Aus Karin Hunn: „Nächstes Jahr kehren wir zurück…“. Die Geschichte der türkischen Gastarbeiter in der Bundesrepublik. Göttingen: Wallstein Verlag 2005. Die angesprochene Klimaverschlechterung manifestierte sich neben den teilweise spektaku- lären Wahlerfolgen der rechtsradikalen Republikaner in einer wachsenden Zahl rechtsextremistischer Anschläge.[1] Am Beispiel des 29-jährigen Bauarbeiters Mehmed Kaynakcı und des 26-jährige Ramazan Avcı, die 1985 im Abstand von wenigen Monaten von Hamburger Skinheads überfallen und ermordet wurden, lässt sich ablesen, dass die Täter kaum einen Unterschied zwischen Asylflüchtlingen und bereits seit längerem in Westdeutschland lebenden Ausländern machten – insbesondere dann nicht, wenn diese aus der Türkei stammten.[2] Die Morde an Kaynakcı und Avcı riefen unter den türkischen Migranten große Bestürzung hervor, der sie auf einer von türkischen, deutschen und deutsch-türkischen Vereinigungen in Hamburg organisierten Pressekonferenz Ausdruck verliehen. Dort sowie auf der wenige Tage später stattfindenden Demonstration in Hamburgs Innenstadt richtete sich ihre Empörung und ihr Protest jedoch nicht nur gegen die zunehmenden Übergriffe von rechtsextremistischen Jugendlichen, sondern auch gegen die »Ausländer-Halbierungspolitik« der Bundesregierung und einzelner Bundesländer.[3] Besonders irritiert zeigten sie sich über das Verhalten von Polizei und Justiz, die ihrer Meinung nach zu wenig gegen Skinheads und Neonazis unternahmen. Ihre Kritik verbanden sie mit politischen Forderungen, die einmal mehr das seit Beginn der achtziger Jahre manifest gewordene neue Selbstverständnis unter den Türken reflektierten: In Entsprechung zu einem Gesetzentwurf der Grünen verlangten sie als Einwanderer eine weitestgehende rechtliche Gleichstellung mit den deutschen Staatsbürgern und eine Beseitigung aller Diskriminierungen auf rechtlichem, sozialem, ökonomischem und politischem Gebiet. Nur wenn die Politik die Einwanderer auch als solche akzeptiere -so ihre Ar- gumentation -sei es möglich, »rassistischen und ausländerfeindlichen Tendenzen den Boden zu entziehen«.[4] Als Konsequenz aus der Ermordung Avcıs schlossen sich zudem rund zwei Dutzend lokale türkische Vereine unterschiedlicher politischer Couleur zum Bündnis Türkischer Einwanderer-Hamburg e.V. [eingetragener Verein] zusammen, das sich in der Folge immer wieder für die Verbesserung der rechtlichen und sozialen Lage der Migranten engagierte.[5] Der von ihnen geforderte Politikwechsel kam bekanntlich nicht zustande. Stattdessen führten die rhetorische Fahrlässigkeit und das politische Unvermögen im Umgang mit der sich weiter zuspitzenden Asylproblematik zu neuen Anschlägen und Übergriffen von erschreckendem Ausmaß. Zu erinnern ist hier insbesondere an die dramatischen Ereignisse in Hoyerswerda im September 1991 sowie an das mehrere Tage andauernde Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im August 1992, wo beide Male Hunderte von Jugendlichen unter dem johlenden Beifall der um- stehenden Menge Ausländer- und Asylbewerberunterkünfte in Brand zu setzen und zu stürmen versuchten.[6] Kurz bevor die Regierung und die Opposition sich im Dezember 1992 schließlich zu einem Kompromiss in der Asylfrage durchringen konnten, verübten zwei junge Männer im Alter von 19 und 25 Jahren in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln einen Brandanschlag auf zwei von türkischen Einwanderern bewohnte Häuser, bei dem die 51-jährige Bahide Arslan und ihre 10- und I4-jährigen Enkelinnen Yeliz und Ayşe ums Leben kamen.[7] Damit hatte der rassistische Terror gegen Ausländer in Deutschland – wie Eckhard Fuhr in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Recht feststellte – »eine neue Stufe erreicht. [...] Der Anschlag war eine kühl kalkulierte Tat. [...] Ziel des Angriffs war nicht ein Asylbewerberheim, also nicht ein sozialer Brennpunkt, an dem sich die Konflikte der Zuwanderung verdichten; Ziel waren Wohnhäuser, in denen seit langem in Deutschland ansässige türkische Familien leben. Der Angriff richtete sich also gegen die Integration, gegen das friedliche Miteinanderauskommen von Ausländern und Deutschen.«[8] Während der Brandanschlag von Mölln einerseits zu einer spontanen Solidarisierung von Deutschen und Türken führte und Hunderttausende mit Kerzen in der Hand auf die Straße trieb, bewirkte er andererseits, dass die Skepsis gegenüber den deutschen Sicherheitsbehörden und die Angst vor weiteren Mordanschlägen unter den türkischen Einwanderern wuchs.[9] Stefan Kornelius, der unmittelbar nach dem Anschlag die Gefühlslage unter den Türken in Deutschland zu erkunden versuchte, bemerkte zudem, dass ihre »Zeitrechnung nun eingeteilt ist in Vor-Mölln und Nach-Mölln« und ihnen Deutschland, das »schon ein Stück Heimat war«, plötzlich wieder fremd geworden sei.[10] Die Tatsache allerdings, dass selbst angesichts dieser tief greifenden Verunsicherung die Mehrzahl von ihnen eine Rückkehr in die Türkei ausschloss, ließ erkennen, dass sie sich – wenn auch schmerzhaft – darüber bewusst waren, dass ihr Lebensmittelpunkt eben nicht mehr in der Türkei, sondern in der Bundesrepublik lag. Eine der von Kornelius befragten Personen bemerkte etwa: »Wenn es nur ein Tag gewesen wäre, an dem wir hier waren, [...] aber es war kein Tag. [...] wir haben uns hier eingewurzelt. Gerade haben wir gedacht, wir sind in unserem Land, alles lief so gut. [...] Aber patsch, jetzt ist alles im Wasser, jetzt ist alles kaputt.«[11] Dieses Gefühl der Ohnmacht nahm noch weiter zu, als Ende Mai 1993 im nordrhein-westfälischen Solingen – unmittelbar nach der umkämpften Änderung des Grundrechts auf Asyl – erneut ein Brandanschlag auf ein türkisches Wohnhaus verübt wurde. Dieses Mal kamen fünf Menschen, drei Kinder im Alter von fünf; neun und zwölf Jahren, sowie zwei junge Frauen im Alter von 18 und 28 Jahren, ums Leben. Ein weiteres Kind von 15 Jahren wurde zudem lebensgefährlich verletzt. Der Vater und zugleich Onkel und Großvater der Toten, Durmuş Genç, war 1970 vom Ruhrbergbau angeworben worden und lebte seit 1973 in Solingen, wohin er seine Frau Mevlüde und seine Kinder im Laufe der Jahre hatte nachkommen lassen. Zwei seiner sieben Kinder waren in Deutschland zur Welt gekommen.[12] Das unfassbare Verbrechen, dessen vier größtenteils noch jugendliche Urheber schließlich im Oktober 1995 zu zehn- und fünfzehnjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, löste – wenige Monate nach Mölln – einen weiteren Schock, aber auch Panik und Wut unter den türkischen Migranten aus. Insbesondere die in Solingen lebenden Türken trafen Vorsorge gegen eventuelle weitere Anschläge, und die Stimmen derjenigen, die sich nun sicher waren, dass Deutschland niemals ihre Heimat würde, mehrten sich.[13] Auch die Zahl der gewaltsamen Zusammenstöße zwischen jugendlichen Türken und Neonazis sowie Skinheads nahm zu, angesichts derer einzelne Beobachter die Gefahr eines Bürgerkrieges nicht ausschlossen.[14] Die Anteilnahme und Empörung, mit der weite Teile der deutschen Bevölkerung auf den neuerlichen Brandanschlag reagierten, konnten nur bedingt verhindern, dass sich die Kluft zwischen Deutschen und Türken weiter vergrößerte.[15] Gleichzeitig – und das ist angesichts der Tragweite der Ereignisse durchaus bemerkenswert – beharrte ein Großteil der türkischen Einwanderer darauf, dass Deutschland mittlerweile eben auch ihr Land geworden war.[16] Symbolhaften Ausdruck verliehen dieser Tatsache die Überlebenden der Familie Genç, indem sie sich trotz des an ihrer Familie verübten rassistischen Gewaltverbrechens dafür entschieden, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen.[17] Auch verlangten die Türken nach Solingen erneut und bestimmter als zuvor ihre rechtliche, politische und gesellschaftliche An- erkennung als Einwanderer – Forderungen, denen sich auch die Kirchen, die politische Opposition, Teile der Regierungskoalition, Ausländer- und Wohlfahrtsverbände sowie ein Großteil der Bundesbürger anschlossen.[18] Anstatt die ausländerfeindlichen Exzesse der frühen neunziger Jahre aber zum Anlass für einen politischen Kurswechsel zu nehmen und in einen konstruktiven Dialog mit den Immigranten zu treten, richtete sich die öffentliche Wahrnehmung schon bald wieder auf die Schattenseiten der Einwanderung aus der Türkei. Im Juni 1993 etwa geriet wiederholt der Fall des radikalfundamentalistischen »Khomeinis von Köln«, Cemaleddin Kaplan, in die Schlagzeilen. Das hing damit zusammen, dass Kaplan, der 1981 zunächst als Prediger von Milli Görüş in die Bundesrepublik gekommen war, aus rechtlichen Gründen nicht in die Türkei abgeschoben werden konnte. Dem stand sowohl sein Status als anerkannter Asylbewerber sowie ein in der Türkei gegen ihn erlassener Haftbefehl entgegen. Der bundesdeutsche Rechtsstaat sah sich hier mit einem ähnlichen Dilemma konfrontiert wie einige Jahre später bei seinem Sohn Metin Kaplan. Dieser trat als »Kalif von Köln« die Nachfolge seines 1995 verstorbenen Vaters an und stand diesem auch im Hinblick auf die negativen Schlagzeilen in der bundesdeutschen Presse in nichts nach.[19] Zu einer weiteren Belastung für die deutsch-türkischen Beziehungen der neunziger Jahre entwickelte sich der erneut eskalierende Kurdenkonflikt in der Türkei. Anders als in den achtziger Jahren, als vor allem die wachsende Zahl kurdischer Asylbewerber und die strittige Frage nach ihrer Anerkennung die Gemüter erhitzte, sah sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit nun zudem mit einer sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene voranschreitenden Politisierung dieses Konflikts konfrontiert. Ausschlaggebend dafür war neben dem Golfkrieg von 1991 vor allem die erfolgreiche Lobbyarbeit der PKK, der es gelungen war, nicht nur unter den in Westeuropa lebenden Kurden, sondern auch in der westeuropäischen Öffentlichkeit Sympathien und Unterstützung zu erwerben. Allerdings führten einige der Methoden, mit denen PKK-Anhänger und -sympathisanten im westlichen Ausland auf die Lage der Kurden in der Türkei aufmerksam zu machen versuchten, nämlich etwa Autobahnblockaden oder Konsulatsbesetzungen, gerade in der Bundesrepublik zu innen- und außenpolitischen Spannungen. Das hing insbesondere mit der großen Zahl der Kurden in Deutschland zusammen, die Anfang der neunziger Jahre auf etwa eine halbe Million geschätzt wurde. Zwar waren laut Verfassungsschutz nur etwa 5000 von ihnen der PKK zuzurechnen, diese gerieten aber zunehmend in Konflikt mit ihren türkischen Landsleuten. Zum anderen entwickelte sich eine äußerst kontroverse Auseinandersetzung um die Frage, ob militante und straffällig gewordene kurdische Asylbewerber in ein Land abgeschoben werden durften, in dem ihnen unter Umständen Folter und andere Menschenrechtsverletzungen drohten – ein Streitpunkt, der noch dadurch an Brisanz gewann, dass sich die türkische Regierung im Kurdenkonflikt völlig kompromisslos zeigte und das türkische Militär im Kampf gegen die PKK und deren Anhänger Waffen benutzte, die die Bundesregierung – freilich für andere Zwecke – geliefert hatte.[20] Diese politischen Verwicklungen wirkten sich zwangsläufig auch auf das Türkei- und Türkenbild der Deutschen aus. Wie der damalige Türkeikorrespondent der Süddeutschen Zeitung, Wolfgang Koydl, bemerkte, handelte es sich dabei vor allem um ein Zerrbild, das »zwischen den Eckpunkten Solingen und Kurdistan [pendelt]. Mit anderen Worten: Türken sind entweder Opfer oder Täter. Hier gequälte Häftlinge, da grausame Folterknechte, hie islamische Eiferer, da verfolgte Intellektuelle, hie diskriminierte Mitbürger, da drangsalierte kurdische Minderheit.«[21] Neben der Medienberichterstattung war diese undifferenzierte Wahrnehmung auf die nach wie vor herrschende weitgehende »Kommunikationslosigkeit« zwischen Deutschen und Türken zurückzuführen[22], die – wie die Stuttgarter Zeitung bemerkte – weitgehend nebeneinanderher lebten.[23] Das hatte wiederum zur Folge, dass die strukturelle Integration, die die türkischen Einwanderer mittlerweile vollzogen hatten, in der breiten Öffentlichkeit bis zum Ende der neunziger Jahre weitgehend unbemerkt blieb.[24] Immerhin führte die spektakuläre Verhaftung von PKK-Chef Abdullah Öcalan im Februar 1999 und die Aussetzung der gegen ihn verhängten Todesstrafe allmählich zu einer Entschärfung des auch auf deutschem Boden ausgetragenen Kurdenkonflikts.[25] (S. 554-559) Das Buch steht im Lesesaal der PdF. ________________________________ [1] Vgl. Thränhardt, Geschichte, S. 305f.; Meier-Braun, Deutschland, S. 66; Her- bert, Ausländerpolitik, S. 272. [2] Vgl. Der Spiegel, 6.1.1986, wo unter anderem erwähnt wird, dass in Stuttgart zwei Skinheads zwei Jugoslawen "krankenhausreif« geschlagen hätten, da sie sie »für Türken gehalten hatten«. Vgl. auch Seidel-Pielen, Türken, S. 27. [3] Die Zeit, 17.1.1986: »,Diese Ausländerpolitik fördert Ausländerhass«<. Vgl. auch taz, 8.1.1986. [4] Vgl. Die Zeit, 17.1.1986. Zum Gesetzantrag der Grünen vgl. S. 502. [5] Vgl. Özcan, Immigrantenorganisationen, S. 322-327, sowie Der Spiegel 7.6.1993. [6] Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, S.304 und 314 f., und Bade, Ausländer, S.36 und 54-57, wo näher auf die sozialen und politischen Ursachen der damaligen Eskalation der Fremdenfeindlichkeit eingegangen wird. [7] Vgl. SZ; 26.Il.1992, sowie den Dokumentenband zum entsprechenden Strafverfahren (Verfahren vor dem Oberlandesgericht Schleswig). [8] FAZ, 24.11.1992. [9] Vgl. FR, 28.11.1992, und Der Spiegel, 30.II.1992. [10] SZ; 3.12.1992. [11] Zit. n. ebd. [12] Vgl. Gür/Turhan, Solingenakte, S.13, 24-28 und 217. Zum Zusammenhang zwischen der Asylrechtsänderung und den Brandanschlägen, vgl. Herben, Ausländerpolitik, S. 315-322, sowie Bade, Ausländer, S. 38. [13] Vgl. Gür/Turhan, Solingenakte, S.14-21, sowie Meier-Braun, Deutschland, S. 85, der eine Umfrage aus dem Jahr 1993 erwähnt, wonach sich 65 Prozent der Türken in Deutschland bedroht fühlten. Vgl. auch Richter, Gekommen, S. 74. [14] Vgl. Der Spiegel, 7.6.1993; Seidel-Pielen, Politik, S. 38; Bade, Ausländer, S. 55. [15] Vgl. Der Spiegel, 7.6.1993 und 26.7.1993; SZ; 4.3.1994; Zaptçıoğlu, Generation, S. 20. Zur Reaktion der deutschen Bevölkerung vgl. Gür/Turhan, Solingenakte, S. 32-37; Herben, Ausländerpolitik, S. 320; Meier-Braun, Deutschland, S. 85 f.; Motte/Ohliger, Einwanderung, S. 34-40. [16] Vgl. Der Spiegel, 7.6.1993; Der Tagesspiegel, 20.6.1993; Richter, Gekommen, S. 74. [17] Vgl. Gür/Turhan, Solingenakte, S. 8. [18] Vgl. Şenocak, Deutsche werden, S.9-16; Keskin, Wir bleiben hier, S. 66-78; Herben, Ausländerpolitik, S. 329; Fernseh- und Hörfunkspiegel, 13.6.1994 (Allensbach-Umfrage zur Haltung der Deutschen gegenüber Ausländern vom 12.6.1994, in der sich eine deutliche Mehrheit für das Kommunalwahlrecht für Ausländer und die automatische Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft an in Deutschland geborene Kinder ausländischer Herkunft aussprach). [19] Vgl. 52, 5.9.1987; Banner Rundschau, 4.8.1987; 5Z; 3.6.1993; Stuttgarter Nachrichten, 30.9.1993; Der 5piegel, 4 7.6.2004; Spuler-Stegemann, Muslime, S. 73-82. [20] Vgl. FAZ, 2.6.1993, 9.4.1994 und 8.3.1995; Banner General-Anzeiger, 9. 4.1994; SZ; 11.5.1994 und 31.7.1995; Steinbach, Türkei, S. 421 E; Strohrneier/Yalçın-Heckmann, Kurden, S. III; Robins, More Apparent than Real, S. II5-II8; Meyer- Ingwersen, Minderheit, S. 319. [21] SZ; 4.1.1997. [22] taz, 23.5.1995. [23] Stuttgarter Zeitung; 21.10.1995. [24] Vgl. FAZ, 25.6.1998. [25] Vgl. Ahmad, Turkey, S. 165 f.