Kleines Lexikon der ethnischen Minderheiten in Deutschland Herausgegeben von Gornelia Schmalz-Jacobsen und Georg Hansen Konzeption und Gesamtbearbeitung Rita Polm München: VERLAG C. H.BECK 1997 Türken/Türkinnen (S. 164-169) Die Türkei ist bis heute ein stark agrarisch geprägtes Land, das sich in einem industriellen Entwicklungsprozess befindet. Die wirtschaftliche Abhängigkeit vom westlichen Ausland ist beträchtlich, ebenso das wirtschaftliche Gefälle zwischen Stadt und Land. Erhebliche Unterschiede kennzeichnen die einzelnen Regionen: die entwickelte Westtürkei, die mäßig entwickelte Schwarz- und Mittelmeerregion sowie Teile Mittelanatoliens und die gering entwickelte Osttürkei. Seit Jahren ist die Türkei bestrebt, in die EU aufgenommen zu werden. Politische Instabilität, unzureichende demokratische Strukturen sowie andauernde Menschenrechtsverletzungen, besonders im Kurden-Konflikt, tragen mit dazu bei, dass ein Beitritt bisher nicht erfolgt ist. Ein Minderheitenstatus und damit verbundene Rechte gelten bislang ausschließlich für die jüdische, armenische und griechische Minderheit. Leben in der Bundesrepublik Deutschland Zwischen der Türkei und Deutschland existierten bereits um die Jahrhundertwende sowohl wirtschaftliche als auch politische und kulturelle Beziehungen, die die Migration von Studierenden, Geschäftsleuten und Arbeitskräften förderten (1912 in Berlin: ca. 1350 Tausend). Dies war auch die Zeit, in der in Deutschland alles Orientalische eine besondere Bewertung erfuhr. Eine umfangreiche Migration setzte jedoch erst mit der Anwerbung von türkischen Arbeitskräften zu Beginn der 60er Jahre ein. Aufgrund der wirtschaftlich schwierigen Situation (hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne u.a.) in der Türkei verließen Zehntausende in den folgenden Jahren das Land. Unter den Migranten/-innen waren nicht nur Arbeiter, sondern auch zahlreiche Kräfte mit Berufsabschluss (1972 ca. 40% der Männer und 20% der Frauen), die sich im Ausland einen höheren Verdienst erhofften. Etwa zwei Drittel aller türk. Arbeitskräfte stammten aus ländlichen Regionen, ungefähr die Hälfte von ihnen lebte jedoch direkt vor der Migration in türk. Großstädten. Die ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt in der Türkei spiegelt sich auch in der türk. Bevölkerung in Deutschland wider. Seit der Anwerbung sind die Zuwanderungszahlen der Türken stetig gestiegen, sodass sie bereits 1972 die Halbmillionengrenze überschritten. Einen Einbruch gab es lediglich 1984, als ihre Zahl um ca. 125000 zurückging; eine Folge des „Rückkehrförderungsgesetzes“ von 1983, das die Rückkehr von Migranten/-innen finanziell unterstützte. Bis heute ist die türk. Minderheit mit über 2 Mio. Angehörigen die größte Migrantengruppe in Deutschland. Erheblichen Zuwachs erhielt die Gruppe nach dem Anwerbestop 1973, als die weiteren Zuwanderungsoptionen ungewiss wurden und Familien nachzogen. Der Phase der Immigration in den 60er Jahren folgte die Phase der Familienzusammenführung in den 70er/80er Jahren; heute befinden sich die meisten Türken in der Phase der Niederlassung auf Dauer. Trotz der Größe der Gruppe sinkt ihr Anteil an der gesamten Migrantenbevölkerung (1989: 33%, 1993: 27,9%). Die regionale Verteilung zeigt, dass Türken besonders in wirtschaftsstarken Ländern (in Baden- Württemberg 17,5 %, Bayern 13%, Hessen 10%, Nordrhein-Westfalen 34,4%) und in Berlin (6,9%) stark vertreten sind. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer liegt bei 14,2 Jahren, was vergleichsweise wenig und unter anderem auf die 26,8% der 0-15jährigen Türken zurückzuführen ist (jährlich werden ca. 45000 Kinder türk. Eltern in Deutschland geboren). Dennoch leben 46 % aller Türken länger als 15 Jahre uud 65 % länger als 20 Jahre in Deutschland. Der Aufenthaltsstatus ist für die meisten Türken sicher (13,8 % befristete, 24,5% unbefristete Aufenthaltserlaubnis, 26,3 % Aufenthaltsberechtigung). Obwohl die Zahl der türk. Wohnbevölkerung in den letzten 30 Jahren stetig zunahm, ist die Zahl der türk. Erwerbstätigen zurückgegangen. Waren 1974 noch 60% der türk. Wohn- bevölkerung sozialversicherungspflichtig erwerbstätig, so reduzierte sich ihr Anteil bis 1993 auf ca. 33 %. In folgenden Wirtschaftsbereichen stellten sie 1991 den größten Anteil der „Ausländer“: Bergbau 77,3%, Schiffbau 68,4 %, Eisen- und Stahlerzeugung 57,8%, Gießereien 57,1%, Reinigungs- und Pflegeberufe 50,9 % und Textilverarbeitung 50,6 %. Auch wenn der Anteil an Facharbeitskräften in den letzten Jahren weiter angestiegen ist, sind viele Türken immer noch als un- oder angelernte Arbeiter/-innen an oftmals stark physisch und auch psychisch belastenden Arbeitsplätzen tätig. Darüber hinaus steigt die Zahl der erwerbslosen Türken (1993: 147007), besonders bei den Jugendlichen. Mit der türk. Migration hat sich eine wirtschaftliche Infrastruktur entwickelt, die von ca. 35000 Selbständigen und ihren Angestellten getragen wird. Vorzugsweise handelt es sich bei den Unternehmen um Dienstleistungsbetriebe (v.a. Gastronomie), den Lebensmittelhandel, Reiseunternehmen und das Schneidereigewerbe, die Jahresumsätze von mehr als 30 Mrd. DM erzielen, von denen ein großer Teil wieder investiert wird. Neben der unternehmerischen Mittelschicht hat sich eine kleine Mittelschicht von Intellektuellen, Künstlern/-innen, pädagogischen, medizinischen und wissenschaftlichen Fachkräften herausgebildet. Die Schul- u. Ausbildungssituation der türk. Kinder hat sich dahingehend geändert, dass die meisten heute mit geringeren Sprachschwierigkeiten die schulische Ausbildung durchlaufen als in den 70er Jahren. Mehr als 70% der unter 18jährigen sind bereits in Deutschland geboren, dennoch zeigen sich bei ihnen Differenzen in Bezug auf die Bewältigung der Schullaufbahn. Zu unterscheiden sind Kinder, die bereits im Vorschulalter einen dt. Kindergarten oder eine Vorschule besucht haben und sowohl sprachlich als auch in ihrer Sozialisation auf die dt. Schule vorbereitet wurden; ihre Schulprobleme differieren in der Regel nicht von denen der dt. Schulkinder. Schwieriger haben es Kinder, die bis zur Einschulung vorrangig mit der türk. Sprache aufgewachsen sind; sie weisen verstärkt Sprachprobleme auf, sodass sie die Anforderungen der Schule nicht erfüllen können. Noch schwieriger wird es für die Seiteneinsteiger/-innen, die einen Teil ihrer Schulsozialisation bereits in der Türkei durchlaufen haben und sich neben der dt. Sprache auf ein neues Schulsystem mit ungewohnten Lehrmethoden umstellen müssen. Eine Folge der Verständnisprobleme ist die vorschnelle Überstellung an eine Sonderschule (1991: ca. 24000). Ende 1991 besuchten 132000 türk. Kinder eine Grundschule, 119000 eine Hauptschule, etwa 25000 eine Gesamtschule, ca. 30000 eine Realschule u. 22500 ein Gymnasium. An Berufsschulen sind türk. Jugendliche mit ca. 60000 Schülern/-innen vertreten; 14700 Türken studieren an Universitäten und Fachhochschulen. Zwar zeigt die Ausbildungssituation der türk. Kinder im Verhältnis zu vorhergehenden Jahren eine positive Entwicklung, doch rangieren sie mit ihren Schulerfolgen hinter vielen anderen Migrantenkindern, was später wiederum den beruflichen Einstieg erschwert. Türkische Kinder haben die Möglichkeit, an türk.-muttersprachlichem Unterricht teilzunehmen. Unter anderem aufgrund der zusätzlichen Belastung nehmen heute jedoch nur noch max. 15 % der türk. Kinder daran teil. Da die Entscheidung für die Sprachunterrichtsregelung bei den Kultusministerien der einzelnen Länder liegt, wird auch unterschiedlich damit verfahren. So ist es z. B. in Nordrhein-Westfalen möglich, an 80 Schulen innerhalb der Sekundarstufe I und an 34 Schulen in der Sekundarstufe II Türkisch als 2. Fremdsprache zu wählen. Bleibeabsicht […] Eine weitere Folge der Bleibeabsicht ist die Zunahme der Gruppe über 60jähriger Türken, die sich häufig gegen eine Remigration entscheiden, weil Kinder, Enkel u.a. Familienangehörige hier in Deutschland leben. Probleme zeigen sich bei der älteren Generation dahingehend, dass sie durch den Wertewandel nicht mehr die angesehene Aufgabe der Ratgebenden innehaben. Eine oftmals geringere Rente als bei Deutschen erschwert zudem die Finanzierung des Ruhestandes. Die Familie bildet für die Türken die zentrale Lebensform. Die in der Türkei verbreitete und traditionelle Großfamilie ist in der Migration kaum noch zu finden. Die patriarchal-hierarchische Familienstruktur hat sich jedoch erhalten, auch wenn sie in den Folgegenerationen modifiziert wird und Abhängigkeiten geringer werden. Der Zusammenhalt der Familie dient als Schutz gegen das Gefühl der Isolation in der Fremde und gibt den notwendigen Rückhalt, um sich in der Migration zurechtzufinden; er ist insbesondre für Frauen der ersten Generation von Bedeutung, die den geringsten Kontakt mit der dt. Umwelt haben. Die traditionelle Familienstruktur unterliegt einem Wandlungsprozess, der von Werte- wandel und neuen Lebensverhältnissen beeinflusst wird. Die Auswirkungen dieser Veränderungen können sich dabei sehr unterschiedlich gestalten, z. B. abhängig davon, ob sie die erste oder die Folgegenerationen betreffen, welcher Schicht die Betroffenen angehören, welchen Hintergrund sie haben oder welche Bedeutung der Religion zukommt. Die Religion hat für Muslime in der Migration eine besondere Bedeutung, gilt sie doch als wesentliches Moment der Abgrenzung vom Leben in einer christlichen Gesellschaft. Aus diesem Grund prägt sie auch das Alltagsleben nachhaltig, sodass in der Migration oftmals stärker an der Religion festgehalten wird, als es im Herkunftsland der Fall wäre. Dementsprechend zeugt auch das Organisationswesen der Türken in Deutschland von religiösen Einflüssen. Als größte muslimische Dachorganisation mit bislang laizistischer Ausrichtung ist die DITIB (Diyanet Isleri Türk Islam Birligi/ Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (eingetragener Verein)/Köln) zu nennen, die 1982 vom Amt für Religionsangelegenheiten der Türkei gegründet wurde. Sie ist bestrebt, verstärkt Gebetsstätten einzurichten und Korankurse für Kinder anzubieten; derzeit verfügt die DITIB über mehr als 700 Moscheen und Vereine in Deutschland. Weitere religiös motivierte Dachorganisationen sind die AMGT (Avrupa Milli Görüs Teskilati = Organisation der neuen Weitsicht in Europa e. V./Köln; ca. 260 Moscheen und Vereine). Darüber hinaus existieren die Vereinigung der Islamischen Kulturzentren Köln (ca. 150 Moscheen und Vereine) und der Verband der Islamischen Vereinigungen und Gemeinden e. V./Köln (verfolgt die staatsreligiöse Linie; etwa 100 Moscheen und Vereine). Zusätzlich zu den religiös ausgerichteten Organisationen verfügt die türk. Minderheit jedoch auch über ein ausgeprägtes und vielfältiges weltliches Organisationswesen. In den ersten Jahren der Migration haben sich neben der Türkischen Studentenföderation in Deutschland e. V. zahlreiche türk. Arbeitervereine gegründet, mit zunächst nicht-parteipolitischer Ausrichtung und dem Ziel, Eingewöhnungshilfe in der Migration zu leisten. Später erhielten außer anderen politischen Organisationen auch die Arbeitervereine die Funktion, parteipolitische Inhalte zu vermitteln und für bestimmte Parteien im Herkunftsland zu werben. Erst in der Phase der Niederlassung hat sich das Profil der Arbeitervereine erneut gewandelt; heute sind sie in erster Linie Interessenvertretungen der in Deutschland lebenden Türken. Die Zahl der parteipolitisch orientierten Vereine und Initiativen wird insgesamt auf ca. 1000 geschätzt. Darüber hinaus haben sich bis zu 800 Sportvereine und 600-800 Kultur- und Freizeitvereine und -initiativen gegründet. Ferner existieren eine Reihe von Organisationen verschiedener Interessengruppen (Berufsverbände, Eltern-, Frauen-, Jugend-, Seniorengruppen etc.), die z. B. in Dachorganisationen wie „Rat der Türkischen Staatsbürger“, Gießen, oder „Türkische Gemeinde in Deutschland e. V.“, Hamburg, organisiert sind. Sie greifen v. a. Probleme der Migration auf und haben vermittlungs-funktionen inne. Mit Medien sind Türken im Vergleich zu anderen ethnischen Minderheiten recht gut versorgt. Ein Teil der breiten Palette an türkischsprachigen Tages- und Wochenzeitungen sowie Zeitschriften wird in eigenen Redaktionen und Druckereien in Deutschland hergestellt. Das Angebot wird von immer mehr Türken in Anspruch genommen (1980 von ca. 40%, 1995 von mehr als 70%). Neben den Printmedien werden v. a. über öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten sowohl regelmäßige Hörfunkprogramme (z. B. täglich ein 40-minütiges Infomagazin im WDR oder das sonntägliche Informations- und Unterhaltungsprogramm „Rendezvous in Deutschland“ im HR) als auch Fernsehsendungen ausgestrahlt (z. B. „Ein Brief aus der Türkei“, 45-minütiges Magazin im ZDF; der größte Teil der Sendung wird jedoch von der türkischen Rundfunkanstalt TRT produziert). Über Satellit und Kabel sind weitere Hörfunk- und Fernsehsendungen und -programme türk. Rundfunkanstalten zu empfangen. Zu den Autoren: Cornelia Schmalz-Jacobsen ist Bundestagsabgeordnete und Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer. Georg Hansen ist Professor für interkulturelle Erziehungswissenschaft an der Fern-Universität Hagen.