Franz Patocka Morphologie und Wortbildung des Deutschen l. Zum Gegenstand der Morphologie Die Morphologie beschäftigt sich mit der internen Struktur von Wörtern und den dabei wirksamen Gesetzmäßigkeiten und Regeln. Der traditionelle Kernbereich der Morphologie ist die Formenlehre (Flexionslehre), die wir in diesem Rahmen nicht in allen Einzelheiten zu besprechen haben. Ausführlich ist hingegen auf die nach neuerer Auffassung relevanten morphologischen Einheiten einzugehen, also auf die kleinsten bedeutungstragenden Bestandteile der Sprache. Als Ergebnisse des Segmentierens sind dies zunächst die Morphe; diese können abstrakten Einheiten, den Morphemen, zugeordnet werden. Parallel zu den Allophonen in der Phonologie können auch in der Morphologie Varianten auftreten, so genannte Allomorphe. Im Zusammenhang mit all diesen Einheiten wird eine Reihe von Einzelfragen zu klären sein. Ein wichtiger Themenkomplex ist auch die Wortbildungslehre, die sich mit den Vorgängen bei der Bildung komplexer Wörter beschäftigt. Dabei wird in dieser Darstellung zunächst die Frage nach den Ursachen für solche Prozesse gestellt, sodann werden die einzelnen Wortbildungsarten aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, vor allem die Komposition und die Derivation. Wenn in der Morphologie von der internen Wortstruktur die Rede ist, so erhebt sich zunächst einmal die Frage, was man überhaupt unter einem Wort zu verstehen hat. Eine eingehende Behandlung dieser Thematik, die auch die definitorischen Schwierigkeiten vor Augen führt, wird am Beginn der folgenden Ausführungen stehen. Daran knüpft sich eine - ebenfalls problemorientierte - Erörterung der Möglichkeit einer Subklassifizierung des Wortschatzes in Wortarten. 2. Der Wortbegriff Der Begriff Wort scheint nach dem Alltagsverständnis nicht allzu problematisch zu sein. Jeder ist in der Lage, auf Aufforderung ein paar beliebige "Wörter" zu nennen, ohne lange zu überlegen (z.B. Haus, rot, essen, ich etc.). Das Wort wird offenbar als eine der Grundeinheiten der Sprache empfunden, über die man nicht lange diskutieren muss, da ohnehin klar zu sein scheint, was darunter zu verstehen ist. In der Sprachwissenschaft hingegen gehört die Wortdefinition zu den brennendsten Problemen, weil das Wort nach sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten definiert werden kann. Mit den Kriterien, die zur Ermittlung von Wörtern dienen können, sowie der damit verbundenen Problematik befasst sich der folgende Abschnitt (nach BERGEN-HOLTZ/ MUGDAN 1979). 2.1. Mögliche Definitionskriterien 2.1.1. Orthografische Kriterien Vielfach werden als Wörter Einheiten aufgefasst, die im Schriftbild durch Abstände isolierbar sind. Dieses plausibel klingende Rezept ist freilich nicht immer ganz zuverlässig, unter anderem dann nicht, wenn die kodifizierte Orthografie gleichermaßen Getrennt- und Zusammenschreibung gestattet, vgl. (l) Das instandzusetzende Gerät wird abgeholt. (l a) Das instand zu setzende Gerät wird abgeholt. Ob der Satz nun 5 oder 7 Wörter enthält, ist also, wenn man sich auf die orthografische Ebene beschränken will, nicht zu beantworten. 2.1.2. Kriterium der Isolierbarkeit durch Sprechpausen Mit diesem Kriterium ist nicht gemeint, dass beim Sprechen immer genau dort Pausen gemacht werden, wo Wortgrenzen sind; vielmehr will es besagen, dass Wörter diese Weise potentiell voneinander separierbar sind. Es ist aber einleuchtend, dass der Praxis nicht allzu gut damit operiert werden kann. In der Sprachwirklichkeit werden z.B. Sequenzen wie Artikel + Adjektiv + Substantiv (eine alte Frau, der kleine Prinz) kaum jemals mit einer hörbaren Pause gesprochen, so dass ein allein auf den Hörbefund angewiesener Nicht-Muttersprachler nach diesem Kriterium kaum richtig segmentieren imstande wäre. Es wurde von Linguisten zwar vorgeschlagen, zum Zweck der Ermittlung der in einer Äußerung enthaltenen Wörter einen Sprecher dazu aufzufordern, diese Äußerung bewusst langsam und sorgfältig zu wiederholen, doch sind Bedenken anzumelden, ob dies immer zielführend wäre. Die Pausen würden vermutlich genau dort gesetzt, wo beim Schreiben Zwischenräume stünden, und damit würde das orthografische Problem lediglich auf die gesprochene Sprache übertragen. 2.1.3. Kriterium der Kohäsion Wenn gesagt wird, dass sich Wörter gegenüber Nicht-Wörtern durch Kohäsion auszeichnen, so ist damit einerseits gemeint, dass sie nur als Ganzes im Satz verschiebar sind, nicht aber Teile davon; andererseits wird damit die innere Stabilität angesprochen, also der Umstand, dass sich in ein Wort nichts anderes einschieben lässt. Beides ist grundsätzlich richtig, doch treten auch hier Schwierigkeiten auf: Zum einen sind die verschiebbaren (permutablen) Einheiten in Sätzen keineswegs mit dem deckungsgleich, was wir uns unter Wörtern vorstellen, sondern es sind vielfach größere Einheiten, die ihre Position wechseln können; vgl. (2) Den ganzen langen Winter sind wir in der Stube gesessen. (2a) Wir sind den ganzen langen Winter in der Stube gesessen. Dass die Teile den, ganzen, langen und Winter in anderen Zusammenhängen isoliert verschiebbar sein können, ist unbestritten, tut aber im konkreten Fall nichts zur Sache. Mit Hilfe des Permutationskriteriums bestünde keine Möglichkeit, anhand dieses Satzes und seiner Wortstellungstransformationen die Sequenz den ganzen langen Winter anders als ein einziges Wort zu verstehen. Abgesehen davon sind die Permutationsmöglichkeiten von Sprache zu Sprache sehr unterschiedlich. Mit einigen Einschränkungen ist dieses Kriterium vielleicht für das Lateinische oder das Deutsche sinnvoll anwendbar, kaum hingegen für das Englische oder das Französische, da diese sprachen ziemlich feste Wortfolgen aufweisen. Die angesprochene innere Stabilität kann ebenfalls nicht völlig überzeugen. Zwar ist es richtig, dass sprachliche Gebilde wie Unwetter oder veränderlich nicht durch andere unterbrochen werden können; trotz ihres komplexen Baues (Un-wetter bzw. ver-änder-lich) sind sie jeweils als ein einziges Wort anzusehen. Betrachtet man aber etwa das Adjektiv billige, so wird offenkundig, dass dieses Kriterium keine verlässliche Handhabe zur Identifikation von Wörtern liefert: Der Komparativ bzw. Superlativ wird gebildet, indem ein -er- bzw. -st- "eingeschoben" wird (billig-er-e bzw. billig-st-e), was aber offenkundig keinen vernünftigen Grund abgibt, der Einheit billige den Wortstatus abzuerkennen. Ähnlich verhält es sich mit Wörtern wie sichtbar, deren Bestandteile unter Umständen ebenfalls "gespalten" werden können: (3) Das Auto war deutlich sicht- und hörbar. Freilich wird man einwenden können, diese Gegenbeispiele seien sehr heterogen und durch zusätzliche Spezifikationen der Definition eliminierbar; dennoch wirft die angebliche innere Stabilität zu viele Probleme auf, als dass man mit einem solchen Kriterium dem Wesen des Wortbegriffes entscheidend näher kommen könnte. 2.1.4. Phonologische Kriterien Von Versuchen, anhand von Sprechpausen Wörter voneinander zu sondern, war bereits die Rede. Daneben gibt es auch andere Definitionsvorschläge auf der Basis von lautlichen Gegebenheiten. Dabei operiert man mit den verschiedensten Grenzsignalen, also Kennzeichen, die - direkt oder indirekt - anzeigen, wo ein Wort beginnt und wo es endet. Aus der Fülle der Möglichkeiten seien hier einige herausgegriffen und kritisch kommentiert: Sprachen, in denen die Wörter stets auf derselben Silbe betont werden, scheinen eine recht einfache Handhabe zu bieten, aus einer Lautkette die einzelnen Worteinheiten zu ermitteln. So liegt etwa im Finnischen der Akzent immer auf der ersten Silbe, z.B.: (4) Matka kestää kaksipäivää ("die Reise dauert zwei Tage"). Jemand, der des Finnischen nicht mächtig ist, sollte also ohne Schwierigkeiten in der Lage sein, dieses Lautkontinuum in die vier oben stehenden Wörter zu zerlegen, indem er immer dort, wo eine Silbe akzentuell hervorsticht, den Anfang eines neuen Wortes ansetzt. Bei dem bewusst einfach gewählten Beispiel scheint dies problemlos zu funktionieren, doch selbst hier ergeben sich Hindernisse: Zum einen ist es denkbar, dass der Hörer z.B. beim Numerale kaksi überhaupt keinen Akzent wahrnimmt, sodass er wohl oder übel die Folge kestääkaksi als ein Wort segmentiert. Doch auch dann, wenn der Sprecher die vier Wörter deutlich akzentuiert, bestehen Schwierigkeiten: Nur derjenige, der die Sprache beherrscht, weiß, dass eine Wortgrenze z.B. nur zwischen matka und kestää liegt und nicht etwa zwischen *matkak und *estää. Segmentierungsprobleme gibt es auch in einem polnischen Satz wie dem folgenden: (5) Sekretarka pracuje w Lidzbarku ("die Sekretärin arbeitet in Lidzbark"). Aufgrund der Regel, nach der im Polnischen der Akzent (fast) immer auf der vorletzten Silbe liegt, erscheint es, ähnlich wie in unserem Beispiel aus dem Finnischen, möglich, Wörter zu ermitteln. Hier kommt zu den erörterten Problemen allerdings noch ein weiteres hinzu: Die Lautkette, die als [sekre'tarkapra'tsujevlidz'barku] zu transkribieren wäre, erlaubt es bestenfalls, [sekre'tarka], [pra'tsuje] und [vlidz'barku] voneinander zu scheiden; die Präposition w "in", die nicht akzentuierbar ist und sich phonetisch in keiner Weise vom Anlaut des Folgewortes abhebt - auch eine Pausierung zwischen w und Lidzbarku wäre unmöglich -, könnte mit Hilfe der polnischen Betonungsregeln auf keine Weise als Wort ermittelt werden. Das an sich schon fragwürdige Verfahren hat außerdem den Nachteil, dass es nur für eine begrenzte Zahl von Sprachen Ergebnisse liefern könnte. In Sprachen mit unfesten Akzentverhältnissen wie dem Russischen, Griechischen, aber auch dem Deutschen (vgl. Abend, beobachten, herab} ist ein solches Unterfangen von vornherein nicht sinnvoll. Es gibt aber auch noch andere Versuche, mit Hilfe phonologischer Kriterien Wörter aus einer Redekette zu isolieren, die hier nur angedeutet seien: Als Indikatoren für Wortgrenzen können auch bestimmte Vokale, Konsonanten bzw. Lautkombinationen herangezogen werden, die nur im Anlaut bzw. Auslaut von Wörtern möglich sind. Weiters wird für Sprachen mit so genannter Vokalharmonie, also der artikuatorischen Anpassung der Vokale eines Wortes aneinander (vgl. türkisch evler "Häuser", atlar "Pferde"), postuliert, Wortgrenzen ließen sich immer dort ausmachen, wo sich die Vokalqualität ändert. All diese Verfahren können lediglich eine Hilfestellung beim Segmentieren in Wörter bieten. Absolut gesehen, scheitern sie letztlich an einem grundsätzlichen Problem: Die mit Hilfe solcher Kriterien ermittelbaren Einheiten werden sich nur dann zu hundert Prozent mit Wörtern decken, wenn der Segmentierende schon vorher weiß, wie diese auszusehen haben, und damit erweisen sich derartige Kriterien als wenig brauchbar. 2.1.5. Semantische Kriterien Man hat auch versucht, das Wort mit Hilfe der Semantik in den Griff zu bekommen. Nach landläufiger Ansicht hat jedes Wort eine "Bedeutung", und es erscheint daher sehr nahe liegend, auf dieser Basis zu einer befriedigenden Definition zu gelangen. Eine alte Ansicht ist die, dass das Wort ein Ausdruck für eine einzelne Vorstellung bzw. Bedeutung sei. Es erhebt sich dabei aber die Frage, was man unter einer "einzelnen Bedeutung" zu verstehen hat. Hat z.B. Mädchen eine einzelne, unteilbare Bedeutung? Ist dessen Bedeutung nicht vielmehr zusammengesetzt, etwa aus "Mensch", "weiblich", Jung" o.a.? Offensichtlich ist ein sprachlicher Ausdruck wie rot-weiß-rot aus mehreren Einzelvorstellungen zusammengesetzt; repräsentiert er deswegen auch mehrere Wörter? Hier mag genügen, dass Wörter wie glaubt oder Kinder keineswegs als kleinste Einheiten mit einer Bedeutung gelten können; in glaubt haben sowohl glaub- als auch -t eine Semantik (letzteres bedeutet "3. Person Singular Indikativ Präsens"), in Kinder hat -er die semantische Dimension "Plural". Es lässt sich sogar behaupten, dass für die Singularform Kind dasselbe gilt, da sich dahinter eigentlich Kind + "null" verbirgt, wobei "null" für die Bedeutung "Singular" sorgt. !!! Die Abgrenzung des Begriffes "Wort", sowie die Definition des Lexems und die Unterscheidung beider Begriffe siehe Vorlesungen.) 2.2. Ein neuerer Versuch zur Wortdefinition Wie dem Vorhergehenden zu entnehmen war, hat die Linguistik größte Schwierigkeiten, einen so zentralen Begriff wie das Wort abzugrenzen, weil jedes Kriterium, das man zugrunde legt, entweder nur für eine begrenzte Anzahl von Sprachen Gültigkeit hätte oder teilweise zu Ergebnissen führen würde, die dem üblichen Verständnis radikal widersprechen. Aus diesem Grunde wird das Wort vielfach als eine zwar intuitiv "reale", wissenschaftlich jedoch nicht seriös diskutierbare Einheit angesehen. Dennoch gibt es nach wie vor die Meinung, der Wortbegriff dürfe nicht über Bord geworfen werden, sondern müsse auf der Basis anderer Prinzipien definiert werden, als dies bisher der Fall war. Ein interessanter Versuch stammt von VATER (1994), der davon ausgeht, dass es nicht das Wort schlechthin gibt, sondern verschiedene Zugänge zu diesem Phänomen, je nach der Ebene, auf die man sich beziehen möchte. Er bringt unter anderem das folgende Beispiel: (6) Die Wörter 'singen' und 'sang' sind Formen eines Worts. Die in diesem Satz enthaltene Aussage mutet ziemlich paradox an: Die Einheiten singen und sang werden zum einen als "Wörter" bezeichnet, also jedes für sich als ein solches, zum anderen aber als Ausprägungen eines einzigen Wortes. Beides ist natürlich richtig, was aber offensichtlich bedeutet, dass es bei dem Versuch, den Wortbegriff zu definieren, nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern deren mehrere. Man kann daher zum einen von lexikalischen Wörtern sprechen, wenn man die abstrakten Einheiten meint, ungeachtet der verschiedenen Flexionsformen, in denen sie auftreten können. In diesem Sinne verbirgt sich hinter singen und sang im Beispiel (6) tatsächlich nur ein einziges Wort. Wenn man hingegen auf die konkrete, in Texten aufscheinende Wortform Bezug nimmt, so liegen flexivische Wörter vor; insofern sind singen und sang natürlich zwei verschiedene Wörter (diese Kategorie ist freilich nur bei den flektierbaren Wörtern relevant). Vergleicht man nun die Sätze (7) und (7a), so ergibt sich die Notwendigkeit einer weiteren Differenzierung: (7) Ich begrüße dich auf das Herzlichste. (7a) Ich begrüße dich aufs Herzlichste. Die Sequenz auf das in (7) besteht zweifelsfrei aus zwei Wörtern, welches Kriterium auch immer man dabei heranzieht. Bei (7a) ist man hingegen nicht so sicher, wie das "zusammengezogene" aufs aufzufassen ist (dasselbe gilt für in dem : im, zu der : zur etc.). Ungeachtet der Schwierigkeiten, die die Isolierbarkeit durch Pausen mit sich bringt, ist es hier sinnvoll, von phonologischen Wörtern zu sprechen. Diesbezüglich in (7) auf und das zwei Wörter, aufs in (7a) hingegen nur eines, da eine Pausierung zwischen auf und s nicht möglich ist. Ähnliche Probleme bestehen bei den folgenden Sätzen: (8) Die Sonne geht im Osten auf. (8a) Ich weiß, dass die Sonne im Osten aufgeht. Sind geht und auf in (8) nun zwei Wörter? Augenscheinlich ist dies der Fall, zumal sie getrennt voneinander im Satz vorkommen. Der Vergleich mit (8a) zeigt aber, dass die Sache doch nicht ganz so einfach ist. In aufgeht, das mit geht ...auf semantisch völlig identisch ist und nur aufgrund einer syntaktischen Transformation in dieser Gestalt erscheint, wird wohl kaum jemand zwei Wörter erblicken, und zwar schon deswegen nicht, weil es in der geltenden Orthografie zusammen geschrieben wird. Damit haben wir den Fall vor uns, dass ein und dasselbe sprachliche Gebilde je nach den syntaktischen Verhältnissen einmal als ein Wort, das andere Mal als zwei Wörter aufgefasst wird. Daher kann man im Falle von geht und auf in (8) zwei syntaktische Wörter annehmen, da sie aufgrund von syntaktischen Bedingungen diskontinuierlich (also in Bezug auf ihre Satzposition voneinander getrennt) auftreten, was bei aufgeht in (8a), einem einzigen syntaktischen Wort, nicht zutrifft. In der Praxis können freilich auch noch andere Aspekte zum Tragen kommen: Wer etwa bei der Sendung eines Telegramms, dessen Kosten bekanntlich nach der Anzahl der Wörter berechnet werden, Geld sparen möchte, wird unter Umständen enttäuscht werden: Der Postbeamte wird ihm für ein Wortungetüm wie Vieruhrdreißigahnhofabholungsbitte mehrere Worteinheiten verrechnen, da für ihn ein "Wort" etwas ist, das maximal aus soundsovielen Buchstaben besteht. 3. Zur Problematik der Wortarten Aus dem vorigen Kapitel ist hervorgegangen, dass es bezüglich der Wortdefinition keinen allgemeinen Konsens gibt. Dennoch hat man sich seit jeher bemüht, die riesige Menge der als Wörter aufgefassten Einheiten in einzelne zusammengehörige Gruppen zu gliedern, ausgehend von der unbestreitbaren Tatsache, dass etwa Baum, Ofen im Wortschatz einen anderen Stellenwert haben als sprechen, müssen; braun, ehrlich; du, sie; wenn, weil; für, auf etc. Die jeweiligen Wortarten weisen gewisse Gemeinsamkeiten in Bezug auf Morphologie, syntaktische Funktion und Semantik auf, wenngleich diese nicht immer klar und eindeutig formulierbar sind. In der traditionellen Wortartenlehre, die sich stark an die lateinische Grammatik anlehnte, unterschied man lange Zeit zehn Wortarten, ohne sich allzu große Gedanken über die theoretischen Belange zu machen, und zwar (die gängigen deutschen Bezeichnungen stehen in Klammern): - Substantiv (das, Pl.: -e) bzw. Nomen (das, Pl.: Nomina) (Hauptwort) - Verb/Verbum (das, Pl.: Verben/Verba) (Zeitwort) - Adjektiv (das, Pl.: -e) (Eigenschaftswort) - Artikel (der, Pl.: -) (Geschlechtswort) - Pronomen (das, Pl.: Pronomina) (Fürwort) - Numerale (das, Pl.:Numeralien/Numeralia) (Zahlwort) - Adverb (das, Pl.: Adverbien) (Umstandwort) - Präposition (die, Pl.: -en) (Verhältniswort) - Junktion/Konjunktion (die, Pl.: en) (Bindewort) - Interjektion (die, Pl.: -en) (Empfindungswort bzw. Ausruf(e)wort (Bemerkung: Die meisten deutschen Grammatiken führen noch "Partikeln" an. Diese sind allerding im weiteren Sinn als ein Oberbegriff zu allen nichtflektierbaren Wortarten zu verstehen. (Adv., Präp., Junkt. u. Interj.)) In jüngerer Zeit hat man versucht, diese traditionelle Einteilung mittels einer konsequenteren theoretischen Untermauerung zu reformieren, um den Verhältnissen in der Einzelsprache, in diesem Falle dem Deutschen, Rechnung zu tragen. Nach dem zur Wortdefinition Gesagten wird es nicht überraschen, dass auch hier die Verfahrensweisen und die daraus resultierenden Klassifikationen äußerst unterschiedlich sind. Will man ausschließlich morphologische Kriterien gelten lassen, so kann man nur wenige Gruppen voneinander unterscheiden: unflektierbare und flektierbare Wörter, von denen sich die letzteren wiederum durch die Art der Flexion (Deklination bzw. Konjugation) untergliedern lassen. Eine solche Grobklassifizierung ist freilich sehr unbefriedigend, weswegen man zur weiteren Differenzierung meist auch syntaktische Kriterien heranzieht. Diese können sich z.B. auf die Fähigkeit beziehen, als Satzglied zu fungieren, einen Artikel an sich zu binden, einen bestimmten Kasus zu fordern etc. Ausgehend von der Tatsache, dass Wörter auch eine Bedeutung haben, wird vielfach auch mit semantischen Kriterien operiert, allerdings mit weniger Erfolg. In diesem Rahmen kann nicht auf alle Aspekte und Probleme einer Wortartendifferenzierung eingegangen werden, die sich bei alleiniger Anwendung des einen oder des anderen Kriteriums bzw. deren Kombinationen ergeben würden. Stattdessen sei ein morphologisch-syntaktisch orientierter Untergliederungsversuch vorgestellt (nach FLÄMIG 1977, etwas abgeändert von BERGENHOLTZ/MUGDAN 1979), bei dem mittels eines binären Verfahrens schrittweise zu den einzelnen Wortarten vorgedrungen wird. Diese Einteilung, die bei den flektierbaren Wortarten zunächst auf morphologischen, dann syntaktischen Kriterien beruht, bei den nicht flektierbaren ausschließlich auf syntaktischen, kommt zu fast demselben Ergebnis wie die traditionelle Wortartenlehre. Es fehlt dabei nur das Numerale, und zwar deswegen, weil eine solche Wortart nur durch außersprachliche Gemeinsamkeiten (das Moment der Zählbarkeit o.a.) motiviert wäre. Bei genauerer Prüfung dieses auf den ersten Blick sehr plausibel erscheinenden Ermittlungsverfahrens stellt sich freilich heraus, dass die Kriterien nicht in jedem Einzelfall auch tatsächlich brauchbar sind. Abgesehen davon, dass die Beibehaltung der Interjektion, die im Gegensatz zu allen anderen Wortarten einen selbständigen Satz verkörpert, diskussionswürdig ist, können einzelne Lexikoneinträge auf diese Weise nicht erfasst werden. So sind etwa nicht alle Adjektiva auch komparierbar (z.B. tot, ärztlich; dasselbe gilt für die als Adjektiva zu betrachtenden Numeralia, etwa sechs Katzen}; manche Adjektiva und Pronomina sind nicht flektierbar (z.B. lila, man); bei den Präpositionen wird die Kasusforderung nicht wirksam, wenn sie vor Adverbia stehen (z.B. nach hinten, von dort) etc. Da man also mit der Binarität "merkmalhaft/merkmallos" nicht auskommt, muss sie zum Teil durch Einzelfallregelungen ergänzt werden. In dem vorgestellten Schema fehlt auch eine Wortart, die in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft sehr intensiv erforscht wird, nämlich die Partikel, z.B. ja in das habe ich dir ja gesagt oder sogar in sogar ich habe das gesehen. Mit den hier verwendeten Kriterien können die Partikeln kaum als eigene Klasse herausgefiltert werden, vgl. das Wort ja in obiger Verwendung: Da es nicht flektierbar, nicht satzbildend ist, allein kein Satzglied darstellen kann und auch keinen Kasus fordert, müsste es eine (Kon)Junktion sein, was aber intuitiv nicht einleuchtet. Will man trotz allem an einer praktikablen Gliederung des Wortschatzes in Wortarten festhalten, so wird man um Kompromisse und Kriterienvermengungen kaum herumkommen, so "unsauber" dies in methodischer Hinsicht auch sein mag. Eine strenge nach einheitlichen Prinzipien vorgenommene Differenzierung würde uns nämlich unweigerlich in sehr ungewohnte Bahnen zwingen. So lässt etwa die von amerikanischen Strukturalisten (Bloomfield, Harris u.a.) vorgenommene konsequente Klassifizierung nach distributionellen Kriterien (also nach der Umgebung im Satz sowie nach der Ersetzbarkeit der Wörter) keine Unterscheidung zwischen Artikeln und einem Teil der Pronomina zu; weiters müsste man vom Verb als Wortart Abschied nehmen, da sich infinite Verben distributioneil anders verhalten als finite Verben. Im Folgenden kommen wichtige morphologische Einheiten zur Sprache, die sich nicht mit Wörtern zur Deckung bringen lassen; dennoch werden wir immer wieder auf die Begriffe Wort und Wortart zurückkommen müssen, so sehr sie sich auch einer genauen Definition entziehen. 4. Morphologisch relevante Einheiten 4.1. Morph, Morphem, Allomorph Es wurde bereits festgestellt, dass das Wort nicht als die kleinste sprachliche Einheit mit einer semantischen Dimension gelten kann. So besteht etwa das Wort Hunde aus zwei bedeutungstragenden Bestandteilen: Hund- und -e, wobei letzterem die Bedeutung "Plural" zukommt. In der Morphologie bezeichnet man die kleinsten Einheiten der Sprache mit einer Bedeutung als Morpheme, und insofern sind nach der Saussureschen Zeichenauffassung Morpheme nichts anderes als die kleinsten sprachlichen Zeichen. Allerdings muss das, was man gemeinhin unter "Bedeutung" versteht, ein wenig korrigiert werden: Dass Hund, blau oder leucht- eine Bedeutung haben, ist wohl kaum kontrovers, doch erscheint es auf den ersten Blick etwas gewagt, sie mit Gebilden wie -e, -en, -te, aber auch Wörtern wie dass, und oder für gleichzustellen. Während man bei Hund, blau, leucht- von lexikalischer Bedeutung sprechen kann, die realen oder gedachten Gegenständen, Sachverhalten, Tätigkeiten, Vorgängen, Eigenschaften etc. zukommt, liegt bei -e, -en, -te, dass, und, für etc. grammatikalische Bedeutung vor; solche Elemente signalisieren grammatikalische Relationen, also Beziehungen zwischen Elementen mit einer lexikalischen Bedeutung. Daher bezeichnet man auch die Morpheme je nach der Art der Bedeutung, die ihnen als sprachlichen Zeichen innewohnt, als lexikalische oder grammatikalische Morpheme. Das Morphem, die morphologisch relevante Einheit der Sprache, erinnert in gewisser Weise an das Phonem, welches als die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit definiert wird. Wie dieses ist auch das Morphem keine konkrete, "wahrnehmbare" Größe, sondern eine Abstraktion. Was wir mit unserem Wissen von der Bedeutung durch Segmentieren gewinnen können, sind nicht Morpheme, sondern Morphe. Das Morph ist also die kleinste bedeutungstragende Einheit auf der Ebene der parole, mit anderen Worten ein Element, das sich aus einer Lautfolge als unteilbarer Bedeutungsträger isolieren lässt. Auf dieser Stufe wird noch nicht die Frage gestellt, zu welcher abstrakten Einheit (zu welchem Morphem) es gehört. Insofern kann man das Morph auch als ein (vorläufig) unklassifiziertes Segment einer realen Lautkette bezeichnen. Betrachten wir einmal die folgende (der Einfachheit halber nicht in phonetischer oder phonologischer Transkription wiedergegebene) Sequenz: (9) männerrauchenzigarren Die Segmentierung in die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten liefert uns folgendes Ergebnis: (9a) männ er \ rauch \ en zigarre \ n Diese konkreten Einheiten männ-, -er, rauch-, -en, zigarre-, -n stellen also im vorliegenden Fall die Morphe dar. Davon tragen männ-, rauch- und zigarre- eine lexikalische, -er, -en- und -en eine grammatikalische Bedeutung. Die einzelnen Morphe lassen sich nun morphologisch klassifizieren, d.h. Morphemen zuordnen. Die Einheiten rauch- und zigarre- stellen dabei kein Problem dar. Da sie nur in diesen Formen auftreten können, sind sie abstrahierbar als {rauch} bzw. {zigarre} (Morpheme werden gewöhnlich durch geschwungene Klammern gekennzeichnet). Wie ist aber mit männ- zu verfahren? Offensichtlich ist dies eine von mehreren möglichen Formen, vgl.: (10) Der Mann raucht eine Zigarre. Das Segment männ ist nicht als ein ganz anderes Zeichen als mann- mit einer völlig anderen Bedeutung zu betrachten, sondern als eine Erscheinungsform von demselben Zeichen, also eine der beiden konkreten Varianten, die die abstrakte Einheit, eben das Morphem, annehmen kann. Diesen Umstand kann man formalisiert darstellen als {mann ~ männ}; damit wird festgehalten, dass das Morphem in zwei unterschiedlichen Varianten auftritt. Solche Morphemvarianten werden - wiederum parallel zur phonologischen Terminologie - als Allomorphe bezeichnet. Wir können nun zusammenfassen, dass in unserem Beispielsatz die lexikalischen Morpheme {mann ~ männ}, {rauch} und {zigarre} auftreten, von denen das erste sich in Form von zwei Allomorphen präsentiert: mann in der Umgebung "Singular", männ in der Umgebung "Plural". Etwas andere Verhältnisse herrschen bei den festgestellten Segmenten mit grammatikalischer Bedeutung. Die beiden Morphe -er und -n sind derselben abstrakten Einheit zuzuordnen, nämlich {Plural}. Wir können sie also als Allomorphe des Pluralmorphems klassifizieren, als zwei Varianten desselben Morphems, und keineswegs als die einzigen, wie die folgenden Wortpaare zeigen: (11) Mann Männ | er Zigarre Zigarre | n Bahn Bahn | en Mutter Mütter | - Das Beispiel Mutter : Mütter zeigt, dass es bei den grammatikalischen Morphemen des Deutschen auch Null-Allomorphe geben kann, die regelhaft auftretende lautliche Nichtrealisierung des Morphems. Nun bleibt für die Vervollständigung der Analyse von (9) bzw. (9a) nur noch die Klassifikation des Morphs -en. Als Flexionsendung trägt es hier die grammatikalische Bedeutung "3. Person Plural Indikativ Präsens". Das entsprechende Morphem kennt außer der Realisierung als -en (ebenso: wir sprech-en, geb-en, streit-en) auch noch das Allomorph -n, wie die Beispiele wir lächel-n, forder-n etc. zeigen. Zum Unterschied von den Allomorphen bei lexikalischen Morphemen (z.B. {mann ~ männ}, {mutter ~ mütter}, {sprech ~ sprich ~ sprach ~ ...}), deren Verteilung grammatikalisch determiniert ist, also von Parametern wie Numerus, Tempus, Modus etc. abhängt, sind die einzelnen Allomorphe der grammatikalischen Morpheme entweder - aus synchronischer Sicht - regellos verteilt (wie z.B. die Plural-Allomorphe) oder phonologisch determinert, wie etwa die Allomorphe in -wir rauch-en : wir lächel-n (nach unbetontem -el oder -er kann nach den deutschen Distributionsregeln nur -n stehen, nicht aber -en). Halten wir also fest, dass wir als Ergebnis des Segmentierens in die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten zunächst Morphe erhalten, die sodann den abstrakten Einheiten der Morpheme zugeordnet werden können (welche lexikalische oder grammatikalische Morpheme darstellen). Diese Morpheme treten vielfach in zwei oder auch mehr Realisierungsvarianten auf, den Allomorphen. Erwähnenswert ist auch, dass die Zahl der Morpheme einer Sprache nach oben offen, also prinzipiell keinen Begrenzungen unterworfen ist, ganz im Gegensatz zu den Phonemen, deren Anzahl stets festgelegt ist und kaum jemals 50 übersteigt. Was die Allomorphe im Verhältnis zu den Allophonen betrifft, ist die Situation umgekehrt: Während die Realisierung eines Phonems in Form von freien Allophonen praktisch unendlich viele Möglichkeiten zulässt, ist die Zahl der Allomorphe immer begrenzt; auch in Fällen wie dem Pluralmorphem, das verhältnismäßig viele Varianten kennt, kann exakt angegeben werden, wie viele solcher Allomorphe möglich sind und wie sie konkret aussehen. 4.2. Homonyme Morphe Bei der Segmentierung einer Lautkette in Morphe und dem nachfolgenden Versuch, sie Morphemen zuzuordnen, treten vielfach Schwierigkeiten auf, die es in der Phonologie nicht gibt. Während ein Phon immer nur als Allophon eines ganz bestimmten Phonems klassifiziert werden kann, nicht aber als Variante mehrerer Phoneme zugleich, können viele Morphe Realisierungen sowohl des einen wie auch des anderen Morphems darstellen. Vgl. die folgenden Beispiele: (12) Ich liebe Hunde. (13) Diese Räume wurden einmal von Sigmund Freud bewohnt. (14) Bitte den Saal zu räumen! In (12) finden sich zwei Morphe in der Gestalt -e, die offensichtlich unterschiedliche Bedeutungen tragen: In lieb-e handelt es sich um eine verbale Flexionsendung ("1. Person Singular Indikativ Präsens"), in Hund-e hingegen um eine substantivische ("Akkusativ Plural"). Beide sind gleichlautend, homonym, jedoch als Realisierungen zweier verschiedener Morpheme zu interpretieren. Solche Morphe werden als homonyme Morphe bezeichnet. Gerade im Deutschen stellen wir bei den grammatikalischen Morphemen sehr häufig fest, dass dieselbe lautliche Gestalt die verschiedensten Funktionen erfüllen kann, man denke etwa an das Flexiv (= Flexionsendung) -en, das in Wörtern wie geb-en (Infinitiv), (wir) geb-en, (sie) geb-en, rot-en (in mehreren adjektivischen Flexionsformen), Herz-en (in allen pluralischen Kasus) jeweils andere Bedeutungen hat. Wie die beiden anderen Beispiele zeigen, tritt dasselbe Phänomen auch bei lexikalischen Morphemen auf: räum- in (13) und räum- in (14) gehören offensichtlich nicht zu demselben Morphem (die Groß- bzw. Kleinschreibung ist dabei irrelevant!), tragen also bei identischer Form unterschiedliche Bedeutungen und sind damit ebenfalls homonyme Morphe. 4.3. Freie und gebundene Morpheme Bei den Morphemen müssen wir noch eine Unterscheidung vornehmen, die sich aufgrund des Kriteriums ergibt, ob sie selbständig oder nur in Verbindung mit anderen Morphemen auftreten können. Das heißt, dass wir je nachdem, ob ein Morphem potentiell als Wort auftreten kann oder nicht, zwei Unterarten von Morphemen anzunehmen haben. Vgl. dazu das folgende Beispiel: (15) Kinder lachen oft über die alten Leute. Wenn wir die einzelnen morphologisch relevanten Einheiten voneinander sondern, so ergeben sich folgende Segmentgrenzen: 5 a) Kind \ er \ lach \ en \ oft \ über \ die \ alt \ en \ Leut \ e Unter den lexikalischen Einheiten gibt es solche, die selbständig als Wörter vorkommen können: Kind, lach (als Imperativ), oft und alt; sie stellen so genannte freie Morpheme dar (genauer: lassen sich freien Morphemen zuordnen). Die Lautkette Leut- hingegen kann nur in Verbindung mit anderen Morphemen als Wort stehen; hier liegt daher ein gebundenes Morphem in der Form {leut} vor. Andere lexikalische gebundene Morpheme wären etwa {regn} (in regn-en, regn-ete etc.) oder {seh}. In dieselbe Kategorie fallen auch die so genannten unikalen Morpheme, welche nur in einer einzigen Kombination möglich sind, vgl. Himbeere oder Knoblauch (die Ansicht, diese Wörter seien nicht segmentierbar, ist nicht haltbar, da Him-beere in einer paradigmatischen Relation zu Erd-beere, Holunder-beere etc. steht; dasselbe gilt für Knob-lauch, vgl. Schnitt-lauch, Bär-lauch etc.). Wir konnten also feststellen, dass sich die Menge der lexikalischen Morpheme keineswegs mit der der freien Morpheme deckt. Dasselbe gilt auch für die grammatikalischen Morpheme: Grammatikalische Bedeutung tragen in Satz (15) die Segmente die, -er, -en (zwei verschiedenen Morphemen als Allomorphe zuzuordnen), über (welches nicht als lexikalisches Morphem gelten kann, da es lediglich für den Ausdruck grammatikalischer Relationen zuständig ist) sowie -e. Darunter bedürfen die und über keiner Verbindung mit anderen Morphemen, sind also freien grammatikalischen Morphemen zuzuordnen. In dieselbe Gruppe fallen auch die Personalpronomina wie ich, du, wir etc., die eine sogenannte deiktische Funktion haben (eine "Zeigefunktion", die vom Sprech- bzw. Handlungskontext abhängig ist), oder (Kon)Junktionen wie und, wenn, dass. Die Segmente -er, -en und -e sind hingegen Realisationen von gebundenen grammatikalischen Morphemen, da sie nicht als selbständige Wörter auftreten können, sondern nur in Verbindung mit anderen Morphemen. In der folgenden tabellarischen Darstellung werden einige Beispiele für die einzelnen Möglichkeiten angeführt (da etwaige Allomorphe bzw. Homonymien berücksichtigt werden müssten, wird auf Morphemklammern verzichtet): frei gebunden lexikalisch Haus, Bier, rot, regn-, seh-, Heidel-, selten, schon, Fieder-, -flat, Franz -wirsch grammatikalisch ich, er, oder, be-, ent-, un-, -e, wenn, -t, -en, -lieh, -bar bis, auf, zwischen In der Tabelle sind unter anderem auch Elemente wie be-, -ent-, -un, -lieh oder -bar enthalten, die offensichtlich eine andere Funktion als -e, -t, -en erfüllen. Sie sind nicht für die Kennzeichnung bestimmter Flexionskategorien in flektierbaren Wörtern zuständig (also Person, Tempus, Numerus etc.), sondern stellen sogenannte Wortbildungsmorpheme dar, also Mittel zur Ableitung neuer Wörter aus einem vorhandenen Inventar. Auf diese wird in der Folge noch ausführlicher einzugehen sein. 5. Wortbildung Während bei der - hier nicht weiter zu besprechenden - Flexion Wörter durch Flexive (d.s. im Deutschen fast ausnahmslos Flexionsendungen) abgewandelt werden, geht es bei der Wortbildung um die Bildung neuer Wörter auf der Basis vorhandener Mittel. Mit Wortbildung ist also primär nicht die "Urschöpfung" von Wörtern ohne Bezug zu bereits im Zeichensystem Verankertem gemeint, wenngleich auch dies gelegentlich vorkommen mag, z.B. in moderner Literatur (vgl. Christian Morgensterns Gedicht "Das große Lalula"). Wenn ein Sprachverwender "kreativ" wird und Wörter wie entbröseln, bewunderbar oder Schluckaufriesling äußert, so greift er dabei auf dasin der Sprachgemeinschaft etablierte sprachliche Inventar zurück. Die Wortbildungslehre befasst sich also mit den Verfahren und Gesetzmäßigkeiten bei der Bildung komplexer Wörter. Dabei gibt es zwei in sehr vielen Sprachen festzustellende Haupttypen, die wir etwas ausführlicher zu erörtern haben, und zwar die Zusammensetzung oder Komposition (z.B. Haustor, eiskalt, radfahren} und die Ableitung oder Derivation (z.B. Unfall, sportlich, entwerten); dazu kommen noch einige weitere Wortbildungsarten. Zuvor soll aber versucht werden, die Frage nach der Motivation für die Bildung komplexer Wörter zu beantworten. 5.1. Ursachen der Wortbildung Der Wortschatz einer Sprache ist, wie bereits angedeutet, ein offenes System, bei dem es keine prinzipiellen Obergrenzen in Bezug auf die Zahl der Lexikoneinheiten gibt. Zu allen Zeiten war eine Vermehrung des Wortbestandes festzustellen. Zwar sterben einzelne Wörter aus den verschiedensten Gründen aus (z.B. weil die damit bezeichneten Sachen nicht mehr existieren, vgl. mhd. brünne "Brustharnisch"), der Zuwachs ist jedoch stets größer gewesen als der Verlust. Einen Teil dieses Zuwachses machen die Fremd- und Lehnwörter aus, die aus anderen Sprachen in das lexikalische System eindringen; der andere Teil ist auf Neubildungen aus dem vorhandenen Sprachmaterial zurückzuführen, eben auf das, was wir unter Wortbildung verstehen. Welche Ursachen für solche Vorgänge lassen sich nun festhalten? Die wichtigsten seien kurz zusammengefasst (wir folgen hier im Wesentlichen ERBEN 1993, bzw. GROSS 1988): Zum einen sind dafür objektive Ursachen verantwortlich zu machen. Damit ist gemeint, dass die kulturelle Entwicklung eine Vermehrung an Gegenständen, Sachverhalten, Ideen etc. mit sich bringt, die benannt werden müssen. Mit der Erfindung einer Maschine, die dem Menschen das Nähen abnahm, war natürlich auch die Notwendigkeit gegeben, ein neues sprachliches Zeichen zu schaffen, also dem aufgetauchten neuen Inhalt einen Ausdruck zuzuordnen: Nähmaschine. Ähnliches gilt auch für den Abstraktbereich; ein Wort, das im Zusammenhang mit einem veränderten gesellschaftlichen Bewusstsein um den Zustand der uns umgebenden Natur vor einiger Zeit gebildet wurde und seither aus dem Alltagswortschatz nicht mehr wegzudenken ist, ist z.B. Umweltschutz. Neben solchen objektiven Ursachen, die wohl die Haupttriebfeder für neue Wortbildungen darstellen, lassen sich auch subjektive Ursachen festmachen. Das sind solche, die mit bestimmten vom Sprachverwender intendierten Wirkungen zu tun haben. Man denke etwa an die Werbung, bei der die Wortbildungsmöglichkeiten sehr gezielt eingesetzt werden, um das Konsumverhalten der Gesellschaft zu beeinflussen, vgl. etwa Schmusewolle, Superaufprallschutz, megasauber. Daneben gibt es aber auch noch andere als subjektiv zu bezeichnende Motive, wie z.B. das Bestreben, mittels neuer Wortbildungen eine soziale Umwertung zu erreichen; vgl. den Ersatz des bereits vorhandenen Kompositums Fremdarbeiter durch Gastarbeiter oder die Bildung Raumpflegerin, die im Vergleich zu Putzfrau ein wesentlich höheres soziales Prestige andeutet. Außer den genannten subjektiven und objektiven Ursachen sind auch noch solche anzuführen, die in irgendeiner Weise mit dem Sprachsystem selbst zusammenhängen. Diesbezüglich kann man von sprachstrukturellen Ursachen sprechen; diese sind häufig in Verbindung mit anderen, vor allem mit objektiven Ursachen namhaft zu machen, wie die Beispiele deutlich machen werden. Aus der Fülle der hier zu nennenden Phänomene seien einige herausgegriffen: Das Deutsche erlaubt es in besonders hohem Maße, ein Wort mit Hilfe von Wortbildungsmitteln in andere Wortarten zu überführen bzw. mit neuen Bedeutungsaspekten zu versehen. So kann etwa der im Verb fragen enthaltene Stamm frag- (nach FLEISCHER 1982 ist ein Stamm ein Morphem oder eine Morphemkonstruktion, an die ein Flexionssuffix treten kann) als Ausgangspunkt für die Bildung von Wörtern wie Frage, Frager, Fragerei, be-, er-, aus-, hinterfragen, fraglich, fraglos etc. dienen. In manchen Fällen können durch Wortbildungsmaßnahmen Flexionslücken aufgefüllt werden. So existiert z.B. kein Plural von Schnee, doch kann im Bedarfsfalle die Zusammensetzung Schneemassen einspringen; dasselbe gilt für Kaffee und Kaffeesorten oder (in umgekehrter Richtung) für Eltern und Elternteil. Gelegentlich ist es auch erforderlich, bei homonymen bzw. polysemen Wörtern (also solchen, die bei identischer Ausdrucksseite unterschiedliche Inhalte haben) Eindeutigkeit zu schaffen, was wiederum durch geeignete Wortbildungsmittel möglich ist Feder kann verschiedene Bedeutungen haben, und es sind Kontexte denkbar, in denen es zu Missverständnissen kommen könnte. Daher kann es angebracht sein, durch eine Komposition deutlich zu machen, was im konkreten Fall gemeint ist (Vogelfeder, Schreibfeder, Sprungfeder). Zuletzt sei noch das Motiv des Strebens nach Ökonomie (einfacher gesagt: nach Kürze) angeführt. Vor allem bei Wörtern, die sehr häufig in bestimmten Kommunikationsformen gebraucht werden, besteht die Tendenz zur Verkürzung; vgl. OP für Operationssaal, Uni für Universität. 5.2. Arten der Wortbildung In der Wortbildungslehre spricht man im Falle von rot, Haus, bei etc. von einfachen Wörtern oder Simplizia (Singular: Simplex), da sie weder zusammengesetzt noch abgeleitet sind. Dabei spielen natürlich Flexive keinerlei Rolle: Formen wie rotes oder Häuser sind lediglich Flexionsformen von Simplizia. Solche einfachen Wörter sind in Bezug auf ihre Bildungsweise kaum von Interesse. Wir konzentrieren uns daher in der Folge auf komplexe Wörter. 5.2.1. Komposition Der Vorgang der Komposition lässt sich am einfachsten beschreiben als die Bildung eines Wortes aus mehreren Wörtern; eine Definition wie "Verbindung aus mehreren freien Morphemen", die in dieser oder einer ähnlichen Version häufig zu lesen ist, klingt zwar wissenschaftlicher, ist aber im Einzelnen nicht haltbar (z.B. stellt ehr- in ehrwürdig kein freies Morphem dar). Das Ergebnis einer Komposition, also ein zusammengesetztes Wort, wird als Kompositum bezeichnet (Plural: Komposita). 5.2.1.1. Determinativ- und Kopulativkomposita Nach dem semantischen Verhältnis der Komponenten zueinander kann man prinzipiell zwei Arten unterscheiden: Zum einen spricht man von Determinativkomposita, wenn zwischen den Bestandteilen ein determinatives Verhältnis besteht, also ein Glied durch ein anderes "näher bestimmt" wird. Sie stellen den weitaus größten Teil der Zusammensetzungen im Deutschen. Beispiele dafür sind etwa die Substantiva Sparbuch, Landkarte, Rotbarsch; adjektivische Determinativkomposita sind z.B. randvoll, himmelblau, brennheiß; seltener (und bezüglich ihres Status als Komposita nicht unumstritten) sind verbale Zusammensetzung dieser Art: staubsaugen, kopfstehen, fremdgehen etc. In solchen Wortbildungen determiniert immer die erste Komponente die zweite, was auch impliziert, dass die Reihenfolge der Kompositionsbestandteile nicht umkehrbar ist (Holzbau ist etwas anderes als Bauholz). Die Bedeutung des Kompositums Sparbuch, in der -buch durch spar- determiniert wird, ist eine engere als die von Buch allein, da das Erstglied sozusagen eine bestimmte Teilmenge aus der Menge der Bücher definiert. Eine andere Möglichkeit der Zusammensetzung liegt vor, wenn zwischen den einzelnen Gliedern ein koordinatives Verhältnis besteht, ein "Sowohl-als-Auch". Dies ist der Fall in Wörtern wie Hosenrock, Dichter-Sänger, nasskalt, schwarz-rot-gold. In diesen wird nicht das eine Glied durch das andere determiniert: nasskalt bedeutet nicht "kalt auf eine nasse Art und Weise" oder dergleichen, sondern "nass und kalt zugleich". Solche Zusammensetzungen werden als Kopulativkomposita, manchmal auch als Koordinativkomposita, bezeichnet; die Reihenfolge der Komponenten ist im Grunde belanglos, meist aber durch Konvention geregelt (nasskalt, nicht aber kaltnass; bei schwarz-rot-gold u.a. ist die Reihenfolge freilich außersprachlich moviert). 5.2.1.2. Einzelheiten zu Bildung und Semantik der Determinativkomposita Determinativkomposita sind - anders als die kopulativen Bildungen (vgl. schwarz-rot-gold) - ihrem Wesen nach immer zweigliedrig. Das Erstglied, welches das zweite determiniert, wird als Bestimmungswort bezeichnet. Das Zweitglied, also das durch das Bestimmungswort determinierte, ist das Grundwort. Dabei können sowohl das Bestimmungs- als auch das Grundwort bereits komplexe Wörter sein, was aber an der prinzipiellen Zweigliedrigkeit nichts ändert. Das häufig zitierte Beispiel Donaudampfschifffahrtskapitän (welches beliebig ausgebaut werden kann, wenigstens bis zu der Grenze, die das Kurzzeitgedächtnis setzt) ist aufzufassen als Zweigliedriges Kompositum mit dem (komplexen) Bestimmungswort Donaudampf schifffahrt und dem Grundwort Kapitän. Das Bestimmungswort lässt sich seinerseits wieder auf Zweigliedrigkeit zurückführen etc. Die einzelnen Stufen bis hinunter zu einem Kompositum aus zwei einfachen Wörtern lassen sich etwa in folgender Weise darstellen: (16) Donau dampfschifffahrts | kapitän |______________| Donau | dampfschifffahrt |________| Dampfschiff | fahrt |_______| Dampf | schiff |_____| Innerhalb der Klasse der Determinativkomposita kann man noch eine Unterteilung vornehmen, die sich aus den unterschiedlichen semantischen Verhältnissen zwischen dem Grundwort einerseits und dem gesamten Kompositum andererseits ergibt: In der Mehrzahl der Fälle liegt die Bedeutung des Kompositum innerhalb der Bedeutung des Grundwortes. So ist Rotwein eine bestimmte Art von Wein, blutrot eine spezifische Art von rot. Solche Zusammensetzungen, die den Normalfall darstellen, werden häufig als endozentrische Determinativkomposita bezeichnet. In einigen Fällen liegt die Bedeutung des Kompositum jedoch nicht innerhalb, sondern außerhalb der Bedeutung des Grundwortes, vgl. Geizhals, Rotkehlchen, Hasenfuß, Lästermaul. Ein Geizhals ist kein "Hals", sondern ein "geiziger Mensch", ein Rotkehlchen kein "Kehlchen", sondern ein "Vogel mit einem roten Kehlfleck" etc. Man spricht hier auch von exozentrischen Determinativkomposita (häufiger als Possessivkomposita bezeichnet, da sie auf eine Eigenschaft verweisen, die jemand/etwas besitzt). Der Unterschied zwischen diesen beiden Subklassen wird auch durch folgende Überlegung deutlich: Während etwa bei Rotwein das Bestimmungswort erspart werden kann, sofern es aus dem situativen Zusammenhang erschließbar oder auch irrelevant ist, ist dergleichen bei Geizhals nicht möglich. Vgl. die folgenden fiktiven Dialoge: (17) "Wo ist der Rotwein?" --- ,Den Wein hast du schon aus getrunken." (18) "Mein Mann ist ein richtiger Geizkragen." - "Seit wann bist du mit dem Kragen verheiratet?" Die komische Wirkung des Beispiels (18) rührt eben daher, dass eine Reduktion auf das Grundwort nicht zulässig ist, wenn seine Semantik nicht auch die des Kompositums umschließt. Ein besonderer Typ von Determinativkomposita liegt auch bei Bildungen wie Liebhaber, Viertürer, braunäugig, rotbackig vor; sie werden in der Literatur meist als Zusammenbildungen bezeichnet. Im Gegensatz zu Haustor oder grasgrün weisen sie Zweitglieder auf, die im Wortschatz nicht als selbständige Einheiten enthalten sind (*Haber, *Türer, * äugig, *backig). Man könnte daher die Meinung vertreten, es handle sich dabei gar nicht um Komposita, was LESER (1990) und VATER (1994) aber zu widerlegen versuchen: Solche Wörter sind nach ihrer Ansicht Komposita, deren Grundwörter aus pragmatischen Gründen nicht allein vorkommen. Da jeder Mensch Augen besitzt, ist das Wort äugig ("Augen habend") kommunikativ nicht notwendig. Anders ist dies bei braunäugig, da nicht alle Menschen braune Augen haben; braunäugig steht damit in einer paradigmatischen Beziehung zu blauäugig, grünäugig etc. Es sind aber durchaus Kontexte denkbar, in denen äugig sinnvoll und aufgrund der Produktivität des dabei angewandten Wortbildungsverfahrens (der Derivation, s. dazu das folgende Kapitel) wenigstens als spontane Neubildung durchaus nicht ungewöhnich wäre, z.B. um Kartoffeln mit Augen zu bezeichnen. Dass solche Überlegungen nicht an der Wirklichkeit vorbeigehen, zeigt u.a. das von Psychologen geschaffene Wort Händigkeit, rückgebildet aus Rechts- bzw. Linkshändigkeit, das die lexikalische Lücke eines Oberbegriffs (Hyperonym) füllt. Bezüglich der Bedeutung der Determinativkomposita haben wir unter anderem festgestellt, dass zwischen den beiden Gliedern eine semantische Beziehung besteht. Offen geblieben ist die Frage, wie diese determinative Beziehung beschaffen ist. Vgl. dazu die folgenden Beispiele: (19) Wintermantel "Mantel, den man im Winter trägt" Kindermantel "Mantel, der für ein Kind bestimmt ist" Pelzmantel "Mantel aus Pelz" Staubmantel "Mantel, der gegen Staub schützt" etc. (20) Kuhmilch "von Kühen produzierte Milch" Schulmilch "Milch, die in der Schule getrunken wird" Erdbeermilch "mit Erdbeeren versetze Milch" Magermilch "hinsichtlich des Fettgehaltes 'abgemagerte' Milch" etc. Die Möglichkeiten sind also äußerst vielfältig; z.B. kann durch das Erstglied Herkunft, Material, lokale oder zeitliche Einordnung, Zweck und vieles mehr ausgedrückt werden. Dass die Semantik solcher Komposita eindeutig interpretierbar ist, hängt mit dem "Weltwissen" zusammen, also mit dem bei Sprecher und Hörer erwartbaren Erfahrungsschatz in Bezug auf die Dinge und Vorgänge der realen Welt; aufgrund dieses Wissens verbietet es sich, analog zur Bedeutung von Pelzmantel bei Kindermantel auf die Relation "bestehend aus" zu schließen. In manchen Fällen kann man allerdings nur unter Einbeziehung des Kontextes eindeutig entscheiden, welche Relation vorliegt. HERINGER (1984) bringt dafür das Beispiel Fischfrau, das eine große Zahl von Bedeutungen annehmen kann, darunter z.B. "Frau, die Fische verkauft", "Frau, die im Sternbild der Fische geboren wurde", "Frau, die kalt wie ein Fisch ist", "Frau, die wie ein Fisch aussieht" (auch die kopulative Lesart "Frau und Fisch" = "Nixe" ist möglich). Alle die angeführten Zusammensetzungen mit ihrer prinzipiellen Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten werden in der neueren Literatur unter dem Terminus Nichtrektionskomposita zusammengefasst. Daneben gibt es aber auch Determinativkomposita, bei denen die Relation zwischen den beiden Komponenten von vornherein klar ist, da das Grundwort eine bestimmte Rektion aufweist, d.h. vereinfacht: eine bestimmte grammatische Form fordert, welche durch das Bestimmungswort repräsentiert wird. Solche Rektionskomposita sind z.B. Autofahrer ("Jemand, der mit dem Auto fährt"), Briefschreiber ("Jemand, der einen Brief schreibt"). Die eindeutige Interpretation ist deswegen möglich, weil die Bestimmungswörter offensichtlich die von den Grundwörtern (bzw. den zugrunde liegenden Verben) verlangten Ergänzungen darstellen (fahren: womit?; schreiben: was?). Dennoch sind in manchen Fällen Zweideutigkeiten nicht ausgeschlossen: Alkoholfahrer kann zum einen als Rektionskompositum verstanden werden ("Jemand, der Alkohol fährt", mit fahren in der Bedeutung "befördern"), zum anderen als Nichtrektionskompositum ("jemand, der alkoholisiert fährt"). Unter den Komposita gibt es auch Sonderformen, bei denen die Entstehung aus Syntagmen noch deutlich erkennbar ist; vgl. etwa das Wort trotzdem, das aus der Verbindung trotz + dem hervorgegangen ist, oder Hoheslied, bei dem sowohl das Grundwort als auch das Bestimmngswort die Flexion bewahrt haben (das Hohelied, des Hohenlieds etc.). Bildungen wie diese werden meist als Zusammenrückungen bezeichnet (FLEISCHER 1982 versteht unter diesem Terminus allerdings Zusammensetzungen, bei denen die Wortart des Grundwortes nicht mit der des Kompositums übereinstimmt, z.B. Nimmersatt, Dreikäsehoch). Unter Umständen lassen sich auch spontane Neubildungen aus Syntagmen wie im folgenden Satz unter die Zusammenrückungen subsumieren: (21) Ich habe mich an das Jeden-Groschen-dreimal-umdrehen-Müssen gewöhnt. 5.2.1.3. Fugenelemente Im Zusammenhang mit der Komposition ist zuletzt noch auf ein besonderes Phänomen hinzuweisen: In vielen Bildungen ist zwischen die beiden Komponenten ein sogenanntes Fugenelement eingeschoben, vgl. z.B. Tage\s\zeit, Geist\er\fahrer, Rose\n\strauch, maus\e\tot. Ohne ein solches Element sind etwa Fußball, Tagtraum, Bandnudel, mausgrau zusammengesetzt. Es ist zwar offenkundig, dass die Fugenelemente historisch aus Flexiven entstanden sind, doch ist dies aus synchroner Sicht irrelevant. Dass sich diese Elemente an der Kompositionsfuge "verselbständigt" haben und nicht unbedingt mit der Flexion der Bestimmungswörter zu tun haben, zeigen Bildungen wie Arbeitskraft, sendungsbewusst, da die betreffenden Wörter nie eine Flexionsform mit -s hatten. Zwar gibt es gewisse Regeln bezüglich des Auftretens von Fugenelementen, wie z.B. die Obligatorik eines -s- nach -heit, -ung etc. (vgl. Freiheitsdrang, Fahndungserfolg), doch kann nicht die Rede davon sein, dass die Setzung oder Nichtsetzung grammatikalisch oder semantisch motiviert wäre. So ist etwa nicht einzusehen, inwiefern ein Schweinesteak mit dem Plural von Schwein in Verbindung zu bringen wäre. Die Fugenelemente sind außerdem z.T. regional unterschiedlich, vgl. Schweinebraten : Schweinsbraten, Rindsgulasch : Rindergulasch. 5.2.2. Derivation Bei der Derivation oder Ableitung erfolgt die Wortbildung mit Hilfe von Wortbildungsmorphemen in der Form von Vor- oder Nachsilben, die eine Bedeutungsveränderung bewirken. Vorsilben werden auch als Präfixe bezeichnet, Nachsilben als Suffixe; der Oberbegriff (Hyperonym) für beide ist Affix ("Silbe" ist hier freilich nicht im phonetischen, sondern im morphologischen Sinn gemeint). Die Ergebnisse solcher Vorgänge nennt man allgemein Derivate, die Unterarten Präfix bzw. Suffixbildungen; der Bildungsvorgang heißt Affigierung, seine Unterarten Präfigierung und Suffigierung. In manchen Sprachen kommen auch noch weitere Affigierungsarten vor. Z.B. treten etwa im Lateinischen oder Arabischen auch Infixe auf (vgl. iugum "Joch" iu\n\gere "verbinden"). Für das Deutsche sind derartige Bildungen nicht anzunehmen, wenngleich gelegentlich in Wörtern wie reinigen, köcheln (vgl. unten die Beispielliste 23) die Bestandteile -ig-, -el- als Infixe aufgefasst werden; da wir die - in den verbalen Beispielen bewusst ausgelassenen - Infinitivendungen aber als Flexive und nicht als Wortbildungssuffixe betrachten, ist die Annahme einer Infigierung hinfällig. In manchen Darstellungen wird außerdem für Ableitungen wie Gebirge, Geselle eine Zirkumfigierung (mit dem Zirkumfix Ge-... -e) angesetzt. 5.2.2.1. Präfigierung Von der Möglichkeit der Präfigierung wird im Deutschen bei Substantiven, Adjektiven, Adverbien und vor allem bei Verben Gebrauch gemacht. Vgl. die folgenden Beispiele: (22) Un | glück An | sieht un \ schön vor \ gestern be \ lehr- ent \ komm- Die meisten Präfixe sind auf eine einzige Wortart beschränkt, v.a. auf Verben, z.B. be-, zer-, auf- (ein Wort wie Auffahrt ist kein Gegegenbeweis, da der Suffixbildung mit -t das verbale auffahr- zugrunde liegt); andere Präfixe sind hingegen mehr funktional, d.h. bei der Ableitung von mehreren Wortarten möglich, vgl. z.B. un- in unrein, Unart oder miss- in missfallen, Missgeburt etc. Bei den verbalen Präfixbildungen unterscheidet man aufgrund des unterschiedlichen syntaktischen Verhaltens zwei Arten, und zwar die untrennbaren und trennbaren Präfixverben. Bei ersteren bilden Präfix und Verb eine feste Verbindung, die in keiner syntaktischen Verwendung gelöst wird (vgl. entgehen: das entgeht mir nicht; beladen: ich belade das Auto), während die letzteren in finiter Form, außer in eingeleiteten Nebensätzen, eine Distanzstellung zueinander einnehmen (vgl. aufgehen: die Sonne geht gleich auf; anklopfen: klopfen Sie bitte an!}. Solche Präfixbildungen zeichnen sich durch Präfixbetonung aus. Gelegentlich kann ein Präfix beiderlei Arten verkörpern, z.B. um- in umfahren: er umfährt das Hindernis; erfährt das Hindernis um. 5.2.2.2. Suffigierung Die Suffigierung dient ebenfalls als Wortbildungsmittel für Substantiva, Adjektiva, Adverbia und (wenn auch selten) für Verba; vgl. (23) Schwimm \ er Schuh werk gelb | lieh scharen \ weise rein \ ig- köch | el- Aus dem jeweiligen Suffix geht hervor, welcher Wortart das komplexe Wort angehört. Suffixe sind also wortartdeterminierend; vgl. -chen, -turn, -schaß, -er: Substantiva (Bübchen, Reichtum, Gegnerschaft, Lehrer); -bar, -lieh, -ig, -sam, -mal: Adjektiva bzw. Adverbia (essbar, ehrlich, wendig, erholsam, hundertmal). Hinsichtlich der Wortart, aus der mittels Suffigierung ein neues Wort entsteht, lassen sich unterscheiden: desubstantivische (Haus > häuslich, Glück > glücken), deadjektivische (weise > Weisheit, mäßig > mäßigen) sowie deverbale (lad- > Ladung, duld- > duldsam) Bildungen. 5.2.2.3. Einzelheiten zu Bildung und Semantik der Derivate Ähnlich den Mehrfachkomposita gibt es auch Derivate, in denen von derselben Wortbildungsart mehrfach Gebrauch gemacht wird; solche Wörter lassen sich schrittweise auf Simplizia zurückführen, vgl. (24) Unerreichbar \ keit < un \ erreichbar < erreich \ bar < er \ reich- < reich- Abgesehen davon, dass mittels bestimmter Affixe ein Wechsel der Wortart erreicht werden kann, bewirken diese auch eine semantische Modifikation, die sehr vielgestaltig ist. Vgl. dazu den folgenden Ausschnitt aus den Möglichkeiten, die hinsichtlich der hinzutretenden semantischen Merkmale bestehen (nach GROSS 1988): (25) Diminution ("klein"): Baum > Bäum chen Rock > Mini \ rock Augmentation ("groß, stark"): Gauner > Erz \ gauner Zahl > Un \ zahl Negation ("nicht", "gegen"): Raucher > Nicht \ raucher klerikal > anti \ klerikal Motion ("weiblich", seltener "männlich): Lehrer > Lehrer | in Gans > Gäns | erich (Bemerkung: Die Herkunft des Elements "-erich" ist unklar. Im MHD jedoch "antreche" (Entereich) und --erich wurde zum produktiven Suffix der Movierung.) Gradation ("sehr"; "zu sehr"): alt > ur \ alt genau > über \ genau Taxation (z.B. "schlecht"; "ehemalig"): Tat > Un tat Präsident > Ex \ präsident Kollektion ("gesamt"): Schuh > Schuh | werk Mann > Mann \ schaß etc. Wortartwechsel ist natürlich ebenfalls mit einer Veränderung der Semantik verbunden, vgl. etwa die häufigen Nomina agentis (auch Täternamen) wie Retter< rett-, Leser < les- oder die deverbalen bzw. deadjektivischen Abstrakta Ersparnis < erspar-, Achtung < acht-; Wildnis, Wildheit < wild. Bei einer Reihe von Präfix- und Suffixbildungen ist festzustellen, dass die Ableitungsbasis in der Sprache der Gegenwart allein nicht vorkommt, z.B. Un \ flat, ent \ behren, scheuß \ lich, schnipp \ isch. Solche Derivate können nur durch Einbeziehung der Diachronie erklärt werden: In -flat ist mhd. vlät "Sauberkeit, Schönheit" enthalten, das als Simplex verloren gegangen ist; entbehren entpuppt sich als nhd. Weiterentwicklung von mhd. enbern, bestehend aus der Negationspartikel en- und bern "tragen", woraus sich die Bedeutung "nicht haben" herleitet; in scheußlich steckt mhd. schiuzen "Abscheu empfinden"; schließlich liegt der Ableitung schnippisch das Verb schnuppen, Bedeutung etwa "mit aufgeworfener Oberlippe die Luft verächtlich einziehen", zugrunde. In rein synchroner Sicht wären alle diese Bildungen nicht in bedeutungstragende Einheiten segmentierbar, dennoch ist es sinnvoll, aufgrund der paradigmatischen Beziehungen, die diese Wörter zu anderen haben (z.B. Unflat zu Unrecht, Unglück etc.) nicht als Simplizia zu werten (vgl. auch das in Kapitel 4.3. zu den unikalen Morphemen Gesagte). Eine Streitfrage in der Literatur zur Wortbildung stellen auch Wörter wie Fang, Bruch, Griff, Gang dar, die FLEISCHER (1982) als implizite Ableitungen bezeichnet. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie kein Wortbildungssuffix (oder genauer: das Suffix "null") aufweisen. Sie unterscheiden sich häufig vokalisch von ihrer Ableitungsbasis (vgl. Sprung < spring-, Bruch < brech-), manchmal auch konsonantisch (vgl. Gang < geh-). Das Problem bei solchen Bildungen besteht darin, dass sie nur mit Hilfe der Etymologie als Ableitungen entlarvt werden können; obendrein ist dieses Mittel in der Gegenwartssprache praktisch nicht mehr produktiv. (Ausnahme: schweizerisches Deutsch) Manche Linguisten plädieren daher dafür, vom Terminus innere Ableitung Abstand zu nehmen und solche Phänomene unter die Konversionen zu reihen, die wir im folgenden Kapitel behandeln. 5.2.3. Sonstige Wortbildungsarten Außer den beiden Wortbildungsprozessen Komposition und Derivation sind noch einige weitere zu nennen, von denen besonders die soeben erwähnte Konversion von Bedeutung ist. Unter Konversion versteht man in diesem Zusammenhang die Ableitung von einer Wortart in eine andere ohne Zuhilfenahme eines Derivationssuffixes. Hierher gehören also Fälle wie die folgenden: (26) fang- > Fang (Verb > Substantiv) grün > grün- (Adjektiv > Verb) Rauch > rauch- (Substantiv > Verb) treffen > (das) Treffen (Verb mit Infinitivmorphem > Substantiv) Feind > feind (Substantiv > prädikativ gebrauchtes Adjektiv) Auch die oben erwähnten Wörter Bruch, Griff, Gang lassen sich als Konversionen auffassen. Allerdings stellen sie dann eine besondere Kategorie dar, da bei ihnen zwar ebenfalls kein Ableitungsmittel (bzw. "null") verwendet wird, die Ableitungsbasis sich jedoch vokalisch bzw. konsonantisch ändert. Dies ist aber insofern nichts Außergewöhnliches, als auch bei der expliziten Ableitung (d.h. einer solchen mit Suffix) häufig ein ähnlicher Wechsel stattfindet, vgl. Garten > Gärtner, Ursprung > ursprünglich. Bei der Amalgamierung oder Kontamination (solche Wortbildungsprodukte werden auch als Kofferwörter bezeichnet) werden zwei Wörter, die einander in einer phonologischen Sequenz überlappen, bzw. zwei Komposita zu einem zusammengefügt, z.B.: (27) Kur + Urlaub > Kurlaub Postblatt + Correspondenzkarte > Postkarte Von der Amalgamierung wird häufig Gebrauch gemacht, um humoristische Wirkungen zu erzielen, vgl. Wörter wie Neurosenkavalier, passierscheinheilig, Psychoanalüge. Meist sind dies lediglich sprachspielerische Spontanbildungen, seltener dringen sie in den Allgemeinwortschatz ein, wie z.B. das aus dem Englischen übernommene Smog (aus smoke und fog). Bei der Bildung von Kurzwörtern werden Wortteile weggelassen; manchmal tritt auch ein Wortbildungssuffix hinzu, wie in den letzten beiden der folgenden Beispiele: (28) Oberkellner > Ober Automobil > Auto Violoncello > Cello Motorveloziped > Moped Transformator > Trafo Trabant > Trabi Mikrofon > Mikro etc. Mit den Kurzwörtern verwandt sind die Akronyme oder Initialwörter. Bei diesen wird aus den Anfangsbuchstaben von verschiedenen Wörtern (bzw. von Kompositionsgliedern) ein neues Wort gebildet; dabei kann es sich entweder um Initialwörter mit Buchstabenaussprache handeln (vgl. 29) oder um solche mit silbischer Aussprache (vgl. 30): 29) Sozialdemokratische Partei Österreichs > SPÖ Personenkraftwagen > Pkw 30) Hamburg-Amerikanische Paketfahrt-Actiengesellschaft > Hapag North Atlantic Treaty Organization > NATO Gelegentlich wird nur ein Teil des Wortes akronymisch gebildet, vgl. Untergrundbahn > U-Bahn, Verbindungsmann > V-Mann. Einen Übergang zu den bereits erörterten Kurzwörtern stellen die Silbenwörter dar, bei denen nicht nur einzelne Buchstaben, sondern deren mehrere aneinandergefügt werden, vgl. Belgien + Niederlande (Nederland) + Luxemburg > Benelux; Billiger Laden > BILLA. 5.3. Zur Kombinierbarkeit und Produktivität von Wortbildungsmustern und -mitteln Wie einzelne Beispiele bereits erkennen ließen, können in einem komplexen Wort Komposition und Derivation in vielfältiger Weise miteinander verquickt sein; vgl. die folgenden Beispiele, in denen die jeweiligen Wortbildungs-Schritte ausgehend vom Simplex) angedeutet werden (P = Präfigierung, S = Suffigierung, K = Komposition): (31) Bauschlosser: Schloss > Schloss \ er (S) > Bau \ Schlosser (K) (32) Kopfbedeckung: deck- > be \ deck- (P) > Bedeck \ ung (S) > Kopf\ bedeckung (K) (33) sportärztlich: Arzt > Sport \ arzt (K) > Sportarzt \ lieh (S) (34) Belastungsprüfung: Prüfung > Belastungs \ prüfung (K, mit Fugenelement) Bestimmungswort: Last > be \ last- (P) > Beiast \ ung (S) Grundwort: prüf- > Prüf\ ung (S) Die Genese einer Wortbildung kann freilich - wenigstens in synchroner Sicht - nicht immer genau bestimmt werden. So ist z.B. kaum zu entscheiden, ob ein Bodenturner ein Turner ist, der als Sportgerät den Boden gewählt hat (also zunächst Suffigierung vom Verbalstamm turn-, dann Komposition), oder ob es sich um jemanden handelt, der bodenturnt (also verbale Komposition, dann Derivation). Wenn wir in diesem Zusammenhang von Produktivität sprechen, so meinen wir damit die zu einer bestimmten Zeit bestehende Möglichkeit, von Wortbildungsmustern bzw. -mitteln Gebrauch zu machen. Dabei sind von Sprache zu Sprache große Unterschiede festzustellen. Während im Deutschen der Gegenwart das Prinzip der Komposition sehr produktiv ist, lässt z.B. das Französische kaum die Bildung von neuen Zusammensetzungen zu (vgl. dt. Orangensaft, frz. jus d'orange, eine Wortgruppe). Was die einzelnen Wortbildungsmittel betrifft, v.a. die Affixe, ist die Produktivität in den einzelnen Epochen einer Sprache unterschiedlich. In historischen Vorstufen des heutigen Deutschen war es z.B. möglich, mit Hilfe von Ableitungssuffixen zu einem Verb ein Kausativum zu bilden, also ein verbales Derivat, das das Bewirken eines Vorganges anzeigt, vgl. fällen (= "fallen machen"), setzen (= "sitzen machen"). In der Sprache der Gegenwart muss Kausativität anders ausgedrückt werden, z.B. durch ein Funktionsverbgefüge (kochen > zum Kochen bringen, gehen > in Gang setzen). Ebenso konnten einst mittels eines Suffixes, das heute -de lautet, Verba substantiviert werden, vgl. geloben > Gelübde, beschweren > Beschwerde. Andererseits sind bestimmte Wortbildungsmittel nach wie vor sehr produktiv, z.B. die Affixe ver-, be-, -ung, -heit, bzw. produktiv geworden, z.B. anti-, -mäßig etc. Insgesamt kann man feststellen, dass in Sprachen wie dem Deutschen, die ein relativ freizügiges Umgehen mit den Wortbildungsmöglichkeiten gestatten, ununterbrochen spontane Neubildungen (Neologismen) auftauchen, wie man z.B. bei der Lektüre der Tageszeitung feststellen kann (Preisgeldbesteuerung, Vizekanzlerrede, betriebsratsmäßig etc.), von denen jedoch nur ein verschwindender Teil allgemein gebräuchlich wird und dann auch in Wörterbücher aufgenommen wird. (Übernommen aus dem Skriptum: P. Ernst (Hrsg.): Einführung in die synchrone Sprachwissenschaft. Facultas, Wien 2003. Gekürzt und z. T. ergänzt von T. Káòa.)