den Raum für Spekulationen. Das Temporaladverb „immer" wiederholt sich mehrfach (Z. 5, 14, 15, 26, 51, 67, 79, 80). Es fungiert auch als Leitwort, führt gleichsam durch den Text, als würde hier Alexanders Wunsch nach Bestand und Dauer eingefangen. Allerdings wird es mitunter durch ein weiteres Adverb seiner Aufgabe beraubt, nämlich Zeitlosigkeit anzuzeigen. Die Verbindung mit „noch" (Z. 14, 15) stellt das Unveränderliche in Zweifel, denn dieses Adverb sagt aus: Das Bestehende gilt nur noch für befristete Zeit. Der „Herbst" ist die Jahreszeit des Übergangs, in der das Vergängliche besonders deutlich erscheint: „Der Herbst hatte sich eingeschlichen, hinterrücks." (Z. 9) Die Natur wird hier abwertend als heimtückischer Widersacher personifiziert und zum Symbol des Bedrohlichen, das im Kontrast zu geistigen Leistungen des Menschen steht. Der Mensch fühlt sich von der Natur unvermittelt überfallen. Sie bedrängt das von ihm Geschaffene (Wege: vgl. Z. 20 f.; Häuser: vgl. Z. 24 f.) und lässt Chaos entstehen (vgl. Z. 25 ff.). Gerade dort, wo „die Zeit stillzustehen" (Z. 19 f.) scheint, wie dies in einem eindringlichen Bild vor Augen geführt wird, dringt Natur in die vom Menschen sprachliches Bild kultivierten Bereiche ein. Ellipsen rhetorische Frage Komparative Einwortsatz und Wiederholung Abwertung Behauptung rhetorische Frage wiederholtes Leitwort „immer" Natur-Motiv Personifikation Symbol 62 / Epische Texte interpretieren Wieder findet man das Adverb „noch", nun in der Nähe von „schon" und verbunden mit einer Personifikation: „Eins der wenigen Häuser hier, die noch bewohnt waren: [...] Die Holunderbüsche berührten schon die Veranda." (Z. 24 f.) Die Gärten verwahrlosen, Gras überwuchert die einst vom Menschen kultivierte Natur. Die Metapher „die toten Fenster" (Z. 21 f.) deutet nicht nur auf unbewohnte Häuser. Ihr Verfall und die von ihnen vermittelte Leere belegen den Untergang einer vom Menschen geschaffenen, historisch gewachsenen Villenkultur, Symbole einer gepflegten und gebildeten Gesellschaft. Die Gegenwart offenbart eine andere Seite: „Frisch renovierte I läuser, wärmegedämmt nach irgendeiner EU-Norm. Neubauten, die aussahen wie Schwimmhallen: Stadtvillen nannte man das." (Z. 16 f.) Der abwertende Vergleich und die betont auf Ironie zielende Inversion drücken aus, dass der Erzähler dieser Entwicklung ablehnend gegenübersteht. Der Vergleich mit „Schwimmhallen" betrifft die „Neubauten", deren Hallendimension nichts Intimes zulässt. Der Natur wird etwas arglistig Böses zugeschrieben. Hinter dem negativ dargestellten Motiv verbirgt sich zusätzlich der physische Bereich des Menschen: Unerwartet wird Alexander mit seiner unheilbaren Krankheit konfrontiert; „hinterrücks" (Z. 9) wie der Herbst durchbricht sie das Gewohnte und wird zur Bedrohung. Die häufigen Ellipsen machen nicht nur auf das Fehlen eines Satzteils, sondern auf etwas Grundsätzliches aufmerksam. In den ersten Ellipsen ist Alexander als notwendiges Subjekt („Er") nicht mehr gegenwärtig: „Schaute hinaus in die Welt. Prüfte, ob sie sich verändert hatte." (Z. 5 f.) Das Gewohnte, das bisher Sicherheit gewährt hat, ist abhanden gekommen. Dies drückt sich sogar in seinem Zeitgefühl aus: „Das Datum hatte er während der letzten Tage verloren." (Z. 11 f.) Zeit wird auch im Alterungsprozess fassbar, wie ihn der Sohn bei seinem Vater vorfindet. Doch hier scheint das Dauerhafte nicht erwünscht, es verursacht Unbehagen. So hängt „seit langem" (Z. 39 f.) „der Geruch des Alters" (Z. 40) Kurt an. Die Personifikation „Er saß tief in den Zellen" (Z. 40 f.) bringt nicht nur etwas zu Befürchtendes, sondern auch etwas zu Fürchtendes nahe. Kurts stereotype „Ja"-Antworten auf die Anreden des Sohnes signalisieren in ihrer mechanischen Wiederholung geistige Leblosigkeit, die Unfähigkeit zur Kommunikation und ein Verhaftetsein im Augenblick, in dem weder Vergangenheit noch Zukunft bewusst werden. Auch beim Vater findet man die syntaktisch verkürzte Struktur (vgl. Z. 62 f.). Hier zeigen die Ellipsen ebenfalls einen Verlust an, und zwar den einer geistigen Welt, ausgelöst durch die Demenz-Erkrankung. Analyse der sprachlich-stilistischen Gestaltung / 63 Personifikation Metapher Symbol abwertender Vergleich; ironische inversion Syntax: Häufung von Ellipsen Zeit-Motiv beim Vater Personifikation stereotype Anreden, Wiederholung verkürzte syntaktische Struktur: Ellipsen Alexander und der Erzähler sprechen von einem „immer noch" (Z. 67 f.), um den Gedanken an „irgendeine Art Ich" (Z. 68) aufrechtzuerhalten. Doch zahlreiche Wiederholungsformen und rhetorische Fragen bringen Alexanders Hilflosigkeit angesichts der väterlichen Demenz eindringlich zum Ausdruck: „Was ging in diesem Kopf vor? In diesem immer noch durch einen Schädel von der Welt abgegrenzten Raum, der immer noch irgendeine Art Ich enthielt. Was fühlte, was dachte Kurt[?j [...] Was dachte er? Dachte er überhaupt? Wie dachte man ohne Worte?" (Z. 66-71). Die wiederholten Fragen betonen die Ohnmacht des Betrachters. Sie kreisen um das geistige Tun, das „Ich" (Z. 68) des Menschen. Noch einmal wird Kurts Persönlichkeit beschworen, und zwar in einer Rückblende mit betonenden Demonstrativ- und Possessivpronomen, Anaphern und sprachlichen Bildern, die den Gegensatz zur aktuellen Situation eindringlich hervorheben. Zusätzlich schwingt ein bitterer Grundton mit, wenn Kurts einstige Fähigkeiten ironisch überzogen erinnert werden: „Kurt, der Redner. Der große Erzähler. Wie er dagesessen hatte in seinem berühmten Sessel - Kurts Sessel! Wie alle an seinen Lippen hingen, wenn er seine Geschichtchen erzählte, der Herr Professor." (Z. 75 ff.) Noch einmal wird in einem anaphorischen Parallelismus („immer hatte es eine Pointe, immer hatte es Witz", Z. 79 f.) auf das scheinbar Dauerhafte von Kurts großer Zeit verwiesen, um es gleich darauf in einer Ellipse und einem Polyptoton unwiderruflich in die Vergangenheit zu verbannen: „Hatte gehabt," (Z. 80) Die Parenthese in Zeile 78 f. deutet Kurts Eingesperrtsein im Lager, aber auch seine verlorene geistige Weite an. Im Jahre 2001 sieht Kurts Welt anders aus: Normale Kommunikation ist nicht mehr möglich. Bei Kurt reduziert sich alles auf die Nahrungsaufnahme. Auch hier ein „Verfall" (Z. 74) menschlicher Kultur, der Esskultur: Kurt benutzt seine Finger. Ein Vergleich mit der infantilen Phase hält dies fest (vgl. Z. 89 f.). Die Natur erscheint als triebgebundene Essgier unmenschlich und unästhetisch. Wieder fehlt das grammatische Subjekt, der Vorgang nimmt mechanischen Charakter an: „Stopfte das Stück in den Mund." (Z. 91) Das Triebhafte drängt sich in die Anapher „Und noch eins. Und kaute. Und während er [...]" (Z. 91 f.). Schließlich beschränkt sich alles auf die Einwortsätze: „Stopfte, kaute." (Z. 95) Das Vorkulturelle, Chaotische der Natur dominiert über den Menschen und degeneriert ihn zur tierischen Fressmaschine. Entwürdigend ist auch der letzte Satz: „Die Soße rann in einer schmalen Spur über sein Kinn." (Z. 95) Wiederholungen rhetorische Fragen Pronomen, Anaphern, sprachliche Bilder ironische Hyperbel anaphorischer Parallelism us Ellipse, Polyptoton Parenthese Vergleich Natur-Motiv Anapher Einwortsätze 64 f Epische Texte interpretieren Untersuchen der Darstellung von Raum und Zeit / 65 6 Untersuchen der Darstellung von Raum und Zeit Handlung und Geschehen erfolgen immer eingebettet in Raum und Zeit. Der Erzähler kann beiden Bereichen besondere Funktionen zuweisen und sie auf diese Weise mit Bedeutung füllen. Dann wird eine eingehende Untersuchung von Raum und Zeit entscheidende Hinweise zur Gesamtdeutung des Textes liefern. Zeit ist also nicht nur als Mittel erzähltechnischer Gestaltung zu untersuchen (Wie wird erzählt?), sondern kann als wichtiges Thema oder Motiv (Was wird erzählt?) zum Gegenstand einer ausführlichen Deutung werden. Sofern Raum und Zeit keine wesentlichen Inhaltsschwerpunkte bilden, lassen sie sich unter dem Bereich „Handlung" (Handlungsort, Handlungszeit) bearbeiten. Dabei gehören Raum und Zeit zusammen, wie schon der Begriff „Zeitraum" nahelegt. Welche (Zeit-)Rüume unterscheidet der Erzähler in seinem Text und mit welcher Bedeutung lädt er sie auf? 6.1 Raum Die zahlreichen Raumvarianten lassen sich nach thematischen Aspekten ordnen und zusammenfassen: • Handlungsraum: äußerer Aktionsbereich der Figuren; Orte (Zimmer, Haus, Garten, Landschaft, Stadt) als Handlungshintergrund • Lebensraum: soziales Umfeld der Figuren (Familie, Schule, Arbeitsplatz, gesellschaftliche Gruppen, Milieu); seine Bedingungen (Werte, Normen, Gesetze) als Einflussfaktoren auf persönliche Entwicklung und Verhaltensweisen • Geistiger Raum: Welt der inneren Handlung, der Gedanken und Gefühle, in der konkrete Aktionen reflektiert werden oder sich eigene fantastische Wirklichkeiten erschließen • Stimmungsraum: Schauplatz, der aufgrund seiner besonderen Lage und Beschaffenheit zum Spiegel innerer Zustände wird und Assoziationen auslöst • Symbolraum: verweist auf einen anderen, existenziellen Bereich (Beispiel: der Herbst als Symbol der Vergänglichkeit) Dabei können Räume durch unterschiedliche Darstellung (eng/weit, hell/ dunkel, geordnet/chaotisch) sowohl Vertrautheit, Heimat und Geborgenheit als auch Einsamkeit, Unbehaustheit und Gefahr vermitteln. _TIPP- Besonders interessant für die Deutung sind mögliche Kontraste und Grenzen zwischen unterschiedlichen Räumen. So kann z. B. ein Kulturraum (Zivilisation) einem Naturraum (Wildnis) gegenüberstehen. 6.2 Zeit Zeit erscheint in epischen Texten vor allem als Dauer von Handlungen und Geschehensabläufen, Entwicklungs- und Reifungsprozessen sowie erinnerter Vergangenheit und erdachter Zukunft. Zeitliche Veränderungen werden meist von Verlusterfahrungen begleitet (Trennung, Krankheit, Alter). Im Textauszug von E. Rüge (Text 2) wird Zeit als persönlicher Alterungsprozess und Krankheit dargestellt. Manche Werke rücken bestimmte Zeitereignisse in den Mittelpunkt (vgl. Kriegsromane). Das Genre des Zeitromans liefert ein Bild der jeweiligen Gesellschaft (vgl. dabei auch die Literatur der „Stunde Null" = Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit). Die Werke des Fin de Siecle (etwa 1890-1914) halten die besondere Dekadenz-Stimmung dieser Zeit fest. Während es den impressionistischen Autoren um das Erfassen von Augenblicken ging, wirken die Inhalte von Märchen zeit- und ortsenthoben. (Zur Zeitthematik vgl. auch Th. Manns Der Zauberberg und Michael Endes Momo) Arbeitsschritte--- 1 Halten Sie Orte und Zeiten fest, in denen sich Handlung und Geschehen vollziehen. 2 Überprüfen Sie, ob Raum und Zeit nur als Hintergrund für Handlung und Geschehen dienen oder ob sie eigene thematische und motivische Schwerpunkte bilden. Fragen Sie: Sind (Zeit-) Räume semantisch (d. h. mit Bedeutung) aufgeladen und spielen sie daher eine wichtige Rolle im Text? / Epische Texte interpretieren Untersuchen der Darstellung von Raum und Zeit / 3 Trifft dies zu, dann lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen Thema/Motiv und Ort/Zeit, um die Wirkungen, die Raum und Zeit auf Erzähler und Figuren ausüben, zu entschlüsseln. Diese drücken sich in Erzählerkommentaren und Figurenreaktionen aus (Gedanken, Empfindungen, Assoziationen, Handlungen). Sammeln Sie die Texthinweise und ordnen Sie das Material. 4 Ziehen Sie die Sprachanalyse heran und überprüfen Sie diese auf Übereinstimmungen mit Ihrer Materialsammlung. Die Analyse der sprachlichen Mittel soll die gefundenen Ergebnisse stützen. 5 Fassen Sie das Resultat zusammen. ■ Übungsbeispiei Eugen Rüge, In Zeiten des abnehmenden Lichts (Text 2, S. 199) Arbeitsanweisung: Interpretieren Sie den Text im Hinblick auf die Darstellung von Raum und Zeit. Lösungsvorschlag: Schritt 1 Zeitliche und räumliche Gegebenheiten festhalten Zeit: unmittelbar erlebte Zeit: ein Dienstag im September (vgl. Z. 10 f., 29) 2001 (Z. 1); erinnerte Zeit: vor allem Kurts Vergangenheit als eloquenter Redner (vgl. besonders Z. 75-80), mehr als „zwei Jahre" (Z. 83) zurückliegend; Alexanders Krankenhausaufenthalt und Entlassung, wenige Tage zurückliegend (vgl. Z. 2 f.) Räume: Krankenhaus; Wohnung von Alexander; Autobahn; Haus des Vaters in Neuendorf; Straße mit renovierten Häusern vs. Straße mit vielen unbewohnten Häusern und vernachlässigten Gärten; Kurts geheime Gedankenwelt Schritt 2 Zeit in Form von Vergänglichkeit als Hauptmotiv überprüfen Im Text wird Zeit zur leidvollen Erfahrung und die (physischen, psychischen und auch räumlichen) Veränderungen, die sie mit sich bringt, sind negativ behaftet. Es finden sich Hinweise auf räumliche und zeitliche Veränderungen bei: • Häusern, Straßen, Gärten (vgl. Z. 15 ff., 20ff., 25 ff.) • Jahreszeiten (vgl. Z. 9 f.) • Pflanzen (vgl. Z. 20f., 25 ff.) • Menschen (physische Natur und geistiger Bereich, vgl. Z. 3, 36-41, 95) Schritt 3 Material nach Bereichen (= Räumen) ordnen Grundeinteilung in drei Bereiche: die vom Menschen geschaffene Welt, der Naturraum und der geistige Raum —» weitere Differenzierung in einer gegliederten Stoffsammlung: Hinführung: Verweischarakter der Raum- und Zeitgestaltung Alle vorkommenden Räume (Handlungs-, Lebens-, Natur-, geistiger Raum) sowie zeitbezogene Handlungen, Entwicklungen und Erinnerungen haben Symbolcharakter; ihre Veränderung verweist auf Vergängliches. Hauptteil: Vergänglichkeitsmotiv Vergänglichkeit wird v. a. als ein Kontrast infolge von Veränderungen erfahren: Bereich der vom Menschen geschaffenen Welt (Kontrastbeispiele) • Häuser: Einst bewohnte alte Villen sind nun unbewohnt und dem Verfall preisgegeben (vgl. Z. 20 ff.: die bemoosten Dächer, die Risse in den Fassaden und die morschen Zäune). <-> Kontrast: Renovierungen veränderten die alten Häuser. Sie sind genormt (vgl. Z. 16; = ohne individuelle Note, gesichtslos), „wärmegedämmt" (Z. 16; = von abweisender, verschlossener, enger Art). Neubauten gleichen „Schwimmhallen" (Z. 17; = vermitteln keine Geborgenheit). • Straßen: Die alten Villen findet man an schmalen, mit Linden gesäumten Straßen und ,,[k]opfsteingepflasterte[n]" (Z. 20), von Wurzeln aufgewölbten Bürgersteigen (vgl. Z. 20 f.; = Vermittlung einer harmonischen Beziehung von Mensch und Natur). <-» Kontrast: Die neuen Straßen haben die Natur sauber zuasphaltiert (vgl. Z. 15). Bereich der Natur • Sichtweise: der klare, blaue „Himmel" (Z. 8; = freier Blick) <-> Kontrast: der durch ein chaotisches „Gewirr" von Ästen verstellte Himmel (vgl. Z. 27; = eingeschränkter Blick) • Jahreszeit: Herbst als Symbol des Vergänglichen, unerwartete und unerwünschte Jahreszeit (vgl. „Der Herbst hatte sich eingeschlichen", Z. 9) • ungezähmte, wilde Natur überwuchert die früher gepflegten Gärten; Büsche reichen bereits an die Veranden heran (vgl. Z. 21 f., 25 ff.) • biologische Natur, menschlicher Körper: Alexanders vor kurzem diagnostizierte unheilbare Krankheit, die zunehmende Demenz seines Vaters; der Geruch des Alters; der Mund als bloßes Organ der Nahrungsaufnahme und -Verarbeitung (vgl. Z. 3, 36, 38,40f., 95) 68 / Epische Texte interpretieren Charakterisieren von Figuren und Beschreiben ihrer Beziehungen / 69 Geistiger Bereich • Intelligenzverlust: Kurt, der einst brillante Professor und Redner (vgl. Z. 74 ff.) <-> Kontrast: Kurt, der Gedächtnis und Sprache verloren hat (vgl. den „Raum" des Gehirns: „In diesem immer noch durch einen Schädel von der Welt abgegrenzten Raum, der immer noch irgendeine Art Ich enthielt.", Z. 66 ff.); vgl. auch den „Mund"-Raum, in dem Geistiges konkret zum Ausdruck kommt und sich in sprachlichen Lauten formuliert: „In Kurts Mund verwandelte sich alles in eine Anekdote." (Z. 78) • Ich-Verlust, Verlust des Menschlichen: Nach dem Verlust der Sprache (vgl. Z. 81 ff.) hat der Mund nur mehr biologische Funktion (vgl. Z. 95). Schritt 4 Sprache und Inhalt verbinden • bei der Wortwahl —» Schlüsselwörter, wie z. B. „immer", „noch", „schon", drücken Vergänglichkeit und Furcht vor Veränderung aus. • im Bereich der Syntax —> Ellipsen, die den Gesundheits-, Persönlichkeitsund Kommunikationsverlust aufzeigen; Inversionen/Einwortsätze/Aufzählungen, die Bedrohung und Verunsicherung durch Veränderungen erkennen lassen • bei den rhetorischen Figuren —» Wiederholungen, die den Wunsch nach Bleibendem und die Unfähigkeit zur Kommunikation verdeutlichen; Ironie, mit der eine Ablehnung der Veränderungen ausgedrückt wird; Metaphern aus dem Bereich der Natur als Widersacher des Menschen und der verfallenden Kultur; Natur als Symbol für Chaos 7 Charakterisieren von Figuren und Beschreiben ihrer Beziehungen Die Aufgabe kann auf die Kennzeichnung einer einzelnen Figur (Figurenkonzeption) oder deren Position im sozialen Beziehungsgeflecht (Figurenkonstellation) zielen. Die Komplexität einer Figur offenbart sich nicht auf wenigen Seiten, sondern verlangt stets die genaue Kenntnis des Gesamtwerks. Diese kann aber nur bei wenigen Pflichtlektüren vorausgesetzt werden. Aufgrund des in der Regel geringen Umfangs des Prüfungstextes beschränken sich die Arbeitsanweisungen deshalb oft auf wesentliche Merkmale der Figur. Diese stehen dann in Verbindung zu einem übergeordneten Thema. Im folgenden Beispiel zu Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts (Text 2) ist es das Thema Krankheit. 7.1 Charakterisierung einer Einzelfigur Charakterisieren heißt: Vorstellen einer Figur in ihren individuellen bzw. typischen Kennzeichen. Diese umfassen • äußere Merkmale: z. B. Name, Alter, Aussehen, Kleidung, Auftreten, Sprache, Beruf, • innere Einstellungen: Eigenschaften, Interessen, Ziele, Wertorientiertheit, Verhaltenssteuerung (rational/ emotional), Wirklichkeitsbezug, Einflussfaktoren, Entwicklungen (Ausgangssituation - Veränderungen -Ergebnis), • Handlungen, Verhaltensweisen (aktiv/passiv), • soziale Beziehungen: Position im Beziehungsgeflecht, Beziehungsfähigkeit (selbst-/fremdbestimmt, sozial eingebunden/isoliert), Beziehungsentwicklungen. Beachten Sie Figurenkonzeption und -konstellation lassen sich oft nicht eindeutig voneinander abgrenzen. Eine einzelne Figur bzw. Person ist stets auch durch ihre sozialen Interaktionen („soziale Beziehungen") geprägt. Diese stehen im Mittelpunkt, wenn Sie explizit eine Figur in ihrem Beziehungsgeflecht untersuchen sollen. Der Erzähler hat verschiedene Möglichkeiten, Figuren dem Leser zu vermitteln: Er beschreibt sie aus seiner Sicht, lässt sie selbst zu Wort kommen oder durch andere kennzeichnen. Dabei kann er einzelnen Figuren besondere Aufmerksamkeit widmen oder ihnen nur eine Nebenrolle zuweisen. Es steht ihm frei, sie individuell oder typisiert, außen- oder innengeleitet, in starker oder schwacher Position darzustellen sowie sie mit festem oder sich entwickelndem Charakter auszustatten. Arbeitsschritte--- 1 Lesen Sie den Text im Hinblick auf kennzeichnende Figurenmerkmale genau durch. Beachten Sie dabei Selbstaussagen der Figur, Bemerkungen anderer Figuren, Hinweise und Kommentare des Erzählers sowie eventuelle Angaben in der Vorbemerkung des Prüfungstextes. 2 Markieren Sie die gefundenen Informationen. Verwenden Sie unterschiedliche Farben für die Bereiche: Äußeres, Inneres, Verhalten und Soziales. 70 / Epische Texte interpretieren Charakterisieren von Figuren und Beschreiben ihrer Beziehungen / 71 3 Notieren und ordnen Sie das gefundene Material nach den unter 2 genannten Bereichen. -» Fügen Sie den jeweiligen Quellenbeleg als Zeilennotiz an. Ziel ist das Erstellen eines Gesamtbilds der Figur. 4 Formulieren Sie die Charakterisierung. Verwenden Sie das Präsens und belegen Sie Ihre Aussagen mit Zitaten. 7.2 Beschreiben von sozialen Beziehungen Die Aufgabenstellung kann auch (zusätzlich) von Ihnen verlangen, Figuren in ihrem sozialen Umfeld zu charakterisieren. In diesem Fall sollten Sie noch weitere Kriterien heranziehen und in den Mittelpunkt Ihrer Untersuchung stellen. Achten Sie auf • dominierende Figuren, Kontrastfiguren und Außenseiter, • Positionsveränderungen, • Aktionen und Reaktionen, • Verhaltensstrategien und ihre Auswirkungen, • Kommunikationsbedingungen, -erfolge und -misserfolge. ■ Übungsbeispiel Eugen Rüge, In Zeiten des abnehmenden Lichts (Text 2, S. 199) Arbeitsanweisung: Die Demenz bestimmt das Alter von Kurt Umnitzer. Sammeln Sie Informationen zu einer Charakteristik dieses Lebens. Ordnen Sie das gefundene Material im Hinblick auf den zentralen Aspekt „Krankheit" und begründen Sie in einer kurzen Einleitung Ihr Vorgehen. Lösungsvorschlag: Schritt 1 und Schritt 2 Textstellen im Hinblick auf „Kurts Krankheit" suchen Die Krankheit des Vaters wird in folgenden Bereichen erkennbar: • seinem äußeren Erscheinungsbild, • seinen physischen Tätigkeiten, • seinem geistigen Befinden (besonders im Vergleich zu früher), • den Auswirkungen auf Alexander. Schritt 3 Material nach Krankheitssymptomen/Bereichen ordnen Die Krankheit prägt Kurts äußere Erscheinung, seine sichtbaren Handlungen, seinen geistigen Zustand und seine menschliche Beziehungsfähigkeit. Die Darstellung der Krankheitssymptome geschieht deshalb am sinnvollsten in dieser Abfolge, also nach dem gängigen Schema vom Äußeren zum Inneren, um anschließend auf die Auswirkungen einzugehen; Krankheitssymptome im äußeren Erscheinungsbild: • Aussehen: „wie ein Geist" (Z. 33 f.); ungepflegte Erscheinung, unordentliche Kleidung (vgl. Z. 46) • unangenehmer Geruch („Geruch des Alters", Z. 40) • dümmlich-starrer Blick („glotzte", Z. 36) Krankheitssymptome bei körperlichen Tätigkeiten: • eingeschränkte Motorik; Unsicherheit beim Gehen („umhertapste", Z. 69); Probleme bereits bei gewohnten Handlungen, so der Handhabung von Besteck • Gefahr des Erstickens beim Essen • auf Pflegepersonal angewiesen Krankheitssymptome in der geistigen Befindlichkeit: • frühere Eigenschaften, Fähigkeiten: begnadeter Redner, fesselnder Erzähler; geistig gewandter Professor, aufgeschlossen und kommunikativ, auch handwerklich agil (Gartentätigkeit, vgl. Z. 26); negative Erfahrungen: zermürbender Lageraufenthalt, bei dem Kurt fast „krepiert" (Z. 79) wäre • Veränderungen: zwei Jahre zuvor noch beschränktes geistiges Vermögen; Kurts Eingeständnis: „Ich habe die Sprache verloren." (Z. 81) - Verlust an Eigeninitiative: „stundenlang" (Z. 70) am Schreibtisch über der Zeitung sitzend - extreme Einschränkung des Sprachvermögens: stereotype, geistlose Antworten; Kommunikationsprobleme 72 / Epische Texte interpretieren Untersuchen der äußeren und inneren Handlung / 73 - Anzeichen von Vereinsamung - Persönlichkeitsveränderung; Beschränkung auf biologischen Bereich; Essgier Auswirkungen auf den Sohn: • leidvolle Konfrontation mit körperlichem und geistigem Verfall: - sinnlich unangenehme Begegnung (Geruch; Essensweise) „ - kein Erkennen von geistiger Leistung (vgl. Z. 66) - kein Vordringen in die Bewusstseinsebene des Vaters - Erfahrung gegenseitiger Isolation • aus der Begegnung erwachsende Fragen bleiben ungelöst Schritt 4 Ausführung (hier nur Einleitung) Im zweiten Textteil wendet der Erzähler seine Aufmerksamkeit dem an schwerer Demenz erkrankten Kurt Umnitzer zu. Er beschreibt dessen Krankheitssymptome und die vergeblichen Versuche des Sohnes, mit dem Vater ins Gespräch zu kommen. Kurts körperlicher und geistiger Zustand wird besonders im Kontrast zu seiner früheren, gesunden Lebensphase deutlich. Überb/icks-information Eine Szene der Bühnenfassung von „In Zeiten des abnehmenden Lichts", aufgeführt vom Deutschen Theater Berlin; auf dem Foto: Alexander Khuon (als Alexander Umnitzer) und Bernd Stempel (als Kurt Umnitzer) 8 Untersuchen der äußeren und inneren Handlung In epischen Texten handeln Menschen und gestalten mit ihrem Tun die Wirklichkeit. Man unterscheidet dabei äußere und innere Handlung. Die äußere Handlung bezieht sich auf die sichtbare Abfolge einzelner zielgerichteter Aktivitäten. Um diesen Handlungsvorgang zu untersuchen, fragt man nach den Handlungsträgern (von bestimmten Interessen und Zielen geleitete Figuren), dem Handlungsraum (Orte, an denen die Tätigkeiten erfolgen), der Handlungszeit (Zeitpunkt und Dauer der Aktionen), dem Handlungsobjekt (Gegenstand, auf den sich die Handlung bezieht) und dem (den) Handlungs-auslöser(n) (Anregungen oder Reize, die zu einer Handlung veranlassen). Handlungen können in ihren Auswirkungen zu weiteren Handlungsauslösern werden. Innere Handlungen stellen mentale und psychische Prozesse dar, die als Gedanken, Assoziationen, Gefühle erkennbar sind und von Erfahrungen, Werten, gesellschaftlichen Normen und Zielen beeinflusst werden können. Die Untersuchung richtet sich auf auslösende Faktoren, Inhalte und Abläufe sowie Auswirkungen dieser Vorgänge. Meist gehen äußere und innere Handlung fortlaufend ineinander über, sodass eine Gliederung nach den genannten Kriterien nicht ratsam erscheint. Sinnvoller ist es, dem Textverlauf zu folgen und an den jeweiligen Stellen das wechselseitige Zusammenspiel von äußerer und innerer Handlung aufzuzeigen. —TIPP- Innere Handlung bezieht sich nicht nur auf die dargestellten Figuren. Auch der Erzähler kann seine Gedanken und Empfindungen preisgeben! Arbeitsschritte--- 1 Lesen Sie den Text aufgabenbezogen durch. Achten Sie dabei auf Handlungswechsel. 2 Markieren Sie mit unterschiedlichen Farben die Stellen, an denen Ihnen Elemente äußerer und innerer Handlung auffallen. 3 Fragen Sie nach Relationen zwischen beiden Handlungsarten. Versuchen Sie aus diesen Handlungswechscln Verhaltensweisen zu erklären (Ursache-Wirkung-Prinzip). 4 Führen Sie die Ergebnisse Ihrer Untersuchung aus. Folgen Sie dabei den einzelnen Handlungsphasen. 74 / Epische Texte interpretieren Untersuchen der äußeren und inneren Handlung / 75 ■ Übungsbeispie! Elisabeth Langgässer, Die getreue Antigone (Text 3, S. 201) Arbeitsanweisung: Stellen Sie den Zusammenhang von äußerer und innerer Handlung dar. Lösungsvorschlag: Schritt 1 bis Schritt 3 Elemente äußerer und innerer Handlung markieren; Handlungswechsel erklären Äußere Handlungsfaktoren: Handlungsträger: Carola und Begleiter Handlungsraum: Grab und Umgebung Handlungszeit: ein Nachmittag im Spätfrühling der unmittelbaren Nachkriegszeit Handlungsobjekt: Grabpflege Handlungsauslöser: leidvolle Kriegserfahrungen, beabsichtigte Grabpflege, herausforderndes Verhalten des jungen Mannes H an dlungs verlauf: • Beginn der äußeren Handlung: Abstellen des Korbes durch Carola und Hinwendung zu ihrem Begleiter (vgl. Z. 6 f.); junger Mann: äußeres Verhalten (Anzeichen aufgesetzter Teilnahmslosigkeit, Anzünden einer Zigarette; vgl. Z. 7 ff.) als Ausdruck innerer Einstellung -> Ablehnung der Grabpflege • problematischer Gesprächsansatz (vgl. Z. 20f.), Tätigkeiten am Grab (vgl. Z. 21 f.); Begleiter: Gefühl mangelnder Zuwendung -» Auslöser einer Provokation (vgl. Z. 27 f.) • Handlungswechsel in die Vorstellungswelt des Begleiters (vgl. Z. 30-32) • „verlegenes]" (Z. 28) Lachen: Ausdruck der Unsicherheit (vgl. auch Z. 32) -» Handlungsunterbrechung und Misstrauen bei Carola (vgl. Z. 32 f.) • Gedanken des Erzählers (vgl. Z. 3 3 - 3 6) • gegenseitige Vorwürfe und Eskalation der äußeren Handlung (Sticheleien, vgl. Z. 39f., 51 f.) bis zu Handgreiflichkeiten (vgl. Z. 53-63); vergeblicher Befriedungsversuch (vgl. Z. 64- 69) • Traurigkeit (vgl. Z. 70) als Spannungslöser; Beginn einer Handlungsphase, bei der das Gespräch immer wieder von Gedanken unterbrochen wird (vgl. Z. 71-90; vgl. auch Punktierung, Gedankenstrich) • Carolas religiöse Bindung (vgl. Z. 91 f.); Naturbilder als Hoffnungssymbole (vgl. Z. 93-95) • Innere Handlung: Carolas Zuwendung vermittelt Geborgenheit (vgl. Z. 98-105); ihre aus christlichem Glauben wachsende Beharrlichkeit stimmt den gefühlsverhärteten Begleiter um (vgl. Z. 108-117); Punktierungen und Naturbilder (vgl. Z. 112-118) —> Hinweise auf Gedanken und Empfindungen Schritt 4 Ausführung Carola und ihr Begleiter befinden sich an einem örtlich nicht näher bestimmten Soldatengrab. I Her und in der nahen Umgehung spielt sich die Handlung an einem Nachmittag im Spätfrühling in der unmittelbaren Nachkriegszeit ab. Carola will das Grab säubern und bepflanzen. Die Grabpflege ist zwar der Anlass, doch die tiefer liegenden Ursachen, besonders der inneren Handlung, sind die schmerzhaften Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit. Carola leidet unter dem Tod des Bruders (vgl. Z. 51 f.), und auch an ihrem Begleiter sind die schlimmen Jahre nicht spurlos vorübergegangen (vgl. Z. 98 f.). Ein weiterer hand-lungsauslösender Faktor ist das provozierende Verhalten des jungen Mannes (vgl. Z. 7 ff.), der offenbar Carolas Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte und deshalb zu sticheln beginnt (vgl. Z. 27 f., 39 f.). Mit dem Abstellen des Korbes und der Hinwendung Carolas zu ihrem Begleiter (vgl. Z. 6-8) beginnt die äußere Handlung. Der junge Mann gibt sich betont desinteressiert (vgl. Z. 7 ff). Ihm scheint zu missfallen, dass er Carolas Aufmerksamkeit mit dem toten Soldaten teilen muss. Das Mädchen redet ihn an, doch er provoziert mit einer abwertenden Geste (vgl. Z. 27 f.). Spannung entwickelt sich, die I landlung wechselt ins Innere. Offenbar spürt der junge Mann die psychische Stärke Carolas, und er versucht sie sich in seiner Fantasie als kleines Kind vorzustellen (vgl. Z. 30 ff). Sein ,,verlegen[es]" (Z. 28) Lachen dient der eigenen Täuschung und zeigt seine Unsicherheit. Carola aber macht diese Geste stutzig (vgl. Z. 32 f.). Hier äußert sich der auktoriale Erzähler mit einer kommentierenden Begründung (vgl. Z. 33-36). Nun beginnt die Auseinandersetzung zwischen den beiden jungen Leuten. Carolas hingebungsvolle Arbeit am Grab und ihr auffordernder Ton (vgl. Z. 37) stacheln den jungen Mann an. Er fühlt sich nicht ernst genommen, empfindet vermutlich selbst Einsamkeit und vermisst Carolas Zuwendung. Deshalb verstärkt er seine Sticheleien (vgl. Z. 39 f., 51 f.). Er scheut sich nicht, Carolas Bruder zu erwähnen, der im KZ den Tod gefunden hat. Daraufhin eskaliert die äußere Handlung (vgl. Z. 53-63) Während er sich schnell wieder beruhigt, bleiben seine Versuche, sie mit Schwarzmarktwaren zu besänftigen, erfolglos. äußere Handlungsfaktoren: Handlungsträger, Handlungsraum Handlungszeit Handlungsobjekt Hand/ungsauslö'ser Beginn der äußeren Handlung Unsicherheit als Auslöser innerer Handlung Erzähler teilt seine Gedanken mit erneute Provokation als Auslöser äußerer Handlung Eskalation der äußeren Handlung, dann Beruhigung des Begleiters 76 / Epische Texte interpretieren Erweiterte Arbeitsaufträge / 77 Carolas Fähigkeit, die Situation ihres Begleiters richtig einzuschätzen (vgl. Z. 70), macht ihm seine Verlorenheit bewusst und ihn dadurch zur emotionalen Öffnung bereit. Das Schlüs- „Traurigkeit"als Aus-selwort „Traurigkeit" (Z. 70) bewirkt ein gemeinsames Schwei- löser einer Entspannung gen und führt Carolas Gedanken zu ihrem Bruder und dessen innere Handlung Tod. Sein Schicksal lässt ihr keine Ruhe. In ihrer Qual wendet sie sich „an einen ganz anderen" (Z. 90). An ihn richtet sie auch ihre Carolas religiöse Fragen (vgl. Z. 91 f.), in denen ihre Religiosität deudich wird. Bindung Carolas gestische Zuwendung hat den jungen Mann beruhigt. Ohne dass ein mentaler Vorgang erkennbar wird (vgl. Punktierungen, Gedankenstriche, Naturbilder als Symbole innerer Bewegt- innere Handlung: heit), vermittelt Carola ihrem Begleiter doch ein Gefühl der Ge- Vermittlung von borgenheit (vgl. Z. 104 ff.). Aus der gesuchten Verbindung von Cefaor9enneit Lebenden (Freund, Mutter, Pfarrer, Gemeinde) und Toten (unbekannter Soldat, Bruder), die sich besonders im Besuch der Toten- christliche Werte Coro-messe verdeutlicht, gewinnt sie innere Festigkeit. Mit dieser las als Orientierung für kann sie ihrem Begleiter gegenübertreten und seine Gefühlsver- ** und andere härtung durch zärtliche Hinwendung aufbrechen. Es gelingt ihr sogar, ihn zum Kirchendienst zu verpflichten (vgl. Z. 108-117). Der Titel „Die getreue Antigone" spie/t auf die Figur der Antigone aus der griechischen Mythologie an. In der gleichnamigen Tragödie von Sophokles (496-406 v. Chr.) wird das tragische Schicksal der Tochter von Ödipus dargestellt. Die Zeichnung rechts zeigt die Szene, als Antigone ihrem toten Bruder durch eine symbolische Bestattung den Einzug in das Totenreich ermöglicht - was jedoch durch ihren Onkel, König Kreon, unter Androhung der Todesstrafe verboten worden war. 9 Erweiterte Arbeitsaufträge Oft schließt sich der Interpretationsaufgabe zu epischen, aber ebenso zu dramatischen oder lyrischen Texten ein zusätzlicher Arbeitsauftrag an. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: die Vertiefung eines bestimmten thematischen Aspekts der vorher interpretierten Textgrundlage oder der Vergleich mit einem anderen literarischen Werk, das Sie selbst auswählen können. Beachten Sie ~ Die folgenden Arbeitsschritte werden exemplarisch an einem epischen Text veranschaulicht, gelten aber für erweiterte Arbeitsaufträge zu allen Gattungen. 9.1 Vertiefung eines thematischen Aspekts Der erweiterte Arbeitsauftrag geht in der Regel vom vorliegenden, bereits erschlossenen und interpretierten Text aus und zielt auf die Vertiefung eines thematischen Aspekts. Gehen Sie folgendermaßen vor: Arbeitsschritte - 1 Lesen Sie den Text themabezogen durch. 2 Markieren und notieren Sie dabei die für die Bearbeitung wichtigen Stellen. 3 Versuchen Sic, den thematischen Schwerpunkt (d. h. den Sachverhalt, das Problem oder den Begriff) mit Ihrem Vorwissen aufzuschlüsseln (nach Erscheinungsformen, Funktionen). 4 Verbinden Sie die Testaussagen mit Ihren Kenntnissen: Stellen Sie Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten, Unterschiede und Ergänzungsmöglichkeiten fest. Ordnen Sie das Material nach den Vorgaben der Aufgabenstellung oder des Textverlaufs. -> Weitere Gliederungsmöglichkeiten: z. B. nach Erscheinungsformen, Eigenschaften, Funktionen, Leistungen 5 Stellen Sie nun Ihre Ergebnisse übersichtlich strukturiert dar. ■ Übungsbeispiel Eugen Rüge, In Zeiten des abnehmenden Lichts (Text 2, S. 199) Arbeitsanweisung: „Ich habe die Sprache verloren." Erläutern Sie, bezogen auf den vorliegenden Text, die Bedeutung von Sprache. / 197 Texte Text! Heinrich von Kleist (1777-1811), Das ßettelweib von Locarno (erschienen 1810) t Arn Fuße der Alpen, bei Locarno im oberen Italien1, befand sich ein altes, einem Marchese2 gehöriges Schloss, das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht: ein Schloss mit hohen und weitläufigen Zimmern, in deren einem einst, auf Stroh, das man ihr unterschüttete, eine alte kranke Frau, die s sich bettelnd vor der Tür eingefunden hatte, von der Hausfrau aus Mideiden gebettet worden war. Der Marchese, der, bei der Rückkehr von der Jagd, zufällig in das Zimmer trat, wo er seine Büchse abzusetzen pflegte, befahl der Frau unwillig, aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzustehen, und sich hinter den Ofen zu verfügen. Die Frau, da sie sich erhob, glitschte mit der Krücke auf dem glatten Boden aus, und beschädigte sich, auf io eine gefährliche Weise, das Kreuz; dergestalt, dass sie zwar noch mit unsäglicher Mühe aufstand und quer, wie es vorgeschrieben war, über das Zimmer ging, hinter den Ofen aber, unter Stöhnen und Ächzen, niedersank und verschied. Mehrere Jahre nachher, da der Marchese, durch Krieg und Misswachs, in bedenkliche Vermögensumstände geraten war, fand sich ein florentmischer Ritter bei ihm ein, der i5 das Schloss, seiner schönen Lage wegen, von ihm kaufen wollte. Der Marchese, dem viel an dem Handel gelegen war, gab seiner Frau auf, den Fremden in dem oben erwähnten, leerstehenden Zimmer, das sehr schön und prächtig eingerichtet war, unterzubringen. Aber wie betreten war das Ehepaar, als der Ritter mitten in der Nacht, verstört und bleich, zu ihnen herunterkam, hoch und teuer versichernd, dass es in dem Zimmer 2o spuke, indem etwas, das dem Blick unsichtbar gewesen, mit einem Geräusch, als ob es auf Stroh gelegen, im Zimmerwinkel aufgestanden, mit vernehmlichen Schritten, langsam und gebrechlich, quer über das Zimmer gegangen, und hinter dem Ofen, unter Stöhnen und Ächzen, niedergesunken sei. Der Marchese, erschrocken, er wusste selbst nicht recht warum, lachte den Ritter mit 25 erkünstelter Heiterkeit aus, und sagte, er wolle sogleich aufstehen, und die Nacht zu seiner Beruhigung, mit ihm in dem Zimmer zubringen. Doch der Ritter bat um die Gefälligkeit, ihm zu erlauben, dass er auf einem Lehnstuhl, in seinem Schlafzimmer übernachte, und als der Morgen kam, ließ er anspannen, empfahl sich und reiste ab. Dieser Vorfall, der außerordentliches Aufsehen machte, schreckte auf eine dem * Marchese höchst unangenehme Weise, mehrere Käufer ab; dergestalt, dass, da sich unter seinem eigenen Hausgesinde, befremdend und unbegreiflich, das Gerücht erhob, dass es in dem Zimmer, zur Mitternachtsstunde, umgehe, er, um es mit einem entscheidenden Verfahren niederzuschlagen, beschloss, die Sache in der nächsten Nacht selbst zu untersuchen. Demnach ließ er, bei Einbruch der Dämmerung, sein Bett, in dem besagten ss Zimmer aufschlagen, und erharrte, ohne zu schlafen, die Mitternacht. Aber wie erschüttert war er, als er in der Tat, mit dem Schlage der Geisterstunde, das unbegreifliche Geräusch wahrnahm; es war, als ob ein Mensch sich von Stroh, das unter ihm knisterte, erhob, quer über das Zimmer ging, und hinter dem Ofen, unter Geseufz und Geröchel 198 / Texte Texte ^ 1gg niedersank. Die Marquise, am andern Morgen, da er herunterkam, fragte ihn, wie die 40 Untersuchung abgelaufen; und da er sich, mit scheuen und ungewissen Blicken, umsah, und, nachdem er die Tür verriegelt, versicherte, dass es mit dem Spuk seine Richtigkeit habe: so erschrak sie, wie sie in ihrem Leben nicht getan, und bat ihn, bevor er die Sache verlauten Heise, sie noch einmal, in ihrer Gesellschaft, einer kaltblütigen Prüfung zu unterwerfen. Sie hörten aber, samt einem treuen Bedienten, den sie mitgenommen hat-45 ten, in der Tat, in der nächsten Nacht, dasselbe unbegreifliche, gespensterartige Geräusch; und nur der dringende Wunsch, das Schloss, es koste was es wolle, los zu werden, vermochte sie, das Entsetzen, das sie ergriff, in Gegenwart ihres Dieners zu unterdrücken, und dem Vorfall irgendeine gleichgültige und zufällige Ursache, die sich entdecken lassen müsse, unterzuschieben. Am Abend des dritten Tages, da beide, um so der Sache auf den Grund zu kommen, mit Herzklopfen wieder die Treppe zu dem Fremdenzimmer bestiegen, fand sich zufällig der Haushund, den man von der Kette losgelassen hatte, vor der Tür desselben ein; dergestalt, dass beide, ohne sich bestimmt zu erklären, vielleicht in der unwillkürlichen Absicht, außer sich selbst noch etwas Drittes, Lebendiges, bei sich zu haben, den Hund mit sich in das Zimmer nahmen. Das 55 Ehepaar, zwei Lichter auf dem Tisch, die Marquise unausgezogen, der Marchese Degen und Pistolen, die er aus dem Schrank genommen, neben sich, setzen sich gegen eilf Uhr, jeder auf sein Bett; und während sie sich mit Gesprächen, so gut sie vermögen, zu unterhalten suchen, legt sich der Hund, Kopf und Beine zusammengekauert, in der Mitte des Zimmers nieder und schläft ein. Drauf, in dem Augenblick der Mitternacht, so lässt sich das entsetzliche Geräusch wieder hören; jemand, den kein Mensch mit Augen sehen kann, hebt sich, auf Krücken, im Zimmerwinkel empor; man hört das Stroh, das unter ihm rauscht; und mit dem ersten Schritt: tapp! tapp! erwacht der Hund, hebt sich plötzlich, die Ohren spitzend, vom Boden empor, und knurrend und bellend, grad als ob ein Mensch auf ihn eingeschritten käme, rückwärts gegen den Ofen weicht er aus. 65 Bei diesem Anblick stürzt die Marquise, mit sträubenden Haaren, aus dem Zimmer; und während der Marquis, der den Degen ergriffen: wer da? ruft, und da ihm niemand antwortet, gleich einem Rasenden, nach allen Richtungen die Luft durchhaut, lässt sie anspannen, entschlossen, augenblicklich, nach der Stadt abzufahren. Aber ehe sie noch einige Sachen zusammengepackt und aus dem Tore herausgerasselt, sieht sie schon das 7o Schloss ringsum in Flammen aufgehen. Der Marchese, von Entsetzen überreizt, hatte eine Kerze genommen, und dasselbe, überall mit Holz getäfelt wie es war, an allen vier Ecken, müde seines Lebens, angesteckt. Vergebens schickte sie Leute hinein, den Unglücklichen zu retten; er war auf die elendiglichste Weise bereits umgekommen, und noch jetzt liegen, von den Landleuten zusammengetragen, seine weißen Gebeine in 75 dem Winkel des Zimmers, von welchem er das Bettelweib von Locarno hatte aufstehen heißen. Aus: Heinrich von Kleist, Die Verlobung in St. Domingo. Das ßettelweib von Locarno. Der Findling. Erzählungen. Stuttgart: Philipp Rec/am jun. 2002, S. 43-46 Anmerkungen 1 Gemeint ist die schweizerische Stadt Locarno am Lago Maggiore. 2 Marchese (Marquis, weibliche Form: Marquise): italienischer Adelstitel Eugen Rüge (geb. 1954), In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie (erschienen 2012, Ausschnitt) Alexander Umnitzer hat vor Kurzem von seiner unheilbaren Krebserkrankung erfahren. Aus dem Krankenhaus zurückgekehrt, macht er sich zu seinem schwer dementen Vater auf, den er vier Wochen nicht mehr gesehen hat. Der Ausschnitt ist der Beginn des ersten Kapitels. 1 2001 Zwei Tage lang hatte er wie tot auf seinem Büffelledersofa gelegen. Dann stand er auf, duschte ausgiebig, um auch den letzten Partikel Krankenhausluft von sich abzuwaschen, und fuhr nach Neuendorf. s Er führ die All5, wie immer. Schaute hinaus in die Welt. Prüfte, ob sie sich verändert hatte. Und - hatte sie? Die Autos kamen ihm sauberer vor. Sauberer? Irgendwie bunter. Idiotischer. Der Himmel war blau, was sonst. Der Herbst hatte sich eingeschlichen, hinterrücks. Tupfte kleine gelbe Markierungen io in die Bäume. Es war inzwischen September geworden. Und wenn er am Samstag entlassen worden war, musste heut Dienstag sein. Das Datum hatte er während der letzten Tage verloren. Neuendorf besaß neuerdings eine eigene Autobahnabfahrt - „neuerdings" hieß für Alexander immer noch: nach der Wende. Man kam direkt auf die Thälmannstraße (hieß 15 immer noch so). Die Straße war glatt asphaltiert, rote Fahrradstreifen zu beiden Seiten. Frisch renovierte Häuser, wärmegedämmt nach irgendeiner EU-Norm. Neubauten, die aussahen wie Schwimmhallen: Stadtvillen nannte man das. Aber man brauchte nur einmal links abzubiegen und ein paar hundert Meter dem krummen Steinweg zu folgen, dann noch einmal links - hier schien die Zeil sullzuste-2o hen: eine schmale Straße mit Linden. Kopfsteingepflasterte Bürgersteige, von Wurzeln verbeult. Morsche Zäune und Feuerwanzen. Tief in den Gärten, hinter hohem Gras, die toten Fenster von Villen, über deren RückÜbertragung in fernen Anwaltskanzleien gestritten wurde. Eins der wenigen 1 läuser hier, die noch bewohnt waren: Am Fuchsbau sieben. Moos 25 auf dem Dach. Risse in der Fassade. Die Holunderbüsche berührten schon die Veranda. Und der Apfelbaum, den Kurt immer eigenhändig beschnitten hatte, wuchs kreuz und quer in den Himmel, ein einziges Gewirr. Das „Essen auf Rädern" stand schon in der ISO-Verpackung auf dem Zaunpfeiler Dienstag, fand er auf der Packung bestätigt. Alexander nahm die Packung und ging so hinein. Obwohl er einen Schlüssel hatte, klingelte er. Testen, ob Kurt aufmachte - sinnlos. Ohnehin wusste er, dass Kurt nicht aufmachen würde. Aber dann hörte er das vertraute Quietschen der Flurtür, und als er durch das Fensterchen schaute, erschien Kurt - wie ein Geist - im Halbdunkel des Vorraums. 35 Mach auf, rief Alexander. Kurt kam näher, glotzte. - Mach auf! Aber Kurt rührte sich nicht. 200 / Texte Texte / 201 Alexander schloss auf, umarmte seinen Vater, obwohl ihm die Umarmung seit lan-« gern unangenehm war. Kurt roch. Es war der Geruch des Alters. Er saß tief in den Zellen. Kurt roch auch gewaschen und zähnegeputzt. - Erkennst du mich, fragte Alexander. - Ja, sagte Kurt. « Sein Mund war mit Pflaumenmus verschmiert, der Morgendienst hatte es wieder mal eilig gehabt. Seine Strickjacke war schief geknöpft, er trug nur einen Hausschuh. Alexander machte Kurts Essen warm. Mikrowelle, Sicherung einschalten. Kurt stand interessiert daneben. - Hast du Hunger, fragte Alexander, so - Ja, sagte Kurt. - Du hast immer Hunger. - Ja, sagte Kurt. Es gab Gulasch mit Rotkohl (seit Kurt sich an einem Stück Rindfleisch einmal fast tödlich verschluckt hatte, wurde nur noch Kleinteiliges bestellt). Alexander brühte sich 55 einen Kaffee. Dann nahm er Kurts Gulasch aus der Mikrowelle, stellte es auf die Igelit1 -Decke. Guten Appetit, sagte er. - Ja, sagte Kurt Begann zu essen. Eine Weile war nur Kurts konzentriertes Schniefen zu hören. 6o Alexander nippte an seinem noch viel zu heißen Kaffee. Sah zu, wie Kurt aß. - Du hast die Gabel falsch herum, sagte er nach einer Weile. Kurt hielt einen Augenblick inne, schien nachzudenken. Aß dann aber weiter: Versuchte, das Stück Gulasch mit dem Gabelstiel auf die Messerspitze zu schieben. - Du hast die Gabel falsch herum, wiederholte Alexander. 65 Er sprach ohne Betonung, ohne mahnenden Unterton, um die Wirkung der reinen Begriffe auf Kurt zu testen. Keine Wirkung. Null. Was ging in diesem Kopf vor? In diesem immer noch durch einen Schädel von der Welt abgegrenzten Raum, der immer noch irgendeine Art Ich enthielt. Was fühlte, was dachte Kurt, wenn er im Zimmer umhertapste? Wenn er vormittags an seinem Schreibtisch saß und, wie die Pflegerin-70 nen berichteten, stundenlang in die Zeitung starrte. Was dachte er? Dachte er über haupt? Wie dachte man ohne Worte? Kurt hatte endlich das Gulaschstück auf die Messerspitze geladen, balancierte es jetzt, schon zitternd vor Gier, zum Mund. Absturz. Zweiter Versuch. Eigendich ein Witz, dachte Alexander, dass Kurts Verfall ausgerechnet mit der Sprache 75 begonnen hatte. Kurt, der Redner. Der große Erzähler. Wie er dagesessen hatte in seinem berühmten Sessel - Kurts Sessel! Wie alle an seinen Lippen hingen, wenn er seine Geschichtchen erzählte, der Herr Professor. Seine Anekdoten. Komisch aber auch: In Kurts Mund verwandelte sich alles in eine Anekdote. Egal, was Kurt erzählte - selbst wenn er davon erzählte, wie er im Lager beinahe krepiert wäre , immer hatte es eine so Pointe, immer hatte es Witz. Hatte gehabt. Fernste Vergangenheit. Der letzte Satz, den Kurt zusammenhängend hatte sagen können, war: Ich habe die Sprache verloren. Auch nicht schlecht. Verglichen mit seinem heurigen Repertoire eine Glanznummer. Doch das war zwei Jahre her: Ich habe die Sprache verloren. Und die Leute hatten wirklich gedacht, sieh mal an, er hat die Sprache verloren, aber sonst... 85 Sonst schien er noch einigermaßen beisammen zu sein. Lachelte, nickte. Zog Grimassen, die irgendwie passten. Verstellte sich schlau. Nur hin und wieder unterlief ihm Sonderbares: dass er den Rotwein in seine Kaffeetasse goss. Oder auf einmal ratlos mit einem Korken dastand und ihn schließlich ins Bücherregal steckte. Miserable Quote: Ein Stückchen Gulasch hatte Kurt bisher geschafft. Jetzt griff er zu: mit den Fingern. % Schaute schräg von unten zu Alexander herauf, wie ein Kind, das die Reaktion seiner Eltern prüft Stopfte das Stück in den Mund. Und noch eins. Und kaute. Und während er kaute, hielt er seine beschmierten Finger hoch wie zum Schwur. - Wenn du wüsstest, sagte Alexander. Kurt reagierte nicht. Hatte endlich eine Methode gefunden: die Lösung des Gulasches problems. Stopfte, kaute. Die Soße rann in einer schmalen Spur über sein Kinn. Aus: Eugen Rüge, In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011,5.7-11 Anmerkung 1 Igelit: eine Kunststoffart Elisabeth Langgässer (1899-1950), Die getreue Antigone (erschienen 1947) i Das Grab lag zwischen den Schrebergärten, ein schmaler Weg lief daran vorbei und erweiterte sich an dieser Stelle wie ein versandetes Flussbett, das eine Insel umschließt. Das Holzkreuz fing schon an zu verwittern; seine Buchstaben R.I.P.1 waren vom Regen verwaschen, der Stahlhelm saß schief darüber und war wie ein Grinsen, mit welchem s der Tod noch immer Wache hielt. Gießkanne, Harke und Rechen lagen an seiner Seite, das Mädchen Carola stellte den Spankorb mit den Stiefmütterchenpflanzen, die es ringsherum einsetzen wollte, ab und wandte sich zu seinem Begleiter, der ihr gelangweilt zusah und unter der vorgehaltenen Hand das Streichholz anrätschte, um seine Camel2 im Mundwinkel anzuzünden. io Kein Lüftchen. Der Frühling, an Frische verlierend, ging schon über in die Verheißung des Sommers, der Flieder verblühte, die einzelnen Nägelchen bräunten und begannen, sich aus Purpur und Lila in die Farbe des Fruchtstandes zu verwandeln, der Rotdorn schäumte gewalttätig auf, die Tülpcnstängel, lang ausgewachsen, trugen die Form ihrer Urne nur noch diesen Tag und den nächsten - dann war auch das vorbei. '5 Eine hässliche alte Vase und zwei kleine Tonschalen dienten dazu, den Blumenschmuck aufzunehmen - jetzt waren Maiglöckchen an der Reihe, Narzissen, die einen kränklichen Eindruck machten, und Weißdorn, der das Gefühl einer Fülle und Üppigkeit zu erwecken suchte, die zu dem unangenehmen Geruch seiner kleinen, kurzlebigen Blüten in seltsamem Gegensatz stand. x> „Wenn der Rot- und Weißdorn vorüber ist, kommt eine Zeitlang gar nichts", sagte Carola, bückte sich und leerte das schmutzige Wasser aus beiden Schalen aus, füllte sie wieder mit frischem Wasser und seufzte vor sich hin. „Rosen", sagte der junge Bursche. „Aber die sind noch nicht da. Du hast recht: Dazwischen kommt gar nichts. Ein paar Ziersträucher höchstens, rosa und gelbe, aber die B Zweige müsste man abreißen, wo man sie findet -", er blinzelte zu ihr hin. „Nein", sagte sie rasch. 202 / Texte Texte / 203 „Nicht abreißen? Nein? Dann muss der da unten warten, bis wieder Rosen blühen." Er lachte roh und verlegen auf; das Mädchen begann das Grab zu säubern, die herabgefallenen Blütchen sorgfältig aufzulesen und die Seitenwände des schmalen Hügels mit 3o Harke und Händen gegen den Wegrand genauer abzugrenzen. (So hat sie wohl schon als kleines Mädchen auf dem Puppenherd für ihre Ella und Edeltraut Reisbrei gekocht, Pudding und solches Zeug, schoss es ihm durch den Sinn.) Wieder musste er lachen; sie blickte misstrauisch auf und unterbrach ihr Hantieren; wirklich war es, als ob auf dem Grab, das die Weißdornblüten bedeckten, Zucker verschüttet wäre, oder spielende 35 Kinder hätten vergessen, ihr Puppengeschirr, als die Mutter sie rief, mit in das Haus zu nehmen. „Gib den Korb mit den Pflanzen her", sagte Carola. „Ich will sie jetzt einsetzen. Auch den Stock, um die Löcher in die Erde zu machen, immer in gleichem Abstand ", sie war vor Eifer ganz rot. „Hol ihn dir selber", sagte der Bursche und drückte an einem mor-40 sehen Pfahl die Zigarette aus. „Ein Blödsinn, was du da treibst." „Was ich treibe?" „Na - dieses Getue um das Soldatengrab. Immer bist du hierhergelaufen. September, Oktober: mit Vogelbeeren; November, Dezember: mit Stechpalmen, Tannen, hernach mit Schneeglöckchen, Krokus und Zilla. Und das alles für einen Fremden, von dem du 45 nicht einmal weißt -." „Was weiß ich nicht?" „Was er für einer war." „Jetzt ist er tot." „Vielleicht ein SS-Kerl." so „Vielleicht." „Ja, schämst du dich eigentlich nicht?" brauste der Bursche auf. „Deinen ältesten Bruder haben die Schufte in Mauthausen3 umgebracht. Wahrscheinlich hat man ihn -." „Sei doch still!" Sie hielt sich mit verzweifeltem Ausdruck die Hände an die Ohren; er packte sie an den Handgelenken und riss sie ihr herunter, sie wehrte sich, keuchte, ihre 55 Gesichter waren einander ganz nahe, plötzlich ließ er sie los. „Tu, was du willst. Es ist mir egal Aber ich bin es satt. Adjö4 -." „Du gehst nicht!" „Warum nicht? Du hast ja Gesellschaft. Ich suche mir andere." „Die kenne ich", sagte das Mädchen erbittert. „Die von dem Schwarzen Markt" 6o „Und wenn schon? Der Schwarze Markt ist nicht schlimmer als deine Geisterparade. Gespenster wie dieser da ... Würmer und Maden." Er deutete mit dem Kopf nach dem Grab, das nun, vielleicht weil Harke und Rechen, während sie beide rangen quer darüber gefallen waren, einen verstörten Eindruck machte und ein Bild der Verlassenheit bot. „Komm", sagte der Bursche besänftigt. „Ich habe Schokolade." 65 „Die kannst du behalten." „Und Strümpfe." Schweigen. „Und eine Flasche Likör." „Warum lügst du?" fragte das Mädchen kalt. „Nun, wenn du weißt, dass ich lüge", sagte der Bursche gelassen, „kann ich ja aufhören. Oder meinst du, das Lügen macht mir Spaß?" 70 „Dann lügst du also aus Traurigkeit", sagte Carola kurz. Sie schwiegen, die Nachmittagssonne brannte, in der Luft war ein Flimmern wie sonst nur im Sommer, ein flüchtiges Blitzen, der leise Schrei und das geängstigte Seuf- zen der mütterlichen Natur. Ein Stück niedergebrochenen Gartenzauns lag am Wegrand, sie setzten sich beide wie auf Verabredung nieder, der jungt Mann zog Carola an 75 sich und legte wie ein verlaufener Hund den Kopf in ihren Schoß. Sie saß sehr gerade und starrte mit aufgerissenen Augen nach dem Soldatengrab ... „Glaubst du wirklich, dass Clemens so qualvoll -?" fragte Carola leise. „In dem Steinbruch oder..." „Ich weiß es nicht. I.ass doch. Quäle dich nicht", murmelte er wie im Schlaf. „Für «> Clemens ist es vorbei." „Ja", sagte sie mechanisch, „für Clemens ist es vorbei." Sie nickte ein paarmal mit dem Kopf und fing dann von neuem an. „Aber man möchte doch wissen." „Was - wissen?" „Ob er jetzt Frieden hat", sagte sie, halb erstickt, es „Da kannst du ganz ruhig sein. Du weißt doch, wofür er gestorben ist" „Ich weiß es. Aber siehst du, als Kind konnte ich schon nicht schlafen, wenn mein Spielzeug im Hof geblieben war; das Holzpferd oder der Puppenjunge. Wenn es Regen gibt! Wenn er allein ist und hat Angst vor der Dunkelheit, dachte ich. Verstehst du mich denn nicht?" Er gab keine Antwort, Carola schien sie auch nicht zu erwarten, sondern 90 richtete ihre Fragen an einen ganz anderen. „Ist das Sterben schwer? Du kannst es mir sagen. Der Augenblick, wo sich die Seele losreißt von allem, was sie hat?" Nun bewegte sich doch noch ein leiser Wind und hob die äußersten Enden der Weißdornzweige empor; die schräge fallenden Sonnenstrahlen wanderten über den Stahlhelm 95 und entzündeten auf der erblindeten Fläche einen winzigen Funken von Licht „Liegst du gut?" Der junge Mann warf den Kopf wie im Traum auf ihrem Schoß hin und her; sein verfinstertes junges Gesicht mit den Linien der unbarmherzigen Jahre entspannte sich unter den streichelnden Händen, die seine widerspenstigen Strähnen langsam und zart loo zu glätten versuchten und über die Stirn zu den Schläfen und von da aus über die Wangen gingen ... die Lippen, die ihre kühlen Finger mit einem leise saugenden Kuss festzuhalten versuchten ... bis die Finger endlich, selber beruhigt, in der Halsgrube liegenblieben, wo mit gleichmäßig starken Schlägen die lebendige Schlagader pochte. „Ich liege gut", gab der junge Mann mit entfernter Stimme zurück. „Ich möchte tos immer so liegen. Immer..." Er seufzte und flüsterte etwas, das Carola, weil er dabei den Mund auf ihre Hände presste, nicht verstand; doch sie fragte auch nicht darnach. Nach einer Weile sagte das Mädchen: „Ich muss jetzt weiter machen. Die Mutter kommt bald nach Haus. Übrigens, dass ich es nicht vergesse: der Kuratus5 hat gestern nach dir gefragt Es ist jetzt großer Mangel an älteren Ministranten6, besonders bei iio Hochämtern, weißt du, an hohen Festen, und so. Ob du nicht -?" „Nein. Ich will nicht." Der Bursche verzog seinen Mund. „... die Kleinen können den Text nicht behalten, sie lernen schlecht und sind unzuverlässig", fuhr sie unbeirrt und beharrlich fort. „Bei dem Requiem7 neulich -." Sie stockte. Dicht vor beiden flog ein Zitronenfalter mit probenden Flügelschlägen vorbei und Iis ließ sich vertrauensvoll und erschöpft auf dem Korb mit den Pflänzchen nieder. „Meinetwegen", sagte der Bursche. „Nein: deinetwegen", verbesserte er. „Damit du Ruhe hast", fügte er noch hinzu. „Damit er ... Ruhe hat", sagte sie und griff nach dem Pflanzenkorb. 204 / Texte Texte / 205 Aus: Elisabeth Langgässer, Saisonbeginn. Erzählungen. Stuttgart: PhilippReclamjun. Verlag 1981, S. 36-41 (Erstausgabe.- Oaassen & Coverts 1947) Anmerkungen 1 R.I.P.: Abkürzung für lat. Requiescat in pace.. „Er/Sie ruhe in Frieden." 2 Camel: eine Zigarettenmarke 3 Mauthausen: Standort eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers in Österreich, südöstlich von Linz; viele der Häftlinge wurden im zum Lager gehörenden Steinbruch zu Tode geschunden. 4 Adjö: gemeint ist „Adieu." 5 Kuratus: Pfarrverweser, Titel eines katholischen Seelsorgers, von lat. cura „Sorge" 6 Ministrant: Messdiener 7 Requiem: „Totenmesse", benannt nach dem Anfangswort des lat. Gebetes Reguiem aeternam dona eis, Domine.: „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe." Franz Kafka (1883-1924), Der Aufbruch (1922) 1 Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitest du, Herr?" „Ich weiß es 5 nicht", sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen." „Du kennst also dein Ziel?" fragte er. „Ja", antwortete ich, „ich sagte es doch: ,Weg-von-hier', das ist mein Ziel." „Du hast keinen Essvorrat mit", sagte er. „Ich brauche keinen", sagte ich, „die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist io ja zum Glück eine wahrhaft ungeheuere Reise." Aus: Franz Kaflca, Sämtliche Erzählungen. Hrsg. v. Paul Raabe. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1973, S. 321 Friedrich Hebbel (1813-1863), Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten (1844). 1. Akt, 7. Szene Friedrich Hebbels bürgerliches Trauerspiel entstand 1843 und wurde im folgenden Jahr veröffentlicht. Die Uraufführung fand 1846 in Königsberg statt. Die Szene spielt im Huuse des Tischlermeisters Anton. Dessen Familie besteht aus seiner eben von schwerer Krankheit genesenen Frau Therese und den Kindern Klara und Karl. Der Kassierer Leonhard hat Klara nach einem Tanzabend dazu gebracht, sich ihm hinzugeben, und sie geschwängert. Er will damit einen Rivalen ausschalten, dem Klaras eigentliche Liebe gehört, um so das Mädchen endgültig an sich zu binden. Die Eltern wissen von Klaras Fehltritt nichts. In der vorausgehenden Szene hält Leonhard mit Erfolg bei Meister Anton um die Hand der Tochter an, muss allerdings erfahren, dass keine Mitgift zu erwarten ist. Zwei Gerichtsdiener betreten den Raum, um eine Hausdurchsuchung durchzuführen, denn Karl wird verdächtigt, einen Juwelendiebstahl begangen zu haben. Zu Unrecht, wie sich später herausstellen wird. Bis zum 18. Jahrhundert galt der Beruf des Ccrichtsdieners in vielen Gegenden Deutschlands als unehrlich. Die Bürger stellten diese Leute auf eine Stufe mit Henkern und Abdeckern (Beseitiger von Tierkadavern) und mieden den Umgang mit ihnen. Meister Anton hat den Gerichtsdiener Adam einmal in einem Wirtshaus öffentlich gedemütigt, als dieser sein Glas mit ihm unstoßen wollte. (Vgl. 2. Akt, 3. Szene) 1 Gerichtsdiener Adam und noch ein Gerichtsdiener (treten ein). ADAM (zu Meister Anton). Nun geh Er nur hin und bezahl Er Seine Wette! Leute im roten Rock mit blauen Auf sc h lägen (dies betont er stark) sollten Ihm nie ins Haus kommen? I lier sind wir unsrer zwei! (Zum zweiten Gerichtsdiener) Warum s behält Er Seinen Hut nicht auf wie ich? Wer wird Umstände machen, wenn er bei seinesgleichen ist? Meister Anton. Bei deinesgleichen, Schuft? ADAM. Er hat recht, wir sind nicht bei unsersgleichen, Schelme und Diebe sind nicht unsersgleichen! (Er zeigt auf die Kommode.) Aufgeschlossen! Und dann drei Schritt io davon! Dass Er nichts herauspraktiziert! Meister Anton. Was? Was? Klara (tritt mit Tischzeug ein). Soll ich (Sic verstummt.) ADAM (zeigt ein Papier). Kann Er geschriebene Schrift lesen? meister ANTON. Soll ich können, was nicht einmal mein Schulmeister konnte? is ADAM. So hör Er! Sein Sohn hat Juwelen gestohlen. Den Dieb haben wir schon. Nun wollen wir Haussuchung halten! mutter. Jesus! (Fällt um und stirbt.) KLARA. Mutter! Mutter! Was sie für Augen macht! Leonhard. Ich will einen Arzt holen! 2o MEISTER ANTON. Nicht nötig! Das ist das letzte Gesicht! Sah's hundertmal. Gute Nacht, Therese! Du starbst, als du 's hörtest! Das soll man dir aufs Grab setzen! leonhard. Es ist doch vielleicht - (Abgehend.) Schrecklich! Aber gut für mich! (Ab.) Meister ANTON (zieht ein Schlüsselbund hervor und wirft es von sich). Da! Schließt auf! 25 Kasten nach Kasten! Ein Beil her! Der Schlüssel zum Koffer ist verloren! Hei, Schelmen und Diebe! (Er kehrt sich die Taschen um.) Hier find ich nichts! zweiter gerichtsdiener. Meister Anton, fass Er sich! Jeder weiß, dass Er der ehrlichste Mann in der Stadt ist. meister ANTON. So? So? (Lacht.) Ja, ich hab die Ehrlichkeit in der Familie allein ver-30 braucht! Der arme Junge! Es blieb nichts für ihn übrig! Die da - (er zeigt auf die Tote) war auch viel zu sittsam! Wer weiß, ob die Tochter nicht (Plötzlich zu Klara.) Was meinst du, mein unschuldiges Kind? Klara. Vater! zweiter Gerichtsdiener (zu Adam). Fühlt Er kein Mitleid? 35 ADAM. Kein Mideid? Wühl ich dem alten Kerl in den Taschen? Zwing ich ihn, die Strümpfe auszuziehen und die Stiefel umzukehren? Damit wollt' ich anfangen, denn ich hasse ihn, wie ich nur hassen kann, seit er im Wirtshaus sein Glas - Er kennt die