Deutschsprachige Literatur seit 1933 bis zur Gegenwart Autoren und Werke Jaroslav Kovář Masarykova univerzita Brno 2014 Deutschsprachige Literatur seit 1933 bis zur Gegenwart Autoren und Werke Jaroslav Kovář Masarykova univerzita Brno 2014 evropský sociální fond v ČR EVROPSKÁ UNIE MINISTERSTVO ŠKOLSTVÍ, MLÁDEŽE A TĚLOVÝCHOVY INVESTICE DO ROZVOJE VZDĚLÁVÁNÍ ! OP Vzdělávání pro konkurenceschopnost Dílo bylo vytvořeno v rámci projektu Filozofická fakulta jako pracoviště excelentního vzdělávání: Komplexní inovace studijních oborů a programů na FF MU s ohledem na požadavky znalostní ekonomiky (FIFA), reg. č. CZ. 1.07/2.2.00/28.0228 Operační program Vzdělávání pro konkurenceschopnost. ©2014 Masarykova univerzita Toto dílo podléhá licenci Creative Commons Uveďte autora-Neužívejte dílo komerčně-Nezasahujte do díla 3.0 Česko (CC BY-NC-ND 3.0 CZ). Shrnutí a úplný text licenčního ujednání je dostupný na: http://creativecommons.Org/licenses/by-nc-nd/3.0/cz/. Této licenci ovšem nepodléhají v díle užitá jiná díla. Poznámka: Pokud budete toto dílo šířit, máte mj. povinnost uvést výše uvedené autorské údaje a ostatní seznámit s podmínkami licence. ISBN 978-80-210-7136-0 (brož. vaz.) ISBN 978-80-210-7137-7 (online : pdf) ISBN 978-80-210-7138-4 (online : ePub) ISBN 978-80-210-7139-1 (online : Mobipocket) Inhalt INHALT DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR..........................4 VOR DEM JAHR 1933 ...................................5 1933-1945: LITERATUR IN DEUTSCHLAND.....................6 „ENTARTETE KUNST"..................................7 BLUT-UND-B ODEN-LITERATUR...........................11 „INNERE" EMIGRATION.................................13 EXILLITERATUR......................................15 PRAGER AUTOREN IM EXIL..............................25 ÖSTERREICHISCHE LITERATUR DER ZWISCHENKRIEGSZEIT (1918-1938) UND DES EXILS (1938-1945).............................. 29 LITERATUR IM NACHKRIEGSDEUTSCHLAND (1945-1949).......... 33 ÖSTERREICHISCHE LITERATUR...........................37 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR DER SCHWEIZ................41 LITERATUR IN DER EHEMALIGEN DDR......................44 LITERATUR IN DER BUNDESREPUBLIK (1949-1990) UND DEM WIEDERVEREINTEN DEUTSCHLAND.................52 DRAMA UND THEATER.................................62 „POSTMODERNE" DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR.............65 AUTOREN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND ..................67 ANHANG...........................................71 VIER VORSCHLÄGE FÜR ARBEIT MIT TEXTEN IN SEMINAREN.............................71 WEITERFÜHRENDE LITERATUR...........................84 3 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR Mit dem Begriff „deutschsprachige Literatur" bezeichnet man seit dem 20. Jahrhundert die gesamte Literatur in deutscher Sprache, die nicht nur in allen deutschsprachigen Ländern entsteht, also in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, sondern auch in anderen europäischen Ländern oder im Exil geschrieben wurde. Dieser Begriff löste die Bezeichnung „deutsche Literatur", bzw. „deutsche Nationalliteratur" ab, der wegen der territorialen Zersplitterung des deutschsprachigen Gebietes bis ins 19. Jahrhundert benutzt wurde. Nach der Vereinigung Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts könnte nämlich der Eindruck entstehen, dass mit der Bezeichnung „deutsche Literatur" nur die in Deutschland geschriebene Literatur gemeint sei. Der Begriff „deutschsprachige Literatur" ist also sehr weit und vielfältig und umfasst alle literarischen Werke in deutscher Sprache, unabhängig davon, in welchem Land der Autor lebte und schrieb. Im Tschechischen gibt es keine Bezeichnung, die den Begriff „deutschsprachig" mit einem Wort wiedergeben könnte. Die tschechische Übersetzung heißt also etwas kompliziert „německy psaná literatura", bzw. besser „literatura v německém jazyce". Beide Begriffe sind aber der bloßen Bezeichnung „německá literatura" vorzuziehen. 4 VOR DEM JAHR 1933 VOR DEM JAHR 1933 Nach der sog. Novemberrevolution des Jahres 1918, dem Fall des deutschen Kaiserreiches und der Ausrufung der Republik, die nach dem Ort, wo die erste Sitzung der deutschen Nationalversammlung zusammenkam, die „Weimarer Republik" genannt wird, begann in Deutschland eine relativ kurze Zeit demokratischer Entwicklung. Das Ende der Weimarer Republik kam aber bereits im Januar 1933, als Hitler und seine Partei NSDAP an die Macht kamen. Die 20-er Jahre waren trotz der zahlreichen politischen und sozialen Erschütterungen (mehrere Putschversuche, die überstürzende Inflation der Jahre 1922/23, der Anfang der tiefen weltweiten Wirtschaftskrise 1929 und der damit zusammenhängende Aufstieg des deutschen Faschismus) eine Zeit der stürmischen Entfaltung der deutschen Kultur, insbesondere der Literatur, der Malerei und der bildenden Kunst, der Architektur, des Theaters und des neuen Mediums Film. In der schnell wachsenden Hauptstadt Berlin bekommt Deutschland ein neues dominantes Kulturzentrum; Berlin wird auch zur Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur und löst in dieser Funktion München und Wien der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ab. In der Literatur dieser Zeit entsteht eine Vielzahl bemerkenswerter Werke, die mit ihrer Aussage über den Menschen der modernen Zeit, mit ihrer Abrechnung mit dem eben zu Ende gegangenen Weltkrieg und später mit ihrer Warnung vor der Gefahr des Faschismus die Grenzen der deutschsprachigen Literatur deutlich überschreiten und zu einem wichtigen Bestandteil der Weltliteratur werden. 5 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART 1933-1945: LITERATUR IN DEUTSCHLAND Nach ihrer Machtergreifung entfesselten die Nazis sofort einen blutigen Terror und ließen niemanden im Zweifel, wie sie mit ihren politischen Gegnern umgehen werden. Die ersten Konzentrationslager für die politischen und ideologischen Widersacher des NS-Regimes wurden bereits im März 1933 errichtet. Ein anschauliches Beispiel ihrer gewaltsamen Auseinandersetzung mit der antifaschistischen, demokratischen und „nichtarischen" Literatur war die sog. Bücherverbrennung, die von der NSDAP (und auch von nationalistischen Studenten und Professoren der germanistischen Institute) am 10. Mai 1933 in deutschen Universitätsstädten organisiert wurde. Bei dieser ersten Bücherverbrennung wurden Bücher von 36 deutschen Autoren aus den Bibliotheken entfernt und öffentlich verbrannt. In Berlin auf dem Opernplatz war es der neue Propagandaminister Goebbels persönlich, der die inkriminierten Bücher feierlich „den Flammen übergab". Die verbrannten Autoren waren nun automatisch verboten, weitere Bücherverbrennungen folgten. Die antifaschistischen Autoren, Schriftsteller jüdischer Herkunft, linksorientierte Dichter und überzeugte Demokraten hatten nun keine andere Wahl, als unter oft abenteuerlichen Umständen Deutschland zu verlassen und ins Exil zu gehen. Der Hass der Nazis richtete sich dabei nicht nur gegen die lebenden Gegner der Nationalsozialisten, sondern auch gegen manche Klassiker der deutschen Dichtung: unter den verbrannten Autoren war unter anderen der große Dichter Heinrich Heine, wegen seiner jüdischen Herkunft; dass er als junger Mann von dem jüdischen Glauben zum Protestantismus konvertierte, war für die Nazis kein Argument, denn nach ihrer Rassentheorie war nicht das Glaubensbekenntnis entscheidend, sondern das nichtarische „Blut". Es war kein Zufall, dass nach der Bücherverbrennung in Berlin illegale Flugblätter auftauchten mit einem Zitat von Heinrich Heine: Wer Bücher verbrennt, wird eines Tages auch Menschen verbrennen... 6 „ENTARTETE KUNST „ENTARTETE KUNST" Ein weiterer ideologischer „Grund" für das Verbot vieler Autoren war ihre angebliche Zugehörigkeit zu der - wie es in der Nazi-Ideologie hieß - „entarteten Kunst". Mit diesem Begriff versahen die Hüter der arischen Kunst jene modernen, experiementellen und avandgardistischen Autoren, die nicht in das Konzept der „neuen" arischen und „deutschstämmigen" Literatur passten. Ein markantes Beispiel war der literarische Expressionismus. Der Expressionismus als eine neue literarische Strömung dominierte in der deutschsprachigen Literatur im zweiten, bzw. dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den mehr oder weniger gesamteuropäischen literarischen Strömungen wird der Expressionismus als eine spezifisch deutsche Bewegung bezeichnet, mit einigen Analogien in den skandinavischen Literaturen oder auch in der bildenden Kunst (der norwegische Maler Edvard Münch, der österreichische Maler und Dramatiker Oskar Kokoschka u.a.) Der Expressionismus wollte die Gefühle des modernen Menschen des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck bringen, insbesondere seine Empfindungen der Gefährdung und der Angst, in Form eines leidenschaftlichen, oft abstrakt ausgedruckten Protestes gegen die bestehende Gesellschaft und gegen die Generation der Väter, verbunden mit Aufrufen zur Errichtung einer neuen, menschlicheren Welt, die nur auf den Trümmern der gegenwärtigen Welt eine Chance hätte. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges war ein weiterer mächtiger Impuls für die Expressionisten - der pazifistische Flügel der expressionistischen Bewegung reagierte mit leidenschaftlicher Abverurteilung des mörderischen Krieges. Der Expressionismus war jedoch eine sehr breite und weltanschaulich vielfältige Bewegung - von expressionistischen Anfängen gingen zum Beispiel zwei so unterschiedliche Dichter hervor wie der rechtskonservativ orientierte Lyriker Gottfried Benn (1886-1956), ein kühler Analytiker des Weltuntergangs, oder der spätere kommunistische Dichter Johannes R. Becher (1891-1958), der sein Exil in der UdSSR verbrachte und nach dem Jahr 1949 der erste Kulturminister der ehemaligen DDR wurde. Zu den Dichtern des frühen Expressionismus gehörten vor allem Georg Heym (1887-1912) und der Österreicher Georg Trakl (1887-1914), die bekannteste Dichterin war 7 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Else Lasker-Schüler (1869-1945), die die Zeit des Nationalsozialismus im schweizerischen Exil verbrachte, wo sie auch starb. Der Expressionismus entfaltete sich hauptsächlich in der Lyrik, etwas später auch im Drama, weniger in der Prosa. Ein Beispiel expressionistischer Prosa: Leonhard Frank und seine im schweizerischen Exil entstandenen Antikriegsno-vellen des Bandes Der Mensch ist gut (Člověk je dobrý, 1917). Zu den Autoren des expressionistischen Theaters, das sich bis in die Mitte der 20-er Jahre entfaltet und das auch die ersten Stücke des jungen Bertolt Brecht beeinflusste, gehörten Carl Sternheim (1878-1942), der aktive Revolutionär und später antifaschistischer Emigrant Ernst Toller (1893-1939), der Bildhauer, Grafiker und mystische Dramatiker Ernst Barlach (1870-1938), oder einer der erfolgreichsten expressionistischen Dramatiker Georg Kaiser (1878-1945). Die Nazi-Propaganda hatte selbstverständlich auch ihre offizielle und offiziell unterstützte Literatur. Sie wird - nach den Schlüsselbegriffen der faschistischen Ideologie - manchmal auch als Blut-und-Boden-Literatur bezeichnet. Bis auf wenige Ausnahmen waren ihre künstlerischen Qualitäten niedrig, im Vordergrund stand die Progagierung des Gedankens über die Überlegenheit des „arischen" deutschen Volkes und seine historische Sendung. Heute wird sie nicht mehr gelesen, dient jedoch als interessantes Forschungsfeld der Germanistik über die Wechselwirkung von Literatur und Ideologie. Das Nazi-Regim nutzte jedoch auch mehrere ältere Werke der deutschen Literatur für ihre ideologischen Ziele. Sie hatten mit dem Nationalsozialismus wenig gemeinsam, als die NS-Bewegung aufstieg und an die Macht kam, waren sie nicht mehr am Leben und konnten sich gegen ihre Einvernahme in das ideologische Konzept der Nazis nicht wehren. Drei Beispiele, stellvertretend für alle anderen: Der deutsche Lyriker Stefan George (1868-1933) war überzeugt über die elitäre, ja „aristokratische" Rolle der Dichtung, die nur wenigen Gleichgesinnten und Eingeweihten zugänglich sei. Er versammelte um sich einen Kreis seiner Schüler und Bewunderer, die seine Gedichte zum Gegenstand einer fast kultischen Verehrung machten; zu seinen bekanntesten Gedichtbänden zählen zum Beispiel Der siebente Ring (Sedmý prsten, 1907) oder Der Stern des Bundes (Hvězda úmluvy, 1914). Der sprachlich und formal bemerkenswerte Gedichtband Das neue Reich (Nová říše, 1928), der das Einsetzen einer neuen und 8 „ENTARTETE KUNST heroischen Epoche des deutschen Volkes verkündete, ließ sich nur allzuleicht von der NS-Ideologie mißbrauchen. Als Sprachvirtuose und und Nachdichter führte George in die deutsche Literatur eine ganze Reihe dichterischer Meisterwerke der Weltliteratur ein - unter anderem übersetzte er bereits 1903 Baude-laires Blumen des Bösen ins Deutsche, weiter z.B. Shakespears Sonnetten oder Teile der Göttlichen Komödie Dantes. Der in Prag gebürtige Rainer Maria Rilke (1875-1926) führte nach seinen Studien in Österreich und in Prag ein unstetes Leben, reiste viel und verbrachte viele Jahre im Ausland, oft auf Einladung seiner aristokratischen Mäzene, unter anderem in Frankreich, wo er 1905-1906 Sekretär des berühmten französischen Bildhauers Auguste Rodin war, in Spanien, Russland oder in der Schweiz, wo er auch starb. Rilke gilt bis heute als Meister der deutschen Sprache, in dessen formal vollkommenen Versen die deutsche Lyrik in gebundener Sprache einen ihrer letzten Höhepunkte erreichte. Ein Beweis dafür sind die Gedichtbände Das Stundenbuch (Kniha hodinek, 1905), Duineser Elegien (Elegie z Duina, 1923), oder Sonette an Orpheus (Sonety Orfeovi, 1923) und eine Reihe weiterer Gedichte, Gedichtbände und Nachdichtungen. Die größte Popularität bei mehreren Generationen der Leser und die größten Auflagezahlen erreichte jedoch seine balladenhafte Dichtung in Prosa Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (Píseň o lásce a smrti korneta Kryštofa Rilka, 1906). Hier stilisierte sich Rilke in einem stark lyrisierten Text in die fiktive Figur eines sechzehnjährigen Soldaten, seines fiktiven Vorfahren, der in den Dreißigjährigen Krieg zieht und dort den Tod findet; nach zahlreichen Zeugnissen hatten viele Wehrmachtsoldaten des Zweiten Weltkrieges Rilkes Buch bei sich an der Front und konnten sich mit dem jungen tragischen Helden identifizieren. Nicht nur auf das literarische Schaffen der deutschen Symbolisten (wie George und Rilke), sondern auf zahlreiche andere deutschsprachige Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte der Philosoph und Dichter Friedrich Nietzsche (1844-1900) einen überaus starken Einfluss. Nietzsche forderte eine radikale „Umwertung aller Werte"; in seinem bekanntesten Werk Also sprach Zarathustra (Tak pravil Zarathustra, 1883-91), geschrieben in einer meisterhaften dichterischen Sprache einer rhythmisierten Prosa, forderte er seine Zeitgenossen auf, als „Seiltänzer" auf einem dünnen und gefährlichen Seil dem Neuen und Unbekannten entgegen aufzubrechen - nur so könne man 9 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART zu einem „Übermenschen" werden, der den Materialismus, Relativismus und die Skepsis der modernen Zeit überwinden kann. Nietzsches Philosophie war ausgeprägt individualistisch; erst die Nazis in ihrer Ideologie haben seine Thesen über den Übermenschen auf die ganze deutsche Nation bezogen. 10 BLUT-UND-BODEN-LITERATUR BLUT-UND-BODEN-LITERATUR Das Nazi-Regime hatte auch seine offizielle Literatur, die von Joseph Goebbels und seinem Propaganda-Ministeruim auch entsprechend unterstützt wurde. Diese Literatur wird - nach den Schlüsselbegriffen der Naziideologie als Literatur „Blut und Boden" bezeichnet: Blut als Zugehörigkeit zu der arischen Rasse, Boden als Verbundenheit der Autoren mit der „heimischen Scholle" (rodnou hroudou). Interessant ist, das die meist propagierten Romane dieser Literatur nicht erst nach 1933 geschieben wurden, sondern bereits in den 20-er Jahren: Hans Grimm (1875-1959) schrieb 1926 den Roman Volk ohne Raum (Národ bez prostoru) und sein Buch wurde das Motto der nationalsozialistischen Expansionspolitik. Ein weiteres Beispiel ist Ernst Jünger (1895-1998), dessen Roman In Stahlgewittern (V ocelových bouřích, 1920) sowie seine weiteren Romane (wie etwa Der Kampf als inneres Erlebnis, Válka jako vnitřní prožitek, 1922) den deutschen Soldaten und den Krieg an sich verherrlichten: der Krieg in seiner Schilderung ist ein Ereignis, in dem die moralischen Eigenschaften des Mannes, des Soldaten - und der ganzen Nation - bewährt und veredelt werden. Der Nazipropaganda dienten diese Romane zur ideologischen Vorbereitung der neuen Expansionskriege; Jünger selbst hatte sich Anfang der 30-er Jahre vom Nationalsozialismus distanziert, nach dem Krieg schrieb er weitere Werke mit einer ganz anderen - ästhetisierenden - Ausrichtung, und 2005, anlässlich seines hundertjährigen Geburtstages, wurde er in Deutschland als der Nestor der deutschen Literatur gefeiert. Zu Exponenten der Naziliteratur wurden auch mehrere Autoren aus dem sog. Sudetenland: so etva Erwin Guido Kolbenheyer (*1878 Budapest - 1962 München), der in Eger (Cheb) das Gymnasium besuchte und später in Karlsbad, in Österreich und in Deutschland lebte und zu einem führenden Repräsentanten der Naziliteratur wurde. Sein bekanntestes Werk ist die historische Romantrilo-gie Paracelsus (1917-1926). Auch andere Autoren der Naziliteratur schrieben oft historische Romane, die scheinbar mit der Naziideologie nichts gemeinsam haben: man erkennt aber ihre ideologische Zugehörigkeit danach, dass die positiven deutschen Romanhelden von ihren primitiven (meist slavischen) Figuren an ihrer Arbeit zum Guten der Menschheit gehindert werden. ll DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Ähnliches gilt auch für den aus Iglau (Jihlava) stammenden Jornalisten und Schriftsteller Karl Hans Strobl (1877-1946), der 1934 wegen seiner tschechenfeindlichen politischen Aktivitäten aus der Tschechoslovakei ausgewiesen wurde und in Österreich und im DrittenReich zu einem Exponenten der Naziideologie wurde. Er schrieb vor allem phantastische und Prager Studentenromane. 12 „INNERE" EMIGRATION „INNERE" EMIGRATION Nicht alle deutschen Autoren gingen 1933 oder später ins Exil - von den bekannten Schtiftstellern blieben in Deutschland z.B. der Dramatiker des deutschen Naturalismus Gerhart Hauptmann, der damals bereits beinahe 70 Jahre alt war, ähnlich wie die Dichterin und Romanautorin Ricarda Huch (1864-1947), weiter Hans Fallada oder auch Erich Kästner, dessen Bücher sogar bei der Bücherverbrennung auf dem Scheiterhaufen endeten. Sie - und viele andere - zogen sich aber aus dem öffentlichen Leben zurück, oft hatten sie Publikationsverbot und arrangierten sich mit dem neuen Regime nicht. Für diese Autoren hat sich in der Literaturgeschichte der Begriff der sog. „inneren Emigration" eingebürgert. Aber auch mit einer gewissen Relativierung, denn nach 1945 wollten diese Bezeichnung auch viele Autoren für sich in Anspruch nehmen, die dem Nazi-Regime sehr wohl gedient hatten. Der deutsche Naturalismus, dessen Hauptwerke Anfang der 90-er Jahre des 19. Jahrhunderts entstanden, brachte in die Literatur unter anderem auch mehr Interesse für die soziale Thematik, ähnlich wie seine ausländischen Vorbilder im Schaffen von Emile Zola oder Henrik Ibsen. Gerhart Hauptmann (1862-1946) war der wichtigste Autor dieser Literatur, und zwar in erster Linie mit seinen Theaterstücken Vor Sonnenaufgang (Před východem slunce, 1889) und Die Weber (Tkalci, 1892). Das letztere Stück, das 1894 in Berlin uraufgeführt wurde, schildert eine soziale Revolte der schlesischen Weber aus dem Jahr 1844 und ist interessant auch deswegen, weil das Drama ursprünglich in der schlesischen Mundart konzipiert war und in den Figuren der Weber zum ersten Mal einen kollektiven Helden auf die Bühne bringt. Es folgte die populäre „Diebeskomödie" aus dem Berliner Proletariermilieu Der Biberpelz (Bobří kožich, 1893), Dramen mit tragischen Schicksalen der Titelheldinnen Hanneies Himmelfahrt (Haniččino nanebevzetí, 1893) oder Rose Bernd (Róza Berndová, 1903). Obwohl dann Hauptmann zu naturalistischen Stoffen noch mehrmals zurückkehrte, etwa in den Theaterstücken Die Ratten (Krysy, 1911) oder Vor Sonnenuntergang (Před západem slunce, 1932), das Stück Die versunkene Glocke (Potopený zvon, 1896) eröffnete eine neue, von der Neuromantik beeinflusste Etappe seines Schaffens. Aus seinem prosaischen Werk ragen die frühe, stark psychologische Novelle Bahnwärter Thiel (Traťový hlídač Thiel, 1888), die Erzählung Der Ketzer von Soana (Kacíř 13 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART ze Soany, 1918) und der umfangreiche Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint (Blázen v Kristu Emanuel Quint, 1910) heraus. Hauptmann bekam den Nobelpreis für Literatur bereits im Jahre 1912 und in der Zeit der Weimarer Republik gehörte er zu den bekanntesten und meist geschätzten deutschen Autoren; es war daher für viele eine Überraschung, dass er nach 1933 in Deutschland blieb. Hans Fallada (1893-1947) befasste sich in seinen Werken vor allem mit Schicksalen der „kleinen Leute" in Zeiten der Wirtschaftskrisen, z.B. in den Romanen Kleiner Mann - was nun? (Občánku a co teď?, 1932) a Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (Kdo už jednou seděl v base, 1934), tschechisch auch unter dem Titel Ubohý pan Kufalt). Ähnlich wie Hauptmann lebte er in der Zeit der Nazidiktatur zurückgezogen und engagierte sich nicht öffentlich. Der Dichter und Prosaiker Erich Kästner (1899-1974) machte auf sich aufmerksam mit dem frischen und optimistischen Roman Fabian (1931), sowie auch mit humoristischen „Miniromanen" wie Drei Männer im Schnee (Tři muži ve sněhu, 1934, bei uns bekannt auch aus der Filmbearbeitung mit Hugo Haas in der Hauptrolle), oder Die verschwundene Miniatur (Honba za miniaturou, 1935). In den letzten Jahren der Weimarer Republik wurde er bekannt als Autor vieler Gedichte und Texte zu Kabarettliedern, oft politisch engagiert, die gegen die Nationalsozialisten gerichtet waren und sehr populär wurden. Er nutzte dabei eine breite Skala des Komischen, von einem leichten Humor bis zu einer ätzenden Satire. Die Nazis hatten ihn auf der Liste ihrer Gegner; seine Biografen stellen sich bis heute die Frage, warum er nicht zum Opfer der ersten Monate der Nazidiktatur wurde und warum er nicht emigrierte. Er hat jedenfalls die Zeit des Dritten Reiches überstanden, lebte dann in München und nach 1945 wurde er zu dem bekanntesten Repräsentanten der inneren Emigration. In viele Sprachen wurden seine Bücher für Kinder und junge Leser übersetzt: Emil und die Detektive (Emil a detektivové, 1928), Pünktchen und Anton (Kulička a Toník, 1930), Emil und die drei Zwillinge, (Emil a tři dvojčata, 1935J, Das doppelte Lottchen (Luisa a Lotka, 1949) und andere. 14 EXILLITERATUR EXILLITERATUR Zum Ziel der Emigranten wurden in den ersten Monaten des Exils die Nachbarländer: die Tschechoslowakei, die Schweiz, die skandinavischen Länder, und vor allem (seit Heinrich Heines Zeit) das traditionelle Asylland deutscher Exulanten: Frankreich. Ende der 30-er Jahre, als der Krieg ausbrach, wurde klar, dass Europa nicht mehr sicher war; die Exilautoren mussten wieder fliehen, jetzt vorwiegend in die USA. Nicht alle Emigranten konnten jedoch ihr Exil in die Übersee fortsetzen: in Schweden schied Kurt Tucholsky freiwillig aus dem Leben, im französischen Exil starben z.B. Joseph Roth oder Ödön von Horvath, in der Schweiz Robert Musil. In die damalige Sowjetunion gingen vor allem die kommunsti-schen Autoren, z. B. Johannes R. Becher, Willi Bredel oder der Dramatiker Friedrich Wolf. Stefan Zweig nahm sich das Leben im brasilianischen Exil, in den USA verbrachten die Jahre des Krieges unter anderem die Brüder Heinrich und Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Hermann Broch, Alfred Döblin, Leonhard Frank, Bertolt Brecht, Erich Maria Remarque, Johannes Urzidil und viele andere. Max Brod oder Arnold Zweig gingen in das damalige Palästina, das unter englischer Verwaltung war, Egon Erwin Kisch, Ludwig Renn oder Anna Seghers nach Mexiko. Die Geschichte der Exilliteratur der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist äußerst interessant - es kann gesagt werden, dass die besten Werke der deutschen und österreichischen Literatur in den Jahren 1933-45 außerhalb von Deutschland oder Österreich entstehen, ja häufig außerhalb von Europa. Die Exilautoren schaffen ihre wichtigsten Werke oft gerade auf der Flucht und im Exil. Das Schaffen dieser Autoren repräsentierte auf diese Weise vor der ganzen Welt das „andere", das demokratische und antifaschistische Deutschland, im krassen Gegensatz zu dem sog. Dritten Reich und dessen offiziellen Literatur. Es ist bewunderungswert, wie viele hervorragende literarische Werke gerade im Exil entstehen, oft unter schwierigsten Existenzbedingungen, nicht selten auch ohne Möglichkeiten zur Veröffentlichung; nur wenige Exilautoren waren international so bekannt (wie etwa Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Erich Maria Remarque oder Franz Werfel), dass ihre neuen Werke direkt aus dem deutschen Manuskript ins Englische oder in andere Sprachen übersetzt und herausgegeben werden konnten. Deswegen waren die Bemühungen der Emigranten um Gründung 15 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART eigener literarischer Zeitschriften und deutschsprachiger Verlage wichtig - zu den bedeutendsten Verlagen der Exilliteratur gehörten z. B. der Verlag Querido in Amsterdam, Malik-Verlag in Prag und später in London, El libro libre in Mexiko und der Verlag Aurora in New York. Auch mehrere literarische Zeitschriften konnten herausgegeben und zu einer wichtigen Publikationsplattform werden. Die Zeitschrift Neue Weltbühne erschien in den Jahren 1933-1938 in Prag, dann bis August 1939 in Brüssel und Paris. In Moskau waren es zwischen 1933-1945 Internationale Literatur (ab 1937 Deutsche Blätter) und 1936-1939 Das Wort, Klaus Mann, der Sohn von Thomas Mann, gab in Amsterdam 1933-1936 die Zeitschrift Die Sammlung heraus, Thomas Mann selbst zusammen mit Konrad Falke Maß und Wert (1937-1940), in New York war es ab 1934 das Periodikum Außau, und auch die Exulanten in Mexiko gaben hier eine deutschsprachige literarische Zeitschrift heraus: Freies Deutschland (1941-1945). Zu den bekanntesten Autoren dieser Periode der deutschsprachigen Literatur gehörten vor allem die Gebrüder Mann. Sie stammten aus dem norddeutschen Lübeck, seit den 90-er Jahren des 19. Jahrhunderts, als sie ihre literarische Tätigkeit begannen, lebten sie dann in München. Der ältere der beiden Brüder - Heinrich Mann (1871-1950) schrieb Novellen und Romane; nach den ersten weniger erfolgreichen Romanen wurde er berühmt mit seinem satirischen Roman Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen (Profesor Neřád, 1905) über einen verknöcherten Gymnasialprofessor, der letzten Endes in die Liebe zu einer „Künstlerin" zweifelhaften Rufes in einem Nachtlokal verfällt, vor dem er seine Schüler warnen und schützen wollte. Der Film mit dem Titel Der blaue Engel (Modrý anděl), gedreht nach dieser literarischen Vorlage ein Vierteljahrhudert später mit Marlen Dietrich in der Rolle der „Künstlerin Fröhlich", nahm dann einen Ehrenplatz in der Geschichte des deutschen Films ein. Marlen Dietrich war dann später eine der wenigen deutschen Schauspielerinnen, die aus Protest gegen Hitler aus Deutschland emigrierte und zu einer engagierten Gegnerin des Nazideutschland wurde. Den satirischen Roman Der Untertan (Poddaný) schrieb Heinrich Mann noch vor dem Ersten Weltkrieg in den Jahren 1911-14; das Buch konnte jedoch erst 1918 erscheinen, weil die negative Hauptfigur dieses scharf satirischen Romans, der Fabrikant Diederich Heßling, eine geradezu Verkörperung des grundlegenden Prinzips des militaristischen autoritativen wilhelminischen Deutschland ist; je mehr er seinen Kaiser Wilhelm II. verehrt und sich vor allen ihm Übergestellten 16 EXILLITERATUR bückt, um so rücksichtsloser geht er mit allen ihm Untergebenen um - mit den Arbeitern seiner Fabrik, mit dem Arbeitermädchen, das er geschwängert hatte ebenso wie mit seiner eigenen Ehefrau. Nach dem Ersten Weltkrieg wollte dann Heinrich Mann auf den Erfolg dieses - wahrscheinlich seines besten - Romans anknüpfen, erweiterte ihn in eine Trilogie, die beiden späteren Romane erreichen jedoch nicht mehr die satirische Schärfe des Untertans. In der Weimarer Republik wurde Heinrich Mann zum Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste gewählt; als ihn im März 1933 die Nazis dieser Funktion enthoben hatten, ging er ins Exil, lebte zunächst in Paris, wo er mehrere antifaschistische Initiativen organisierte (z. B. zwei „Weltkongresse zur Verteidigung der Kultur"), später in den USA, wo er auch starb, kurz vor seiner geplanten Rückkehr nach (Ost)Berlin. Von seinen in der Emigration entstandenen Werken muss der zweiteilige historische Roman Die Jugend des Königs Henri Quatre, 1935; Die Vollendung des Königs Henri Quatre, 1938 (tschechisch Mládí a zrání krále Jindřicha IV.) erwähnt werden, in dem er diesen französischen König als einen positiven Herrscher schildert, der zu der Einsicht kommt, dass seine höchste Aufgabe der Dienst dem französischen Volk ist - im Unterschied zu dem negativen Herrscher Hitler, der sein Volk in die Zerstörung treibt. Dieses Werk von Heinrich Mann bietet gleichzeitig eine Erklärung dafür, warum die historischen Stoffe in der Exilliteratur so häufig vertreten sind: Die Geschichte als Gleichnis, Belehrung und Beispiel für die Gegenwart. Thomas Mann (1875-1955) wurde nach einigen ersten frühen Novellen gleich mit seinem ersten umfangreichen Roman bekannt, mit der Familienchronik über die Geschichte einer wohlhabenden hanseatischen Kaufmannsfamilie in Lübeck, die der Roman über vier Generationen verfolgt und bei der Thomas Mann auch die Geschichte der eigenen Familie Mann literarisch umsetzte: Buddenbrooks. Verfall einer Familie (Buddenbrookovi. Rozpad jedné rodiny, 1901). Es folgten die meisterhaften Novellen Tonio Kröger (1903), Tristan (1903), Königliche Hoheit (Královská výsost, 1909), Der Tod in Venedig (Smrt v Benátkách, 1913, die berühmte Filmung des italienischen Regisseurs Visconti); ein sich mehrmals wiederholendes Thema dieser Prosastücke ist die Stellung des Künstlers und seine gestörte Beziehung zu der bürgerlichen Gesellschaft, also die Beziehung Künstler x Bürger. Nach dem Ersten Weltkrieg (und nach dem umstrittenen Essay Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), in dem sich Thomas Mann mit der deutschen Ideolo- 17 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART gie des Ersten Weltkrieges identifizierte, von dem er sich jedoch bald distanzierte, zu einem Verfechter der Demokratie wurde und eine politische Annäherung zu seinem Brüder Heinrich wieder fand) folgte der Roman Der Zauberberg (Kouzelný vrch, 1924), der die wichtigsten ideellen Strömungen der Jahrhundertwende reflektierte. Die Novelle Mario und der Zauberer (Mario a kouzelník, 1930) wird für eine der ersten eindringlichen literarischen Warnungen vor Manipulationen des Faschismus gehalten. Im Exil entstanden dann die Romantetralogie Joseph und seine Brüder (Josef a jeho bratři, 1933-43) mit dem Stoff aus der biblisch-jüdischen Geschichte, der Goethe-Roman Lotte in Weimar (Lota ve Výmaru, 1939) und der gedanklich tiefe Roman Doktor Faustus (1947), in dem Thomas Mann die historischen und philosophischen Wurzeln des deutschen Faschismus zu ergründen versuchte. Bekannt ist auch die Tatsache, dass als den Brüdern Mann und ihren Familien nach ihrem Exil die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wurde (das deutsche Innenministerium setzte sie auf die sog. Ausbürgerungslisten, ihre deutschen Pässe wurden ungültig und sie staatenlos), erhielten sie dank der Solidarität vieler tschechischer Menschen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zuerkannt; in die USA kamen sie dann als tschechoslowakische Staatsbürger, und beide hatten diese Hilfe der demokratischen Tschechoslowakei sehr geschätzt. Das letzte Werk Thomas Manns war der unvollendete, fast humoristische Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Zpověď hochštaplera Felixe Krulla, 1954). Thomas Mann, einer der größten Autoren der deutschen Kultur, in dessen Werk die deutsche Sprache zu einer hohen sprachlichen Vollkommenheit gelangte, erhielt neben vielen anderen Würdigungen im Jahre 1929 den Nobelpreis für Literatur. Im amerikanischen Exil wurde Thomas Mann (im Unterschied zu seinem älteren Bruder Heinrich, der sich in den USA nicht durchsetzen konnte) zu dem wohl bekanntesten antifaschistischen deutschen Autor, zu einem Repräsentanten der „anderen", demokratischen deutschen Kultur. Ein weiterer deutschsprachiger Autor, der den Nobelpreis im Jahre 1946 erhielt, war der Dichter und Romanautor Hermann Hesse (1877-1962). Er machte auf sich aufmerksam (nach frühen neuromantischen Gedichten und Erzählungen) bereits mit seinen ersten Romanen Peter Camenzind (1904) und dem stark autobiografischen Werk Unterm Rad (Pod kolem, 1906), einer tragischen Geschichte eines fünfzehnjährigen Jungen, dessen Leben durch eine gefühllose Erziehung zerstört wird. Seit 1911 lebte Hermann Hesse dauerhaft in der Schweiz, und hier 18 EXILLITERATUR entstehen dann seine späteren Romane, Erzählungen und Gedichte, auf die bereits mehrere Generationen der deutschen Leser bis heute zurückgreifen. Seine „indische Dichtung" Siddharta (1922) spielt in Indien des 4. Jahrhunderts und ist von der gedanklichen Welt der alten indischen Philosophie und Literatur beeinflusst. Auch seine späteren Romane Der Steppenwolf (Stepní vlk, 1927), Narziß und Goldmund (1930) und insbesondere sein meisterhaftes Spätwerk, seine Antwort auf die Unmenschlichkeit und Primitivität des deutschen Faschismus, eine umfangreiche utopische Vision der Zukunft der Menschheit, der Bildung und der Zivilisation Das Glasperlenspiel (Hra se skleněnými perlami, 1943) verwischen die Grenze zwischen Realität und Fiktion, sind eine einfühlsame Aussage über die Krise des modernen Menschen und der Humanität in dem gefährdeten 20. Jahrhundert, ebenso wie ein Versuch ihrer Überwindung, die nach dem Autor nur im Inneren eines jeden von uns beginnen kann. Es ist sicherlich nicht selbstverständlich, dass im Jahre 1946, nur ein Jahr nach dem mörderischen Weltkrieg, gerade ein deutschsprachiger Autor den literarischen Nobelpreis erhielt: die Königliche schwedische Akademie der Künste, die für die Auswahl der Preisträger zuständig ist, wollte damit sicher ein Zeichen setzen, dass die deutschsprachige Literatur und Kultur nicht mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen ist, dass es immer auch eine demokratische, antifaschistische deutsche Literatur und Kunst gegeben hatte. Gegen Ende der 20-er Jahre des 20. Jahrhunderts erscheinen in der deutschsprachigen Literatur gleich mehrere Romane, deren Autoren sich mit dem Erlebnis des Ersten Weltkrieges auseinandersetzten und die zu einer Anklage des unsinnigen Mordens wurden. Arnold Zweig (1887-1968) schrieb zunächst seine Romangeschichte über das Schicksal eines russischen Kriegsgefangenen Der Streit um den Sergeanten Grischa (Spor o seržanta Gríšu, 1927), setzte fort mit den Romanen über den Krieg an der Front und im Hinterland, z.B. Junge Frau von 1914 (Mladá žena z roku 1914, 1931), Erziehung vor Verdun (Výchova před Verdunem, 1935), um sie dann zu einem mehrteiligen Zyklus über den Ersten Weltkrieg zu ergänzen mit dem Titel Der große Krieg der weißen Männer (Velká válka bílých mužů). Im Jahre 1928 veröffentlicht Ludwig Renn (1889-1979) seinen Antikriegsro-man mit dem einfachst möglichen Titel Der Krieg (Válka). Der Autor, der aus einer angesehenen adeligen preußischen Offiziersfamilie stammte und im Ersten Weltkrieg mehrmals verwundet, Bataillionskommandant und ein hoher Offizier 19 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART (Oberst) war, stilisierte sich in diesem Roman in die Figur des einfachen Soldaten Ludwig Renn, den er die Greuel des Krieges erleben lässt, und dessen Namen er von dann an als seinen künstlerischen Pseudonym wählte. In demselben Jahr schreibt Erich Maria Remarque (1898-1970) den Roman Im Westen nichts Neues (Na západní frontě klid, 1928), der sofort nach seinem Erscheinen zu einem Weltbestseller und mit 6 Millionen-Auflage zu dem erfolgreichsten deutschen Buch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde. Es ist eine packende Geschichte der Schüler eines deutschen Gymnasiums, die sich von der chauvinistischen Agitation ihres Klassenlehrers mitreißen lassen und freiwillig an die Westfront gehen - wo sie alle den Tod finden. Remarques lesbare spätere Romane wurden dann in Übersetzungen in andere Sprachen oft erfolgreicher als im Deutschen und fanden dankbare Leser auch bei uns (die Gesamtauflage der Romane Remarques im Tschechischen beträgt fast 5 Millionen Exemplare). Die erfolgreichsten Titel: die freie Fortsetzung des ersten Romans über die Probleme der Kriegsheimkehrer Der Weg zurück (Cesta zpátky, 1931), ein Hochlied auf die (durch das gemeinsame Fronterlebnis bewährte) Freundschaft und die Liebe Drei Kameraden, (Tři kamarádi, 1938), oder die im Exil geschriebenen Romane über die Schicksale der deutschen antifaschistischen Emigranten Liebe deinen Nächsten (Miluj bližního svého, 1941), Are de Triomphe (Vítězný oblouk, 1946), oder Die Nacht von Lissabon (Noc v Lisabonu, 1962). Das, was Remarque in diesen Emigrantenromanen beschreibt, beruht zwar nicht auf eigenen Erfahrungen des Autors, der - existenziell und finanziell abgesichert - über die Schweiz in die USA emigrierte, um nie wieder nach Deutschland zurückzukehren. Er hat aber als Erster mit diesen drei Romanen die Weltöffentlichkeit auf die Lage der deutschen Emigranten aufmerksam gemacht (die sich übrigens von der Lage der Imigranten im 21. Jahrhundert gar nicht so weit unterscheidet...) Lion Feuchtwanger (1884-1958) brachte die Gattung des historischen Romans zu einer neuen Blüte, und bis heute gilt er als Meister dieses Genres. Seine spannend erzählten historischen Romane widmeten sich zunächst der deutschen Geschichte, später - in der Zeit seines Exils - fand er Inspiration auch in der französischen, antiken, spanischen oder amerikanischen Geschichte. Das Geheimnis seines Erfolges: Es ging ihm nicht nur um eine literarische Illustration der historischen Fakten, sondern immer um ihren aktuellen Bezug zu der Gegenwart, zur Realität des 20. Jahrhunderts. Seine Romane wurden in viele Sprachen übersetzt und sind gut bekannt auch in tschechischen Übersetzungen. 20 EXILLITERATUR Zu den erfolgreichsten gehören z. B. Die häßliche Herzogin Margarete Maultasch (Ošklivá vévodkyně Markéta Pyskatá, 1923), Jud Süß (Žid Süß, 1925), Der jüdische Krieg (Válka židovská, 1932), Goya (1951) oder Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau (Bláznova moudrost, 1952). Sein wohl bekanntester Roman Die Füchse im Weinberg (Lišky na vinici, 1947-48) ist für seine Konzeption der historischen Romane geradezu ein Paradebeispiel: Im Roman wird geschildert, wie am Vorabend der französischen Revolution in den 70-Jahren des 18. Jahrhunderts der amerikanische Erfinder und Diplomat Benjamin Franklin nach Paris kommt, um Waffen für die amerikanischen Aufständischen gegen die englische Besatzung zu bekommen; mit Hilfe des französischen Dramatikers de Beaumarchais und der Königin Marie Antoinette gelingt ihm das schließlich: Das absolutistische Frankreich unterstützt mit Waffen die amerikanischen Republikaner, womit es eigentlich die französische bürgerliche Revolution beschleunigt. Darin sah Feuchtwanger eine historische Parallele zu der Anti-Hitler-Koalition zwischen Großbritanien und den USA einerseits und der Sowjetunion andererseits, als sich zwei unterschiedliche Systeme im Kampf gegen Hitler verbündeten. Feuchtwanger emigrierte 1933 nach Frankreich, nach dem Ausbruch des Krieges wurde er als „feindlicher Ausländer" mehrere Wochen in einem französischen Internierungslager festgehalten, bis ihm schließlich unter dramatischen Umständen die Flucht in die USA gelang. Im amerikanischen Kalifornien lebte er dann in seiner Villa Aurora - finanziell gesichert durch den internationalen Erfolg seiner Romane - bis zu seinem Tod 1958. Von den anderen Romanautoren, für die es 1933 die einzige Möglichkeit war ins Exil zu gehen, war es z. B. der Berliner jüdische Arzt Alfred Döblin (1878-1957), der sich einen Namen machte mit seinem kritischen und formal experimentellen „Großstadtroman" Berlin Alexanderplatz (Berlín, Alexandrovo náměstí, 1929) mit dem Untertitel Die Geschichte vom Franz Biberkopf; weitere Romane schrieb er im Exil in Frankreich und in den USA. Er emigrierte über Zürich nach Frankreich, dann in die USA. Nach dem Ende des Krieges kehrte er zurück nach Deutschland, verließ es aber nach einigen Jahren wieder, ging für mehrere Jahre nach Frankreich und starb 1957 in Deutschland. Die Romane Leonhard Franks (1882-1961) halten sich eher an traditionelle Erzählweisen, zeugen jedoch von einem starken sozialen Mitgefühl des Autors, 21 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART der selbst aus sehr armen Verhältnissen stammte, so etwa gleich in seinem Romanerstling Die Räuberbande, (Raubíři, 1914). Die Novelle Karl und Anna (Karel a Anna, 1927) erzählt eine ungewöhnliche Liebesgeschichte: zwei gefangene deutsche Soldaten des Ersten Weltkrieges verbringen zusammen lange Monate auf der Flucht in der russischen Steppe; der eine ist verheiratet und erzählt dem anderen alle Details über seine Ehe. Durch das Erzählen verliebt sich der andere in die ihm unbekannte Frau, und als er dann allein nach Deutschland heimkehrt, gibt er sich bei der jungen Frau für ihren Ehemann aus und beginnt mit ihr zu leben, bis der wirkliche Ehemann auch nach Hause kommt (wie L. Frank berichtete, handelt es sich dabei um eine authentische Geschichte, die bis zu einem Gerichtsprozess führte). Auch Franks spätere Romane wurden ins Tschechische übersetzt, z.B. Das Ochsenfurter Männerquartett (Ochsenfurtské kvarteto, 1927), oder der noch im amerikanischen Exil geschriebene Roman Die Jünger Jesu (Dvanáct spravedlivých, 1949), den er in seine im Krieg zerstörte Geburtsstadt Würzburg situierte und in dem er vor der Gefahr einer Wiederbelebung des Nationalsozialismus warnte. Leonhard Frank emigrierte aus Deutschland - als überzeugter Pazifist und Gegner des Krieges - bereits in den Jahren des Ersten Weltkrieges; sein zweites, antifaschistisches Exil dauerte dann 17 Jahre, von 1933 bis 1950. Der streitbare antifaschistische Schriftsteller und Publizist Kurt Tucholsky (1890-1935), Verfasser vieler politischer, kultureller und literaturkritischer Aufsätze und Essays, ist bekannt auch durch seine Erzählungen über die mannigfaltigen Formen der Liebe, die sozusagen ein fast idyllisches Gegengewicht zu seiner engagierten journalistischen Tätigkeit bildeten: Rheinsberg (Výlet na Rheinsberg, die gleichnamige deutsche Verfilmung lief bei uns unter dem Titel Předsvatební cesta, 1912) oder Schloß Gripsholm (Zámek Gripsholm, 1931). Nach der Machtergreifung der Nazis emigrierte Tucholsky nach Schweden; zwei Jahre später nahm er sich hier das Leben. Mit Rätseln und Mythen ist bis heute das Leben eines Autors verbunden, der seit Mitte der zwanziger Jahre seine auf deutsch geschriebenen Romane aus Mexiko zur Veröffentlichung schickte, unter dem Pseudonym B. Traven (1882? -1969). Sei unter diesem Namen ein gewisser Ret Marut versteckt, der angeblich nach seiner aktiven Teilnahme an den revolutionären Ereignissen in Bayern 1919 heimlich Deutschland verließ, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, und an der karibischen Küste von Mexiko lebte, oder jemand ganz anderer, es bleibt Tatsa- 22 EXILLITERATUR che, dass B. Tráven mehrere erfolgreiche Romane schrieb, die in der ganzen Welt in großen Auflagen erschienen und Millionen Leser fanden. Die abenteuerlichen Romane wie Das Totenschiff (Lod mrtvých, 1926), Der Schatz der Sierra Madre (Poklad na Sierra Madre, 1927) und viele andere fesselten die Leser nicht nur durch ihre spannende Handlung, sondern auch durch ihre souveräne Schilderung der exotischen Schauplätze und des schweren Lebens mittel- und südamerikanischer Indianer. Der wohl bekannteste und einflussreichste deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts war Bertolt Brecht (1898-1956), der das moderne Theater um neue Formen bereichert hat, die in der Regel als „episches Theater" bezeichnet werden. Sein wichtigstes Prinzip war die Zerschlagung der Illusion, dass auf der Bühne reales Leben realer Figuren dargestellt wird, in die sich die Zuschauer einfühlen - mit der anschließenden aristotelischen Katharsis. Der Zuschauer soll sich immer dessen bewusst sein, dass das, was ihm vorgeführt wird, nur Theater ist, nur eine fiktive Geschichte - die ihn zum Nachdenken über die Realität und über sein eigenes Leben aktivieren soll. Um diese Theaterillusion zu zerstören, benutzt Brecht die sog. Verfremdungseffekte, im Theaterjargon heute V-Effekte genannt: Die Handlung wird unterbrochen durch Songs, Filmprojektionen, Plakate oder Kommentare der Schauspieler, die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum wird aufgehoben usw. Noch in der Zeit der Weimarer Republik entstanden Brechts Theaterstücke Mann ist Mann (Muž je muž, 1927), in fruchtbarer Zusammenarbeit mit dem Komponisten Kurt Weill dann die weltbekannten Bühnenwerke Die Dreigroschenoper (tschechisch bekannt als Šestáková opera, Žebrácká opera nebo Třígrošová opera, 1928), u.a. mit dem Mackie-Messer-Lied, und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (Vzestup a pád města Mahagonny, 1929). Bereits in Brechts Exil in Skandinavien und später in den USA entstehen dann Furcht und Elend des Dritten Reiches (Strach a bída Třetí říše, 1938), Mutter Courage und ihre Kinder (Matka Kuráž a její děti, 1939), Leben des Galilei (Život Galileův, 1938/39) oder Schweyk im zweiten Weltkrieg (Švejk za druhé světové války, 1944). Mutter Courage und ihre Kinder ist wohl Brechts bekanntestes Antikriegsdrama: die Marketenderin und ,Landstreicherin' Courage (den Namen übernahm Brecht aus dem Zyklus der barocken Simplizissimus-Romane von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen) zieht im Dreißigjährigen Krieg übers Land, verkauft alles Mögliche an die Soldaten aller Armeen und meint, dass sie am Krieg gut 23 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART verdienen kann. Erst als ihr der Krieg ihre Kinder nimmt, kommt sie zu der Einsicht, die die Pointe des ganzen Stückes ist: „Der Krieg soll verflucht sein!" In der Rolle der Mutter Courage brillierte übrigens Brechts Ehefrau, die Schauspielerin Helene Weigel. Weniger bekannt ist, dass Brecht auch einer der besten Lyriker der deutschen Literatur war, und dass er sich auch als Prosaautor versuchte. Seine frühen Gedichte sind vor allem in dem Band Bert Brechts Hauspostille versammelt, (Domácí postila, 1927); die 1953 entstandenen Gedichte Buckower Elegien (Elegie z Buckowa), in denen eine deutliche Enttäuschung über die politische Realität in der damaligen DDR zu spüren ist, erschienen erst postum im Jahre 1964. Von seinen prosaischen Werken ist ohne Zweifel die Kurzprosa am besten: zum Beispiel die aphoristischen satirischen Geschichten vom Herrn Keuner (Historky o panu Keunerovi, 1930), oder die Flüchtlingsgespräche (Hovory na útěku, 1961). Die beiden Romane, die er geschrieben hat: der geplante und nicht vollendete Zyklus Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar, und die prosaische Version des Erfolgsdramas Der Dreigroschenroman sind eher ein Zeugnis dafür, dass große Prosa nicht gerade die Stärke von Bertolt Brecht war. 24 PRAGER AUTOREN IM EXIL PRAGER AUTOREN IM EXIL Die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur nach der Jahrhundertwende und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beeinflussten wesentlich auch mehrere deutschschreibende Autoren aus Prag und den böhmischen Ländern, die mit ihrer Bedeutung die Grenzen einer nur regionalen Literatur überschritten und Bestandteil der Weltliteratur wurden. Der wohl bekannteste aller deutschschreibenden Prager Autoren Franz Kafka (1883-1924) wurde in Prag nicht nur geboren, sondern verbrachte hier fast sein ganzes Leben, bis zu seinem vorzeitigen Tod an Tuberkulose. Nur ein Teil seiner Erzählungen erschien noch zu seinen Lebzeiten: z. B. die Novelle Die Verwandlung (Proměna, 1915) über den kleinen Beamten Gregor Samsa, der eines Morgens verwandelt in ein abscheuliches Insekt aufwacht und von seiner Familie verstoßen wird, dann folgten die Prosastücke Das Urteil (Ortel, 1916), eine der bekanntesten literarischen Verarbeitungen des Vater-Sohn-Konflikts, In der Strafkolonie (V kárném táboře, 1919), Ein Landarzt (Venkovský lékař, 1919) und andere. Den wesentlichen Teil von Kafkas Werk einschließlich aller seiner drei unvollendeten Romane Der Prozeß (Proces, 1925), Das Schloß (Zámek, 1926) a Amerika (auch unter dem Titel Der Verschollene erschienen, 1927) gab aus Kafkas Nachlass (und zum Teil gegen seinen Willen) erst nach Kafkas Tod sein Freund und Schriftsteller Max Brod (1884-1968) heraus, der im Jahre 1939 vor den Nazis aus Prag nach Palästina emigrierte und dann bis zu seinem Tod in Israel lebte. Aber in den späten 20-er Jahren wurde Kafkas Werk nicht allgemein bekannt; der Umbruch kam erst in den 40-er Jahren, zunächst in den USA, und anschließend dann in Westeuropa. Nun wurde Kafkas Werk neu entdeckt als ein parabelhaftes Zeugnis von dem Menschen des 20. Jahrhunderts interpretiert, der von einer ihm unbekannten, feindlichen und unverständlichen Macht zerstört wird, ohne zu wissen von wem und warum; Kafkas Prosa als eine prophetische Vision des Holocausts, so wie es auf eigene Haut sein Josef K. erlebt, die Hauptfigur des Romans Der Prozess. Auch der Landvermesser K., die Hauptfigur des Romans Das Schloss, versucht erfolglos sich in die Dorfgemeinschaft zu integrieren und sein Ziel zu erreichen: Er kommt auf eine Einladung des Schlosses, das angeblich irgendwo im Nebel 25 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART über dem Dorf stehen soll - das Schloss findet er aber nicht, auch dessen reale Existenz wird letzten Endes fraglich... Als ob Kafka in seiner Prosa eine dichterische Vorahnung zum Ausdruck gebracht hätte, welchen zerstörerischen, unmenschlichen und unverständlichen Mechanismen die Menschen des 20. Jahrhunderts hilflos ausgeliefert sein werden. Kafkas Werke sind Gleichnisse, die unterschiedlichste Interpretationen ermöglichen; wohl auch deswegen wurden sie Gegenstand eines enormen und weltweiten Interesses der Literaturwissenschaft. So wird z.B. sein Roman Das Schloss in der Sekundärliteratur auf vielfältigste Weise interpretiert: in der marxistischen Auslegung als Paradebeispiel für die Entfremdung des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft; aus der christlichen Sicht als Porträt eines Menschen, der den Glauben an Gott verloren hat; im Sinne der existenzialistischen Philosophie eine klassische Situation der Hauptfigur, die in eine ihr feindliche Welt „geworfen" wird, ohne die Möglichkeit sich eine bessere Welt auszusuchen. Für das Verständnis des Werkes Franz Kafkas sind auch seine Korrespondenz, und insbesondere seine erst nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Tagebücher 1910-23 (Deníky, 1951) wichtig. „Ätherisch wie ein Traum und exakt wie ein Logaritmus" nannte Kafkas Werk bereits im Jahre 1925 der Schriftsteller Hermann Hesse; Kafka selbst bezeichnete er dann als „einen geheimen Meister und König der deutschen Sprache". Franz Werfel (1890-1945) lebte nach seinen Prager Studienjahren überwiegend in Deutschland und Österreich, 1938 emigrierte er nach Frankreich und 1940 unter dramatischen Umständen über Spanien und Portugal in die USA. Sein erstes Buch, der Gedichtband Der Weltfreund (Přítel světa, 1911) erschien noch in Prag, in den 20-er Jahren schrieb er für das Wiener Burgtheater mehrere erfolgreiche Dramen, überwiegend mit historischer Thematik. Die größte Berühmtheit erreichte er jedoch mit seiner Prosa. Seine frühe Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (Ne vrah, zavražděný je vinen, 1920) behandelt den von den Expressionisten oft bearbeiteten Generationskonflikt zwischen Vater und Sohn; sein erster und erfolgreicher Roman Verdi. Roman der Oper (Verdi, 1924) ist ein biografisches Porträt des bewunderten Komponisten. Der große Erfolg der Novellen und Romane Werfeis war sowohl durch die attraktiven Themen und Stoffe bedingt, als auch durch eine überzeugende psychologische Zeichnung seiner Figuren, was ohne Zweifel auch von der Wiener psychoanalytischen Schule beeinflusst war. In der tragikomischen Novelle Der 26 PRAGER AUTOREN IM EXIL Tod des Kleinbürgers (Smrt maloměšťáka, 1927) vermögt ein kleiner Beamter - zum Erstaunen der Ärzte - solange dem Tod strotzen, bis seine Lebensversicherung in Kraft tritt, mit der er seine Familie finanziell sichern will; die größte Leistung seines mißlungenen Lebens war sein Tod... Die späte, bereits im Exil entstandene Novelle Die blaßblaue Frauenschrift (Bledě modré ženské písmo, 1941) ist eine psychologische Studie über Liebe und Mut, über Bequemlichkeit und Feigheit vor dem Hintergrund der Judenverfolgung in Deutschland und Österreich. Der umfangreiche Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh (Čtyřicet dnů, 1933) ist eine erste literarische Verarbeitung des Genozids der Türken der Jahre 1915/1916 an ihren armenischen Mitbürgern; der Roman hat Werfel zu einem angesehenen Autor in Armenien gemacht, weil er der Erste war, der über diese grausamen Ereignisse die Weltöffentlichkeit in Kenntnis setzte. Sein Roman Lied von Bernadette (Píseň o Bernadette, 1941) über das Wunder in Lourdes wurde bald nach Werfeis Ankunft in Amerika zu einem Bestseller und ermöglichte Werfel und seiner Frau Alma Mahler ein finanziell unabhängiges Leben in Kalifornien. Eine psychologische Studie über zwei gänzlich unterschiedliche Emigranten, die ihre Fluchtvor den Nazis zufällig zusammenbrachte, ist die schwarze Komödie Jacobowsky und der Oberst (Jacobowsky a plukovník, 1944). Franz Werfel starb in seinem kalifornischen Exil wenige Wochen nach dem Kriegsende im Jahre 1945. Der „rasende Reporter" Egon Erwin Kisch (1885-1948) ist bekannt vor allem durch seine literarischen Reportagen, einer Gattung zwischen Journalismus und Belletristik; Kisch gilt bis heute als ein Beispiel der literarisch anspruchsvollen Journalistik. Stoffe für seine Reportagen fand er nicht nur in seiner Heimatstadt Prag, wie z.B. in den Büchern Die Abenteuer in Prag (Pražská dobrodružství, 1920), oder im Buch alter authentischer Kriminalgeschichten Prager Pitaval (Pražský pitaval, 1931), sondern auf der ganzen Welt, wohin ihn seine Reisen und sein antifaschistisches Exil führten. So erschienen zum Beispiel seine Reportagen aus dem sowjetischen Russland unter dem Titel Zaren, Popen, Bolschewiken (Caři, popi, bolševici, 1927), aus den USA Paradies Amerika (Americký ráj, 1930), aus Australien Landung in Australien (Přistání v Austrálii, 1937), aus Mexiko, wo er die Kriegsjahre des Exils verbrachte: Entdeckungen in Mexiko (Objevy v Mexiku, 1945). Bemerkenswert ist auch sein autobiografisches Buch Marktplatz der Sensationen (Tržiště senzací, 1942). Kisch war einer der wenigen 27 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Autoren, die gleich nach Kriegsende aus dem Exil in die Tschechoslowakei zurückkehrten; er starb in Prag 1948. Als einen der letzten Autoren der Prager deutschsprachigen Literatur bezeichnet man manchmal Johannes Urzidil (1896-1970), weil er die meisten seiner meisterhaften Geschichten aus dem alten Prag - z.B. Die verlorene Geliebte (Ztracená milenka, 1956), oder Prager Triptychon (Pražský triptych, 1960) - erst in den 50-er und 60-er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben hat, in den USA, wohin er aus der Tschechoslowakei vor den Nazis im Jahre 1939 emigrierte. 28 ÖSTERREICHISCHE LITERATUR DER ZWISCHENKRIEGSZEIT UND DES EXILS ÖSTERREICHISCHE LITERATUR DER ZWISCHENKRIEGSZEIT (1918-1938) UND DES EXILS (1938-1945) Wien als Metropole der österreichisch-ungarischen Vielvölkermonarchie erlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in der Wende zum 20. Jahrhundert eine Epoche eines dynamischen wirtschaftlichen Wachstums und auch einer imposanten kulturellen Entfaltung. Wien war in den vorangehenden Jahrhunderten ein bedeutendes Weltzentrum der Musik; um die Jahrhundertwende (manchmal als ,fin de siécle' bezeichnet) wurde es auch zu einem Zentrum der deutschsprachigen Literatur. Es leben und schaffen hier viele Dichter, Literaten und Dramatiker, die unter dem Begriff Wiener literarische Moderne zusammengefasst werden und bis in die dreißiger Jahre und zum Teil auch weiter im Exil zu den bekanntesten österreichischen Autoren des 20. Jahrhunderts gehören. Stefan Zweig (1881-1942). der als brillianter Kritiker und Essayist bereits vor dem Ersten Weltkrieg auf sich aufmerksam machte, wurde weltbekannt durch seine meisterhaft erzählten historischen Novellen und romanhaften Biografien bekannter Persönlichkeiten der Vergangenheit, in denen er nicht scheute, wichtige historische Ereignisse oder Umbrüche der Epochen aus der Psychologie seiner Protagonisten zu interpretieren. Zu seinen bekanntensten Romanautobiografien gehören Josef Fouché (1929) über den französischen Innenminister, der in Frankreich ein Netz von Spitzeln aufbaute und dadurch fünf verschiedene Regierungen von der Monarchie über die französische Revolution 1789 bis zu Napoleon überlebte; seine „Dienste" waren jedem System nützlich... Weiter das Buch über Marie Antoinette (1932), die Tochter der österreichischen Kaiserin Maria Theresia, Schwester Josef des IL, die gemeinsam mit ihrem Mann, dem französischen König Louis dem XVI. unter der Gilotine starb. Der portugiesiche Seefahrer Fernäo de Magalhäes, der als Erster die ganze Weltkugel umsegelte, ist Hauptfigur des Romans Magellan (1930). In viele Sprachen wurden seine „historischen 29 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Miniaturen" Sternstunden der Menschheit (Hvězdné hodiny lidstva, 1927) übersetzt, oder die Novellen (ebenfalls mit einem starken psychologischen Akzent) Verwirrung der Gefühle (Zmatení citů, 1927) oder Amok (1922). Stefan Zweig emigrierte zusammen mit seiner Frau nach Brasilien, wo er mit allen offiziellen Ehren willkommen geheißen wurde, auch deswegen, weil der portugiesische Seefahrer und Entdecker Magellan in Brasilien als ein Nationalheld gilt. Die kommenden Nachrichten aus Europa, als Hitler ein Land nach dem anderen besetzte, verstand Zweig als das Ende der europäischen Zivilisation und Kultur, und sie führten dazu, dass Zweig am 23. Februar 1942 im brasilianischen Exil (in Petrópolis bei Rio de Janeiro) Selbstmord beging. Kurz vor seinem Tod entstand seine antifaschistische Schachnovelle (Šachová novela, 1942). Eine Art Abschied von der österreichisch-europäischen Kultur war sein autobiografisches Werk Die Welt von gestern (Svět včerejška, 1942). Aus dem Werk von Hermann Broch (1886-1951) ragt die Romantrilogie Die Schlafwandler (Náměsíčníci, 1930-31) heraus, ein Panorama der österreichischen bürgerlichen Gesellschaft vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Im amerikanischen Exil entstand dann der reflexive historische Roman Der Tod des Vergil (Smrt Vergiliova, 1945) über die letzten Tage des sterbenden römischen Dichters. Robert Musil (1880-1942) wurde bekannt mit einem Werk, das er selbst nicht für das Wichtigste in seinem literarischen Schaffen hielt: mit dem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Zmatky chovance Törlesse, 1906) über die pubertären Probleme eines Zöglings in der österreichischen militärischen Kadettenschule in Mährisch Weißkirchen (Hranice na Moravě), wo Musil einige Monate selbst Schüler war. Musils Hauptwerk, der vielschichtige Roman Der Mann ohne Eigenschaften (Muž bez vlastností, I. Buch 1930, IL Buch 1933, das Fragment des 3. Teiles entstand im Jahre 1943, die Gesamtauflage erschien zum ersten Mal 1952) wird von vielen Kritikern für eines der wichtigsten Werke der modernen europäischen epischen Literatur gehalten. Der Roman ist ein ironisches und tief philosophisches Bild des Zustandes des Menschen und seines Denkens an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, situiert in die österreichisch-ungarische Monarchie und ihre Hauptstadt Wien kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Musils romanhaftes „Kakanien", eine Art geistiger Synthese des untergehenden k.-k. 30 ÖSTERREICHISCHE LITERATUR DER ZWISCHENKRIEGSZEIT UND DES EXILS Kaiserreiches, wird im Roman zu einem Modell, zu einem Gleichnis über die Gefährdung der modernen Zivilisation, in dem die Vernunft unaufhaltsam durch Ideologien und die Barbarei des Krieges abgelöst wird. Die Romane von Joseph Roth (1894 im galizischen Brody bei Lemberg/Lvov geboren - 1939), wie z.B. Hiob. Roman eines einfachen Mannes (Job - román prostého člověka, 1930), Radetzkymarsch (Pochod Radeckého, 1932) oder Die Kapuzinergruft (Kapucínská krypta, 1938), in denen er in die letzten Jahre der habs-burgischen Monarchie zurückkehrte, fanden einen großen Kreis von Lesern, wohl für die besondere Mischung von kritischer Betrachtung und nostalgischer Verklärung, die für seine Romane aus dem alten Österreich charakteristisch sind. Im Tschechischen erschien unter anderem auch sein Roman Die Legende vom heiligen Trinker (Legenda o svatém pijanovi, 1939); Joseph Roth starb 1939 im Pariser Exil an den Folgen seiner schweren Alkoholsucht. Ein streitbarer polemischer Publizist, ein unbestechlicher (und nicht immer unparteischer und objektiver) Literatur- und Theaterkritiker, ein Hüter der Sprache, die nicht zu einem Instrument der ideologischen Manipulation werden darf, ein vehementer Kämpfer gegen die Verseuchung der Sprache durch Phrasen war der Dramatiker, Schriftsteller und Publizist Karl Kraus (1874-1936). Seine Zeitschrift Die Fackel, die er 1899 gründete und die er seit 1911 ganz allein füllte, wurde in Österreich zu einem kritischen Forum und Instrument, mit dem er gleich mehrere Generationen der Autoren beeinflußte, vor allem mit seiner skeptischen Einstellung zur Sprache und gegen ihren Mißbrauch. Mit dem Erlebnis des Ersten Weltkrieges, dessen entscheidender Gegner er von Anfang an war, rechnete er in dem monumentalen, über 700 hundert Seiten langen apokalyptischen Drama Die letzten Tage der Menschheit (Poslední dnové lidstva, 1922) ab. Ödön von Horváth (1901-1938), wohl der bedeutendste österreichische Dramatiker der Zwischenkriegszeit, ist Verfasser von 22 Theaterstücken, von denen nur wenige noch vor seinem erzwungenen Weggang ins Exil aufgeführt wurden - im Jahre 1931 waren es Italienische Nacht (Italská noc) und sein wahrscheinlich bekanntestes dramatisches Werk Geschichten aus dem Wiener Wald (Povídky z Vídeňského lesa). Aus seinem prosaischen Werk sind die Romane Der ewige Spießer (Věčný měšťák, 1931) und Ein Kind unserer Zeit (Dítě naší doby, 1938) am Bekanntesten. Sein Drama Der jüngste Tag (Soudný den) hatte seine Premiere 1938 in der damaligen Tschechoslowakei, in Mährisch Ostrau (Moravská 31 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Ostrava); in demselben Jahr starb Ödön von Horváth tragisch im französischen Exil, als ihn auf dem bekannten Pariser Boulevard Champs Elysées, aus Weiterem Himmel', wie die Augenzeugen berichteten, ein im Sturm abgebrochener Ast tötete. Friedrich Torberg (1908-1979) entstammte einer deutsch-jüdischen Prager Familie und wurde in Wien, wohin sein Vater aus Prag übersiedelte, als Friedrich Ephraim Kantor-Berg geboren; sein Pseudonym „Torberg" bildete er um 1930 bei seinen ersten Veröffentlichungen aus der letzten Silbe seines Nachnamens „Kantor" und dem Geburtsnamen seiner Mutter „Berg". 1921 kehrte die Familie nach Prag zurück, Torberg studierte drei Semester Philosophie und Jura an der Prager Universität, dann brach er sein Studium ab und begann als Journalist für das Prager Tagblatt und andere Zeitungen zu arbeiten, unter anderem als Sportreporter, denn er war auch als aktiver Sportler (Fußballer) tätig; als Mitglied der Mannschaft Hagibor Prag wurde er tschechoslowakischer Meister im Wasserball. In den Jahren 1924-1945 war er tschechoslowakischer Staatsbürger. Er war dann im Exil in den USA; nach seiner Rückkehr nach Österreich, in den Nachkriegsjahren und der Zeit des Kalten Kriegs gelang es ihm als überzeugtem Anti-kommunisten, zusammen mit Hans Weigel, einen Boykott der Aufführung der Werke von Bertolt Brecht an den österreichischen Bühnen durchzusetzen, der bis 1963 anhielt. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Romane Der Schüler Gerber hat absolviert (Student Gerber absolvoval, 1930), eine tragische Geschichte eines Abiturienten an einem Prager Gymnasium, der dem Druck des Schulsystems unterliegt und am Tage seines Abiturs Selbstmord begeht, sowie den Sportroman Die Mannschaft (Mužstvo, 1935). 1975 veröffentlichte er die Sammlung Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten (Teta Jol-schová aneb zánik západní civilizace v anekdotách), in der er mit selbst erlebten und von anderen erzählten Geschichten aus seiner Jugendzeit dem jüdischen Leben im Wien und Prag der Zwischenkriegszeit ein Denkmal setzte; die Fortsetzung einige Jahre später hieß Die Erben der Tante Jolesch (Dědicové tety Jol-schové). 32 LITERATUR IM NACHKRIEGSDEUTSCHLAND (1945-1949) LITERATUR IM NACHKRIEGSDEUTSCHLAND (1945-1949) Nach der militärischen Niederlage des Nazi-Deutschland und dessen Einteilung in vier Besatzungszonen im Jahr 1945 begann sich die Literatur in den westlichen Zonen (im amerikanischen, englischen und französischen Sektor) einerseits und in der sowjetischen Zone andererseits unter ganz unterschiedlichen Bedingungen zu entfalten. Im östlichen Teil Deutschlands, also unter sowjetischen militärischen Verwaltung und in der späteren DDR, die am 7. Oktober 1949 ausgerufen wurde, dominierten bis in die späten 50-er Jahre die antifaschistischen Exilautoren, die sich für die Rückkehr in den Osten Deutschlands entschieden hatten. Sie sahen hier viel radikalere Bemühungen, mit der faschistischen deutschen Vergangenheit endgültig abzurechnen, und auch eine Chance, nun endlich eine sozial gerechte Gesellschaft aufzubauen. Friedrich Wolf oder Johannes R. Becher, die mit der Roten Armee aus der Sowjetunion gleich im Mai 1945 zurückkehrten, Anna Seghers und Ludwig Renn, die aus Mexiko zurückkamen, Arnold Zweig aus dem Exil in Palästina oder Bertolt Brecht 1949 über die Schweiz und Österreich konnten hier nun in großen Auflagen ihre im Exil entstandenen Werke publizieren und sich auch im kulturellen und politischen Leben engagieren. In den westlichen Besatzungszonen und in der späteren Bundesrepublik (ausgerufen im September 1949) konnten dagegen die Exilautoren keine so dominante Rolle einnehmen. Sie gaben nun zwar ihre Werke hier heraus, aber viele von ihnen waren nicht mehr zurück nach Deutschland übersiedelt. Der Dichter Paul Celan lebte nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Bukarest und Wien bis zu seinem Selbstmord 1970 in Paris, der Dramatiker Peter Weiss nach seinen Exiljahren in Großbritannien und in der Tschechoslowakei dann in Stockholm, Elias Canetti in London und in der Schweiz, der Wiener Dichter Erich Fried in London. 33 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Die Autoren wie Hans Grimm, Ernst Jünger, Gottfried Benn und andere, die zu Exponenten der offiziellen Nazikultur wurden, bekamen von den Besatzungsbehörden für einige Jahre Schreibverbot. Nun konnten in Deutschland endlich Werke der Exilautoren sowie Bücher der Weltliteratur erscheinen, von der die deutschen Leser 12 Jahre lang abgeschnitten waren. Vor allem amerikanische Autoren mit Ernest Hemingway an der Spitze verzeichneten die größte Resonanz; in der Gattung der amerikanischen „short story", wie Hemingway und andere sie schrieben, fanden die Nachkriegsautoren ein willkommenes Instrument, in dem sie ihre unmittelbaren Erlebnisse aus Krieg und Nachkrieg literarisch verarbeiten konnten. Ebenso groß war der Einfluß der Philosophie des französischen Existenzialismus, literarisch dargestellt insbesondere in den Werken von Jean Paul Sartre und Albert Camus. Im Oktober 1947 haben Ostberliner Autoren in Berlin den I. deutschen Schriftstellerkongress organisiert; etwa 300 Schriftsteller nahmen daran Teil, aber es konnte keine gemeinsane Plattform gefunden werden; zu groß waren bereits die Unterschiede zwischen Autoren aus Ost und West, zwischen Autoren des Exils und der inneren Emigration, der erste gesamtdeutsche Kongress wurde für ein halbes Jahrhundet der letzte. Thomas Mann, die Galionsfigur der deutschen Exilliteratur in den USA, kam nach Deutschland zurück nur einmal, nur besuchsweise, 1949, als in Deutschland das Goethe-Jahr, das zweihundertste Jubiläum von Goethes Geburt gefeiert wurde. Thomas Mann hatte zum Thema Goethe sicher viel zu sagen - in den 30-er Jahren und im Exil schrieb er mehrere Essays über Goethe (u.a. Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters, 1932), 1939 dann seinen Goethe-Roman Lotte in Weimar mit dem pikanten Thema: Charlotte, die reale Vorlage des ange-betenen Mädchens Lotte in seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, besucht den alten Goethe nach Jahrzehnten in Weimar... Deutschland war damals schon geteilt; und Thomas Mann machte „den Fehler", dass er beide Feierlichkeiten besuchte und seine Goethe-Rede zweimal hielt: die westliche Veranstaltung in Frankfurt am Main, der Geburtsstadt Goethes, und die östliche in Weimar, wo Goethe die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Beide verfeindlichte Seiten nahmen es ihm übel, dass er auch bei den anderen gesprochen hat; die Folge war, dass Thomas Mann zwar 1950 aus den USA nach Europa zurückkam, jedoch nicht nach Deutschland, sondern wieder in die Schweiz. 34 LITERATUR IM NACHKRIEGSDEUTSCHLAND (1945-1949) Ein weiterer Grund für diese Entscheidung, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren, war der sogenannte deutsch-deutsche Literaturstreit: Thomas Mann hatte sich 1945 in einem Essay geäußert, das die Bücher, die im Dritten Reich in Deutschland offiziell von den Nazi-Verlagen herausgegeben wurden, „weniger als wertlos" seien. Der Gegenangriff kam von Walter von Molo, einem im mährischen Sternberg (Šternberk na Moravě) geborenen Autor (1880-1958), der in einem „offenen Brief" an Thomas Mann behauptete, dass es viel mutiger gewesen sein sollte, in Deutschland zu bleiben und das schwere Schicksal des deutschen Volkes mitzutragen, als die Entwicklung Deutschlands in der Zeit der Nazidiktatur und des Krieges „aus der bequemen Loge des Exils" zu betrachten. Diese Worte lösten heftige Protestäußerungen vieler deutscher Exilautoren aus, die oft mit ihrer Flucht aus Deutschland das nackte Leben retten konnten - also einen heftigen Konflikt zwischen den Exilautoren und der Autoren der sog. inneren Emigration. In den westlichen Besatzungszonen und der nachfolgenden Bundesrepublik konnte sich so viel früher eine neue Generation der Schriftsteller durchsetzen; Autoren, die nicht im antifaschistischen Exil waren, sondern die Kriegsjahre als Soldaten der Wehrmacht und dann in der Kriegsgefangenschaft verbrachten. Jetzt fangen sie an zu schreiben und in ihren ersten Werken schildern sie nun ihre Erlebnisse aus dem Krieg und aus ihrer Heimkehr in das zerstörte Deutschland. Man spricht oft über die sog. „Stunde Null" der deutschen Literatur, über Literatur des Kahlschlags, der Trümmern, als alles zerstört war, in Trümmern lag und alles, auch die Literatur, wieder neu anfangen muss, ohne Anknüpfung daran, was früher, vor dem Dritten Reich war. Der erste Sprecher dieser Generation, die den Krieg nicht im Exil verbracht hatte, sondern auf der Front in der Uniform der Wehrmacht, wurde Wolfgang Borchert (1921-1947). In den wenigen Monaten des Lebens, die ihm seit seiner Rückkehr aus dem Krieg, aus den Gefängnissen und vor seinem vorzeitigen Tod nach den Folgen seiner Lungenkrankheit geblieben waren, schrieb ein kurzes, aber sehr eindrucksvolles Werk, bestehend aus etwa dreißig Kurzgeschichten und dem Theaterstück Draußen vor der Tür (Venku přede dveřmi, 1947). Sein Thema ist die Rückkehr des Unteroffiziers Beckmann aus dem Krieg in das zerstörte Deutschland, wo niemand die Frage nach der Verantwortung für die Schrecken des Krieges hören will. Auch seine Kurzgeschichten (zu den bekanntesten gehören „Nachts schlafen die Ratten doch", „Die Hundeblume" oder „Das 35 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Brot") thematisieren das Thema Krieg und Nachkrieg, und fehlen seitdem in keiner Anthologie der Kurzgeschichten aus dieser Zeit. Der Dramatiker Carl Zuckmayer (1896-1977), der bereits in der Weimarer Republik als Verfasser der antimilitaristischen Komödie Der Hauptmann von Köpenick (Hejtman z Kopníku, 1931) bekannt war, sorgte im Jahre 1949 für Aufsehen mit seinem Bühnenstück Des Teufels General (Ďáblův generál, entstanden im amerikanischen Exil im Jahre 1942, Uraufführung 1949) über das tragische Dilemma eines Luftwaffengenerals, der wählen muss zwischen seinem Gehorsam als Offizier, der seinem Vaterland dienen will und deshalb Befehle ausführt, und seiner Einsicht, dass er damit nicht seinem Land, sondern dem Teufel in der Gestalt Hitlers dient. Das Spiel wurde in Westdeutschland mehr als zweihundertmal aufgeführt, löste zahlreiche heftige Diskussionen aus und Zuckmayer hatte schließlich beschlossen, es vorübergehend zurückzuziehen, aus Befürchtung vor dessen Mißbrauch von denen, die während des Krieges auch Hitler dienten und nun behaupten, auch „nur Befehle ausgeführt zu haben". 36 ÖSTERREICHISCHE LITERATUR ÖSTERREICHISCHE LITERATUR Im Gegensatz zu Westdeutschland, wo die jungen Autoren sich nach dem Krieg programmatisch weigerten, ihre literarischen Vorbilder wieder in der Vergangenheit zu suchen und versuchten, ihre eigenen, unerprobten Wege zu gehen, in der österreichischen Literatur spielte eine Anknüpfung an die durch den Krieg und die Nazis unterbrochenen literarischen Traditionen eine große Rolle. Dies war auch deshalb, weil Österreich nach sieben Jahren Einverleibung in das Dritte Reich nun versuchte, ihre eigenen, das heißt österreichischen Traditionen zu betonen und ihre Kultur aus dem gesamtdeutschen Kontext auszugliedern. Zu den markantesten Autorinnen der Nachkriegsliteratur gehört „die große Dame der österreichischen Literatur", die Dichterin Ilse Aichinger (*1921). Ihre Lyrik ist zum Beispiel in dem Gedichtband Verschenkter Rat (Rozdaná rada, 1978) versammelt. Nicht weniger bekannt ist sie jedoch auch als Autorin von Prosawerken, von denen zumindest der frühe Roman Die größere Hoffnung (Větší naděje, 1948) von einem verfolgten Teenager-Mädchen während der Nazizeit, beeinflusst von ihren autobiographischen Erfahrungen als Kind in Wien, oder die meisterhafte Novelle Spiegelgeschichte (Zrcadlový příběh, 1954) zu nennen sind; in dieser Geschichte wird das kurze tragische Leben eines toten Mädchens „rückwärts" erzählt von seinem Tod bei der Abtreibung über die Geschichte ihrer Liebe bis zu ihrer Kindheit und Geburt. Die metaphorische Lyrik der Dichterin Ingeborg Bachmann (1926-1973) erregte ein großes Aufsehen, auch bei den Lesungen der Gruppe 47 (siehe später). Sie ist zum Beispiel in den Gedichtbänden Die gestundete Zeit (Čas na úvěr, 1953), oder Anrufung des Großen Bären (Vzývání Velkého vozu, 1956) versammelt, der Erzählband Das dreißigste Jahr (Třicátý rok) erschien 1961, der erste und heute sehr geschätzte Roman einer unvollendeten Trilogie Malina im Jahre 1971. Ernst Jandl (1925-2000) war ein Dichter, der wie wenige seiner Zeitgenossen die Möglichkeiten der Sprache spielerisch aufdecken konnte, mit der Sprache experimentierte und seine Sprachspiele in logischen Ketten oft bis zur völligen Absurdität führte. Sein Spiel mit der Sprache ist jedoch nicht Selbstzweck, ihr Sinn liegt nicht bloß im Jux, sondern in der Kritik der Möglichkeiten sprachlicher zwischenmenschlicher Kommunikation. Die Absurdität und der Zauber seiner Gedichte werden oft erst bei ihrem lauten Vortragen deutlich, und Jandl 37 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART selbst war ein meisterhafter Interpret seiner eigenen Lyrik. Dabei knüpfte er an die Nonsens-Poesie des Dadaismus und an die sog. konkrete Poesie an, was ihn in die Nähe der Autoren der Wiener Gruppe stellt, deren Mitglieder in den 50-er Jahren die Dichter H. C. Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Oswald Wiener oder Gerhard Rühm waren. Fritz Hochwälder (1911 in Wien - 1986 in Zürich) war ein österreichischer Dramatiker, der 1938 wegen seiner jüdischen Abstammung und politisch linken Gesinnung aus Österreich emigrieren musste. Sein Drama Das Heilige Experiment (Svatý experiment), eine Darstellung des Scheiterns des Jesuitenstaates in Paraguay an den weltlichen Interessen der spanischen Kolonialherrschaft, wurde 1943 in der Schweiz uraufgeführt und erlebte 1947 seine erfolgreiche Premiere im befreiten Österreich am Wiener Burgtheater. 1952 brachte es seinem Autor auch den internationalen Durchbruch, ausgehend von Paris (unter dem Titel Sur la terre comme au ciel). Peter Handke (*1942) trat in die Literatur als ein „zorniger junger Mann", der bei der Lesung der Gruppe 47 im Jahr 1966 im amerikanischen Princeton die Aufmerksamkeit auf sich lenkte mit seinen Angriffen auf die etablierte deutschsprachige Literatur und so den Protest einer neuen Generation von Autoren formulierte. Seitdem veröffentlichte Handke Dutzende von Romanen, Kurzgeschichten und Theaterstücken, und ist auf dem besten Wege, ein Klassiker der modernen deutschsprachigen Literatur zu werden. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre schrieb er in schneller Folge mehrere erfolgreiche Theaterstücke, dann verlagerte sich sein Interesse zunehmend auf Prosa. Von den vielen Titeln nennen wir zumindest die bekanntesten: den Roman Die Hornissen (Sršni, 1966), das Theaterstück Publikumsbeschimpfung (Spílání publiku, 1966), die Erzählungen Der Hausierer (Podomní obchodník, 1967), Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, (Strach brankáře při pokutovém kopu, 1970), Der kurze Brief zum langen Abschied (Krátký dopis na dlouhé rozloučení, 1972), Wunschloses Unglück (Nežádané neštěstí, 1972), Die linkshändige Frau (Zvláštní žena, 1976), den Roman Die Wiederholung (Opakování, 1986) oder das Prosastück Nachmittag eines Schriftstellers (Spisovatelovo odpoledne, 1987). Weitere Romane und Erzählungen folgten auch in den neunziger Jahren und im einundzwanzigsten Jahrhundert. Himmel über Berlin, ein mehrmals preisgekrönter Film des Regisseurs Wim Wenders, zu dem Peter Handke das Drehbuch schrieb, wurde zu einem der besten deutschen Filme; 1998 wurde das Thema des 38 ÖSTERREICHISCHE LITERATUR Filmes unter dem Titel Stadt der Engel (mit Meg Ryan und Nicolas Cage in den Hauptrollen) noch einmal in den USA adaptiert.Bei den Salzburger Festspielen 2011 wurde sein Theaterstück Immer noch Sturm (Stále ještě bouře) über den bewaffneten Kampf der Kärtner Slowenen gegen das Dritte Reich uraufgeführt, das später auch in einer Prosabearbeitung erschien. Thomas Bernhard (1931-1989) war ein Schriftsteller und Dramatiker, der vor allem in den achtziger Jahren im Mittelpunkt der Medien und auch der österreichischen Politiker stand, als er wiederholt mit scharfen Angriffen gegen Österreich und die österreichische Politik öffentlich auftrat und damit heftige Diskussionen auslöste. Ähnlich wie Peter Handke konzentrierte er sich in seinem Werk sowohl auf Theaterstücke wie auch auf Romane. Nach den autobiografischen Prosawerken Frost (Mráz, 1963), Der Atem (Dech, 1978), Die Kälte (Chlad, 1981), Ein Kind (Dítě, 1982) folgten umfangreiche Romane mit einer sarkastisch-ironischen Kritik des öffentlichen Lebens in Österreich wie Holzfällen (Kácení dříví, 1984), Alte Meister (Staří mistři, 1985) oder Auslöschung (Vyhlazení, 1986). Zu seinen häufig gespielten Theaterstücken gehören z.B. Der Ignorant und der Wahnsinnige (Ignorant a šílenec, 1972), Die Jagdgesellschaft (Lovecká společnost, 1974), Der Theatermacher (Divadelník, 1984) oder Heldenplatz (Náměstí hrdinů, 1988). Von der anderen Autoren der zeitgenössischer österreichischer Literatur nennen wir mindestens noch drei weitere: Barbara Frischmuth (*1941) schreibt Kurzgeschichten seit den späten sechziger Jahren, wo sie ihren stark autobigra-phischen literarischen Erstling Die Klosterschule veröffentlichte (Klášterní škola, 1968), gefolgt von anderen Titeln, meist kürzeren oder längeren Erzählungen. Eine verdiente Aufmerksamkeit weckte ihre poetische Romantrilogie, in der die Autorin die reale Ebene mit der Ebene der mythologischen Märchen vermischte - die einzelnen Romane tragen die Titel Die Mystifikationen der Sophie Silber (Mystifikace Sofie Silberové, 1976), Amy oder Die Metamorphose (Amy neboli metamorfóza, 1978) und Kai und die Liebe zu den Modellen (Kai a láska k modelům, 1979). 1987 erschien ihr Roman Über die Verhältnisse (Nad poměry), 2001 Die Entschlüsselung (Rozluštění); sie machte sich einen Namen auch als Kinderbuchautorin. Elfriede Jelinek (*1946), die 2004 den Nobelpreis für Literatur erhielt, mit der Begründung „für den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen", ist eine 39 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Erzählerin einer ganz anderen Art - aus kämpferisch feministischen und links-politischen Positionen vermag sie in ihren sprachlich souveränen Texten die soziale und sexuelle Ausbeutung der Frauen in der heutigen Gesellschaft sehr kritisch darzustellen. Zu den Stärken ihrer Werke gehört vor allem, dass sie für die Schilderung ihrer erniedrigten oder frustrierten Frauenheldinnen auch einen adäquaten, oft formal experimentieren sprachlichen Stil fand, der auch vor offener Sexualität und Vulgarismen nicht scheut. So z.B. in ihren Romanen wir sind lockvögel baby! (jsme volavky bejby!, 1970), Michael (1972), Die Liebhaberinnen (Milenky, 1975), Klavierspielerin (Klavíristka, 1983) oder Gier (Lačnost, 2000). Auch ihre Bühnenwerke sind inzwischen bei uns bekannt, so etwa Ein Sportstück (Sportštyk aneb Sportovní drama, 1998) oder Winterreise (Zimní putování, 2011). Christoph Ransmayr (*1954) veröffentlichte seinen ersten Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis (Hrůzy ledu a tmy) bereits im Jahrel984, einen Welterfolg verzeichnete er jedoch erst mit seinem zweiten Roman Die letzte Welt (Poslední svět, 1988), in dem er die Gefährdung unserer modernen Welt zeigte, am Beispiel des römischen Bürgers Cotta, der sich aus dem antiken Rom auf die vergebliche Suche nach dem verbannten Dichter Ovidius begab. 1995 folgte dann die Romanfiktion Morbus Kitahara, in dem historische Fakten und ahistorische fiktive Elemente wieder zu einem einzigartigen und fesselnden Ganzen verbunden sind. Der Fliegende Berg (Létající hora, 2008) ist die Geschichte zweier irischer Brüder, die nach Himalaya aufbrechen, um dort den „letzten weißen Fleck" auf den Satellitenkarten der Erde zu suchen. Das bis jetzt letzte Buch Ransmayrs, das aus 70 literarischen Reisebildern besteht, erschien 2012: Atlas eines ängstlichen Mannes (Atlas bojácného muže). 40 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR DER SCHWEIZ DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR DER SCHWEIZ Die bekanntesten Schweizer Autoren der letzten Jahrzehnte sind Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Beide waren erfolgreich sowohl als Prosaiker und auch Dramatiker. Friedrich Dürrenmatt (1921-1991) wurde weltbekannt mit seiner bitteren Komödie Der Besuch der alten Dame (Návštěva staré dámy, 1956) über die zerstörerische Macht des Geldes, die stärker als alle moralischen Werte ist; das Drama hat auch nach mehr als einem halben Jahrhunderts seit seiner Entstehung nichts von seiner Aktualität verloren. Nicht weniger erfolgreich wurde auch sein Stück Die Physiker (Fyzikové, 1962) über die vergebliche Bemühung des genialen Physikers Möbius, den Mißbrauch seiner Entdeckung zu verhindern; auch seine Flucht in eine Irrenanstalt hilft nicht - denn verrückt ist auch die ganze Welt außerhalb der Anstalt. Im Zusammenhang mit Dürrenmatts Dramen, die auch an das „absurde Theater" anknüpfen, werden oft seine Worte zitiert aus seinem Essay Theaterprobleme (1955), dass heute die Komödie die einzige Möglichkeit sei, das Tragische dieser Welt zu zeigen; seine Komödien sind also Tragikomödien, in denen die Handlung nach seinen Worten immer die schlechtmöglichste Wendung nimmt. Zu Dürrenmatts Prosawerken gehören vor allem die Romane, in denen er mit Motiven der Kriminalliteratur spielt, bzw. sie parodiert: Der Richter und sein Henker (Soudce a jeho kat, 1952), Die Panne (Nehoda, 1956) und Das Versprechen (Slib, 1958), bekannt auch aus der filmischen Bearbeitung unter dem Titel Es geschah am hellichten Tag (Stalo se za bílého dne). Auch die letzten Romane Dürrenmatts Justiz (Justice, 1985) und Durcheinandertal (Údolí zmatků, 1989) sind bezeichnend für sein gesamtes Schaffen: mit Mitteln der Satire, Tragikomödie und Absurdität zeigt er kritisch die schweizerische - und nicht nur schweizerische -Realität der heutigen Welt. Max Frisch (1911-1991) konnte sich am Theater bereits Ende der vierziger Jahre durchsetzen, als er noch als Architekt in seinem Architektenbüro in Zürich arbeitete. In seiner Theaterarbeit war er von der avantgardistischen Konzeption Bertolt Brechts beeinflusst; zu seinen meistgespielten Theaterstücken, immer mit einer starken politischen Aussage gehören z.B. Die Chinesische Mauer (Čínská 41 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART zeď, 1947), Biedermann und die Brandstifter (Biedermann a žháři, 1958), Andorra (1961) oder Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie, (Don Juan aneb láska ke geometrii 1953, überarbeitete Fassung 1962). Der umfangreiche Roman Stiller (1954), oft für das wichtigste Prosawerk Frischs gehalten, und der experimentelle Roman Mein Name sei Gantenbein (Mé jméno budiž/je prý Gantenbein, 1964) behandeln das Thema der menschlichen Identität, des Widerspruchs dazwischen, für den wir uns selber halten, und dem, wie uns unsere Umgebung sieht. Als eine für Frisch typische literarische Gattung gilt auch das Tagebuch (deník). Seine Tagebücher (herausgegeben z.B. unter den Titel Tagebuch 1946-1949, oder Tagebuch 1966-1971) waren keine bloßen privaten Aufzeichnungen, sondern von Anfang an zu Veröffentlichung bestimmt; Frisch berichtet hier über seine ausgedehnten Reisen, kommentiert die politische Situation, beschreibt Pläne für seine künftigen literarischen Werke. Die Hauptfigur des Romans Homo Faber (1957) ist ein Ingenieur, ein Techniker, der mit der Erkenntnis konfrontiert wird, dass das menschliche Leben in die logischen Kategorien des nüchternen technischen Denkens eingezwängt werden kann. Von seinen späteren Prosawerken sollten noch die stark autobiofraphische Erzählung Montauk (1975) und der Roman Blaubart (Modrovous, 1982) genannt werden. Sozusagen im Schatten dieser weltbekannten Autoren blieben lange andere Schweizer Schriftsteller, obwohl viele von ihnen bereits längst die Grenzen der bloß regionalen Literatur der Schweiz überschritten hatten und im Gesamtkontext der deutschsprachigen Literatur bekannt wurden. Peter Bichsei (*1935) ist ein Meister der Kurzprosa; er entdeckte in seinen Texten neue Themen für die Gattung der Kurzgeschichte, seine Texte mit scheinbar unbedeutenden Alltags-geschichten haben auch einen starken sozialen Untertext. Die bekanntesten Sammelbände seiner Kurzgeschichten sind Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen (Vlastně by chtěla paní Blumová mlékaře poznat, 1964), oder Geschichten zur falschen Zeit (Povídky ve špatnou dobu, 1979) Adolf Muschg (*1934) debütierte mit seinem Roman Im Sommer des Hasen (Léto ve znamení zajíce, 1965), der sich in Japan abspielt, wo sechs junge schweizerische Stipendiaten schmerzlich mit der anderen Kultur und Denkweise der nichteuropäischen fernöstlichen Welt konfrontiert werden. Muschg ist ein hervorragender Erzähler, ein brillianter Stilist und ein sehr fruchtbarer Autor - von den Dutzenden weiterer Bücher nennen wir wenigstens seine Romane Albissers Grund (Albisserův důvod, 1974), Das Licht und der Schlüssel, (Světlo a klíč, 1984), 42 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR DER SCHWEIZ dessen Erzähler und Hauptfigur ein moderner Vampir ist, oder seine umfangreiche romanhafte Nacherzählung des mittelalterlichen mythischen Stoffes über Parzival, den Ritter der Artusrunde Der rote Ritter (Červený rytíř, 1993). Von den letzten Romanen seien etwa Kinderhochzeit (Dětská svatba, 2008) oder Sax (2010) erwähnt. Relativ spät, erst in den siebziger Jahren, begann seine literarische Laufbahn der Romanautor, Erzähler und Dramatiker Urs Widmer (1938-2014). Seine Romane, die sich durch eine postmoderne Mischung von Realität und Fiktion auszeichnen: Die Forschungsreise. Abenteuerroman (Výzkumná cesta, 1974), Indianersommer, (Indiánské léto, 1985), Im Kongo (V Kongu, 1996), die Autobiographie Reise an den Rand des Universums (Cesta na okraj vesmíru, 2013) und viele andere.Von den anderen bekannten Prosaautoren ist noch Gerold Späth (*1939) zu erwähnen, mit seinen fast barock verzweigten, meisterhaft erzählten und formal bemerkenswerten Romanen und Erzählungen. Die Autorin einer zarten, psychologisch fein gezeichneten Prosa Erica Pedretti (*1930), die im mährischen Sternberg (Šternberk na Moravě) geboren wurde und nach 1945 über einige Jahre in Amerika in die Schweiz kam. Sie debütierte mit prosaischen Texten des Buches Harmloses bitte (Něco neškodného, prosím, 1970). In ihren späteren Prosabüchern, insbesondere im Roman Engste Heimat (Domov nejtěsnější, 1995), kehrt sie auch zu ihren Erlebnissen aus der Kindheit in der damaligen Tschechoslowakei und ihrer Konfrontation mit der Gegenwart, als sie in den neunziger Jahren mehrmals die Stätten ihrer Kindheit besuchte. 43 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART LITERATUR IN DER EHEMALIGEN DDR Die Literatur in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik entstand in einem völlig anderen Kontext und unter anderen politischen und kulturellen Bedingungen als die Literatur in der Bundesrepublik. Die Literatur und ihre Autoren standen unter ständiger ideologischer Kontrolle des kommunistischen Machtapparats; die Literatur galt als ideologische „Waffe" im Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus. Es ist nicht leicht die sog. DDR-Literatur genau zeitlich abzugrenzen; die DDR existierte als Staat von 1949 bis 1990, aber für das literarische Leben gilt diese Eingrenzung nicht. Die unterschiedliche Entwicklung in Ost und West begann auf der einen Seite sofort im Jahre 1945, auf der anderen Seite war nach 1949, bis Mitte der fünfziger Jahre, das Ziel der offiziellen Politik und kulturellen Anstrengungen in der DDR nicht der Aufbau ihres eigenen Staates, sondern die Wiedervereinigung Deutschlands. Und auch dann gab es in der literarische Entwicklung in der DDR und der Bundesrepublik zahlreiche Überschneidungen: die Werke (sorgfältig ausgewählter) westdeutscher Autoren erschienen in Lizenzausgaben auch in der DDR, die Bücher bekannter DDR-Autoren wurden auch in westdeutschen Verlagen herausgegeben. Auch für das Regime unbequeme Autoren der DDR hatte oft eine Chance (im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Ländern) ihre Werke in der Bundesrepublik zu veröffentlichen. Der Schriftsteller Christoph Hein brachte es mit den Worten zum Ausdruck, dass die DDR-Schriftsteller keine Samisdat-Literatur brauchten - ihr Samisdat seien die großen Verlage der Bundesrepublik gewesen. Außerdem gab es nicht wenige Autoren, die aus dem einem in den anderen deutschen Staat übersiedelten. In den fünfziger Jahren, vor dem Bau der Berliner Mauer und der absoluten Schließung der deutsch-deutschen Grenze verlief dieser Wechsel in beiden Richtungen; in den siebziger und achtziger Jahren emigrierten dann viele Schriftsteller aus der DDR in den Westen. Am stärksten war dieser Weggang der nonkonformen Autoren und Künstler nach der sog. Biermann-Affäre im Jahre 1976. Der politisch links orientierte Dichter und Liedermacher Wolf Biermann (*1936), der 1953 aus der Bundesrepublik in die DDR übersiedelte und der SED beitrat, wurde zehn Jahre später aus der Partei ausge- 44 LITERATUR IN DER EHEMALIGEN DDR schlossen und durfte bis 1976 in der DDR weder öffentlich auftreten noch publizieren. Die Parteiführung unter Erich Honecker, der Anfang der siebziger Jahre den orthodoxen Altkommunisten Walter Ulbricht in der höchsten Staatsfunktion ablöste, gab sich zunächst liberal aus, die staatliche Zensur wurde gelockert, und die erste Hälfte der siebziger Jahre war die einzige Zeit, in der das politische Klima in der DDR freier und offener war im Vergleich zu der damaligen Tschechoslowakei, wo die sog. „Normalisierung" mit Verfolgung der unbequemen Autoren gerade voll im Gange war. 1976 wurde Wolf Biermann (auf Einladung der größten Gewerkschaftsorganisation der Bundesrepublik IG Metall) zu einem Tournee in die Bundesrepublik eingeladen. Er durfte ausreisen - aber gleich nach seinem ersten Konzert in Hamburg hatten ihm die staatlichen Behörden seine DDR-Staatsbürgerschaft entzogen und damit seine Rückkehr in die DDR unmöglich gemacht. Diese für viele unverständliche Maßnahme der Staat- und Parteiführung löste eine Welle von Protesten aus, insbesondere bei seinen schriftstellerischen Kollegen: Am 17. November 1976 veröffentlichten zwölf namhafte DDR-Schriftsteller einen von dem antifaschistischen kommunistischen Dichter Stephan Hermlin (1915-1997) initiierten offenen Brief an die DDR-Führung, in dem sie an diese appellierten, die Ausbürgerung Biermanns zurückzunehmen; in den folgenden Tagen kamen mehr als hundert weitere Unterschriften bekannter Künstler dazu. Das Regime reagierte gegen die Protestierenden sehr hart, und viele bekannte Schrifsteller -sei es freiwillig oder unter dem Druck der politischen Polizei „Stasi" (Staatssicherheit) - verließen dann die DDR in Richtung Bundesrepublik, z. B. Bernd Jentzsch, Thomas Brasch, Sarah Kirsch, Hans Joachim Schädlich, Reiner Kunze, Jurek Becker, Günter Kunert oder Erich Loest. Der Prozess der Auflösung der DDR und der Wiedervereinigung Deutschlands, als in ein paar Monaten aus dem ehemaligen „ersten Staat der Arbeiter und Bauern auf dem deutschen Boden" die „neuen Bundesländer" der Bundesrepublik Deutschland entstanden, konnte natürlich auch an der literarischen Geschichte der DDR-Literatur nicht vorbeigehen. Die Neubewertung der Stellung und Bedeutung der einzelnen Autoren der ehemaligen DDR in dem neuen Kontext der gesamtdeutschen Literatur, als ehemals prominente Autoren zu Recht in Vergessenheit fallen und viele frühere verschwiegene und absichtlich gemiedene Autoren an die Spitze der literarischen Aufmerksamkeit kommen, ist noch lange nicht vorbei - es ist umso interessanter, seine Verwandlungen zu 45 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART beobachten. Dies gilt auch für die Klassiker der Literatur der DDR, die ehemaligen antifaschistischen Emigranten, die sich auf Grund ihrer linken oder kommunistischen Überzeugung aktiv am Aufbau dieses Staates beteiligten. Im Falle von Bertolt Brecht (1898-1956) waren wohl keine Überraschungen zu erwarten. Der marxistische Dramatiker Brecht gilt auch weiterhin für einen der wichtigsten Theaterkünstler des 20. Jahrhunderts; er gehörte in den Nachkriegsjahrzehnten auch in Westdeutschland zu den meistgespielten Autoren. Darüber hinaus ist bekannt, dass er auch in der DDR sich die eigene Meinung eines kritischen Intellektuellen bewahren konnte und die künstlerischen Prinzipien des sog. sozialistischen Realismus ablehnte. Von seiner Enttäuschung über die Entwicklung in Ost-Deutschland in den fünfziger Jahren zeugen auch mehrere Gedichte in seinem letzten Gedichtband Buckower Elegien (Bukowské elegie, 1955). Komplizierter ist die Position von Anna Seghers (1900-1983), die lange Jahre Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbandes war und sich nach ihrer Rückkehr aus dem antifaschistischen Exil mit dem neuen Staat und seiner offiziellen Politik voll identifizierte. In den fünfziger und sechziger Jahren schrieb sie hier Geschichtenzyklen und Romane voll im Dienste der herrschenden kommunistischen Ideologie. Ihre antifaschistischen Werke, wie zum Beispiel die Romane Das siebte Kreuz (Sedmý kříž, 1942), Transit (1948) oder Die Toten bleiben jung (Mrtví nestárnou, 1949), bleiben jedoch - wie auch zahlreiche andere, frühere und spätere Erzählungen, etwa im Band Sonderbare Begegnungen (Neobyčejná setkání, 1973) - ein fester Bestandteil der fortschrittlichen Weltliteratur, deren literarische Qualität nicht einmal ihre politischen Gegner in Zweifel ziehen. Eine der widerspruchvollsten Persönlichkeiten der Generation antifaschistischer Emigranten war Stefan Heym (1913-2001). 1933 emigrierte er über die Tschechoslowakei in die USA, nach Deutschland kam er zurück als Major der amerikanischen Armee, 1953 übersiedelte er in die DDR. Hier veröffentlichte er seine ursprünglich auf Englisch geschriebenen Romane Der Fall Glasenapp (Případ Glasenapp, englisch 1942, deutsch 1958), eine spannende Geschichte über den tschechischen antifaschistischen Widerstand, inspiriert von dem Attentat auf Heydrich, und Die Kreuzfahrer von heute (Křižáci dneška, englisch 1948, deutsch 1950) über die amerikanische Befreiung Frankreichs und Deutschlands. In den siebziger Jahren wurde Heym zu einem der aktivsten Kritiker der damaligen DDR und wohl zu ihrem bekanntesten Dissidenten; 46 LITERATUR IN DER EHEMALIGEN DDR seine politisch brisanten Romane und auch seine Aufsätze und Essays publizierte er in der Bundesrepublik. In den ersten Bundestagswahlen nach der Wiedervereinigung nahm er jedoch die Kandidatur für die postkommunistische Partei der demokratischen Linken (PDS) an und war einige Jahre Bundestagabgeordneter für diese Partei. Sein letzter Roman Radek (1995) schildert die Lebensschicksale des polnischen Kommunisten Radek, eines Mitarbeiters Lenins und Opfer der stalinistischen Repressionen. Auch Reiner Kunze (*1933) war in seinen literarischen Werken vor allem durch seine Erfahrungen in der ehemaligen DDR geprägt, auch wenn er für seine unerschrockene Haltung gezwungen wurde die DDR zu verlassen; seit 1977 lebt in der Bundesrepublik. Noch in der DDR veröffentlichte er mehrere Gedichtbücher und wurde ein angesehener Lyriker; Sein Prosaband Die wunderbaren Jahre (Báječná léta, 1976), eine bittere Abrechnung mit der Realität der DDR auch mit Reflexionen über die Okkupation der Tschechoslowakei im Jahr 1968, konnte aber nur in der Bundesrepublik erscheinen. Reiner Kunze ist auch einer der besten und fleißigsten Übersetzer und Förderer der tschechischen Poesie, unter anderem übersetzte er zahlreiche Gedichte von Vladimir Holan und vor allem von Jan Skácel. Franz Fühmann (1922-1984) hatte in seinem Leben eine nicht gerade gradlinige weltanschauliche Entwicklung durchgemacht; in seiner Kindheit im tschechoslowakischen Städtchen Rokytnice/Rochlitz im Adlergebirge wurde er vom sudetendeutschen Faschismus beeinflußt, meldete sich freiwillig in die Wehrmacht, nach vier Jahren in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft wurde er jedoch zu einem begeisterten Propagátor der sozialistischen Ideen; die Ernüchterung kam Ende der siebziger Jahre und in seiner letzten Lebensphase kritisierte Fühmann verbittert den „real existierenden" Sozialismus in der DDR. Er schrieb Gedichte, Erzählungen, literarische Reportagen und Essays, zu seinen besten Texten gehören Bücher für Kinder und jugendliche Leser, oder seine mit einer großen sprachlichen Meisterschaft geschriebenen Nacherzählungen alter literarischer Vorlagen. Christa Wolf (1929-2011) schrieb Erzählungen, Novellen und Romane, mit denen sie im literarischen Kontext der DDR fast immer Debatten über die gesellschaftlichen Probleme in Gang zu bringen vermochte, die sie in ihren Werken thematisierte. Die Novelle Der geteilte Himmel (Rozdělené nebe, 1963) stellte wenige Monate nach dem Bau der Berliner Mauer (der in der Novelle mit keinem 47 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Wort erwähnt wird) die brisante Frage auf nach der für viele DDR-Bürger aktuelle Entscheidung: in der DDR bleiben oder in den Westen gehen... Nicht weniger gewichtige Themen wählte sie dann auch für ihre folgenden Bücher. Um wenigstens ein paar zu nennen: der Roman Kindheitsmuster (Vzory dětství, 1976) hat unter anderem dazu geholfen, die offizielle Legende zu brechen, dass die Nazi-Vergangenheit in der DDR (im Unterschied zu der Bundesrepublik) ein für allemal überwunden ist. Die meisterhafte vielschichtige Erzählung Kassandra (1983) zeigt am Modellbeispiel des mythologischen Krieges um die Eroberung von Troja überzeugend die Mechanismen, die zum Ausbruch eines jeden Krieges führen, und ist somit eine Warnung vor allen möglichen zukünftigen Kriegen. Ihre Prosa und ihre Essays machten Christa Wolf zu einem der am meisten respektierten Autoren der ehemaligen DDR. Anfang der neunziger Jahre wurde Christa Wolf zur Zielscheibe einer medialen Kampange, als bekannt wurde, dass sie - bevor sie dann mehr als zwanzig Jahre von der Stasi, der geheimen Polizei der DDR observiert wurde - Anfang der sechziger Jahre eine kurze Zeit als die sog. IM, inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi geführt war. Christa Wolf vertrug diese Anschuldigungen sehr schlecht und zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Ihre literarische Antwort war zunächst die Novelle Medea. Stimmen (Médea. Hlasy, 1996), in der sie die antike Medea zu rehabilitieren versuchte, die Euripides in seinem Drama unberechtigter Weise des Mordes an ihren zwei Kindern bezichtigte und damit einen Rufmord beging. Ganze zehn Jahre hat es dann gedauert, bis Christa Wolf in ihrem umfangreichen letzten (und autobiographischen Roman) Stadt der Engel oder The Overcoat von Dr. Freud (Město andělů neboli Svrchník dr. Freuda, 2010) dazu eine persönliche Stellung nahm, vor dem Hintergrung ihres damaligen Aufenthaltes in Kalifornien, wo sie u.a. auf den Spuren der bekannten deutschen Emigranten ging. Erwin Strittmatter (1912-1994) war einerseits ein anerkannter offizieller Autor der DDR, andererseits stylisierte er sich gerne in die Rolle eines eigenwüchsigen Erzählers, der programmatisch auf dem Lande lebt und sich um die große Politik nicht kümmert. Seit Anfang der fünfziger Jahre schrieb er ein umfangreiches und frisch erzähltes Werk, das mehrere Romane und Duzende Erzählungen, Kurzgeschichtenbände, Aphorismen und Kinderbücher umfasst. Die wohl dauerhaftesten literarischen Qualitäten weist sein letztes Romanwerk aus, der dreibändige Roman Der Laden (Krám, 1983,1987,1992), eine poetische Rückkehr in die Welt der eigenen Kindheit in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf 48 LITERATUR IN DER EHEMALIGEN DDR dem Lande in der Niederlausitz, in eine Welt, die es heute nicht mehr gibt, weil sie nicht nur vom Nationalsozialismus und dem Krieg, sondern auch durch die nachfolgende Industrialisierung mit devastierendem Tagebau und Braunkohlekraftwerken unwiederbringlich zerstört wurde. Günter de Bruyn (*1926) vermochte in seinen Romanen und Erzählungen Probleme satirisch aufzudecken, die hinter der Fassade der vorgetäuschten Idylle im „real existierenden Sozialismus" verdeckt waren - dies gilt insbesondere über seine Erzählungen Preisverleihung (Udílení ceny, 1972), die Satire auf den literarischen Betrieb in der DDR Märkische Forschungen (Braniborské výzkumy, 1979, tschechisch unter dem Titel Tajemný jakobín erschienen) und Neue Herrlichkeit (Nová nádhera, 1984). Sein Roman Buridans Esel (Buridanův osel, 1968) über den Mann, der sich nicht zwischen seiner Frau der Liebe zu einer jungen Kollegin nicht entscheiden kann, bewies auch de Bruyns Fähigkeit, seine Figuren psychologisch zu zeichnen. Außerdem ist er Autor von mehreren Büchern und Essays über große Schriftsteller der Vergangenheit, die mit Berlin oder dem umliegenden Land Brandenburg verbunden sind. Große Resonanz fanden auch seine in den 90-er Jahren veröffentlichten autobiographischen Bücher. Jurek Becker (1937-1997) wurde in der polnischen Stadt Lodž geboren, in den Kriegsjahren 1939-1945, also als Kind, wurde er zunächst mit seinen jüdischen Eltern im Ghetto von Lodž gefangen interniert, später in mehreren Konzentrationsjahren. 1945 fand ihn sein Vater, der als einziger der ganzen Familie den Holocaust überlebt hatte, sie lebten dann in Ostberlin. Sein berühmtestes Buch Jakob der Lügner (Jakub lhář, 1969), eine stark bewegende tragikomische Geschichte aus einem jüdischen Ghetto, wurde bisher zweimal verfilmt. Die Verfilmung durch die DEFA der DDR (1974) unter der Regie von Frank Beyer war für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert; in der Titelrolle brillierte der tschechische Schauspieler Vlastimil Brodský. Die neue amerikanische Verfilmung entstand 1999. 1976 unterzeichnete Jurek Becker mit elf weiteren Schriftstellern einen Brief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die Folge war sein Ausschluss aus der SED und aus dem Vorstand des Schriftstellerverbands der DDR. 1977 trat Jurek Becker aus Protest gegen den Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband aus und zog mit Genehmigung der DDR-Behörden in den Westen. Von seinen weiteren Romanen nennen wir noch Irreführung der Behörden (Klamání úřadů, 1973), Bronsteins Kinder (Bronsteinovy děti, 1986) oder Amanda herzlos (Amanda bez srdce, 1992). 49 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Christoph Hein (*1944) konnte sich bereits in den 80-er Jahren als Dramatiker und Prosaautor durchsetzen und seine Werke weckten eine verdiente Aufmerksamkeit in beiden deutschen Staaten. Die Novelle Der fremde Freund (Cizí přítel, 1982, in der Bundesrepublik erschien sie aus Gründen des Titelschutzes 1983 unter dem Titel Drachenblut), die Romane Horns Ende (Hornův konec, 1985) und Der Tangospieler (Hráč tanga, 1989) zeigten überzeugend Deformationen moralischer Charaktere in der damaligen DDR. Von seinen Thaeterstücken sind wohl Die wahre Geschichte des Ah Q (Skutečný příběh Ah Q, 1984) oder Die Ritter der Tafelrunde (Rytíři kulatého stolu, 1989) am bekanntesten. Auf dem 10. Schriftstellerkongress der DDR im November 1987 trat Hein mit einem Diskussionsbeitrag auf mit dem bezeichnenden und mutigen Titel „Die Zensur ist überlebt, nutzlos, paradox, menschen- und volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar", er sprach auch bei der Großdemonstratipon auf dem Alexanderplatz in Ostberlin am 4. November 1989; unter den Rednern vor einer halben Million Demonstranten waren damals auch Christa Wolf, Stefan Heym und Heiner Müller. Weitere Stücke und Prosawerke folgten: der Erzählungband Exekution eines Kalbes (Poprava telete, 1994), die Romane Landnahme (Příchod do země, 2004) oder Weiskerns Nachlass (Weiskernova pozůstalost, 2011). In den Jahren 1998 bis 2000 war Christoph Hein erster Präsident des wieder vereinten gesamtdeutschen PEN-Clubs, dessen Ehrenpräsident er seit Mai 2014 ist. Von den Dramatikern der ehemaligen DDR müssen wenigstens noch zwei erwähnt werden: Peter Hacks (1928-2003) - von seinen zahlreichen und vielgespielten Stücken und Adaptionen war wohl am erfolgreichsten das sarkastische Monodrama Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe (Rozhovor v domě Steinových o nepřítomném panu Goethovi, 1975) - und insbesondere Heiner Müller (1929-1995), dessen Stücke und Bearbeitungen literarischer und dramatischer Vorlagen bereits in den Zeiten der DDR auf vielen Bühnen in beiden deutschen Staaten aufgeführt wurden; heute gilt Heiner Müller als einer der wichtigsten Dramatiker der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Wiedervereinigung Deutschlands und das Ende der DDR bedeutete aber keineswegs - nach der Meinung vieler Literaturhistoriker - auch das automatische Ende der DDR-Literatur. Besonders in den 90er Jahren enstanden - neben vielen Büchern, die mit dem diktatorischen Regime der DDR kritisch abrechnen - auch mehrere Werke (Romane und Filme) von jüngeren Autoren, in denen sie 50 LITERATUR IN DER EHEMALIGEN DDR thematisch aus ihren in der DDR verbrachten Jahren schöpfen, nicht selten in einem satirischen oder humorvoll verklärten Ton - und waren sehr erfolgreich, nicht nur in Deutschland, auch international. Es wurde sogar von der sog. „Ost-algie" gesprochen, eine Neubildung, die eine gewisse „östliche Nostalgie" meint. Zwei Beispiele für viele: Am kürzeren Ende der Sonnenallee (Na kratším konci Slunečné aleje, 1999), ein Roman von Thomas Brussig (*1964), oder die Tragikomödie Good bye, Lenin, ein Film des Regisseurs Wolfgang Becker aus dem Jahr 2003. 51 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART LITERATUR IN DER BUNDESREPUBLIK (1949-1990) UND DEM WIEDERVEREINTEN DEUTSCHLAND Zu den bekanntesten Autoren der Nachkriesliteratur in der Bundesrepublik gehörten Dichter und Prosaautoren der sog. Gruppe 47 (Skupina 47), was eine freie Gruppierung von Schriftstellern war, ohne ein gemeinsames Programm oder Manifeste; ihr gemeinsamer Nenner war wohl der Nonkonformismus, d.h. dass ihre Autoren nicht konform waren zu der Politik der Bundesrepublik und der Gesellschaft kritisch gegenüberstanden. Seit September 1947 trafen sie sich jedes Jahr zu der sog. Lesung der Gruppe 47, um sich aus ihren neuen entstehenden Werken vorzulesen, sich darüber auszutauschen und schließlich einen von ihrer Mitte zu wählen, dessen vorgelesener Text in diesem Jahr den „Preis der Gruppe 47" bekommt. Bis in die siebziger Jahre, wo sich die Gruppe 47 selbst auflöste (die letzte Tagung fand im Jahre 1977 statt), konnte die Gruppe mehrere Duzend renomierter und auch debütierenden Autoren um sich versammeln und das literarische Leben in der Bundesrepublik wesentlich zu prägen. Der „spiritus agens" und der Organisator der Gruppe 47 war Hans Werner Richter (1908-1993), in der Nachkriegszeit selbst Autor mehrerer erfolgreicher Romane, z.B. Die Geschlagenen (Poražení, 1949), Linus Fleck oder Der Verlust der Würde (Linus Fleck aneb Ztráta důstojnosti, 1959). 1953 erschien sein nostalgisch verklärter biographischer Roman Spuren im Sand (Stopy v písku), in dem er seine Kindheit und Jugend auf der Nordseeinsel Usedom in der Zeit der Weimarer republik schildert. Ähnliches Thema dann noch einmal, in dem Erzählband Blinder Alarm. Geschichten aus Bansin (Planý poplach. Povídky z Bansinu, 1970). 1968 wollte Hans Werner Richter die Lesung der Gruppe 47 in Prag stattfinden lassen; wenige Tage vor dem geplanten Treffen wurde die Tschechoslowakei von russischen Panzern besetzt und die Lesung kam nicht mehr zustande. 52 LITERATUR IN DER BUNDESREPUBLIK UND DEM WIEDERVEREINTEN DEUTSCHLAND Weitere Autoren, die sich bereits in der Redaktion der Münchener Literaturzeitschrift Der Ruf kennengelernt und nach derer Einstellung von der Seite der amerikanischen Militärverwaltung die Gruppe 47 ins Leben gerufen haben, waren Alfred Andersch und der Lyriker Wolfgang Weyrauch (1907-1980). Der international renommierteste Autor der Bundesrepublik, dessen Romane und Erzählungen in Dutzende von Sprachen übersetzt wurden, war Heinrich Boll (1917-1985), insbesondere als er im Jahre 1972 den Nobelpreis für Literatur bekam, den ersten Literaturnobelpreis für die Bundesrepublik. Boll war einer der Autoren der Gruppe 47, die sich weigerten, an die Traditionen der deutschen Vorkriegs- und Exilliteratur anzuknüpfen und versuchten, ihre eigenen Erfahrungen vom Krieg und dem Elend der ersten Nachkriegsjahre möglichst authentisch darzustellen. Dieses Thema bearbeitete in seinen frühen Erzählungen und Romanen, zum Beispiel in seinem Antikriegsroman Wo warst du, Adam (Kdes byl, Adame, 1951) und in zahlreichen Erzählungen und Kurzgeschichten; die wohl bekannteste heißt „Wanderer, kommst du nach Spa..." In den fünfziger und sechziger Jahren wurde Heinrich Boll berühmt als Autor gesellschaftskritischer Romane, in denen er vor dem Verlust der moralischen Werte warnte, in einer Gesellschaft, die sich von dem zunehmenden materiellen Wohlstand blenden ließ und die jüngste Vergangenheit allzu schnell vergaß. So zum Beispiel in den Romanen Billiard um halbzehn (Biliár o půl desáté, 1959), Ansichten eines Clowns (Klaunovy názory, 1963) oder Gruppenbild mit Dame (Skupinový portrét s dámou, 1971). In vielen kürzeren und längeren Geschichten verlagerte Boll seine Kritik in humorvoll satirische Positionen, wie in der Prosa Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (Sebraná mlčení doktora Murkeho, 1958) und Ende einer Dienstfahrt (Konec jedné služební jízdy, 1966). In dem Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum (Ztracená čest Kateřiny Blumové, 1974) zeigte er auf der tragischen Geschichte der Heldin des Romans, wie weit die Anti-Terror-Hysterie jener Jahre und die skrupellosen Praktiken der Boulevardpresse führen können. Nach dem August 1968 trat Boll wiederholt öffentlich gegen die Okkupation der Tschechoslowakei und zur Unterstützung der verfolgten Intellektuellen in der Zeit der sog. Normalisierung auf; in den siebziger und achtziger Jahren waren deswegen seine Bücher den tschechischen Lesern nicht zugänglich. Seinen letzten Roman Frauen vor Flusslandschaft (Ženy v krajině u řeky), eine Satire auf die Politik in Bonn, beendete er kurz vor seinem Tod im Jahr 53 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART 1985. Nicht weniger wichtig als Bolls Belletristik waren auch seine zahlreichen Aufsätze, öffentlichen Reden und Essays. Zu den Prosaschriftstellern, deren Werke mit den Anfängen der Gruppe 47 verbunden waren, gehörten auch Wolfdietrich Schnurre und Alfred Andersch. Alfred Andersch (1914-1980, der 1932 dem Kommunistischen Jugendverband beitrat, 1933 mehrere Monate im KZ Dachau interniert war und anschließend unter der Aufsicht der Gestapo lebte, seit 1958 dann in der Schweiz) ist Autor von Romanen, von denen einige - etwa sein Roman über das Schicksal des ehemaligen antifaschistischen Emigranten Efraim (1967) oder der bemerkenswerte Kriegsroman Winterspelt (1974) auch ins Tschechische übersetzt wurden; seine anderen berühmten Romane konnten dagegen wegen seines unorthodoxen Blickes auf die kommunistische und linke antifaschistische Bewegung in Europa in der damaligen Tschechoslowakei nicht erscheinen - dies gilt besonders für seine ersten Romane Die Kirschen der Freiheit (Třešně svobody, 1952), Sansibar oder der letzte Grund (Zanzibar aneb poslední důvod, 1957) und Die Rote (Rudá, 1960). Das Grundthema seiner Romane ist die Flucht; die Flucht des Menschen aus unmenschlichen Bindungen in eine - eher abstrakt und absolut aufgefasste - Freiheit. Seine Erzählungen - Andersch hat an die zwanzig Erzählbände und selbständige Erzählungen veröffentlicht - gehören zu den besten Leistungen dieser Gattung in deutscher Sprache. Eine Kurzgeschichte, mit der die historisch erste Lesung der Gruppe 47 im September 1947 eröffnet wurde, ganz im Stil der „Stunde Null" oder der sog. „Kahlschlagliteratur" geschrieben, Sie hieß Begräbnis (Pohřeb) und ihr Autor war Wolfdietrich Schnurre (1920-1989). Schnurre ist Autor mehrerer Romane, von denen die bekanntesten wohl Als Vaters Bart noch rot war (Když byly otcovy vousy ještě rudé, 1958) und Der Schattenfotograf (Fotograf stínů, 1978) sind, daneben schrieb er eine ganze Reihe von Erzählbänden und Kurzgeschichten. Günter Grass (*1927) debütierte im Jahre 1956 mit dem Gedichtband Die Vorzüge der Windhühner (Přednosti větrníků). Drei Jahre später veröffentlichte er seinen ersten Roman Die Blechtrommel (Plechový bubínek), den nicht wenige Literaturkritiker für einen der bemerkenswertesten Romane der deutschen Nachkriegsliteratur und für Grass überhaupt bestes Werk halten. Schlüsselmomente der jüngsten deutschen Geschichte seit den zwanziger bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts werden in einer verzerrten Perspektive der 54 LITERATUR IN DER BUNDESREPUBLIK UND DEM WIEDERVEREINTEN DEUTSCHLAND Hauptfigur des Romans, des körperbehinderten Oskar Matzerath geschildert, in einer meisterhaft vielschichtigen Sprache und einer fast barock verzweigten Handlung mit Duzenden von grotesken, tragischen, komischen skurrilen Episoden. Ebenso erfolgreich wie die Romanvorlage war etwa zwanzig Jahre später die Verfilmung von Volker Schlöndorff, die als erster deutscher Film den Preis der amerikanischen Filmakademie (Oscar) für den besten ausländischen Film des Jahres bekommen hat. Ein wesentlicher Teil des Romans spielt sich in der Geburtsstadt des Autors Danzig (Gdaňsk) ab, und diese Stadt ist auch Schauplatz der nächsten Bücher von Günter Grass - der geschlossenen Novelle Katz und Maus (Kočka a myš, 1961) und des Romans Hundejahre (Psí roky, 1963) so dass diese drei ersten Prosawerke des Autors als Danziger Trilogie bezeichnet werden. In den sechziger Jahren unterstützte Grass aktiv die deutsche Sozialdemokratie und im Rahmen der westdeutschen Literatur gilt er für einen kritischen linken Autor; ebenso kritisch äußerte er sich jedoch auch zu dem sog. realen Sozialismus und in der DDR und in der ehemaligen Tschechoslowakei war er ein unerwünschter Autor. Sein Roman örtlich betäubt (lokální umrtvení, 1969) findet in Berlin während der Studentenrevolte im Frühling 1968 statt. Mit dem umfangreichen Roman Der Butt (Platejs, 1977) hat Grass versucht, auf den Erfolg des ersten Romans anzuknüpfen. Die Novelle Das Treffen in Telgte (Setkání v Telgte, 1979) ist eine literarische Huldigung an die bereits aufgelöste Gruppe 47: Die Novelle erzählt über ein Treffen barocker Dichter am Ende des Dreißigjährigen Krieges, aber es ist auch ein Gleichnis über die legendären Lesungen der Gruppe 47. Auch in den folgenden Romanen - Die Rättin (Potkanka, 1986), Unkenrufe (ins Tschechische unter dem Titel Žabí lamento übersetzt, besser wohl Sýčkování 1992) und Ein weites Feld (Širé pole, 1995) konnte Grass seine oft kontroversen und provokant formulierten Ansichten über die aktuellen politischen Probleme der Zeit offen zum Ausdruck bringen. Seine Reminiszenzen auf das eben zu Ende gehende 20. Jahrhundert schrieb er im Buch Mein Jahrhundert (Moje století, 1999) nieder; es ist ein Buch mit 100 unzusammenhängenden Texten, betitelt immer nur mit der Jahreszahl 1900 bis 1999. Im Mittelpunkt der Texte stehen nicht so sehr die markanten politischen Ereignisse, das zwanzigste Jahrhundert wird ein einer Art Mosaik aus der Perspektive der „einfachen" Leute beschrieben, wie sie die oft unheilvollen Jahre persönlich erlebten; im letzten, dem 55 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART einzigen autobiographischen Text des Bandes lässt Grass seine bereits vor Jahrzehnten verstorbene Mutter ihre Familiengeschichte erzählen. Für eine weitere Aufregung sorgte Grass, der Nobelpreisträger des Jahres 1999, mit seinen Novellen Im Krebsgang (Jako rak, 2002) über die Versenkung des Dampfers Wilhelm Gustloff mit fast 11 000 Flüchtlingen aus Ostpreußen an Bord am 30. Januar 1945 durch ein sowjetisches U-Boot, und dem autobiografischen Text Beim Häuten der Zwiebel (Při loupání cibule, 2006). In diesem Text hat er nämlich freiwillig bekannt gegeben, was niemand wusste, dass er nämlich im Alter von 18 Jahren in den letzten Wochen des Krieges Mitglied der Waffen-SS war, was für die deutschen Medien wiederum ein Anlass war, ihn zu kritisieren bzw. zu verteidigen. Zu den letzten Publikationen von Günter Grass zählen u. a. neue Gedichtbände, die er oft mit seinen eigenen Zeichnungen illustriert: Letzte Tänze (Poslední tance, 2003), Lyrische Beute (Lyrická kořist, 2004), Dummer August, (Hloupý August, 2007) oder Eintagsfliegen (Jepice, 2012). Siegfried Lenz (*1926) veröffentlichte seit den frühen fünfziger Jahren etwa ein Dutzend Romane und noch mehr Bände mit Kurzgeschichten und Erzählungen. Sein Prosaerstling erschien bereits 1951 unter dem Titel Es waren Habichte in der Luft (Ve vzduchu byli jestřábi), von seinen Romanen verzeichneten die größte Resonanz in Deutschland und auch international die Bücher Deutschstunde (Hodina němčiny, 1968), das sich kritisch mit der deutschen faschistischen Vergangenheit auseinandersetzt, personifiziert in der Figur des Vaters der Hauptfigur Siggi Jepsen. Hier eine kurze Charakteristik des Romans aus dem Umschlag der letzten Ausgabe: „Siggi Jepsen, Insasse einer Anstalt für schwererziehbare Jugendliche, soll im Deutschunterricht einen Aufsatz über das Thema ,Die Freuden der Pflicht' schreiben. Nicht, dass ihm nichts dazu einfiele - das Thema ist ihm vertraut wie keinem sonst: sein Vater, der ,nördlichste Polizeiposten Deutschlands, war den Pflichten seines Amtes so rückhaltlos ergeben, dass er nicht zögerte, seinem Jugendfreund, dem international bekannten Maler Nansen, das von den Nazis über ihn verhängte Malverbot eigenhändig zu überbringen und seine Einhaltung persönlich zu überwachen. Siggi, zu dieser Zeit noch ein Kind, wird Zeuge eines stillen, aber erbitterten Kampfes. Sein Vater ist nun einmal sein Vater, aber seine Zuneigung gehört dem Maler und seinen farbglühenden Bildern. Und in der Erinnerung wird sein Deutschaufsatz zum Lebensbericht, zum Versuch, sich selbst zu begreifen." 56 LITERATUR IN DER BUNDESREPUBLIK UND DEM WIEDERVEREINTEN DEUTSCHLAND Weiter folgten die Romane Heimatmuseum (Vlastivědné muzeum, 1978) und Exerzierplatz (Cvičiště, 1985). Lenz ist ein ausgezeichneter Erzähler von Menschenschicksalen, in die der Krieg und der Faschismus in Deutschland unmittelbar eingriffen; viele seiner Romane und Kurzgeschichten sind nach Ostpreußen situiert (Lenz wurde in der ostpreußischen Stadt Lyck geboren, die heute Elk heißt und in den Masuren in Polen liegt), oder in die norddeutsche Landschaft an der Nordsee, wo Lenz (in Hamburg) seit 1945 lebt. Er war regelmäßiger Gast des Literatentreffens Gruppe 47. Seinen Roman Exerzierplatz halte ich übrigens für sein stärkstes Werk; es geht zwar auch um eine Konfrontation der deutschen Kriegsvergangenheit mit der Gegenwart, aber auch um ein einfühlsames Porträt eines mental behinderten Menschen, der Hauprfigur des Romans Bruno. In den neunziger Jahren hat Lenz unter anderem die Romane Die Klangprobe (Zkouška zvukem, 1990) und Die Auflehnung (Vzepření, 1994) veröffentlicht, in denen sich der Fokus seines Interesses von der jüngsten Vergangenheit in die Gegenwart verlagert. Lenz ist bis in sein hohes Alter ein sehr produktiver Autor, jedes Jahr publiziert er neue Bücher; erwähnt sei zum Beispiel seine 2008 erschienene Novelle Schweigeminute (Minuta ticha), eine ungewöhnliche tragische Liebesgeschichte über die Liebe eines Gymnasiasten zu seiner jungen Englischlehrerin, in der die Landschaft der Nordsee, das Schwimmen, Segeln und Tauchen eine wichtige Komponente der fesselnden Handlung bilden. Die Werkausgabe seiner Bücher Ein Erzähler einer ganz anderen Art, der aber auch seit mehr als einem halben Jahrhundert jedes Jahr mehrere Publikationen vorlegt, ist Martin Walser (*1927), geboren in Wasserburg am Bodensee, und in der Landschaft am Bodensee sind auch die meisten seiner Prosabücher angesiedelt. Bereits in seinen frühen gesellschaftskritischen Romanen wie Ehen in Philippsburg (Phil-ippsburské svazky manželské, 1957) oder Halbzeit (Poločas, 1960) konzentrierte er sich auf die Frage der gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen und Partnerschaften in der modernen Gesellschaft; dieser stark psychologisie-rende Aspekt seiner Arbeit verstärkt sich ständig und dominiert z. B. in der Kammernovelle Ein fliehendes Pferd (Prchající kůň, 1978), oder in dem Roman Brandung (Příboj, 1985). Seit 1953 wurde Walser regelmäßig zu den Tagungen der Gruppe 47 eingeladen, die ihn 1955 für die Erzählung „Templones Ende" auszeichnete. Vor allem in den sechziger Jahren etablierte sich Walser auch als Dramatiker, bedeutend ist auch sein essayistisches Schaffen. In den neunziger 57 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Jahren erschienen u. a. die Romane Die Verteidigung der Kindheit (Obrana dětství, 1991), Ohne einander (Jeden bez druhého, 1993), Finks Krieg (Finkova válka, 1996) und Ein springender Brunnen (Fontána, 1998), von den jüngsten Romanen sei etwa Der Augenblick der Liebe (Okamžik lásky, 2004) und Das dreizehnte Kapitel (Třináctá kapitola, 2012) erwähnt. Das letztere Buch ist wieder ein Roman über die Liebe - diesmal über die Liebe eines älteren verheirateten Schriftstellers in eine jüngere verheiratete Frau, eine Theologieprofessorin noch dazu; aber, was diesen späten Roman von Walser interessant macht, ist das Briefeschreiben, die Kommunikation der Protagonisten in Briefen - eine jahrhundertalte und heute fast schon verschwundene Tradition literarischer Kommunikation... Walser galt im literarisch-politischen Kontext der Bundesrepublik als ein ausgesprochen linker Schriftsteller; umso mehr überraschte viele seine Rede in der Frankfurter Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998, in der er die „Instrumentalisierung des Holocaust" ablehnte und forderte, dass die Naziverbrechen nun, nach mehr als fünfzig Jahren, nicht mehr als „moralische Keule" gegen die Deutschen benutzt werden sollten. Diese seine Rede, sowie auch seine nicht wenigen anderen, manchmal offen antisemitischen Äußerungen trafen zumindest auf Missverständnis und führten zu mehreren Protesten, am stärksten von dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Von den Lyrikern, die wenigstens eine Zeitlang um die Gruppe 47 versammelt waren, muss in erster Linie der in Rumänien geborene Dichter Paul Celan (1920-1970, mit Eigennamen Paul Antschel, später rumänisiert Ancel, woraus das Anagramm Celan entstand) erwähnt werden. Seine Familie wurde während der deutschen Besatzung in die Vernichtungslager deportiert und ermordet, er selbst war in einem rumänischen Arbeitslager und konnte überleben. Vor dem Krieg studierte er Germanistik und Sprachwissenschaft in Paris, nach Kriegsende 1945 ging er nach Wien, ab 1948 lebte er dann wieder in Paris, wo er 1970 freiwillig aus dem Leben schied. Seine stark metaphorische Poesie gilt als einer der Höhepunkte der modernen deutschen Lyrik. Der erste Gedichtband Der Sand aus den Urnen (Písek z uren, 1948) enthält den deutschsprachigen Erstdruck des berühmten Gedichts Todesfuge, in dem er in einprägenden Metaphern das Thema der Judenverfolgung und Ermordung in Konzentrationslagern thematisierte. 58 LITERATUR IN DER BUNDESREPUBLIK UND DEM WIEDERVEREINTEN DEUTSCHLAND „Celans Lyrik ist artistisch, esoterisch, surreal, durch Metapher verschlüsselt, sprachgewaltig bis zur Unverständlichkeit, schwemütig und von dunklem Sinne, aber in klaren Wortgefügen und klangvollen Rhythmen geschrieben", heißt eine Charakteristik seiner Poesie in der Literaturgeschichte von Wilhelm Bortenschlager. Weitere Gedichtbände heißen Mohn und Gedächtnis (Mák a paměť, 1952), Von Schwelle zu Schwelle (Od prahu k prahu, 1955), und allein die Titel der folgenden lassen ahnen, wie stark und ungewöhnlich er mit der deutschen Sprache experimentierte: Sprachgitter (1959), Die Niemandsrose (1963), Atemwende (1967), Fadensonnen (1968), Lichtzwang (1970), und die aus dem Nachlass veröffentlichten Bände Schneepart (1971) und Zeitgehöft (1976). Zu regelmäßigen Teilnehmern an de Lesungen der Gruppe 47 gehörten der Lyriker Günter Eich (1907-1972) oder der stark politisch engagierte und formal vielseitige experimentelle Dichter Hans Magnus Enzensberger (1929). Nur einmal wurde ein Dichter aus Ostberlin eingeladen: im Jahre 1961 bekam den Preis der Gruppe Johannes Bobrowski (1917-1963). Der aus Ostpreußen stammende Dichter schrieb Lyrik, Erzählungen und zwei Romane: sein dominantes Thema war das Miteinander und Gegeneinander der verschiedenen Nationen im osteuropäischen Raum, wo seit Jahrhunderten Deutsche, Polen, Litauer und Juden nebeneinander lebten; sein bekanntester Roman heißt Levins Mühle (Levinuv mlýn, 1964). Elias Canetti (1905-1994) ist ein weiterer deutschsprachiger Schriftsteller, der für sein Lebenswerk den höchsten Literaturpreis bekommen hat - im Jahre 1981 wurde er Preisträger des Nobelpreises für Literatur. Seine Einordnung in die deutsche Literatur überschreitet aber die üblichen Kriterien - er wurde in Bulgarien (in der Stadt Ruschtschuk) in der Familie der Spanisch sprechenden jüdischen Emigranten geboren, die im Mittelalter aus Spanien vertrieben wurden, bis auf den Balkan kamen und sich dort ihre Sprache bis in das zwanzigste Jahrhundert erhalten haben. In den zwanziger Jahren studierte er Chemie in Wien, lernte dort die moderne österreichische Literatur und entschied sich unter diesem Einfluss das Deutsche als seine Literatursprache zu wählen. Er lebte dann im Exil in London, starb in der Schweiz. Aus seinen philosophisch tiefen und sprachlich meisterhaften Werken sind sein hervorragender und lang unterschätzter Roman Die Blendung (Zaslepení, 1935), der heute als eine der ersten Warnungen vor dem Primitivismus des Faschismus und interpretiert 59 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART wird, sowie sein Lebenswerk, für das er Jahrzehnte lang Material sammelte: die umfangreiche philosophisch-soziologische Abhandlung Masse und Macht (Masa a moc, 1960) zu nennen. Peter Härtling (*1933) ist ein Schriftsteller, dessen Romane große Erfolge bei den Lesern Resonanz gefunden haben und oft Bestseller wurden. Er ist Autor sehr gut lesbar und frisch geschriebenen Romane über das Leben der großen literarischen und musikalischen Gestalten der deutschen Kultur der Vergangenheit, zum Beispiel Niembsch (1964), dessen Protagonist der romantische Dichter Nikolaus Lenau ist, Hölderlin (1976) oder Schubert (1992). Diese Bücher verbinden auf eine fesselnde Art authentische biographische Daten mit literarischer Fiktion des Autors, der entscheidende Momente ihres Lebens schildert. Interessant für die tschechischen Leser kann sein, dass die Handlung mehrerer erfolgreicher Romane Härtlings, wie z. B. Janek (1966), Eine Frau (Žena, 1974), Hubert oder Die Rückkehr nach Casablanca (Hubert aneb Návrat do Casablanky, 1978), Nachgetragene Liebe, (Opožděná láska, 1980) Božena (1994) und Große, kleine Schwester (Velká, malá sestra, 1998) in der Tschechoslowakei bzw. im sog. Protektorat spielt, wo Härtling mehrere Jahre als Kind (in Brno und Olomouc) verbrachte. Darüber hinaus schreibt er Gedichte und Bücher für Kinder und junge Leser, die ebenfalls eine große Resonanz erreichten und mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurden. Walter Kempowski (1929), der aus dem ehemaligen Ost-Deutschland im Jahr 1956 nach acht Jahren Haft wegen angeblicher Spionage in die Bundesrepublik kam, ist vor allem als Autor der breit konzipierten und weitgehend autobiografischen romanhaften Familienchronik bekannt, die das Schicksal der Hauptfiguren in einer epischen Breite von dem Ersten Weltkrieg zu bis zur Gegenwart erzählt; die einzelnen Romane wie Tadelloser & Wolff{\97\), Ein Kapitel für sich (Kapitola sama pro sebe, 1975), Aus großer Zeit (Z velkých časů, 1978) und andere bilden eine freie Roman-Serie über das Schicksal einer Rostocker großbürgerlichen Familie im 20. Jahrhundert. Bernhard Schlink (*1944) arbeitete als Jurist und Professor der Rechte an den Universitäten in Bonn, Frankfurt und Berlin. Sein kontroverses Buch Der Vorleser (Předčítač, 1995) über die Liebesbeziehung einer ehemaligen KZ-Aufseherin und eines fünfzehnjährigen Schülers wurde zu einem internationalen Bestseller, besonders nach seiner erfolgreichen Verfilmung in den USA im Jahre 1998; die Schauspielerin Kate Winslet erhielt für ihre Leistung in diesem 60 LITERATUR IN DER BUNDESREPUBLIK UND DEM WIEDERVEREINTEN DEUTSCHLAND deutsch-amerikanischen Film den Oskar für die beste weibliche Hauptrolle. Weitere erfolgreiche Bücher folgten: 2000 etwa der Band Erzählungen mit dem Titel Liebesfluchten (Útěky z lásky), 2006 der Roman Die Heimkehr (Návrat). 61 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART DRAMA UND THEATER Zu den bekanntesten Dramatikern der Nachkriegsjahre gehörte Wolfgang Hildesheimer (1916-1991). Er verbrachte die NS-Zeit im Exil in Palästina und in England. Nach dem Krieg war er unter anderem als Dolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen tätig, und in den fünfziger und sechziger Jahren widmete er sich den literarischen und theatralischen Aktivitäten. Er schrieb Kurzgeschichten, Romane und Essays, den größten Ruhm gewann er aber als Autor von Hörspielen und als Dramatiker. Seine Stücke stehen in der Nähe zum Surrealismus und dem absurden Drama, zum Beispiel Die Eroberung der Prinzessin Turandot (Dobytí princezny Turandot, 1961), Die Verspätung (Zpoždění, 1961) oder Maria Stuart (Marie Stuartovna, 1971). Auch seine biographischen Prosabücher, wie z. B. Mozart (1977) oder Marbot (1981) wurden in Deutschland zu Bestsellern. Auch Peter Weiss (*1916 Nowawes bei Berlin-1982 Stockholm) verließ nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Deutschland und ging ins Exil, lebte zunächst mit seinen Eltern in London, in den Jahren 1936 bis 1938 studierte er an der Prager Akademie der bildenden Künste, ging dann nach Schweden und der Literatur und dem Theater widmete sich erst nach Beendigung des Krieges. Zunächst als Romancier mit formal experimentellen „Mikroromanen" Der Schatten des Körpers des Kutschers (Stín vozkova těla, 1960) und Das Gespräch der Drei Gehenden (Rozhovor tří chodců, 1963), seine Erfahrungen als Emigrant in einer fremden Umgebung verarbeitete in den autobiographischen Romanen Abschied von den Eltern (Rozloučení s rodiči, 1961) und Fluchtpunkt (Bod útěku, 1962) . Dann wandte er sich der Theaterarbeit zu und seine Dramen Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (Pronásledování a zavraždění Jeana Paula Marata, 1964) und Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen (Vyšetřování. Oratorium v jedenácti zpěvech, 1965) gehörten in den sechziger Jahren zu den meistgespielten Theaterstücken in Deutschland und im Ausland. Das erste von ihnen schöpft sein Thema aus der Französischen Revolution, das zweite berichtet über die Gerichtsverhandlung mit den Kriegsverbrechern aus Auschwitz. 62 DRAMA UND THEATER Politische Themen verarbeitet Weiss auch in den Theaterstücken Trotzki im Exil (Trocký v exilu, 1970) und Hölderlin (1971). Die Frage, die er in diesen seinen Dramen aufwirft, heißt, welche Entwicklung eine Revolution einschlägt und warum sie zum Terror greift: Wie wäre die Weltgeschichte weiter verlaufen, wenn nach der Großen französischen Revolution nicht Robespierre, sondern der idealistische Marat an die Machtspitze gekommen wäre, nach der russischen Revolution und dem Tod Lenins nicht Stalin, sondern Trotzki, wenn auch im damaligen Deutschland sich revolutionäre Gedanken verbreiten konnten und Hölderlin nicht in das (nach Weiß) freiwillige Exil der vorgetäuschten Geisteskrankheit flüchten musste. Zu dem Thema des Exils und der westeuropäischen linken antifaschistischen Bewegung kehrte Weiss noch einmal zurück in dem dreibändigen Roman Die Ästhetik des Widerstandes (Estetika odporu) 1975,1978,1981) zurück. Ein bekannter Repräsentant des politischen Dokumentartheaters der 60er Jahre wurde Rolf Hochhuth (*1931, lebt seit 1963 in der Schweiz), und zwar gleich mit seinem ersten Bühnenstück Der Stellvertreter mit dem Untertitel Ein christliches Trauerspiel (Náměstek. Křesťanská truchlohra, 1963). Basierend auf einem gründlichen Studium der historischen Archivmaterialien (Hochhuths Stücke werden daher als das sog. Dokumentartheater bezeichnet) wirft er in diesem Drama der katholischen Kirche und vor allem dem Papst Pius XII. die Mittäterschaft an den Verbrechen der Nazis vor, weil die Kirche mit dem Papst an der Spitze nie offen gegen die Massenvernichtung der Juden protestierte und sie so mit ihrem Schweigen eigentlich guthieß. Die Aufführungen des Stückes wurden von Protesten und Skandalen begleitet, und ähnlich war es auch mit seinen späteren Dramen, z. B. Die Soldaten (Vojáci, 1967) über die bis heute umstrittene Bombardierung Dresdens im Februar 1945, oder Juristen (Právníci, 1979), zu dem Hochhuth inspiriert wurde durch gefundene Archivmaterialien über Richter, die noch in den ersten Maitagen 1945 gegen desertierte Soldaten der Wehrmacht Todesurteile verhängten und in der Bundesrepublik weiter als Juristen oder gar hochgestellte Politiker tätig waren. Der ebenfalls dokumentarische Roman Eine Liebe in Deutschland (Láska v Německu, 1978) erzählt auch eine authentische Geschichte, die Liebe zwischen einer jungen deutschen Frau, deren Mann auf der Front ist, und einem polnischen Kriegsgefangenen; nach den damaligen Nazi-Gesetzen ein Verbrechen, und als sie von ihrer Nachbarin angezeigt werden, wird der Pole gehängt und die Frau in ein Konzentrationslager geschickt. 63 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Sommer 14 (Léto 14, 1989) ist ein breit angelegtes Drama über die europäische politische Szene kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die zwangsläufig in die Katastrophe hat münden müssen. Ein kritischer Blick auf die Wiedervereinigung Deutschland ist das Stück Wessis in Weimar (Zapadací ve Výmaru, 1993); es behandelt den „Ausverkauf" der ehemaligen DDR durch die westdeutsche Wirtschaft. Zu den erfolgreichsten und am häufigsten gespielten Dramatikern der letzten Jahre gehört Botho Strauss (*1944). Er machte auf sich aufmerksam mit seinen Stücken, oft in Form von bitteren Komödien, in denen er von der Position eines unparteiischen Beobachters die gestörten Beziehungen und deformierte Persönlichkeiten der zeitgenössischen Gesellschaft zeigt. So ist es z. B. in den Theaterspielen Die Hypochonder (Hypochondři, 1972), Bekannte Gesichter, Gemischte Gefühle (Známé tváře, smíšené pocity, 1974), Park (1984) oder Besucher (Návštěvníci, 1988) der Fall. Die Schändung (Zneuctění), ein Stück nach Titus Androni-cus von William Shakespeare hatte seine Uraufführung 2005 in Paris. Er veröffentlicht auch Prosa, zum Beispiel den „Bildungsroman" Der junge Mann (Mladý muž, 1984) oder den Band mit Kurzgeschichten unter dem Titel Paare, Passanten (Dvojice, chodci, 1981). 64 „POSTMODERNE" DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR „POSTMODERNĚ" DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR Die Begriffe Postmoderne und postmoderne Literatur werden in dem Diskurs über die neueste deutschsprachige Literatur nicht so häufig benutzt wie etwa in der französischen, italienischen oder amerikanischen Literatur. Trotzdem tauchen sie bei Werken von manchen Autoren auf, die Merkmale der „postmodernen" Erzählweise aufweisen wie etwa die Beziehung zwischen Realität und Fiktion, Dekonstruktion und erneute Konstruktion, Spiel mit dem Leser, Vieldeutigkeit, Übertretung von Grenzen, Verweise an andere bekannte literarische Werke usw. Und nicht zuletzt eine „Rückkehr zum Erzählen", zum auktori-alen Erzähler, zu Abenteuerlichkeit und spannender Handlung. Am häufigsten war es wohl bei Patrick Süskind (*1949) und seinem erfolgreichsten Roman Das Parfüm. Die Geschichte eines Mörders (Parfém. Příběh vraha, 1985) der Fall. Eine fiktive, fantastische, ja unwahrscheinliche Geschichte, angesiedelt im Paris des 18. Jahrhunderts, die von Süskind aber wie ein realistischer historischer oder biograpfischer Roman erzählt wird. Ähnliches könnte man über den Roman Die Entdeckung der Langsamkeit (Objevení pomalosti, 1983) von Sten Nadolny (*1942), dessen Haupfigur der englische Polarforscher John Franklin ist, wobei die eigentlichen biografischen Daten eigentlich nur eine Nebenrolle spielen. Schlafes Bruder (Bratr spánku) ist ein Roman des österreichischen Schriftstellers Robert Schneider (*1961) aus dem Jahr 1992. Das Buch wurde ebenfalls ein internationaler Erfolg und in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. Von den in diesem Skriptum an anderen Stellen erwähnten Autoren gehören auch noch der Österreicher Christoph Ransmayr oder der Schweizer Urs Widmer in diesen Kontext. Daniel Kehlmann (*1975) gelang mit seinem historisch-fiktiven Roman über zwei Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts - Alexander von Humboldt und Friedrich Gauß - ein durchschlagender Bucherfolg; der Roman Die Vermessung 65 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART der Welt (Vyměřování světa, 2005) hielt sich monatelang an erster Stelle der deutschen Bestsellerlisten, die Rechte wurden in 40 Länder verkauft. 2009 folgte der Band Ruhm (Sláva) mit neun selbstständigen Erzählungen, die jedoch zu einem Roman komponiert sind. 66 AUTOREN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND AUTOREN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND Mit den Begriffen „Migrantenliteratur" oder „Autoren mit Migrationshintergrund" bezeichnet man seit einiger Zeit die auf Deutsch geschriebene Literatur von Autoren, die als Imigranten in ein deutschsprachiges Land gekommen sind, dort seit kürzerer oder längerer Zeit leben und in der deutschen Sprache schreiben und publizieren, deren Muttersprache jedoch nicht Deutsch ist. Das Spektrum dieses „Migrantenhintergrundes" ist sehr breit, vom Serbischen, Ungarischen, Tschechischen über Türkisch oder Russisch bis zum Arabischen oder Persischen. Die Bücher dieser Autoren werden dabei immer mehr gelesen, und viele von ihnen sind zu Bestsellern geworden. Ein möglicher Grund für diese steigende Popularität könnte sein, dass die Autoren nicht nur über ihre „fremde Kultur" und ihre spezifische Kommunität schreiben, sondern dass sie auch das Leben in Deutschland oft aus einer anderen und interessanten Perspektive sehen als „einheimische" deutschsprachige Autoren. Diese Literatur hat in Deutschland bereits auch einen angesehenen Literaturpreis, der jedes Jahr vergeben wird, nämlich den Adelbert-Chamisso-Preis (der romantische Schrifsteller Chamisso, der im Alter von acht Jahren mit seinen adeligen Eltern nach Deutschland kam auf der Flucht vor der Französischen Revolution, war in diesem Sinne auch ein „Autor mit Migrationshindergrund", obwohl dieser Terminus damals noch nicht existierte. Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren, nach Deutschland kam er im Jahre 1971, um Chemie zu studieren (Promotion 1979). Heute ist er einer der bekanntesten und beliebtesten Autoren deutscher Sprache, seine Bücher (inzwischen sind es bereits fast hundert Titel) wurden in 25 Sprachen übersetzt, neben zahlreichen Ehrungen und Literaturpreisen ist er seit 2002 auch Mitglied der Bayrischen Akademie der Schönen Künste. Feridun Zaimoglu kam 1965 aus der Türkei nach Deutschland, da war er ein Jahr alt. Bekannt geworden ist er 1995 mit dem Buch Kanak-Sprak, heute bereits etwas wie einem „Klassiker" der türkischdeutschen Literatur, geschrieben in der Sprache junger Türken in Deutschland. Danach folgten weitere 67 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Romane, Erzählungen und Theaterstücke, die fast immer um das Thema Migration kreisen, wie auch in seinem bis jetzt letzten Roman Isabel (2014). Lakonisch, frech und witzig - so werden in der deutschen Literaturkritik die Texte von Wladimir Kaminer bewertet, der 1967 in einer russisch-jüdischen Familie in Moskau geboren wurde und 1990 nach Berlin kam - erst dort lernte er Deutsch. Zehn Jahre später erschien sein erstes Buch in der deutschen Sprache - Russendisko (Ruská diskotéka; 2010). Es wurde zu einer Art Kultbuch - nicht nur die neue Hauptstadt Berlin, sondern auch seine internationalen Bewohner spielen hier mit. Kaminer - im Unterschied zu vielen anderen Autoren der Migrantenliteratur - bemüht sich nicht, in einem gepflegten Hochdeutsch zu schreiben, er spielt mit Spaß mit der für ihn fremden Sprache, und sagt selbst dazu: „Anders als in meiner Heimatsprache kann man im Deutschen alle Wörter zusammensetzen. Substantive mit Adjektiven und umgekehrt. Diese Sprache ist eine Art Legobaukasten, in dem alle Teile zueinander passen". Zu der Migrantenliteratur können auch drei tschechische Autoren gezählt werden: Die in Prag geborene Libuše Moníková (1945-1998) absolvierte das Studium der Germanistik und Anglistik an der Prager Karlsuniversität und im Jahre 1971 emigrierte sie in die Bundesrepublik. Dort fing sie an auf Deutsch zu schreiben und ihre Romane und Erzählungen wurden von der deutschen Literaturkritik sehr positiv aufgenommen. Nach 1989 konnte dann ihr Werk in tschechischen Übersetzungen auch den tschechischen Lesern vorgestellt werden. Dazu gehören vor allem die Romane Die Fassade (Fasáda, 1987), der vor allem ihre Erfahrungen aus der Tschechoslowakei verarbeitet und von der Kritik als ein Werk in der Nachfolge Franz Kafkas bezeichnet wurde, und Treibeis (Ledová tříšť, 1992), dessen Protagonisten zwei tschechische Emigranten sind. Der Mann gehört jedoch zu der Emigrationswelle nach Februar 1948, die junge Frau zu der nach August 1948, und in ihren Erinnerungen an die alte Heimat finden sie nur wenig Gemeinsames; nicht einmal das Prag, das sie verließen, war dasselbe, heißt es im Roman. Ota Filip, 1930 als Sohn einer polnischen Opernsängerin und eines tschechischen Konditors in Slezská Ostrava geboren, wuchs dreisprachig (tschechisch, deutsch und polnisch) auf, arbeitete als Redakteur beim Rundfunk und bei verschiedenen Zeitschriften in der Tschechoslowakei. Wegen seiner politischen Haltungen wurde er mehrmals (1960 und 1970) verfolgt, vor Gericht gestellt und verurteilt.1974 wurde seine Familie ausgebürgert und er lebt seitdem in der 68 AUTOREN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND Budesrepublik. Sein Romanerstling Das Cafe an der Straße zum Friedhof (Kavárna na ulici ke hřbitovu) erschien tschechisch 1967, deutsch 1968, weitere sowohl in Tschechien als auch in Deutschland viel beachtete Romane: Die Himmelfahrt des Lojzek Lapáček aus Schlesisch Ostrau (Nanebevstoupení Lojzka Lapáčka ze Slezské Ostravy, 1973), Café Slávia (Kavárna Slávia, 2001), Der siebente Lebenslauf: autobiographischer Roman (Sedmý životopis: autobiografický román, 2001), Osmý čili nedokončený životopis (2007). Jan Faktor (*1951 in Prag) kam nach Ostberlin in der damaligen DDR im Jahre 1978; im Jahre 2010 veröffentlichte er seinen autobiographischen Roman Geors Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag (Jiříkovy starosti o minulost), in dem er erseine Kindheit im Prag der fünfziger und sechziger Jahre schildert und der mit mehreren literarischen Preisen ausgezeichnet wurde. Jan Faktor ist mit der Autorin Annette Simon, einer Tochter Christa Wolfs, verheiratet, weitere Publikationen folgten. Saša Stanišič wurde 1978 in Visegrád geboren, einer Stadt im Osten Bosniens, nach Deutschland kam er 1992, als im ehemaligen Jugoslawien Krieg wütete. Dieser balkanische Krieg und die Flucht seiner Familie nach Deutschland sind auch das Thema seines ersten Romans Wie der Soldat das Grammofon repariert (Jak voják opravuje gramofon, 2006). Die deutsche Kritik war von diesem „poetischen und zugleich komischen" Roman begeistert. Acht Jahre hat es dann gedauert, bis Stanišič seinen zweiten Roman vorlegte, der bereits in seiner neuen Heimat Deutschland, in der Uckermark angesiedelt ist: Vor dem Fest (Před slavností, 2014). Aus Ungarn stammt die Schriftstellerin Terézia Mora (*1971 in Sopron, Ungarn geboren und zweisprachig - ungarisch und deutsch aufgewachsen). Sie ist auch Drehbuchautorin und Übersetzerin aus dem Ungarischen. Sie kam 1990 zum Studium an die Humboldt-Universität und blieb in Berlin. Die inzwischen mit vielen Preisen ausgezeichnete Autorin (u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1999, 2005 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, 2010 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und dem Erich-Fried-Preis) begeisterte die Kritik vor allem mit dem Roman Alle Tage (Všechny dny, 2004). Von ihren weiteren Werken sei noch ihr Erstling, der Erzählband Seltsame Materie (Podivná materie, 1999), oder der Roman Das Ungeheuer (Příšera, 2013) erwähnt, für den sie den Deutschen Buchpreis 2013 bekam. 69 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart zählt der aus Bulgarien stammende Ilija Trojanow (*1965 in Sofia). Sein Roman Der Weltensammler (Sběratel světů, 2006) wurde zu einem der meist verkauften und meist übersetzten Büchern der letzten Jahre. Erzählt wird das Leben des englischen Kolonialoffiziers Richard Burton, der im 19. Jahrhundert zunächst nach Indien, dann nach Arabien und schließlich nach Westafrika ging, um dort das größte Rätsel der afrikanischen Geographie zu lösen, nämlich die Quellen des Nils zu finden. Der Autor selbst lebte einige Jahre in Kenia, studierte in Paris und München und ist unentwegt auf Reisen, durch Indien, Arabien oder Nordamerika; ein „Weltensammler" ist nicht nur diese seine Figur des britischen Offiziers, sondern auch er selbst. Es ist aber kein Abenteuerroman oder eine Biographie in der gängingen Bedeutung des Wortes; die Figur Burtons fasziniert die Leser dadurch, dass er sich in jeder dieser exotischen Länder mit derer Kultur und Religion voll identifiziert und eine völlig neue Identität einnimmt. Eine ähnliche Thematik - nämlich „andere Welten" finden wir übrigens auch in seinen späteren oder früheren Werken, z.B. in dem Buch Die Welt ist groß und die Rettung lauert überall (Svět je veliký a záchrana číhá všude, 1996). In Deutschland, Österreich und der Schweiz erscheinen alljährlich hunderte Neuerscheinungen; neue und junge Autoren legen ihre Erstlingswerke vor, bekannte Autoren schreiben neue Gedichte, Prosawerke und Dramen - auf jeden Fall lohnt es, die deutschsprachige Buchproduktion zu verfolgen und neue gute Literatur in deutscher Sprache zu lesen. 70 ANHANG ANHANG VIER VORSCHLÄGE FÜR ARBEIT MIT TEXTEN IN SEMINAREN Paul Celan: Todesfuge (1948) Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends wir trinken und trinken Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends wir trinken und trinken 71 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith Fragen zur Interpretation: 1. Welche Metaphern benutzt Celan zur Schilderung der Vernichtungslager? 2. Wie könnte Ihrer Meinung nach die Metapher „schwarze Milch der Frühe, wir trinken sie..." interpretiert werden? 3. Warum wohl erscheint im Titel des Gedichtes der Begriff „Fuge"? 4. War es legitim, den Holocaust mit lyrischen Mitteln zu Ausdruck zu bringen? 72 ANHANG Heinrich Boll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952) Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation nach 1945 hat man als Trümmerliteratur bezeichnet, man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder. Und sie waren scharfäugig: sie sahen. Sie lebten keineswegs in völligem Frieden, ihre Umgebung, ihr Befinden, nichts an ihnen und um sie herum war idyllisch, und wir als Schreibende fühlten uns ihnen so nahe, daß wir uns mit ihnen identifizierten. Mit Schwarzhändlern und den Opfern der Schwarzhändler, mit Flüchtlingen und allen denen, die auf andere Weise heimatlos geworden waren, vor allem natürlich mit der Generation, der wir angehörten und die sich zu einem großen Teil in einer merk und denkwürdigen Situation befand: sie kehrte heim. Es war die Heimkehr aus einem Krieg, an dessen Ende kaum noch jemand hatte glauben können. Wir schrieben also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern; das ergab drei Schlagwörter, die der jungen Literatur angehängt wurden: Kriegs, Heimkehrer und Trümmerliteratur. Die Bezeichnungen als solche sind berechtigt: es war Krieg gewesen, sechs Jahre lang, wir kehrten heim aus diesem Krieg, wir fanden Trümmer und schrieben darüber. Merkwürdig, fast verdächtig war nur der vorwurfsvolle, fast gekränkte Ton, mit dem man sich dieser Bezeichnung bediente: man schien uns zwar nicht verantwortlich zu machen dafür, daß Krieg gewesen, daß alles in Trümmern lag, nur nahm man uns offenbar übel, daß wir es gesehen hatten und sahen, aber wir hatten keine Binde vor den Augen und sahen es: ein gutes Auge gehört zum Handwerkszeug des Schriftstellers. Die Zeitgenossen in die Idylle zu entführen würde uns allzu grausam erscheinen, das Erwachen daraus wäre schrecklich, oder sollen wir wirklich Blindekuh miteinander spielen? [...] Aber zu Anfang des 19. Jahrhunderts lebte in London ein junger Mann, der kein erfreuliches Leben hinter sich hatte: sein Vater hatte Bankrott gemacht, war 73 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART ins Schuldgefängnis geraten, und der junge Mann selbst hatte in einer Fabrik für Schuhwichse gearbeitet, ehe er seine vernachlässigte Schulbildung aufholen und Reporter werden konnte. Bald schrieb er Romane, und in diesen Romanen schrieb er über das, was seine Augen gesehen hatten: seine Augen hatten in die Gefängnisse, in die Armenhäuser, in die englischen Schulen hineingesehen, und was der junge Mann gesehen hatte, war wenig erfreulich, aber er schrieb darüber und das Merkwürdige war: seine Bücher wurden gelesen, sie wurden von sehr vielen Menschen gelesen und der junge Mann hatte einen Erfolg, wie er selten einem Schriftsteller beschieden ist: die Gefängnisse wurden reformiert, die Armenhäuser und Schulen einer gründlichen Betrachtung gewürdigt und: sie änderten sich. Allerdings: dieser junge Mann hieß Charles Dickens, und er hatte sehr gute Augen. Ein gutes Auge gehört zum Handwerkszeug des Schriftstellers, ein Auge, gut genug, ihn auch Dinge sehen zu lassen, die in seinem optischen Bereich noch nicht aufgetaucht sind. Nehmen wir an, das Auge des Schriftstellers sieht in einen Keller hinein: dort steht ein Mann an einem Tisch, der Teig knetet, ein Mann mit mehlbestaubtem Gesicht: der Bäcker. Er sieht ihn dort stehen, wie Homer ihn gesehen hat, wie er Balzacs und Dickens Augen nicht entgangen ist - den Mann, der unser Brot backt, so alt wie die Welt, und seine Zukunft reicht bis ans Ende der Welt. Aber dieser Mann dort unten im Keller raucht Zigaretten, er geht ins Kino, sein Sohn ist in Rußland gefallen, dreitausend Kilometer weit liegt er begraben am Rande eines Dorfes; aber das Grab ist eingeebnet, kein Kreuz steht darauf, Traktoren ersetzen den Pflug, der diese Erde sonst gepflügt hat. Das alles gehört zu dem bleichen und sehr stillen Mann dort unten im Keller, der unser Brot backt - dieser Schmerz gehört zu ihm, wie auch manche Freude dazu gehört. [...] Der BlindekuhSchriftsteller sieht nach innen, er baut sich eine Welt zurecht. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts lebte in einem süddeutschen Gefängnis ein junger Mann, der ein sehr dickes Buch schrieb; der junge Mann war kein Schriftsteller, er wurde auch nie einer, aber er schrieb ein sehr dickes Buch, das den Schutz der Unlesbarkeit genoß, aber in vielen Millionen Exemplaren verkauft wurde: es 74 ANHANG konkurrierte mit der Bibel! Es war das Buch eines Mannes, dessen Augen nichts gesehen hatten, der in seinem Inneren nichts anderes hatte als Haß und Qual, Ekel und manch Widerwärtiges noch - er schrieb ein Buch, und wir brauchen nur die Augen aufzuschlagen: wohin wir blicken, sehen wir die Zerstörungen, die auf das Konto dieses Menschen gehen, der sich Adolf Hitler nannte und keine Augen gehabt hatte, um zu sehen: seine Bilder waren schief, sein Stil war unerträglich - er hatte die Welt nicht mit dem Auge eines Menschen gesehen, sondern in der Verzerrung, die sein Inneres sich davon gebildet hatte. Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Und in unserer schönen Muttersprache hat Sehen eine Bedeutung, die nicht mit optischen Kategorien allein zu erschöpfen ist: wer Augen hat, zu sehen, für den werden die Dinge durchsichtig - und es müßte ihm möglich werden, sie zu durchschauen, und man kann versuchen, sie mittels der Sprache zu durchschauen, in sie hineinzusehen. Das Auge des Schriftstellers sollte menschlich und unbestechlich sein: man braucht nicht gerade Blindekuh zu spielen, es gibt rosarote, blaue, schwarze Brillen - sie färben die Wirklichkeit jeweils so, wie man sie gerade braucht. Rosarot wird gut bezahlt, es ist meistens sehr beliebt und der Möglichkeiten zur Bestechung gibt es viele -, aber auch Schwarz ist hin und wieder beliebt, und wenn es gerade beliebt ist, wird auch Schwarz gut bezahlt. Aber wir wollen es so sehen, wie es ist, mit einem menschlichen Auge, das normalerweise nicht ganz trocken und nicht ganz naß ist, sondern feucht - und wir wollen daran erinnern, daß das lateinische Wort für Feuchtigkeit Humor ist -, ohne zu vergessen, daß unsere Augen auch trocken werden können oder naß; daß es Dinge gibt, bei denen kein Anlaß für Humor besteht. Unsere Augen sehen täglich viel: sie sehen den Bäcker, der unser Brot backt, sehen das Mädchen in der Fabrik - und unsere Augen erinnern sich der Friedhöfe; und unsere Augen sehen Trümmer: die Städte sind zerstört, die Städte sind Friedhöfe, und um sie herum sehen unsere Augen Gebäude entstehen, die uns an Kulissen erinnern, Gebäude, in denen keine Menschen wohnen, sondern Menschen verwaltet werden, verwaltet als Versicherte, als Staatsbürger, Bürger einer Stadt, als solche, die Geld einzahlen oder Geld entleihen - es gibt unzählige Gründe, um derentwillen ein Mensch verwaltet werden kann. Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, daß der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden - und daß die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, daß man sich anmaßen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen. 75 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART Der Name Homer ist der gesamten abendländischen Bildungswelt unverdächtig: Homer ist der Stammvater europäischer Epik, aber Homer erzählt vom Trojanischen Krieg, von der Zerstörung Trojas und von der Heimkehr des Odysseus - Kriegs, Trümmer und Heimkehrerliteratur -, wir haben keinen Grund, uns dieser Bezeichnung zu schämen. Fragen zur Interpretation: 1. Wie hängen die Begriffe „Trümmerliteratur", „Stunde Null" oder „Literatur des Kahlschlags" zusammen? 2. Warum wählt Boll gerade Charles Dickens als Vorbild für seine Nachkriegsprosa? 3. Wie verstehen Sie die Metapher von dem „Auge des Schriftstellers"? 4. Und warum beruft sich Boll im letzten Absatz seines Essays auf Homer? 76 ANHANG Günter Grass: 1999 (der letzte Text im Buch Mein Jahrhundert, 1999) GEZWUNGEN HAT ER MICH NICHT, aber überredet, der Bengel. Das könnt er schon immer, bis ich endlich ja gesagt hab. Und nun leb ich angeblich noch, bin über hundert und bei Gesundheit, weil er das so will. Darin war er von Anfang an groß, als Dreikäsehoch schon. Könnt lügen wie gedruckt und wunderschöne Versprechungen machen: „Wenn ich mal groß und reich bin, dann reisen Wir, wohin du willst, Mama, sogar nach Neapel." Aber dann kam der Krieg, und dann wurden wir abgeschoben, erst in die Sowjetzone, dann Flucht in den Westen rüber, wo uns diese rheinländischen Bauern in der eiskalten Futterküche einquartiert und gepiesackt haben: „Geht doch hin, wo ihr hergekommen seid!" Dabei waren die katholisch wie ich. Aber schon zweiundfünfzig, als mein Mann und ich längst Wohnung hatten, stand fest, daß es Krebs war bei mir. Hab dann noch, während der Junge in Düsseldorf seine brotlose Kunst studiert und weiß nicht wovon gelebt hat. zwei Jahre durchgehalten, bis unsere Tochter mit ihrer Bürolehre fertig, aber sonst all ihre Wunschträume hinter sich hatte, die arme Marjell. Nicht mal achtundfünfzig hab ich geschafft. Und nun soll, weil er das unbedingt alles nachholen möcht, was mir, seiner armen Mama, entgangen ist, mein hundertsoundsovielter Geburtstag gefeiert werden. Gefallt mir sogar, was er sich heimlich ausgedacht hat. War schon immer zu nachsichtig, wenn er, wie mein Mann sagte, das Blaue vom Himmel runtergelogen hat. Doch das Seniorenheim mit Seeblick, das „Augustinum" heißt und in dem ich nun, weil er das will, versorgt bin, ist - da kann man nicht meckern -sogar von der besseren Sorte. Eineinhalb Zimmer hab ich, dazu Bad, Kochnische und Balkon. Farbfernseher hat er mir reingestellt und eine Anlage für diese neuen silbrigen Schallplatten, solche mit Opernarien und Operetten drauf, die ich schon immer gern gehört hab, vorhin noch aus dem „Zarewitsch" die Arie „Es steht ein Soldat am Wolgastrand..." Auch kleine und große Reisen macht er mit mir, neulich nach Kopenhagen, und nächstes Jahr wird es, wenn ich gesund bleib, endlich in den Süden bis nach Neapel gehen... Nun aber soll ich erzählen, wie es früher und noch früher gewesen ist. Sag ich ja, Krieg war, immerzu Krieg mit Pausen dazwischen. Mein Vater, der als Schlosser in der Gewehrfabrik gearbeitet hat, ist gleich anfangs bei Tannenberg 77 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART gefallen. Und dann zwei Brüder in Frankreich. Der eine hat gemalt, vom anderen sind sogar Gedichte in die Zeitung gekommen. Bestimmt hat mein Sohn das alles von den beiden mitgekriegt, denn mein dritter Bruder war Kellner nur, ist zwar weit rumgekommen, aber dann hat es ihn doch irgendwo erwischt. Muß sich angesteckt haben. Soll eine von diesen Geschlechtskrankheiten gewesen sein, mag gar nicht sagen, welche. Da ist meine Mutter ihren Jungs, noch bevor Frieden war, aus reinem Kummer nachgestorben, so daß ich mit meiner kleinen Schwester Betty, dem verwöhnten Ding, nun allein in der Welt stand. War ja gut, daß ich bei Kaisers Kaffee Verkäuferin und bißchen Buchführung gelernt hatte. So konnten wir dann, nachdem ich mit Willy verheiratet war und gleich nach der Inflation, als wir in Danzig den Gulden bekamen, das Geschäft, Kolonialwaren, aufmachen. Lief auch anfangs ganz gut. Und siebenundzwanzig, da war ich schon über dreißig, kam dann der Junge und drei Jahre später die kleine Marjell... Wir hatten ja außer dem Laden zwei Zimmer bloß, so daß das Jungchen für seine Bücher und seinen Farbkasten und seine Knetmasse nur unterm Fensterbrett eine Ecke gehabt hat. Aber das war ihm genug. Da hat er sich alles ausgedacht. Und nun zwingt er mich, wieder lebendig zu sein, verwöhnt mich -„Mamachen hier und Mamachen da" - und kommt im Seniorenheim mit seinen Enkelkindern an, die unbedingt meine Urenkel sein sollen. Sind auch ganz niedlich, aber bißchen dreibastig manchmal, so daß ich froh bin und aufatme, wenn die Balgen, darunter Zwillinge - helle Bürschchen, doch vorlaut - unten auf der Parkallee mit ihren Dingern, die wie Schlittschuhe ohne Eis sind und die geschrieben so ähnlich wie Skat heißen, aber von den Jungs Skäter genannt werden, rauf und runter flitzen. Kann ich vom Balkon aus sehen, wie der eine immer schneller sein will als der andere... Skat! Hab ich mein Lebtag lang gern gespielt. Meistens mit meinem Mann und mit Franz, meinem kaschubischen Cousin, der bei der Polnischen Post war und deshalb gleich anfangs, als wieder Krieg kam, erschossen wurde. War schlimm. Nicht nur für mich. Aber das brachte die Zeit so mit sich. Auch daß Willy in die Partei ging und ich bei der Frauenschaft war, weil man da umsonst Leibesübungen machen konnte, und auch der Junge beim Jungvolk in schicker Uniform... Später gab beim Skat meistens mein Schwiegervater den dritten Mann ab. War aber immer zu aufgeregt, der Herr Tischlermeister. Vergaß oft, den Skat zu drücken, worauf ich prompt Kontra gegeben hab. Spiel ich noch 78 ANHANG immer gern, sogar jetzt, wo ich wieder leben muß, und zwar mit meinem Sohn, wenn er seine Tochter Helene, die ja wie ich heißt, auf Besuch mitbringt. Spielt ziemlich gerissen, das Mädel, besser als ihr Vater, dem ich zwar das Skatspielen beigebracht habe, als er zehn oder elf war, der aber immer noch wie ein Anfänger reizt. Spielt seinen geliebten Herz Hand selbst dann, wenn er mit ner blanken Zehn dasitzt... Und während wir spielen und spielen und mein Sohn sich dauernd überreizt, sausen unten im Park vom „Augustinum" meine Urenkel auf ihren Skatern, daß man Angst kriegen möcht. Haben aber überall Polster drauf An den Knien, Ellbogen und an den Händen auch, sogar richtige Helme tragen sie, damit ja nichts passiert Lauter teures Zeug! Wenn ich da an meine Brüder denk, die im ersten Krieg schon gefallen oder sonstwie krepiert sind, die haben sich, als sie klein waren das war noch zu Kaisers Zeiten - aus der Langführer Aktienbrauerei ein ausgedientes Bierfaß besorgt, die Faßdauben auseinandergenommen, die Dinger mit Schmierseife eingerieben, sich dann die Dauben unter die Schnürschuhe gebunden und sind als richtige Skiläufer in den Jäschkentaler Wald, wo sie immerzu den Erbsberg rauf und runter Hat mischt gekostet, ging aber trotzdem... Denn wenn ich nur daran denk, was die Anschaffung von richtigen Schlittschuhen, solchen mit Schlüssel zum Anschrauben, für mich als kleine Geschäftsfrau bedeutet hat, und zwar für zwei Kinder... Denn in den dreißiger Jahren ging der Laden nur mäßig... Zuviel Pumpkundschaft und Konkurrenz... Und dann kam auch noch die Guldenabwertung... Zwar haben die Leute geträllert, „Alles neu macht der Mai, macht aus einem Gulden zwei...", aber knapp wurde es doch. Wir hatten in Danzig ja Guldenwährung, weil wir Freistaat waren, bis uns dann, als der nächste Krieg losging, der Führer mit seinem Gauleiter, Förster hieß der, „heim ins Reich" geholt hat. Ab dann ging alles über den Ladentisch gegen Reichsmark nur. Gab aber immer weniger. Mußte nach Ladenschluß Lebensmittelmarken sortieren und auf alte Zeitungen kleben. Manchmal half der Junge, bis sie auch ihn in Uniform steckten. Und erst nachdem der Russe über uns gekommen war, dann sich die Polen das letzte genommen haben, wonach wir Vertriebene wurden und all das Elend weiterging, bekam ich ihn wieder gesund zurück. War neunzehn inzwischen und kam sich erwachsen vor. Dann hab ich auch noch die Währungsreform erlebt. Vierzig Mark kriegte jeder vom neuen Geld. Das war ein harter Anfang für uns Flüchtlinge äussern Osten. Wir hatten ja 79 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART nuscht sonst... Das Fotoalbum... Und grad noch sein Briefmarkenalbum hab ich retten gekonnt. Und als ich dann starb... Aber nun soll ich, weil mein Sohn das so will, auch noch den Euro miterleben, wenn er denn ausgezahlt wird. Doch vorher will er unbedingt meinen Geburtstag feiern, den hundertdritten genau. Na, soll er von mir aus. Der Bengel ist inzwischen über siebzig schon und hat sich längst einen Namen gemacht. Kann aber nicht aufhören mit seinen Geschichten. Manche gefallen mir sogar. Aus anderen hätt ich bestimmte Stellen glatt weggestrichen. Aber Familienfeste, so richtig mit Krach und Versöhnung, hab ich schon immer gemocht, denn wenn wir Kaschuben gefeiert haben, wurde geweint dabei und gelacht. Anfangs wollte meine Tochter, die nun auch schon auf die siebzig zugeht, nicht mitfeiern, weil sie die Idee von ihrem Bruder, mich für seine Geschichten wieder lebendig zu machen, für zu makaber hält „Laß man, Daddau", hab ich zu ihr gesagt, „sonst fallt ihm noch was Schlimmeres ein." So ist er nun mal. Denkt sich die unmöglichsten Sachen aus. Muß immer übertreiben. Mag man gar nicht glauben, wenn man das liest... Nun kommt meine Tochter doch Ende Februar. Und ich freu mich schon auf all die Urenkel, wenn sie dann wieder unten im Park rumflitzen auf ihren Skä-tern, während ich vom Balkon runterguck. Und auf 2000 freu ich mich auch. Mal sehen, was kommt... Wenn nur nicht Krieg ist wieder... Erst da unten und dann überall... Fragen zur Interpretation: 1. Was verrät Grass in diesem Text über seine Vorfahren und über sich selbst? 2. Können Sie aus dieser Prosa Grass' Biografie rekonstruieren? 3. Welchen Krieg meint die Mutter in dem letzten Satz des Textes mit dem Krieg „Erst da unten"? 4. Welche Rolle haben in diesem Text die Passagen über die verschiedenen Währungen? 80 ANHANG Jahrhundertromane: Von Musil bis Grass - das Fünfgestirn des deutschsprachigen Erzählens (Ein Literaturbrief von Jochen Hieber in der Zeitschrift Deutschland, 1999) Jeweils 33 Schriftsteller, Kritiker und Germanisten sind jüngst vom Bertelsmann Verlag und vom Literaturhaus München angeregt und aufgefordert worden, eine Rangliste der wichtigsten deutschsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts zu erstellen. Drei Titel durfte jeder Juror nennen. Das Ergebnis der Umfrage kann sich mehr als sehen lassen. 76 Romane kamen insgesamt auf die Liste, nur 27 allerdings erhielten mehr als einen Punkt. Auf dem ersten Platz landete Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften" (35 Stimmen), dahinter folgen Franz Kafkas „Der Prozeß" (32), Thomas Manns „Der Zauberberg" (29), Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz" (18) und Günter Grass' „Die Blechtrommer" (11). Überzeugend ist die Liste zunächst, weil sie auf den ersten Plätzen keine Überraschungen bereithält. Die Juroren haben sich für die wirklich bedeutenden Werke entschieden - also gegen ihre Vorliebe für die Außenseiter des literarischen Lebens. Gewiß, es ließe sich trefflich streiten, ob Kafkas „Das Schloß" nicht doch seinen „Prozeß" überrage (tut es nicht), ob Thomas Manns „Buddenbrooks" nicht doch größer seien als „Der Zauberberg" (sind sie schon). Aber angesichts der unbestrittenen Sonderstellung dieser beiden Erzähler, die die Jahrhundertliste mit der Aufnahme all ihrer Romane angemessen widerspiegelt, sind solche Debatten müßig. Ohne sich abzustimmen, haben die Juroren ihre emphatische Erwartung an die Gattung des Romans erkennen lassen. Der Österreicher Musil, 1942 im Alter von 62 Jahren gestorben, hat seinen „Mann ohne Eigenschaften" als eine fast lebenslange „geistige Expedition und Forschungsfahrt" charakterisiert. Und am Sieger hat sich die Jury orientiert. Jene fünf Werke, die das Rennen machten, zeichnen sich dadurch aus, daß sie die Ziele ihrer poetischen Expeditionen sehr genau bestimmten - und von ihnen mit den reichsten Entdeckungen zurückkehrten. So ist „Der Mann ohne Eigenschaften" eine äußerst abenteuerliche Reise in die Seele des modernen Individuums geworden - und, am Beispiel Wiens, zugleich ein genaues Modell der europäischen Gesellschaft kurz vor und während des Ersten Weltkriegs. So ist „Der Prozeß" des Franz Kafka, der erstmals 1925 erschien, zum hellsichtigsten Porträt einer Spezies Mensch geraten, die das Jahrhundert abermillionenfach erst danach hervorbringen sollte: die Spezies der 81 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART unschuldigen, hingemordeten Opfer. So hat „Der Zauberberg", an dem Thomas Mann von 1913 bis 1924 arbeitete, das Pandämonium einer Krankheit zum Tode skizziert - und es, überaus prächtig, ausgemalt als Reigentanz zwischen Lebenswille und Sterbenslust. So hat „Berlin Alexanderplatz", Döblins genialer Wurf von 1929, den Rhythmus der Großstadt als Moloch einzigartig in Sprache zu übersetzen vermocht - und dabei das Gesetz formuliert, das hier herrscht: „Verflucht ist der Mensch, der sich auf Menschen verläßt." Und so ist schließlich „Die Blechtrommel", Grass Debütroman aus dem Jahr 1959, zum Triumph des Erzählens selbst gelangt - dank seiner unvergleichlichen Hauptfigur, des Kindphilosophen und Zwergmannes Oskar Matzerath. Sehr auffällig, daß die beiden erstplazierten Werke zu Lebzeiten ihrer Verfasser nicht oder nur in Teilen veröffentlicht, vor allem aber, daß sie nie zu Ende geschrieben wurden: Das Fragment, das Nicht-Fertige, ist das Zeichen des Jahrhunderts - und die teils schaudernde, teils erstaunte Verbeugung der Literatur vor einer Welt, die im Innersten nichts mehr zusammenhalten kann. Daß vier der fünf besten Romane aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts stammen, scheint für die relative Armut der Gegenwartsliteratur zu sprechen... Vielleicht benötigen wir zu den jüngeren Erzählbüchern etwa von Thomas Bernhard, Peter Handke, Martin Walser oder Robert Menasse auch noch jenen größeren zeitlichen Abstand, der ihren Rang besser erkennen läßt. Daß nur zwei Romane von Frauen mehr als eine Stimme erhielten - Ingeborg Bachmanns „Malina" und Anna Seghers' „Das siebte Kreuz" - , ist literarisch ebenso gerecht wie wahrscheinlich vorübergehend: Das 21. Jahrhundert könnte eines des weiblichen Erzählens werden. Die deutschen Großromane dieses Jahrhunderts aber können auch international bestehen. Musil, Kafka, Thomas Mann, Döblin und Grass: Das Fünfgestirn des deutschsprachigen Erzählens gehört zum Kernbestand der Weltkultur in unserer Zeit. 82 ANHANG Fragen zur Interpretation: 1. Wie viele Juroren waren an dieser Umfrage beteiligt? 2. Finden Sie in diesem Text auch Phrasen und Redewendungen aus der sportlichen Terminologie? 3. Wie würde Ihre persönliche Liste mit den besten Werken der deutschsprachigen Literatur aussehen, die Sie gelesen haben? 4. Wird der Text Recht behalten mit den abschließenden Worten über das kommende Jahrhundert des „weiblichen Erzählens"? 83 DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR SEIT 1933 BIS ZUR GEGENWART WEITERFUHRENDE LITERATUR BOK, Václav - MACHÁČKOVÁ-RIEGEROVÁ, Věra - VESELÝ, Jan a kol: Slovník spisovatelů německého jazyka a spisovatelů lužickosrbských. Praha 1987. 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