Vorwort Vorurteils geprüft würde. So wäre auch ein Schritt zur Wissenschaftlichkeit getan; denn der Zweifel an traditioneller Wertung und Einordnung und die Begründung des eigenen Urteils haben - recht verstanden - weniger mit Unfähigkeit als mit der Offenheit und der an die subjektive Erfahrung gebundenen Mehrdeutigkeit des Gegenstandes, der Literatur, zu tun. Bonn /Hagen /Osnabrück im November 1988 Die Verfasser 12 I. Textinterpretation 1. Erzählerische Texte a) Inhalt, Stoff, Thematik, Aufbau 1 Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern hatte er noch hinten auf den Ackern Kartoffeln geharkt mit den andern, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei. Er ließ Elektrische auf Elektrische vorbeifahren, drückte den Rücken an 5 die rote Mauer und ging nicht. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei, zeigte ihm seine Bahn, er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um. Die schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahre mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, warum Widerwil-10 len), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle. Die Strafe beginnt. Er schüttelte sich, schluckte. Er trat sich auf den Fuß. Dann nahm er einen 15 Anlauf und saß in der Elektrischen. Mitten unter den Leuten. Los. Das war zuerst, als wenn man beim Zahnarzt sitzt, der eine Wurzel mit der Zange gepackt hat und zieht, der Schmerz wächst, der Kopf will platzen. Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des 20 Gefängnisses. Der Wagen machte eine Biegung, Bäume, Häuser traten dazwischen. Lebhafte Straßen tauchten auf, die Seestraße, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es. „Zwölf Uhr Mittagszeitung", „B.Z.", „Die neuste Illustrirte", „Die Funkstunde neu", „Noch 25 jemand zugestiegen?" Die Schupos haben jetzt blaue Uniformen. Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. Was war denn? Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein, reiß dich zusammen, kriegst meine Faust zu riechen. Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte. Mein Brägen hat wohl kein Schmalz mehr, der ist wohl ganz ausgetrocknet. ^50 Was war das alles. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen. Die Menschen müssen doch Schuhe haben, wenn sie so viel rumlaufen, wir hatten ja auch eine Schusterei, wollen das mal festhalten. Hundert blanke 13 /. Textinterpretation Scheiben, laß die doch blitzern, die werden dir doch nicht bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen, was ist denn mit die, sind eben blankgeputzt. 35 Man riß das Pflaster am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den andern auf Holzbohlen. Man mischt sich unter die andern, da vergeht alles, dann merkst du nichts, Kerl. Figuren standen in den Schaufenstern in Anzügen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümpfen und Schuhen. Draußen bewegte sich alles, aber - dahinter - war nichts! Es - lebte - nicht! Es hatte fröhliche Ge- 40 sichter, es lachte, wartete auf der Schutzinsel gegenüber Aschinger zu zweit oder zu dritt, rauchte Zigaretten, blätterte in Zeitungen. So stand das da wie die Laternen - und - wurde immer starrer. Sie gehörten zusammen mit den Häusern, alles weiß, alles Holz. (Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz, W 17, S. 13f.) Wer diesen Text liest, glaubt sich zunächst kaum vor größere Schwierigkeiten gestellt. Es scheint auf der Hand zu liegen, um was es in dieser Passage geht, nämlich um die Rückkehr eines entlassenen Strafgefangenen aus dem Gefängnis in die Stadt; ja, aus der Nennung des „Tegeler Gefängnisses", des Restaurants „Aschinger" usf. geht sogar hervor, daß die Geschichte in Berlin spielt. Eine solche erste Erkenntnis mag nicht weit reichen, sie erfaßt aber doch den Inhalt der Textpassage. Unter ,Inhalt' verstehen wir das äußere Gerüst einer Geschichte, also z.B. den Handlungsverlauf und die Figurenkonstellation. Reduziert man den reinen Handlungsverlauf auf seine äußerste Knappheit, so erhält man die Fabel eines Werkes. Dieser Terminus bezeichnet hier nicht die lehrhafte Tier- oder Pflanzengeschichte (s. I, 2), sondern das bloße Schema der Handlung, in Döblins Text also die Rückkehr eines ehemaligen Sträflings. Fabel und Inhalt dürfen nicht mit dem Stoff verwechselt werden, der freilich im Handlungsverlauf greifbar werden kann. Unter , Stoff wird im allgemeinen ein vor und „außerhalb der Dichtung" (Elisabeth Frenzel, L 64, S. V) existierendes Faktum - ein Bericht, ein Erlebnis, ein Ereignis, auch eine andere Dichtung - verstanden, auf das der Autor zurückgreift, das ihn zu poetischer Gestaltung anregt, das er bearbeitet. Die „kleinere stoffliche Einheit" (Elisabeth Frenzel, L 63, Sp. 285) heißt Motiv; mehrere Motive, zu einer Einheit verknüpft und konkretisiert, bilden den Stoff. Die Motive der Frau zwischen zwei Männern, des unglücklichen Liebhabers und des Selbstmordes z.B. konkretisieren sich im und verknüpfen sich zum „Werther"-Stoff. Da Motive und Stoffe den Inhalt des jeweiligen poetischen Produktes nachhaltig prägen, gewährt die Untersuchung des Stoffes oder auftretender Motive zweifellos einen ersten Einblick in das Wesen eines literarischen Textes. Die Literaturwis- 14 1. Erzählerische Texte - Inhalt, Stoff, Thematik, Aufbau senschaft hat sich der Erforschung von Stoffen und Motiven deshalb auch eigens angenommen und dabei das Augenmerk vor allem auf ihre Verwandlung im Verlauf der Literaturgeschichte gelegt (Stoff- und Motivgeschichte). Denn es kommt ja weniger darauf an, festzustellen, wann, wo und von welchem Autor ein Stoff behandelt, sondern in welchem Sinne er benutzt, wie er verändert wurde. Das Motiv von den feindlichen Brüdern drückt in 1. Moses 4 etwas anderes aus als in Klingers Zwillingen, in Grill-parzers Ein Bruderzwist in Habsburg etwas anderes als in Thomas Manns Buddenbrooks. Stoff- und Motivgeschichte ist also nicht so sehr Selbstzweck, sie will vielmehr auch einen Einblick in die sich historisch wandelnde Aussageabsicht eines literarischen Produkts eröffnen. Die Analyse dieser Intention ist für das Verständnis des jeweiligen Textes sicher von größerer Bedeutung als die des Inhaltes oder der Fabel. Wer lediglich begreift, daß zu Beginn von Döblins Roman Berlin Alexanderplatz von der Rückkehr eines Strafgefangenen aus dem Gefängnis berichtet wird, hat nur Oberflächliches erfaßt. Zu fragen ist doch vor allem, in welchem Sinn die Rückkehr erzählenswert wird, zu fragen ist also nach dem Thema der Textpassage. Der Begriff ,Thematik' bezeichnet den eigentlichen Aussagegehalt, das, was man gemeinhin ,Sinn', ,Gehalt', ,Problematik' oder gelegentlich gar .Anliegen' nennt. Fragen wir nach dem Thema, so kommt es uns darauf an, zu erfassen, was - über den äußeren Gang der Handlung, über den Inhalt hinaus - in dem zu untersuchenden Text zum Ausdruck kommt, welcher gedankliche Hintergrund sichtbar wird. Es ist wohl nicht schwer, in diesem Punkt zu einer Übereinstimmung zu gelangen: Zu Beginn von Döblins Berlin Alexanderplatz wird gezeigt, daß der entlassene Strafgefangene sich in der urbanen Umgebung nicht zurechtfindet, daß er sich ausgesetzt fühlt, daß er die neue Situation eher als Bedrohung denn als Befreiung empfindet. Die Fabel ist also ein Mittel, die Resozialisierungsschwierigkeiten, die psychischen Deformierungen, Isolation und Depression eines aus der Welt des Gefängnisses in die der Gesellschaft entlassenen ehemaligen Sträflings zur Sprache zu bringen. Mag man sich über eine solche vorläufige Umschreibung der Erzählthematik auch rasch einigen, so enthebt uns dies doch nicht der Aufgabe, den ersten Eindruck auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen. Dazu steht uns zunächst nichts als der Text selbst zur Verfügung, der daraufhin untersucht werden muß, ob sich in ihm Elemente finden, die das genannte Thema wirklich zu erkennen geben. Eine solche Analyse kann man unter 15 /. Textinterpretation mehreren Gesichtspunkten vornehmen. Man kann z.B. nach dem äußeren und inneren Aufbau, also nach der Tektonik des Textes fragen. Äußerlich gliedert sich der Text in drei Passagen, deren mittlere, aus nur einem Satz bestehend, besonders hervorgehoben erscheint und zugleich direkt auf das Erzählthema verweist: „Die Strafe beginnt." In dem ersten, diesem hervorgehobenen Satz vorausgehenden Abschnitt befindet sich der ehemalige Sträfling Franz Biberkopf zwar schon vor dem Gefängnis, aber doch noch in dessen Nähe („hinten auf den Äckern", „sie harkten hinten", „Drin saßen die andern"), gleich danach findet ein Ortswechsel statt: Biberkopf fährt in die Stadt. So scheint der Beginn der „Strafe" etwas mit der Fahrt in die City zu tun zu haben, und in der Tat erfährt Franz vor allem dort die Umwelt als Bedrohung, zeigen sich seine inneren Schwierigkeiten dort besonders deutlich. Dies verweist uns schon auf den inneren Aufbau des Textausschnittes. Döblin kommt es offenbar darauf an, die Entfremdung Biberkopfs als Prozeß, und zwar als Steigerung darzustellen. Heißt es zunächst noch zweimal lakonisch „er war frei", so steht dem schon in der Mitte des Abschnitts das „er ging nicht" entgegen, das dem Leser die Fragwürdigkeit dieser Freiheit andeutet; und wenn wir am Ende des Abschnittes lesen „Man setzte ihn wieder aus", so begreifen wir endgültig, daß Freiheit als bedrohlich empfunden werden kann. Dieser Gedanke gipfelt zunächst in der schon herangezogenen Formulierung „Die Strafe beginnt" und wird dann mit Hilfe der Schilderung jener Gefühle entfaltet, die Biberkopf in der Stadt erfüllen. Im ersten Abschnitt ist nur von einem „schrecklichen Augenblick" die Rede, nun häufen sich Formulierungen, in denen Biberkopfs Entsetzen zum Ausdruck kommt: „In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es." Und dann erscheint ihm seine Umwelt vollends als unverständlich, leblos, nichtig, auch wenn er sich immer wieder Mut zuspricht: „Man mischt sich unter die andern, das vergeht alles, dann merkst du nichts, Kerl. Figuren standen in den Schaufenstern in Anzügen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümpfen und Schuhen. Draußen bewegte sich alles, aber - dahinter - war nichts! Es - lebte - nicht!" 16 1. Erzählerische Texte - Erzählform, Erzählverhalten usw. b) Erzählform, Erzählverhalten, point of view, Erzählperspektive, Erzählhaltung Eine erste, wenn auch nur recht grobe Differenzierung epischer Texte ist die nach ihrer Erzählform. Neben der seltenen und deshalb hier ausgesparten Du-Form lassen sich zwei Hauptarten unterscheiden: Die Ich-Form und die Er-Form. Bei der Ich-Form berichtet der Erzählende von sich selbst, das Ich ist also sowohl erzählendes Medium als auch handelnde Person, bei der Er-Form erzählt der Erzähler von anderen. Dies gilt auch dann, wenn er sich beiläufig als Ich ins Spiel bringt, wie etwa in dem folgenden Beispiel: Es wird meinen Leserinnen nicht unangenehm zu erfahren sein, daß der Bräutigam jetzo einen leberfarbenen Ehren-Frack anthat [...]. (Jean Paul: Siebenkäs, W 39, S. 28) Denn der Erzähler berichtet nicht aus seinem Leben, sondern von anderen Personen. In der Ich-Form sind Briefromane, Memoiren, Tagebucherzählungen usf. gehalten. Dabei ist jedoch eine grundsätzliche Unterscheidung zu treffen. Handelt es sich z.B. um einen echten Lebensrückblick, also etwa um die Memoiren eines Politikers, so ist das Ich, das in dem Text auftaucht, tatsächlich das Ich des Verfassers, wenn auch zu einer anderen Zeit. Dies ist beispielsweise zu Beginn von Adenauers Erinnerungen 1945-1953 der Fall: Ende September 1944 kam ich nach einer abenteuerlichen Flucht aus dem Konzentrationslager auf dem Kölner Messegelände, wohin ich im Zusammenhang mit dem Aufstand gegen Hitler vom 20. Juli 1944 gebracht worden war, in das Gestapogefängnis Brauweiler bei Köln. (Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, W-l, S. 15) Es spielt keine Rolle, ob jede Einzelheit stimmt; entscheidend ist vielmehr, daß der Autor des Buches die Dinge so wiedergibt, wie er sie zum Zeitpunkt der Niederschrift sieht. Das ist anders bei folgendem Beispiel: Der Rheingau hat mich hervorgebracht, jener begünstigte Landstrich, welcher [...] wohl zu den lieblichsten der bewohnten Erde gehört. (Thomas Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, W 53, Bd. 7, S. 266) Thomas Mann ist nicht im Rheingau, sondern in Lübeck geboren, und die Erlebnisse, die er hier erzählt, sind nicht die seinen (so sehr eigene Erfahrungen hier und da eine Rolle spielen mögen), sondern die der 2 17 /. Textinterpretation erfundenen Figur Felix Krall. Der Autor schlüpft mithin in die Rolle einer von ihm erdachten Gestalt und berichtet aus deren Perspektive deren erfundenen Lebensgang. Im Gegensatz zu dem ersten Beispiel handelt es sich in diesem Fall um einen fiktionalen Text, d. h. hier teilt ein Autor nicht seine Gedanken und Erlebnisse unmittelbar mit, sondern er schafft sich eine eigene Welt, schafft sich einen Erzähler, der ganz andere Züge tragen kann und in dem angeführten Beispiel auch trägt als er selbst. Von der Individualität des Ich-Erzählers Krull, eines hochstapelnden Lebenskünstlers, auf die Individualität des Autors Thomas Mann zu schließen, ist daher schlechterdings unzulässig. Die bei fiktionalen Texten notwendige Differenzierung zwischen Autor und Erzähler (Narrator, episches Medium) gilt grundsätzlich auch für erzählende Dichtung in der Er-Form. Denn auch hier ist das Verhältnis des Erzählenden zum Erzählten konstruiert und läßt keineswegs unmittelbar Rückschlüsse auf die Auffassungen des Autors zu. Die Erzählweise Borcherts etwa, der weitgehend sprechsprachlich, alltagssprachlich geprägte Stil, läßt uns nicht einfach folgern, daß Borchert selbst, als reales Individuum, nur auf diese Weise zu reden und zu schreiben verstand, sondern hier erfüllt ein bewußt eingesetzter Stil eine besondere Aussagefunktion im Zusammenhang mit dem erzählten Geschehen, der Erzählthematik, der poetischen Intention. Schließlich verweisen uns auch Umarbeitungen aus der Ich-Form in die Er-Form und umgekehrt auf diesen Sachverhalt. Der Anfang von Franz Kafkas Roman Das Schloß z.B., zunächst in der Ich-Form abgefaßt und also eine Identifizierung von Autor und epischem Ich ausschließend, wird durch seine spätere Umwandlung in die Er-Form gewiß nicht zu einem Text, in dem Kafka selbst und unmittelbar als Erzähler auftritt. Sowohl bei der Ich-Form als auch bei der Er-Form sprechen wir also nicht vom Autor, sondern vom Erzähler etc., wenn wir den „Berichterstatter" meinen. Es gibt noch andere Phänomene, die trotz der prinzipiellen Unterschiedlichkeit der beiden Erzählformen sowohl in dieser wie in jener begegnen können. Zunächst ist zwischen dem Erzähler und dem Erzählten zu unterscheiden. Das steht für die Er-Form außer Zweifel; bei einer Ich-Erzählung könnte man jedoch einwenden, hier berichte eine Person von sich selbst, und deshalb könne man zwischen erzählendem und erlebendem (= erzähltem) Ich keinen Unterschied machen. Aber schon der zeitliche Abstand zwischen dem berichteten Erlebnis und dem Berichten selbst verweist uns darauf, daß erzählendes und erzähltes Ich 18 1. Erzählerische Texte - Erzählform, Erzählverhalten usw. keineswegs von vornherein identifiziert werden dürfen. Das Verhältnis, in dem ein erzählendes Ich zu sich als erlebendem Ich, also als handelnder Figur steht, ist oft genug durch Kritik und Ablehnung gekennzeichnet, wie z.B. in dem folgenden Beispiel: O ihr verfluchten Reichtümer, was habt ihr nur mit mir begonnen! Solang ich euch besessen, habt ihr mich mit einer solchen Last der Hoffart beladen, die allein genug gewesen wäre, mich in den tiefsten Abgrund der Höllen hinunterzudrücken, geschweige wasmaßen euer Überfluß meinen eitelen schnöden Begierden den Weg der verdammlichen Wollüste also richtig gebahnet [...]. (J. J. Chr. v. Grimmeishausen: Das wunderbarliche Vogelnest, Zweiter Teil, W 27, S. 381 f.) Dieser Text ist zugleich ein Beispiel für ein auktoriales Erzählverhalten.1 Mit Hilfe dieses Begriffs lassen sich bestimmte Momente der Erzählweise beschreiben. Wir unterscheiden zwischen auktorialem, neutralem und personalem Erzählverhalten, und zwar gebrauchen wir diese Termini zur Beschreibung der Erzählweise sowohl einer Ich-Erzählung als auch einer Er-Erzählung. Unter auktorialem Erzählverhalten verstehen wir Passagen, in denen sich der Erzähler selbst ins Spiel bringt und kommentierend, reflektierend, urteilend eingreift. Ein Beispiel für auktoriales Verhalten eines Er-Erzählers findet sich an folgender Stelle: [...] ja! in diesem Reiche, das uns der Geist so oft, wenigstens im Traume aufschließt, versuche es, geneigter Leser! die bekannten Gestalten, wie sie täglich, wie man zu sagen pflegt im gemeinen Leben, um dich herwandeln, wiederzuerkennen. Du wirst dann glauben, daß dir jenes herrliche Reich viel näher liege, als du sonst wohl meintest, welches ich nun eben recht herzlich wünsche, und dir in der seltsamen Geschichte des Studenten Anseimus anzudeuten strebe. - Also, wie gesagt, der Student Anseimus geriet seit jenem Abende, als er den Archivarius Lindhorst gesehen, in ein träumerisches Hinbrüten [...]. (E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf, W 34, Bd. 1, S. 198) I >n' Krzähler hat sich aus dem Erzählzusammenhang gelöst, was sich '»lion am Gebrauch des Präsens zeigt (Tempuswechsel) sowie daran, daß ri unnz direkt den Leser anredet, sich also vom Geschehen fort- und dem I rsiT zuwendet. Er mischt sich ein, nimmt Stellung, fügt Überlegungen ein, d.h. er wird als Aussagesubjekt erkennbar. Danach, also vom 1 I (er Terminus „Erzählverhalten" tritt hier an die Stelle der von Stanzel einge-hilii Icmi Kategorie „Erzählsituation". Da Stanzel jedoch Erzählform und das Verhallen des Erzählers innerhalb einer Erzählform nicht voneinander trennt, ist der Ui'Hiill „Kr/ählsituation" wissenschaftlich untauglich. Vgl. dazu L 277, L 278, r 19 /. Textinterpretation Gedankenstrich an, genau genommen sogar erst nach dem „wie gesagt" wendet er sich wieder dem Geschehen zu. Neutral nennen wir das Erzählverhalten, wenn das epische Medium wie ein außenstehender Zuschauer berichtet und also das Geschehen aus der Distanz des Beobachters vermittelt: Das erste Hotel, in dem er um ein Zimmer fragte, wies ihn ab, weil er nur eine Aktentasche bei sich hatte; der Portier des zweiten Hotels, das in einer Nebengasse lag, führte ihn selber hinauf in das Zimmer. Während der Portier noch am Hinausgehen war, legte sich Bloch auf das Bett und schlief bald ein. (Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, W 30, S. 8) Neutrales Erzählverhalten begegnet auch in der Ich-Erzählung: Da sprach sie mir von ihren Schülern. Wir gingen vom Marx-Engels-Platz zum Alex. Wir standen am Zeitungskiosk und ließen die Hunderte von Gesichtern an uns vorbeitreiben, wir kauften uns die letzten Osterglocken am Blumenstand. Vielleicht sind wir ein bißchen vom Frühling betrunken, sagte ich. Aber sie bestand darauf, nüchtern zu sein und zu wissen, was sie sagte. (Christa Wolf: Nachdenken über Christa T., W 78, S. 220f.) Von einem neutralen Erzählverhalten spricht man auch dann, wenn (beinahe) ausschließlich direkte Rede begegnet, wenn also z.B. ein Dialog wiedergegeben wird: „Gewiß ist es der Richtige. Das verstehst du nicht, Hertha. Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen." „Gott, Effi, wie du nur sprichst. Sonst sprachst du doch ganz anders." „Ja, sonst." „Und bist du auch schon ganz glücklich?" „Wenn man zwei Stunden verlobt ist, ist man immer ganz glücklich. Wenigstens denk ich es mir so." (Theodor Fontane: Effi Briest, W 20, S. 182) Das personale Erzählverhalten schließlich findet man in Passagen, in denen der Erzähler hinter die Figuren zurücktritt und die Welt mit ihren Augen sieht, also ihren Blickwinkel, ihre Optik wählt. Von einem Sonderfall, dem inneren Monolog, vielleicht abgesehen, heißt das nicht, daß der Erzähler völlig verschwindet: Im personalen Erzählen verliert der Narrator keineswegs seine Identität, aber er geht auch nicht darin auf, er selbst und nur er selbst zu sein. Vielmehr übernimmt er eine Rolle, indem er die Optik einer Figur wählt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der Leser mit deren Innerem vertraut gemacht wird: 20 1. Erzählerische Texte - Erzählform, Erzählverhalten usw. Und siehe da: plötzlich war es, als wenn die Finsternis vor seinen Augen zerrisse, wie wenn die samtne Wand der Nacht sich klaffend teilte und eine unermeßlich tiefe, eine ewige Fernsicht von Licht enthüllte ... Ich werde leben! sagte Thomas Buddenbrook beinahe laut und fühlte, wie seine Brust dabei vor innerlichem Schluchzen zitterte. Dies ist es, daß ich leben werde! Es wird leben ... und daß dies Es nicht ich bin, das ist nur eine Täuschung, das war nur ein Irrtum, den der Tod berichtigen wird. So ist es, so ist es! ... Warum? (Thomas Mann: Buddenbrooks, W 53, Bd. 1, S. 656) Mancher mag zunächst die Auffassung vertreten, personales Erzählverhalten könne beim Ich-Erzählen nicht vorkommen, weil das Erzähler-Ich ja ohnehin von sich selbst berichte und daher nicht noch eigens hinter sich selbst zurücktreten könne, um seine eigene Optik zu wählen: die besitze es ja sowieso. Dabei wird aber übersehen, daß erzählendes und erlebendes Ich zu unterscheiden sind, daß also das erzählende Ich - z. B. wenn es im Alter auf die eigene Jugendzeit zurückblickt - eine andere als seine augenblickliche Sehweise wählen kann; wenn der Ich-Erzähler aus der Optik des erlebenden Ich berichtet, schildert er die Dinge so, wie er sie einmal gesehen hat, nun aber möglicherweise nicht mehr sieht. In seiner ľr/.ählung Aus dem Leben eines Taugenichts läßt Eichendorff einen Ich-ľiv.ähler auftreten, der beständig aus der Perspektive des erlebenden Ich berichtet; das führt zu komischen und ironischen Effekten. Denn wählend der in der Retrospektive berichtende Narrator natürlich weiß, was wirklich geschehen ist, wer sich hinter welcher Maske verborgen hält, welche Figuren als Liebende ein Paar bilden usf., gibt er sich - indem er ein personales Erzählverhalten an den Tag legt und die Ereignisse so beschreibt, wie sie der unwissende Taugenichts, also das erlebende Ich viel u - den Anschein, als wüßte er nicht, was eigentlich gespielt wild. In Wahrheit weiß der Erzähler natürlich Bescheid (denn alles, was ei berichtet, ist ja für ihn gelebte Vergangenheit), und nur das erzählte Ich durchschaut die Zusammenhänge nicht. Dein jeweiligen Erzählverhalten entspricht oft ein bestimmter Standort iIpn Mr/.ählcrs, eine bestimmte Erzählperspektive, eine bestimmte Dar-liiťliin^sweise, ohne daß diese Kategorien auseinander ableitbar wären. I lnici' dem Standort des Erzählers, dem point of view, verstehen wir sein iituinlii'lu's Verhältnis zu Figuren und Vorgängen. Er kann sie aus großer Nilliť beschreiben (Beobachtung von Details), aber auch aus großer Ent-Ipi iuiii)',, es ist möglich, daß die Nähe seinen Blickwinkel stark begrenzt, .ihn tiui'li, daß er eine olympische Position einnimmt und das Ganze des 21 /. Textinterpretation Geschehens, vielleicht auch Vor- und Nachgeschichte (Vorausdeutung) kennt, ja sogar über Allwissenheit verfügt, - dies jedoch nur dann, wenn er nicht nur einen olympischen point of view einnimmt, sondern auch in alle Figuren hineinblickt, ihre Gedanken und Gefühle kennt. In diesem Fall spricht man von der Erzählperspektive der Innensicht, andernfalls von der Außensicht. Ein auktorialer Erzähler nimmt meistens, aber nicht grundsätzlich, einen ziemlich „hohen" Standort ein; auf jeden Fall ist er jedoch an den Darbietungsweisen zu erkennen: Mit Kommentaren, Urteilen, Zwischenbemerkungen oder auch umfangreicheren Exkursen (vgl. oben, S. 19 das Zitat aus Hoffmanns Goldenem Topf) greift er in das Geschehen ein. Der neutrale Erzähler gibt die Geschehnisse weder aus seiner eigenen Sicht (auktoriales Erzählen) noch aus der der Figur (personales Erzählen) wieder; er beobachtet und registriert lediglich, so daß wir oft das Gefühl haben, höchst objektiv unterrichtet zu werden. Dialoge, Erzählerbericht und Beschreibung gelten als Darbietungsweisen der Neutralität, übrigens unabhängig davon, ob dem Narrator Außensicht oder Innensicht zur Verfügung steht; entscheidend ist, daß er weder eine eigene Sehweise ins Spiel bringt noch die Optik der Figuren wählt. So kann ein Erzähler durchaus das Innere einer Figur neutral schildern: „Das verdroß Ulen-spiegel sehr, daß er so lang sollt fasten" (Ulenspiegel, W 74, S. 134). Weder auktoriales noch neutrales Erzählverhalten ist an die Wahl einer bestimmten Erzählperspektive gebunden; verhält der Erzähler sich jedoch personal, so steht ihm grundsätzlich die Innensicht zur Verfügung. Sie kommt häufig schon in der Verwendung von Worten der inneren Bewegung zum Ausdruck. Wenn es im Anschluß an den oben zitierten Abschnitt aus Buddenbrooks heißt „Er sah, er wußte und verstand wieder nicht das geringste mehr", so zeigt sich, daß der Narrator weiß, was im Innern von Thomas Buddenbrook vorgeht, und zwar allein schon an dem Gebrauch der Worte „wußte" und „verstand". Besonders wichtig ist für das personale Erzählen eine Darbietungsweise, die man als inneren Monolog bezeichnet. Er wird häufig mit Formulierungen wie „dachte er" eingeleitet oder abgeschlossen und kann von ganz erheblichem Umfang sein. Er begegnet in der schon zitierten Passage aus Buddenbrooks: Dies ist es, daß ich leben werde! Es wird leben ... Und daß dieses Es nicht ich bin, das ist nur eine Täuschung, das war nur ein Irrtum, den der Tod berichtigen wird. So ist es, so ist es! ... Warum? 22 1. Erzählerische Texte - Erzählform, Erzählverhalten usw. Wir erfahren die Gedanken der Hauptfigur direkt. Kennzeichen für den inneren Monolog sind die Ich-Rede und Präsens bzw. Perfekt als Redetempus. Die für den modernen Roman jedoch noch wichtigere Redeweise, die wie der innere Monolog das personale Erzählverhalten zu erkennen gibt, bezeichnet man als erlebte Rede. Daß innerer Monolog und erlebte Rede im modernen Roman so häufig begegnen, hängt u. a. mit dessen Neigung zu psychologischer Analyse zusammen. Sie führt nämlich zur Darstellung des Inneren einer Figur, des „stream-of-consciousness", der mit Hilfe des inneren Monologs und der erlebten Rede vorführbar ist. In der erlebten Rede spricht zwar der Erzähler, aber nicht von seinem Standpunkt aus, sondern er wählt die Optik der Figur. In bezug auf ihre äußere (iestalt gibt es keinen Unterschied zwischen erlebter Rede und Erzählerbericht, denn beide stehen in der Er-Form und im Präteritum; in ihrem Wesen jedoch unterscheiden sich die beiden Darbietungsweisen erheblich. Döblins Berlin Alexanderplatz beginnt mit einem (neutralen) Erzäh-liM'bcricht: „Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war Irci." Gegen Ende des zitierten Abschnittes jedoch klingt es ganz anders: „I )niußen bewegte sich alles, aber - dahinter - war nichts! Es - lebte -nicht!" Gewiß steht auch dieser Satz im Präteritum, es handelt sich also weder um einen inneren Monolog noch um einen Kommentar, aber der I esiT bat das Gefühl, daß der Narrator zwar nicht seine eigenen Ein-ili deke von der Umwelt, wohl aber die des Franz Biberkopf wiedergibt, d.h. daß hier die Gefühle der Hauptfigur geschildert werden. Diesen Eindruck vermittelt dem Leser also nicht die grammatische Eigenart des Satzes, sondern der Kontext, der sein Verständnis, sein Leseerlebnis maßgeblich bestimmt. Da dort, wie wir sahen, von Biberkopfs Angst vor der neuen und ungewohnten Umgebung die Rede ist, da dort die Daseinsent-hemdung geschildert wird, erscheint dem Leser der zitierte Satz als aus dei l'eispcküve Biberkopfs gesprochen. Dazu trägt ganz offensichtlich ■um h die Tatsache bei, daß der Satz durch Gedankenstriche gegliedert ist, iliľ den ľ.iiulľuek vermitteln, daß die Gedanken der Figur ins Stocken (j»M dien. I )ies wirkt, als solle das Entsetzen erkennbar werden, das Biber-hiijil trliilli. Der Satz hat gewissermaßen sprechsprachliches Gepräge, il li. wir linden nicht den Berichtstil des Erzählers, sondern Figurenstil vin Nur .ms dem Kontext oder aus stilistischen Eigentümlichkeiten geht iilmi liciviiľ, daß es sich bei einer Passage um erlebte Rede handelt und Hli In um líľ/.ählerbericht; die grammatisch-temporale Struktur des Satzes |tihi diudluT hingegen keinen Aufschluß. Dies gilt freilich auch für den 23 /. Textinterpretation inneren Monolog: Er steht, wie der Erzählerkommentar, im Präsens; um zu entscheiden, ob der Narrator oder die Figur redet, muß der Kontext zu Rate gezogen werden. Um die hier entstehenden Schwierigkeiten zu zeigen und zugleich darzustellen, daß alle genannten Darbietungsweisen nicht willkürlich gewählt werden, sondern eine mit der Thematik eines Textes verknüpfte Aussagefunktion besitzen, wenden wir uns noch einmal dem Anfang von Döblins Roman Berlin Alexanderplatz zu. Nach dem Eingangssatz (Erzählerbericht, neutrales Erzählverhalten) begegnet die erste größere Schwierigkeit: Wer redet die in Klammern stehenden kommentierenden Zusätze, der Erzähler oder die Hauptfigur? Handelt es sich hier also um einen Erzählerkommentar oder um inneren Monolog, um auktoriales oder personales Erzählen? Beides ist möglich, Satzstruktur und Satztempus entscheiden die Frage nicht. Die Bedeutung der Zusätze wandelt sich freilich je nach Interpretation: Einmal beruhigt Franz sich selbst (innerer Monolog), bei der Interpretation der Zusätze als Erzählerkommentar gibt sich der Erzähler den Anschein, als begreife er die innere Situation Biberkopfs nicht. Ist hier eine auf völlig unanfechtbare Weise gegründete Entscheidung auch nicht möglich, so läßt sich doch zeigen, daß die Auffassung, es handle sich an beiden Stellen um inneren Monolog, mehr für sich hat als die, es handele sich um Erzählerkommentar. Betrachtet man nämlich den weiteren Kontext, also den dritten Abschnitt, so zeigt sich, daß auch dort Franz Biberkopf immer wieder mit sich selbst redet, um sich Mut zu machen. Das Empfinden, ausgeliefert zu sein, kommt in dem Vergleich mit den Gefühlen beim Zahnarzt zum Ausdruck; später wird es noch deutlicher erkennbar, wenn der Erzähler die Gefühle Biberkopfs ganz direkt schildert (Innensicht): „In ihm schrie es entsetzt [...]". Wenig später folgt der erste kurze innere Monolog (Präsens): „Die Schupos haben jetzt blaue Uniformen." Biberkopf stellt Veränderungen gegenüber der Zeit vor seiner Inhaftierung fest, die ihn zu irritieren beginnen. Nach einem überleitenden Satz („Er stieg [...]") folgt offenbar ein Satz in erlebter Rede: „Was war denn?" Es dürfte unstrittig sein, daß es sich hier nicht um eine Erzählerfrage handelt, denn natürlich ist Franz beunruhigt und nicht der Narrator. Entsprechend redet er sich selbst Mut zu (innerer Monolog): „Nichts. Haltung, ausgehungertes Schwein [...]". Dieser innere Monolog reicht - von einem Satz in erlebter Rede („Wie sich das bewegte") unterbrochen - bis 24 1. Erzählerische Texte - Erzählform, Erzählverhalten usw. „blankgeputzt". Und nach einem Satz, in dem ein äußeres Faktum mitgeteilt wird (Erzählerbericht), redet sich Franz wieder Mut zu (innerer Monolog): „Man mischt sich unter die andern [...]". Mag man den nächsten Satz auch als Erzählerbericht klassifizieren können, so schließt die Passage doch eindeutig in erlebter Rede; denn hier handelt es sich um Figurenstil, wenn die Angst durch das Stocken der Gedanken artikuliert wird: „aber - dahinter - war nichts! Es - lebte - nicht!" Es wiegt also zu Beginn von Döblins Roman personales Erzählverhalten vor. Zugleich wird allerdings auch erkennbar, daß dies durchaus kein Zufall ist, sondern daß das Erzählverhalten in einem engen Zusammenhang mit der Erzählthematik steht. Geht es um die inneren Schwierigkeiten der Hauptfigur, so müssen eben sie dargestellt werden, und das ist nur mit Hilfe einer Erzählweise möglich, die dem Leser einen Blick in das Innere der Figur gestattet (Innensicht) oder ihn mit Hilfe des personalen Erzählverhaltens ihre Denk- und Sehweise selbst erleben läßt. Und umgekehrt ist die Entscheidung, ob es sich etwa um Erzählerkommentar oder um inneren Monolog, um Erzählerbericht oder erlebte Rede handelt, nicht zu fällen, ohne daß man einen Blick auf die Thematik des Textes wirft. Die Frage, ob es sich bei den hinsichtlich ihrer Darbietungsweise nicht eindeutig bestimmbaren Partien um inneren Monolog oder Erzählerkommentar handelt, läßt sich nun eher beantworten. Vom eben untersuchten Schluß der Textpassage, also vom Kontext aus gesehen, wirken auch die am Anfang begegnenden Zusätze wie ein Selbstgespräch der Hauptfigur, in dem sie sich Mut zuspricht. Auch das Berlinerische „Franze" in „schrecklich, Franze, warum schrecklich" weist auf Figurenstil, nicht auf Erzählerstil hin, zumal der Narrator sich auch sonst nicht eigentlich des Berliner Dialekts bedient. Und schließlich macht es eben auch die Thematik des Textes wahrscheinlich, daß Franz sich in einem inneren Monolog ermutigt. Man wird sogar fragen müssen, ob angesichts dieser Sachlage nicht auch die Formulierungen „Der schreckliche Augenblick war gekommen" oder „Drin saßen die andern" als erlebte Rede aufzufassen sind. Schwierig ist auch die Interpretation des Satzes „Die Strafe beginnt." Versteht man ihn als kurzen inneren Monolog, so beurteilt Franz Biberkopf selbst seine Entlassung als Strafe, faßt man ihn als kurzen Erzählerkommentar, als Vorausdeutung auf, so wirkt er auf den Leser als verbindliche Beurteilung der Situation. Die Auffassung, der man folgt, entscheidet 25 /. Textinterpretation über Subjektivität und Objektivität dieses Urteils und zieht mithin Konsequenzen für die Interpretation des Textes überhaupt nach sich. Eine wirkliche Hilfe bei dieser Entscheidung ist auch nicht von der Kenntnis des Romanganzen zu erwarten, so problematisch es gewiß im allgemeinen ist, einen Textausschnitt isoliert zu untersuchen. Denn das Leseerlebnis wird ja gerade zu Beginn der Lektüre entscheidend geprägt, und es ist zu fragen, wie hier, am Beginn des Romans, das Urteil „Die Strafe beginnt" vom Leser zu verstehen ist. Man wird wohl der Interpretation des Satzes als einer Beurteilung durch den Erzähler den Vorzug geben; denn von Franz erfahren wir zwar, daß er unter Ängsten, Ahnungen, psychischen Schwierigkeiten leidet, aber zu einer generellen Beurteilung der ihn ja erst erwartenden Situation ist er in diesem Moment, vor seiner Fahrt in die Stadt, wohl noch nicht in der Lage, während ein distanzierter Er-Erzäh-ler, den der Autor mit der Fähigkeit ausgestattet hat, die gesamte Geschichte zu überblicken, jede Situation richtig zu beurteilen weiß. „Distanziert" bezieht sich hier auf den Standort, den point of view des Erzählers, also sein sozusagen räumliches Verhältnis zu den Dingen, Figuren und Vorgängen, hingegen ist noch nicht von deren Einschätzung, nicht von der Erzählhaltung die Rede gewesen. Distanz kennzeichnet aber nicht nur räumliche Verhältnisse, sondern auch die innere Einstellung, mit der jemand einem anderen gegenübertritt, und Erzählhaltung ist die Einstellung, die der Erzähler gegenüber dem Erzählten besitzt. Sie kann neutral, bejahend (affirmativ), ironisch oder, wie z. B. in dem schon zitierten Beispiel aus Grimmeishausens Vogelnest II, kritisch bzw. selbstkritisch sein: „O ihr verfluchten Reichtümer, was habt ihr nur mit mir begonnen!" Eine kritische, ironische, distanzierte Erzählhaltung kommt meistens in solchen Passagen zum Ausdruck, in denen der Erzähler kommentiert und reflektiert, also an Stellen, an denen ein auktoriales Erzählverhalten zu konstatieren ist. Fassen wir den Satz „Die Strafe beginnt" als eine Beurteilung durch den Narrator auf, so zeigt sich hier für einen Moment ein auktoriales Erzählverhalten, das die sozialkritische Haltung des Erzählenden erkennbar macht. Eine distanzierte Erzählhaltung verschafft sich freilich nicht nur in aukto-rialen Passagen Geltung, sie kann vielmehr durchaus z.B. auch in personalem Erzählverhalten zum Ausdruck kommen. Wir ziehen noch eine Stelle aus Buddenbrooks heran. Dort gibt der Erzähler in erlebter Rede die Worte des Maklers Gösch, eines Sonderlings, wieder, dessen größtes Bestreben darin liegt, besonders diabolisch zu wirken. Wenn der Erzähler 26 1. Erzählerische Texte - Erzählform, Erzählverhalten usw. Goschs Vorliebe für große Worte und seine Neigung, sich als besonders unglücklichen Zeitgenossen darzustellen, parodiert, so benutzt er dazu die erlebte Rede (vom zweiten Satz an): Herrn Gösch ging es schlecht;' mit einer schönen und großen Armbewegung wies er die Annahme zurück, er könne zu den Glücklichen gehören. Das beschwerliche Greisenalter nahte heran, es war da, wie gesagt, seine Grube war geschaufelt. Er konnte abends kaum noch sein Glas Grog zum Munde führen, ohne die Hälfte zu verschütten, so machte der Teufel seinen Arm zittern. Da nützte kein Fluchen ... Der Wille triumphierte nicht mehr [...]. (Thomas Mann: Bruddenbrooks, W 53, Bd. 1, S. 594) Der Erzähler spricht in einem Stil, der nicht der seine ist, den er nicht ernsthaft, sondern eben unernst gebraucht, d. h. er parodiert ihn. Daß dies der Fall ist, geht freilich für den Leser wiederum nur aus dem Kontext hervor: Er kennt den „eigentlichen" Redestil des Narrators, kennt seine kritische Distanz zu dem Makler und erkennt deshalb den parodisti-schen Gebrauch des Figurenstils in der erlebten Rede. Insofern dient die Wahl der Figurenperspektive in der erlebten Rede einem ironischen, Abstand wahrenden Erzählen: der Narrator erscheint als parodierendes Medium. Das Erzählverhalten ist personal, die Erzählhaltung ironisch. Es zeigt sich, daß sehr unterschiedliche epische Mittel - hier: der Einsatz auktorialen bzw. personalen Erzählverhaltens - ein und demselben Ziel -hier: der Durchsetzung einer kritischen Erzählhaltung - dienen können. Zusammenfassung Erzählform: Ich-Form Er-Form Erzählperspektive: Außensicht Innensicht Erzählverhalten: auktorial neutral Standort des Erzählers (point olympische Position personal of view): begrenzter Blick Erzählhaltung: neutral ironisch kritisch bejahend (affirmativ) parodistisch Darbietungsweisen: Kommentar Bericht Beschreibung Innerer Monolog Erlebte Rede Weiterführende Literatur: L 18, L 139, L 197, L 207, L 89, L 315. 27