138 é Der Naturalismus und seine Gegenströmungen / DER NATURALISMUS UND SEINE GEGENSTRÖMUNGEN Unterhaltungsliteratur Neu romantík Expressionismus Impressionismus Gerhart Hauptmann • Die Weber • Vor Sonnenaufgang « BahnwärterThiei • Einsame Menschen • Der Biberpelz Die Ratten Arno Holz und Johannes Schlaf » Papa Hamlet Fami/ie Seiicke/ Symbolismus • Stefan George • Hugo von Hofmannstha , * Rainer Maria Rilke Impressionismus • Detlev von LiíÉencron • Hermann Bahr • Arthur Schnitzler y Zola Haeckel Comte Taine Ibsen Strindberg Turgenjew Tolstoj Dostojewskij HHHH ■Hb 9 Der Expressionismus (1910-1925) 9.1 Die Epoche des Expressionismus Der Begriff „Expressionismus" (lat. expressio: Ausdruck) meint eine Gegenbewegung zur Eindruckskunst des Impressionismus und zur l'art-pour-l'art-Gesinnung des Symbolismus. Ursprünglich wurde der Begriff für die junge Generation von Malern verwendet, die sich unter dem Einfluss von Cezanne und van Gogh 1905 in Dresden („Die Brücke": Nolde, Kirchner, Heckel, Schmidt-Rottluff) und 1910 in München („Der blaue Reiter": Kandinsky, Marc, Klee, Macke) zusammenfanden. Nicht mehr die nuancierten Eindrücke der Außenwelt, sondern der künstlerische Ausdruck der eigenen Innenwelt stand im Mittelpunkt des Interesses. Kurt Hiller übertrug den Stilbegriff auf die Literatur. Zeitlich läuft der Expressionismus mit dem Ersten Weltkrieg weitgehend parallel, doch weisen gerade die Dichtungen Heinrich Manns, Alfred Döblins und Franz Kafkas über die Epochengrenzen hinaus. 9.1.1 Die politische Situation Der Expressionismus war die Kunst einer Krisenzeit: Der Erste Weltkrieg warf seine Schatten voraus, der Krieg wurde schon Jahre vorher befürchtet. Nach Kriegsausbruch wich die anfängliche Begeisterung schnell dem Erschrecken über die bislang unbekannten Grauen, die der Krieg mit sich brachte. Als dann das Deutsche Reich als Verlierer aus dem Krieg hervorging, machte das eine völlige Umorientierung im Bewusstsein der Zeitgenossen notwendig: Der Kaiser dankte ab, die Monarchie wurde von der Republik abgelöst, die alten Werte erwiesen, sich als überholt. Doch auch die frühen Jahre der Weimarer Republik waren nicht unproblematisch: Die Dolchstoßlegende, also die von Hindenburg verbreitete These, das deutsche Heer sei „im Felde unbesiegt" geblieben, die revolutionären Ereignisse in der Heimat hätten die ungebrochene Kampffähigkeit der deutschen Truppen sabotiert, erwies sich als langfristige Belastung, ebenso die überzogenen Reparationsforderungen der Alliierten. Kapp-Putsch, Hitler-Putsch und politische Morde von links und rechts bestimmten das politische Leben in den Krisenjahren der Republik bis 1923. &4 é 139 140 / Der Expressionismus Der Expressionismus / 141 Zu der autoritären, obrigkeitsgläubigen Prägung und der politischen Unsicherheit kam die wirtschaftliche Ungewissheit (Ruhrbesetzung, Inflation), die es den Menschen schwer machte, die neue Staatsform nach demokratischen Mustern mitzugestalten. 9.1.2 Kulturelle Voraussetzungen Ein bedeutender Programmatiker der Zeit war Friedrich Nietzsche. In seiner frühen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1871) unterscheidet Nietzsche zwischen zwei Daseinsprinzipien, die er das Dionysische und das Apollinische nennt. Während das dionysische eine rauschhaft-sinn-liche Existenz beschreibt, steht das apollinische Prinzip für Maß und Harmonie; der Kunst schreibt Nietzsche die Aufgabe zu, beide Prinzipien miteinander zu vereinen. In Also sprach Zarathustra (1883 ff.) schuf er - beeinflusst von Arthur Schopenhauer und Charles Darwin - das Ideal des Ubermenschen, das vor allem als Kritik am Christentum zu verstehen ist, später jedoch von den Nationalsozialisten missverstanden und vereinnahmt wurde. Der Kulturpes-simismus Nietzsches beeinflusste auch die junge Generation, die glaubte, am Ende des bürgerlichen Zeitalters zu leben. Viel Beachtung fand auch das Werk Sören Kierkegaards, das auf den Existenzialismus weiter wirkte. Auch Sigmund Freud, Karl Marx und Friedrich Engels wurden rezipiert. 9.2 Die Literatur des Expressionismus Der gesellschaftliche Anknüpfungspunkt dieser Dichtung war das Unbehagen an der Vorkriegszivilisation, die durch die Saturiertheit und Selbstgefälligkeit des wilhelminischen Bürgertums gekennzeichnet war. Dieses hatte sich ganz dem Materialismus und dem Positivismus verschrieben. Den literarischen Anknüpfungspunkt stellte der Ästhetizismus des „Fin de Siede" dar. 9.2.1 Menschheitsdämmerung Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus und Expressionismus sind (wie die kleineren künstlerischen Strömungen Futurismus, Dadaismus, Kubismus) Versuche der Reaktion auf eine sich verändernde Gesellschaft, Umwelt und Politik. Das Dasein wurde um 1900 als zunehmend gefährdet empfunden, die Expressionisten sahen das Leben als verlogen und sinnlos an. In der Kunst ver- suchten sie. diese Existenzängste wenn nicht zu bewältigen, dann wenigstens zu benennen oder darzustellen. Die Autoren bedienten sich eines leidenschaftlichen Pathos („expressionistischer Schrei"), um ihren Vorstellungen von einem menschenwürdigen Dasein und einer neuen Brüderlichkeit Ausdruck zu verleihen. Dabei verstanden sich die Expressionisten als Antipoden zu den Impressionisten und Symbolisten. Während sie in diesen die spielerischen, melancholisch tändelnden Chronisten der Krise (Impressionisten) oder die Dichter jenseits der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit (Symbolisten) sahen, gaben sich die expressionistischen Autoren mit der Darstellung der Wirklichkeit nicht zufrieden - sie wollten die Realität verändern, die Wirklichkeit ihrem Ideal anpassen. Kurt Hiller spricht in diesem Zusammenhang Edvard Münch, Der Schrei (1895) von ..Aktivismus". Tradierte literarische Gesichtspunkte greifen nicht mehr, will man diese Richtung des Expressionismus verstehen. Formal-ästhetische Aspekte treten zugunsten von Satire und Polemik zurück. Ziel war die Befreiung des Menschen von den Zwängen der Maschinenwelt und des modernen Kapitalismus. Zu diesem Zweck sollten neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen, das den Menschen umgebende Milieu verändert werden. Intensität und Simultaneität waren die Schlagworte jener Zeit, die der Reizüberflutung durch die Großstadtwirklichkeit geschuldet waren. Erste Phase Neben dem Krieg thematisierten die expressionistischen Dichter vor allem in der Frühphase auch den Generationenkonflikt (Vater-Sohn-Problematik), also die Auflehnung gegen die väterliche und die staatliche Autorität. Walter Hasenclevers (1890-1940) Sohn, 1914 entstanden, war das erste öffentlich aufgeführte expressionistische Drama. Die bevorzugte Gattung dieser ersten Phase war die Lyrik. In Gedichten wurde die Sinnentleertheit des Daseins deutlich artikuliert, z. B. von Georg Heym (1887-1912), der die Großstadt als dämonisch, das Individuum bedrohend darstellt. Auch die Schrecken des Kriegs zeigt er in apokalyptischen Bildern, die 1912 in der Gedichtsammlung Umbra vitae erschienen sind. 142 f Der Expressionismus Der Expressionismus / 143 Die von Kurt Pinthus herausgegebene Anthologie Menschheitsdämmerung (1920) vereinigt die wichtigsten lyrischen Produkte der expressionistischen Richtung: u.a. Jakob van Hoddis (1887-1942), Georg Trakl (1887-1914), Gottfried Benn (1886-1956), Johannes R. Becher (1891-1958), Ernst Stadler (1883-1914) und Else Lasker-Schüler (1869-1945) sind hier vertreten. Zweite Phase In der zweiten Phase des Expressionismus, deren Beginn mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 zusammenfallt, setzten sich die Autoren verstärkt mit dem Krieg und seinen Folgen auseinander. Sie klagten in ihren Werken menschliche Wahrhaftigkeit ein und versuchten die Welt mithilfe der Literatur zu verbessern. Beschworen wurden nun Pazifismus, eine neue Brüderlichkeit und - v. a. von den jüdischen Dichtern - der Gedanke des Opfers; beispielhaft sind Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen (1913) und das Werk Yvan Gölls (1891-1950). Andere Autoren öffneten sich einer konkreten Gesellschaftskritik, z. 13. Carl Sternheim (1878-1942) in seinem Komödienzyklus Aus dem bürgerlichen Heldenleben (ab 1911). Der Expressionismus bezog nun eine klare Gegenposi-tion zu allen Entwicklungen, die die Autoren für die Entfremdung des Menschen verantwortlich machten: Militarismus und Kapitalismus, Mechanisierung und Industrialisierung. In der zweiten Phase des Expressionismus liegt das Schwergewicht der literarischen Produktion auf dem Drama. Carl Sternheim veröffentlichte Die Hose (1911) und Bürger Schippel (1913), Ernst Barlach (1870-1938) trat mit den Dramen Der tote Tag (1912), Der arme Vetter (1918) und Der blaue Boll (1926) hervor, Ernst Toller (1893-1939) mit Die Wandlung (1919), Masse Mensch (1920) und Die Maschinenstürmer (1922). Andere wichtige Dramenautoren sind: Johannes R. Becher, Franz Werfel (1890-1945), Georg Kaiser (1878-1945) und Frank Wedekind (1864-1918). 9.2.2 Literarische Gattungen Lyrik und Drama waren die am meisten gepflegten Gattungen des Expressionismus, die Epik trat demgegenüber in den Hintergrund. Lediglich Novellen und Erzählungen (z, B. von Kafka), also kleinere Formen, entstanden, denn sie Yvan Göll. Bleistiftzeichnung von Hans Richter (1917) entsprachen neben der Lyrik am ehesten der Schnelllebigkeit jener Zeit, Der expressionistische Roman gelang in literarisch-künstlerischer Vollendung nur Alfred Döblin mit Berlin Alexanderplatz (1929). Erwähnenswert sind Döblins expressionistische Novellen, z.B. Die Ermordung einer Butterblume (1910) sowie sein Roman Die drei Sprünge des Wang lun (1915). Weiter sind noch zu nennen: Gottfried Benns Gehirne (1914), Heinrich Manns (1871-1950) Der Vater und Robert Walsers (1878-1956) Der Spaziergang (1917). Die Lyrik des Expressionismus ist zum einen vom Naturalismus und vom Impressionismus beeinflusst. Auch an den Sturm und Drang knüpfte man an, indem das Gefühl betont und über den Verstand gestellt wurde. In der Lyrik fand die von Dynamik, Leidenschaftlichkeit, Pathos und bizarrer Bildlichkeit gekennzeichnete Sprache der Expressionisten ihren adäquaten Ausdruck. Zum anderen brachen zynische und kalte Gedichte in einem saloppen Alltagsstil mit formalen Konventionen. Besonders Gottfried Benn schockierte mit seiner Gedichtsammlung Morgue (1912) die Leser, indem er mit medizinischer Nüchternheit Leichen beschrieb und in der Nachfolge Baudelaires eine Ästhetik des Hässlichen in der deutschen Literatur etablierte. Im Drama glaubte man die Gegensätze, die man im Dasein erblickte, am besten darstellen zu können. Mit der Abkehr von Realismus und Naturalismus erfolgte auch eine Abkehr vom Bühnenrealismus: Die Autoren brachten meist keine individuellen Figuren mehr auf die Bühne, sondern zeigten modellhaft Typen, die die Stoffe transportieren sollten. Auch die Inszenierung von Massenszenen war ein expressionistisches Novum. Das expressionistische Drama ist sowohl als Vorläufer des politischen Thesenstücks (Piscator) wie auch des epischen (Brecht) und absurden Theaters (Beckett, Ionesco) zu sehen. 9.2.3 Literarisches Leben: Massenkultur und Kino Berlin war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das herausragende kulturelle Zentrum in Deutschland, Hier befanden sich die großen Verlagshäuser, auch der Hauptsitz des Hugenberg-frnperiums, die modernsten Lichtspielhäuser, die das neue Medium Film darboten, und hier lebten viele der jungen, progressiv gesinnten Autoren. Auch sie waren vom Film beeinflusst, sei es, dass sie Szenen schreiben wollten, sei es, dass sie in ihre literarischen Werke Stilmittel aufnahmen, die sie aus der Welt des Films entliehen; man denke nur an die Montagetechnik oder den Bewusstseinsstrom, wie sie Döblin in seinem Roman Berlin Alexanderplatz einsetzte. 144 / Der Expressionismus Die Expressionisten, und zwar Maler, Graphiker und Dichter in enger Zusammenarbeit, sammelten sich um Zeitschriften Seit 1910 erschienen in Berlin Die Aktion und Der Sturm. 9.3 Autoren und Werke 9.3.1 Brechts expressionistische Anfänge: „Trommeln in der Nacht" Kurzbiografie: 1898 1917-1921 1922 1928 1933-1948 1949 1956 Bertolt Brecht geboren in Augsburg als Sohn eines Kaufmanns Studium der Medizin und Literatur in München Trommeln in der Nacht (Drama) Dreigroschenoper (Drama) Emigration nach Dänemark, Finnland, schließlich in die USA Mutter Courage und ihre Kinder (Drama) Der gute Mensch von Sezuan (Drama) Leben des Galilei (Drama) Gründung des „Berliner Ensembles" (nach seiner Rückkehr nach Ost-Berlin) Kleines Organonfiir das Theater gestorben in Berlin (Ost) Bertolt Brecht war vor allem in den vierziger Jahren als Vertreter eines neuartigen „epischen Theaters" zu Ruhm gekommen. Doch seine Anfänge als Dramatiker liegen im Expressionismus, wie die frühen Dramen Baal (1918), Trommeln in der Nacht (1919) und Im Dickicht der Städte (1924) zeigen. Trommeln in der Nacht ist das erste Drama Brechts, das aufgeführt wurde (1922 in München). Brecht erhielt für dieses Stück den Kleist-Preis. Die zentrale Figur der „Komödie" Trommeln in der Nacht ist der Kriegsheimkehrer Andreas Kragler. Vier Jahre vermisst, kommt er in den Wirren des Spartakus-Aufstandes (1918/19) nach Berlin zurück. Seine Verlobte hatte sich zwischenzeitlich von ihm abgewandt - Grund für Kragler, sich den Revolutionären anzuschließen. Doch als es zur familiären Aussöhnung kommt, erteilt Kragler der Revolution eine Absage und kehrt zu seiner Verlobten zurück. Der Expressionismus / Szenenfoto aus Brechts Trommeln in der Nacfit in der Inszenierung von Otto Falckenbergan den Kammerspielen München 1922 Kraglers Rückzug von den revolutionären Aktionen ins private Glück wird im letzten Akt deutlich. Hier findet sich auch schon ansatzweise der erst in den folgenden Jahren von Brecht erarbeitete Verfremdungseffekt, etwa wenn Kragler das Publikum direkt anspricht („Glotzt nicht so romantisch") oder wenn der Zuschauer der Illusion beraubt wird („Mond, der ein Lampion war"): Kragler. Fast ersoffen seid ihr in euren Tränen über mich, und ich habe nur mein Hemd gewaschen mit euren Tränen! Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, daß eure Idee in den Himmel kommt? Seid ihr besoffen? Anna. Andree! Es macht nichts! 5 Kragler siefir ihr nicht ins Gesicht, trollt sich herum, langt sich an den Hals: Ich hab's bis zum Hals! Er lacht ärgerlich. Es ist gewöhnliches Theater. Es sind Bretter und ein Papiermond und dahinter die Fleischbank, die allein ist leibhaftig. Er läuft wieder herum, die Arme hängend bis zum Boden, und so fischt er die Trommel aus der Schnapskneipe. Sie haben ihre Trommel liegen lassen. io Er haut drauf. Der halbe Spartakus oder Die Macht der Liebe. Das Blutbad im Zeitungsviertel oder Jeder Mann ist der beste Mann in seiner Haut. Sieht auf, blinzelt. Entweder mit dem Schild oder ohne den Schild. Trommelt. Der Dudelsack pfeift, die armen Leute sterben im Zeitungsviertel, die Häuser fal-en auf sie, der Morgen graut, sie liegen wie ersäufte Katzen auf dem Asphalt, 15 ich bin ein Schwein, und das Schwein geht heim. Er zieht den Atem ein. Ich ziehe ein frisches Hemd an, meine Haut habe ich noch, meinen Rock ziehe ich aus, meine Stiefel fette ich ein. Lacht bösartig. Das Geschrei ist alles vorbei, morgen früh, aber ich liege im Bett morgen früh und vervielfältige mich, daß ich nicht aussterbe. Trommelt. Glotzt nicht so romantisch! Ihr Wucherer! 2o Trommelt. Ihr Halsabschneider! Aus vollem Halse lachend, fast erstickend: Ihr blutdürstigen Feiglinge, ihr! Sein Gelächter bleibt stecken im Hals, er kann 146 / Der Expressionismus Der Expressionismus ŕ 147 nicht mehr, er torkelt herum, schmeißt die Trommel nach dem Mond, der ein Lampion war, und die Tronanel und der Mondfallen in den Fluß, der kein Wasser hat. Besoffenheit und Kinderei. Jetzt kommt das Bett, das große, weiße, 25 breite Bett, komm! Anna. O Andree! kragler^fii/rrt sie hinter. Hast du auch warm? Anna. Aber du hast keine Jacke an. Sie hilft ihm hinein. Kragler. Es ist kalt. Er legt ihr den Schal um den Hals. Komm jetzt! jo Die beiden gehen nebeneinander, ohne Berührung, Anna etwas hinter ihm. In der Luft, hoch, sehr fern, ein weißes, wildes Geschrei: das ist in den Zeitungen. Kragler hält ein, horcht, legt stehend den Arm um Anna: Jetzt sind es vier Jahre. Während das Geschrei andauert, gehen sie weg. Aus-.fi. Brecht, frühe Stücke. Baal.Trammeln in der Nacht. Im Dickicht der Städte. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1976, S. 136 ff. 9.3.2 Lyrik des Expressionismus: Heyms „Die Stadt" Kurzbiografie: Georg Heym 1878 geboren in Hirscfiberg (Schlesien) 1907-1911 Studium der Rechtswissenschaften und der Orientalistik in Würzburg, Jena und Berlin 1911 Der ewigeTag (Gedichte) 1912 Heym ertrinkt in der Havel 1912 Umbra vitae (Gedichte; posthum veröffentlicht) 1913 Der Dieb (Novelle; posthum veröffentlicht) Der jung verstorbene Heym ist einer der großen expressionistischen Lyriker. Ihm gelang es, Alltägliches neu ins Blickfeld zu rücken, Bekanntes zu dämonisieren. Sein Gedicht Die Stadt, das sich in der Tradition kulturkritischer Stadtgedichte der Jahrhundertwende weiß, zeigt, wie Heym mithilfe einer exakten, auf das Wesentliche reduzierten Sprache das Ungenügen der jungen Generation an den für starr und überkommen empfundenen gesellschaftlichen Verhältnissen und der für bedrohlich gehaltenen Zivilisation ausdrückte. Die Stadt Sehr weit ist diese Nacht. Und Wolkenschein Zerreißet vor des Mondes Untergang. Und tausend Fenster stehn die Nacht entlang Und blinzeln mit den Lidern, rot und ldein. 5 Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt, Unzählig Menschen schwemmen aus und ein. Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein Eintönig kommt heraus in Stille matt. Gebären, Tod, gewirktes Einerlei, io Lallen der Wehen, langer Sterbeschrei, Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei. Und Schein und Feuer, Fackeln rot und Brand, Die dröhn im Weiten mit gezückter Hand Und scheinen hoch von dunkler Wolkenwand. Aus: G. Heym, Das lyrische Werk. Hg. v. K, L. Schneider. München 1977, S. 452 Heym benützt hier die Form des Sonetts, als Versmaß den fünfhebigen Jambus mit durchgängig männlichen Kadenzen. Dies ergibt ein Spannungsmoment, stehen doch die hermetische Geschlossenheit und Formstrenge in diametralem Gegensatz zum Inhalt. Dem Dichter gelingt es so, eine bedrohliche Grimdstimmung, verstärkt durch Wortwiedeiholungen („stumpf), Alliterationen („Fackel, Feuer") und Inversionen („Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt"), herzustellen. Asyndetische Reihung („Gebären, Tod, gewirktes Einerlei") und Anaphern („und") stellen den Bezug zum Inhalt des Gedichtes her: Gibt Heym in der ersten Strophe das Antlitz der nächtlichen Stadt mithilfe verfremdender Bilder lediglich wieder, so steigert sich die dichterische Aussage über die zweite Strophe, wo der gleichförmige Rhythmus, die Monotonie städtischen Lebens, verdeutlicht wird, zur dritten Strophe, in der die Sinnlosigkeit der Existenz festgestellt wird, bis hin zur vierten Strophe, die Untergang und Tod visionär beschwört. Max Ernst, Mond über der Stadt (ca. 1916) Expressionismus 9.33 Die Parabel bei Kafka: „Der Steuermann4' Kurzbiografie : Franz Kafka 1883 geboren m Prag als Sohn eines Kaufmanns 1901-1906 Jura-Studium in Prag, Promotion 1908 angestellt bei einer Versicherung in Prag 1912 Das Urteil (Erzählungen) 1915 Die Verwandlung (Erzählung) 1917 Bericht für eine Akademie (Erzählung) 1917 Krankheit (Kehlkopftuberkulose) 1922 Der Hungerkünstler (Erzählung) 1924 gestorben in einem Sanatorium bei Wien 1925 Der Proceß (Roman; posthum veröffentlicht) 1926 Des Schloß (Roman; posthum veröffentlicht) 1927 Amerika (Roman; posthum veröffentlicht) Kafka gehörte nicht unmittelbar zum Kreis der expressionistischen Autoren. Seine Dichtung ist dem Surrealismus zuzurechnen und erinnert an E. T. A. Hoffmann (1776-1822) und Edgar Allan Poe (1809-1849). Kafkas Romane und Erzählungen gründen in ihrer allgemein-abstrakten Welterfahrung in persönlichen Stimmungen und Befindlichkeiten, sie sind vor allem durch einen als übermächtig und unnahbar empfundenen Vater geprägt. In der Erzählung Die Verwandlung (1915) beschreibt Kafka den Handlungsreisenden Gregor Samsa, der über Nacht zu einem riesigen Insekt geworden ist. Die Familie, für deren Existenz Gregor bislang sorgte, wendet sich voll Grauen von ihm ab, bis er am Ende jämmerlich zugrunde geht. Kafka ist auch Autor von drei Romanen: Der Proceß, Das Schloss und Amerika. Alle drei sind jedoch Fragment geblieben und wurden vom Autor selbst nicht veröffentlicht; ganz im Gegenteil; Kafka bat seinen Freund Max Brod, die Texte zu vernichten. Brod setzte sich aber über diesen Wunsch hinweg und rettete so diese Werke für die Nachwelt. Der einzelne Mensch, der in die Welt geworfen wurde und diese nicht versteht und selbst von seinen Mitmenschen nicht verstanden, ja oft gar nicht wahrgenommen wird - das ist die Grundsituation in vielen Prosastücken Kafkas. Auch in der Parabel Der Steuermann (1920) finden sich Anklänge daran. Da eine Parabel, also eine Gleichniserzählung, nicht historisch oder geographisch festgemacht werden kann, dient sie vor allem zur Darstellung überzeitlicher, allgemein gültiger Wahrheiten. Kafka bediente sich gerne dieser Form, mit deren Hilfe er Probleme, die ihn selbst beschäftigten, verschlüsseln konnte. Der Expressionismus / Franz Kafka: Der Steuermann „Bin ich nicht Steuermann?" rief ich. „Du?" fragte ein dunkler hoch gewachsener Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwach brennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann gekommen und 5 wollte mich beiseite schieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz herumriß. Da aber faßte es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannsctiaftsraum führte und rief: „Mann-o schaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!" Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. „Bin ich der Steuermann?" fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum und, als er befehlend sagte: „Stört mich nicht", sammelten sie sich, nickten mir ■ zu und zogen wieder die Schiffsffeppe hinab. Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde? Aus: F. Kafka, Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a. M. 1970, S. 319 I^A. ^~A> w-; ^eL'^. v^^, T?t,f _ . ..... f^-^XV^»^^ Ů tlJUvlív- "R^,ljřÍU~v /W/A. ryřjfjl to, lA-t^s Autograf der ersten Seite von Franz Kafkas 1912 entstandener Erzählung Die Verwandlung, die wie viele seiner Werke einen Vater-Sohn-Konfliltt und die Hilflosigkeit des Individuums thematisiert ^F^^freJ^^tj ^íu>^t-v ^\ í (ku ř^t^ uitJ !yí^^**v ow\hjitfy, tfó^jy^ ji^cL í-i-w 1 "^|-i^ft*Av tvJr^e^^v CtjÍ- . ' ^_ ■ ^ ^ti. ■^fcs*' UlróvL - lU^í^.^ 150 / Oer Expressionismus / LITERATUR DES EXPRESSIONISMUS 1912 1913 1914 1915 1917 1920 1922 1924 1925 Epik Lyrik DBblin: Die Ermordung einer Butterblume Heym: Der ewige Tag Benn: Morgue Stramm-. Gedichte Dramatik Sternheim: Die Hose Kafka: Die Verwandlung Benn.: Gehirne Döblin. Die drei Sprünge des Wang Lun Stadler: Der Aufbruch Sorge: Der Bettler Barlach: Der tote Tag Sternheim: Bürger Schippe/ Kaiser: Die Bürger ran Calais Trakl: Die Dichtungen Lasker-Schüler: Gesammelte Gedichte Werfet Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig Pinthus (Hg.): Menschheit!-dämmerung Dublin: Berge, Meere und Giganten _ Toller: Masse Mensch Toller: Die Maschinenstürmer Brecht: Im Dickicht der Städte 10 Weimarer Republik und Drittes Reich (1918-1945) 10.1 Die Zeit von 1918 bis 1945 Handelte es sich beim Expressionismus noch um eine relativ einheitliche Epoche, der man gewisse Kennzeichen zuschreiben kann, so löste sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die literarische Entwicklung in verschiedene, zeitlich parallel verlaufende Strömungen auf. Daher erscheint es sinnvoll, die moderne Literatur analog zur politischen Entwicklung darzulegen und mit Begriffen zu bezeichnen, die ihrerseits wieder auf diese zurückverweisen. 10.1.1 Die politische Situation Die Weimarer Republik hatte von Anfang an mit enormen Problemen zu kämpfen. Die Annahme des Friedensvertrags wurde Deutschland aufgezwungen; demokratisch gesinnte Politiker wurden als Novemberverbrecher verunglimpft; die Dolchstoßlegende entbehrte jeder Grundlage; die Abdankung Kaiser Wilhelms II. war keine nationale Schmach, sondern ein Gebot der Stunde. Auch die Reparationsforderungen der Alliierten (20 Milliarden Goldmark bis zum Jahr 1921) und ihre verständliche Forderung nach Abbau der deutschen Truppen (100000-Mann-Heer) trugen nicht zur Stabilisierung der politischen Lage der Republik bei. Verhängnisvoll für das Selbstverständnis auch der demokratisch gesinnten Deutschen wirkten sich jedoch die Gebietsabtretungen aus, denen Deutschland zustimmen musste: Elsass-Lothringen (an Frankreich), Teile West- und Ostpreußens sowie Oberschlesien (an Polen) und das Hultschiner Land (an die Tschechoslowakei). Eine weitere Belastung stellte der Art. 231 des Versailler Vertrags dar. Deutschland und seinen Verbündeten wurde die alleinige Kriegsschuld zugeschrieben. Trotz dieser widrigen Ausgangsbedingungen konnte sich die junge Republik über das Krisenjahr 1923 (Ruhrkampf, Inflation, separatistische Bewegungen und Hitler-Putsch) zu einem kulturell und wirtschaftlich blühenden Staat entwickeln. Die so genannten „goldenen Zwanziger" (gemeint sind die Jahre zwischen 1924 und 1929) zeigen dies.