ENTWICKLUNG DES TSCHECHISCHEN SCHULWESENS Kateřina Vlčková 1. Einleitung Die Bildung wird in Tschechien traditionell hoch geachtet, oftmals haben Bildung auch Bevölkerungsschichten erworben, die in anderen Ländern nicht gebildet wurden, wie z. B. Hussitenfrauen im 15. Jahrhundert oder allgemeine Schreib- und Lesekenntnis bei der Bevölkerung in 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts, die deutlich höher war als es damals üblich war in Europa. Diese Tatsache zeigt sich auch in der Organisation des Schulsystems. Erste Uni- versität wurde im Jahre 1348 und Tschechische Technische Hochschule (Vysoké učení technické) im Jahre 1717 gegründet. Allgemeine (damals sechsjährige) Schulpflicht wurde gesetzlich im Jahre 1774 eingeführt und im Jahre 1869 wurde sie schon achtjährig. Weil ein großer Teil der tschechischen Geschichte im Rahmen von Österreich geschah, war das Schulwesen lange Zeit mit Österreich ähnlich. Nach der Auflösung der Österreichischungarischen Monarchie und nach dem Entstehen der Tschechoslowakei im Jahre 1918 war das Schulwesen in Tschechien bis 1993 gemeinsam mit der Slowakei. Das Schulsystem in der Slowakei ist auch heutzutage fast identisch, auch wenn es seit der Trennung der Föderation zu einer unterschiedlichen Entwicklung kommt. Als eine weitere Annäherung lassen sich die Vorbereitungsprozesse beider Staaten für den Eintritt zur Europäischen Union sehen, denn sie beteiligen sich an Annäherungsprogrammen und ­pro- zessen im Schulsystemen wie z. B. internationale Mobilität, Europäische Kredits, Bemühen um Vergleichbarkeit der Systeme (Staatliche Abitur, National Curriculum, Gliederung des Studiums an der Universität in Baccalaureat- und Magisterstudiengänge, Aufnahme mehrer Studierenden an die allgemein bildenden Mittelschulen und vor allem an die Hochschulen, Verstärkung des Prinzips der Accountability und Autonomie usw. Solche Annäherungs- prozesse verlaufen also in allen EU-Staaten, aber auch in anderen hoch entwickelten Staaten der Welt. Es handelt sich um gemeinsame Entwicklungstendenzen, die dann noch von der Bildungspolitik einzelner Staaten oder Organisationen unterstützt werden (Theorie der Kongruenz). Jetzt aber zurück tiefer in die Geschichte. 2. Historische Anhaltspunkte Die Besiedlung des Gebietes des heutigen Tschechien liegt tief in der Geschichte. Zuerst kamen hierher in Zeit der Völkerwanderung Kelten, dann Germanen und in der letzen Welle im 5. Jahrhundert nach Christi die Slawen. Erste Schulen finden wir bei den altslawischen Siedlungen und in Großmährischem Reich in der Zeit der Christianisierung von Constantin und Methodius. Die erste schriftlich erwähnte Schule ist sog. Budeč, in der Kinder der Adeligen in Religion, Lesen und Schrift in Latein gebildet wurden. Eine wichtige Schule entstand auch bei dem Bistum in Prag im Jahre 973, es war eine Kathedraleschule bei dem Sankt Weit (Sv. Vít). Ende des 10. Jahrhunderts gründeten Schulen mit einem sehr guten Niveau bei eigenen Klöstern die Benediktiner. Im Mittelalter entstanden dank der Entwicklung von Städten dank des Handels und Handwerk sog. städtische Schulen für Patriarchat. Hier unterrichteten Priester und die Schulen waren sehr ähnlich den Klosterschulen. In dem 12. und 13. Jahrhundert waren solche Schulen in allen Städten in dem damaligen Böhmischen Königsreich. Das wirtschaftliche Wachstum nach den Kreuzzügen im 12. und 13. Jahrhundert beeinflusste auch Gründung der Universitäten, die unabhängig von Kirche und Herrschern und von Anfang an international waren. Die Studenten konnten frei von einer Universität zu einer 2 anderen übergehen. Unterrichtssprache war Latein. Ähnliche Bemühungen lassen sich auch heute wieder zu sehen. Im Jahre 1206 wurde in Paris Sorbonne gegründet und nach ihrem Vorbild gründete der tschechische Kaiser Karel der IV. 1348 die erste Universität in Mitteleuropa, die unter dem Namen Karels Universität in Prag bekannt ist. Dank der Absolventen dieser Universität entwickelten sich auch städtische niedrigere und höhere Schulen immer mehr, die für Handwerk oder Universitätsstudium vorbereiteten. Im 14. Jahrhundert befand sich Kirche in Krise. 1409 mussten deutschen Professoren und Studenten weg von Prager Universität und gingen nach Leipzig. Zum Rektor der Karls Universität wurde Meister Johannes Hus, der 1415 in Konstanz verbrannt wurde. Nach den Hussitenkriegen verbreitete sich die Bewegung der sog. Böhmischen Brüdern (Brüdergemeinde), gegründet von Petr Chelčický, die eigene Elementarschulen Schulen gründete, deren Niveau höher war als von den Katholischen. Die Universität ermöglichte im 14. bis 16. Jahrhundert auch ärmeren Menschen die Ausbildung. Einen starken Einfluss auf das Schulwesen (vor allem Mittel- und Hochschulen) nahm lange Zeit auch der Jesuitenorden, der im Jahre 1622 sogar auch die ganze Prager Universität bekam. 1654 erhielt sie dann für eine Zeit den Namen Universitaes Carolo- Ferdinandea. Die wichtigste Persönlichkeit unserer Erziehungsgeschichte lebte im 17. Jahrhundert, es war der bekannte ,,Lehrer der Nationen" Johannes Amos Comenius. Er bildete das erste einheitliche, sehr moderne und humane pädagogische System. Weil er am 28. 3. 1592 geboren wurde, feiert man den 28. März als Tag der Lehrer. 1773 wurde der Jesuitenorden aufgelöst. Die Habsburgerische Kaiserin Maria Teresia führte im Jahre 1774 in der Monarchie, zu der auch das Gebiet von Tschechien (Böhmen, Mähren, Schlesien) gehörte, Reformen ein, die das Reich verstärken und die Volks- wirtschaft unterstützen sollten. Es wurde allgemeine Schulpflicht eingeführt und ein einheitliches dreistufiges Schulsystem errichtet. Es entstanden damals auch viele Fach- schulen, 1752 erste Militärakademie oder seit 1770 auch ein neuer Typ der Handelsaka- demie. Lehrer wurden in sog. Preparandien bei Normalschulen gebildet. Es kam zu starker Germanisierung, die zur Nationalaufklärung (Národní obrození) führte, dessen Ziel war, die tschechische Sprache zu retten und Nationalerziehung zu ermöglichen. Ähnliche Bewegungen findet man in ganz Europa. 1855 bekam als Reaktion auf die Nationalbewegungen die Kirche und die Monarchie stärkere Kraft. 1866 wurde das Schulsystem neu gegliedert auf Volksschule (Obecná škola) bis 14 Jahre und Mittelschule mit Abitur (Gymnasium und Realschule). Für Lehrerbildung wurden 4-jährige Anstallte errichtet. Die Kontrolle der Schulen wurde statt der Kirche den Schulinspektoren übergeben. Im Jahre 1869 wurde die allgemeine Schulpflicht auf acht Jahre verlängert. Garantie trug der Staat, Kosten zahlten Gemeinden. Im Jahre 1918 nach dem ersten Weltkrieg, der unter Anderem mit der Auflösung der Österreichischungarischen Monarchie endete, entstand die Tschechoslowakische Republik. Zum Hauptproblem wurde die Schaffung eines einheitlichen Schulsystems und Ausgleich von Kulturunterschieden in entwickelten böhmischen Ländern, in der Slowakei und in der Hinterkarrpatischen Ukraine, die damals noch ein Teil der Tschechoslowa- kischen Republik war1 . Anfangs der 20-er Jahre wurden viele Gesetze verfasst. Die Schulsystemstruktur wurde nicht verändert, nur auch in der Slowakei und in der Hinterkarrpatischen Ukraine eingeführt. Die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhundert stellen eine Blütezeit der Reform- pädagogik dar. Die sog. Versuchschulen bemühten sich um Reformen des Innenlebens der Schule, Verbesserung des Bildungsinhalts, um eine einheitliche Mittelschule und Aus- 1 Nach dem Zweiten Weltkrieg bekam dieses Gebiet Russland - für seine Hilfe bei der Befreiung der Tschechoslowakischen Republik. 3 gleich der allgemeinen und fachlichen Bildung. In dieser Zeit lebten viele für tschechische Erziehungswissenschaft wichtige Lehrer und Wissenschaftler. In der neuen Republik entstanden auch neue Hochschulen. 1919 entstand die Masaryk-Universität in Brünn (Brno), die ihren Namen nach dem ersten Präsidenten Prof. Tomáš Garrique Masaryk2 trägt. An den Hochschulen zahlte man im Vergleich zu heute Schulgebühren, es existierten aber zahlreiche Begünstigungen für Besitzlose. Die Tschechoslowakische Republik gehörte damals zu den neun bestentwickelten Staaten der Welt. 1933 kam aber Hitler in Deutschland zur Macht, 1938 Okkupation (Protektorat Böhmen und Mähren) und der zweite Weltkrieg. Es kam zu starker Germanisierung, Deutsch war in den Schulen das Hauptfach (fast 1/5 der Schulzeit), Schulbücher wurden im Sinne der nazistischen Ideologie verändert. Im Jahre 1939 schlossen die Nazis die Hochschulen, die zu Kasernen und Gefängnissen wurden. Auch zahlreiche Mittelschulen, vor allem Gymnasien, wurden aufgelöst. Es entstanden deutsche Internatschulen für zukünftige Nazi-Elite. Viele junge Leute wurden wegen Mangel an Arbeitskräfte in Zwangarbeit eingesetzt. Nach dem Krieg waren das Schulsystem sowie die ganze Infrastruktur vor allem im Grenzgebiet nach dem Krieg, Okkupation und der Aussiedlung der starken deutschen Minderheit in Trümmern. Überall fehlten Lehrer, denn viele starben in Konzentrations- lagern. Man musste Schulgebäude bauen und reparieren, neue Bücher und Curricula vorbereiten. Die Hochschulen wurden erst im Jahre 1945 wieder eröffnet. 1945 wurde die Hochschulbildung der Lehrer gesetzlich festgelegt. Ein Jahr danach begannen die Lehramtstudierenden die neu gegründete Pädagogische Fakultät bei der Masaryk-Universität zu besuchen. Es war die fünfte Fakultät an der Brünner Universität. Schon im Jahre 1948 kam es zur politischen Wende im Sinne des Sozialismus und Kommunismus. Alle Schulen wurden verstaatlicht, der Einfluss der Kirche wurde abgeschafft. Grundausbildung war pflichtig, einheitlich, kostenlos und neunjährig. Freiwilligen Kindergarten, die sogar schon in 30-er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden, zählen nun zu dem einheitlichen Schulsystem, der in den Jahren 1948 - 53 existierte: 1. Stufe war die Volksschule (1. - 5. Klasse), 2. Stufe die Mittelschule (6. - 9. Klasse) und 3. Stufe die Auswahlschulen, also Gymnasium (4-jährig), Fachoberschule (4-jährig) und Fachschule (2-3 jährig). Später wurden zwei ersten Stufen in eine einheitliche Grundschule mit erster und zweiter Stufe, die Grundschule (allgemeine Schulpflicht) war mal 8, mal 9- jährig, verbunden. Curriculum wurde dann im Laufe der Zeit ideologisiert, vereinheitlicht, verbindlich und naturwissenschaftlich und an Arbeitspraxis orientiert. 1989 kam es zu der sog. Samten Revolution. Die sozialistische Schule wurde zur Schule mit demokratischem Hintergrund verwandelt. In 90-er Jahren des 20. Jahrhundert fanden zahlreiche rasche Reformen statt. Das Schulsystem wurde diversifiziert, demokra- tisiert, de-ideologisiert, Schulen und Gemeinden bekamen wieder mehr Autonomie. Die 90-er Jahre sind daher merkwürdige Jahre zahlreicher Veränderungen, die in eine unglaublich kurze Zeit konzentriert sind. 2 In Zeit des Sozialismus trug die Universität den Namen von J. E. Purkyně, einem der größten tschechischen Wissenschaftler, der in den Jahren 1787 ­ 1869 lebte. Mehr als 50 weltbekannten wissenschaftlichen Gesellschaften machten ihn zu ihrem Ehrenmitglied und angeblich war er so bekannt, das es reichte, nur seinen Namen und Europa als seine Adresse zu schreiben. Er war ein weltberühmter Physiologe (Zelltheorie), von ihm kommt das Wort Protoplasma. Masaryk dagegen war ein Philosoph, Soziologe und Politiker. 4 Anregungen zum individuellen Weiterbearbeiten ˇ Hatten Sie Vorurteile, was die Bildung in Tschechien betrifft? Welche? Beispielsweise warum? ˇ Welchen Teil der tschechischen Geschichte finden Sie am interessantesten? Was hat Sie in der Geschichte des tschechischen Schulwesens überrascht? ˇ Haben oder hatten Sie irgendeine Vorstellung über die Zeit des Sozialismus in der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik? Wie sah Ihre Vorstellung aus? Hat sie sich irgendwie verändert seitdem Sie in Tschechien studieren? ˇ Finden Sie weitere gemeinsame Tendenzen in ganz Europa wie die, die im Text erwähnt wurden? ˇ Kennen Sie die ältesten Universitäten in Europa? Wann wurden sie gegründet? ˇ Finden Sie eine Gemeinsamkeit in der Geschichte des Schulwesens in Tschechien mit Ihrem Staat? ˇ Welche wichtigsten Anhaltspunkte finden Sie in der Bildungsgeschichte Ihres Staates? ˇ Comenius war ein großer Gelehrter. In seiner Zeit besuchten die Gelehrten viele Teile der Europa. War Comenius, der Lehrer der Nationen, auch in Ihrem Land? Was hat er dort gemacht? ˇ Finden Sie in Ihrer Geschichte auch eine so wichtige Persönlichkeit? Wer war das? Was hat er/sie gemacht? Weiter führende Literatur in English Czech Education System. Eurydice, 2001. URL (Kurze Zusammenfassung neuerer Geschichte in Kapitel Nr. 2 Allgemeine Organisation des Schulsystems, 2.1. Geschichteübersicht und unter jeweiligen Bildungsstufen nach ISCED)