Kurs Analyse literarischer Texte, Stunde 2: Erzähltexte, Epik Vorab In aller belletristischen Literatur bewegen wir uns im Bereich des Fiktionalen: Die Sätze eines fiktionalen Textes sind weder verifizierbar noch falsifizierbar, sie gelten absolut (werden vom Leser „geglaubt“) innerhalb eines geschlossenen Raumes der Erzählung/des Märchens/des Romans usw. (Einige Texte arbeiten oft mit sog. „Scheinrealität“, dem Anschein der Non-Fiktionalität.) Definition der epischen Gattung (nach Wolfgang Kayser): Die epische Ursituation ist: ein Erzähler erzählt einer Hörerschaft etwas, was geschehen ist.“ ®® die strukturale Trias des Erzählens: Die Vermittlung eines Geschehens durch einen Erzähler an einen Rezipienten/Leser. 0. Wer erzählt? Wem wird erzählt? Autor: historisch konkrete Person, die den Text verfasst hat. Autor erzählt nicht! Erzähler (Narrator): Erzählinstanz (= der, der erzählt) innerhalb des Textes (in keinem Fall mit dem Autor identisch). Fiktionaler Leser: der vom Autor intendierte (beabsichtigte) Leser Gelenkte Rezeption: Die meisten Texte sind so geartet, dass sie signalisieren, wie sie gelesen werden wollen. (Diese Signale müssen durch die Interpretation gesucht/gefunden werden.) 1. Was wird erzählt? Bauelemente des Erzählens Fabel: Knappe Wiedergabe des Inhalts eines Werks, Schema der Handlung Stoff: ein vor und außerhalb der Dichtung existierendes Faktum (Bericht, Ereignis, Erlebnis, andere Dichtung, z.B. Werther, Odysseus) Motiv: kleinere stoffliche Einheit, z.B. eine Frau zwischen zwei Männern, Selbstmord, verfeindete Brüder. Mehrere Motive, zu einer Einheit verknüpft und konkretisiert, bilden den Stoff. Thema: Sinn, Gehalt, Problematik, Anliegen; „was über die Handlung, den Inhalt hinaus im Text zum Ausdruck kommt“ Leitmotiv: (Begriff aus der Musiktheorie) eine wiederkehrende, einprägsame Bild- oder Wortfolge mit gliedernder oder verbindender oder vorausweisender Funktion Figur: Handelnde, sprechende Personen, die im Text vorkommen Konfiguration: (Begriff aus der Dramentheorie) Zusammentreffen bestimmter Figuren. Von besonderem Interesse sind sich wiederholende oder nicht zustande gekommene Konfigurationen. Figurenkonstellation: Beziehungen/Oppositionen der Figuren unter- und zueinander. Szenerie: Für die Interpretation ist wichtig: dominiert im Werk die Szenerie über die Fabel, die Figuren? Ist die Eigenart von Kulissen und Requisiten besonders aufschlussreich? Die Grenzen zwischen einzelnen Szenerien können Gliederungskriterium sein als auch Figuren charakterisieren (bewegliche, unbewegliche Figuren). Geschlossene/offene Szenerien. Besonders für manche Gattungen wichtiges Kriterium: Gesellschaftsroman, Schäferroman, Idylle usw. 2. Wie wird erzählt? A. Bauformen: Äußerer Aufbau: optische Gliederung (Kapitel, Absätze) Innerer Aufbau: inhaltliche Gliederung Segmentierung: Einteilung eines (in der Realität kontinuierlichen) Geschehens in einzelne Abschnitte. Solche Abschnitte werden besonders sichtbar (und sind für die Interpretation wichtig) durch Eingriffe in die Chronologie: Auslassungen, Einschübe, Umstellungen, Vorausdeutungen (einführend, abschließend, eingeschoben), Rückwendungen (aufbauend: nachgeholte Exposition, auflösend: Abschluss einer Erzählung, eingeschoben: Klare, übersichtliche Segmentierung ist für Novelle typisch. Hilfsmittel zur klaren Segmentierung: Wendepunkt, Höhepunkt, Symbole, Leitmotive. Synthetisches Erzählen: neutrale Ebene: lineare, chronologisch gebaute Handlungslinie (einer oder mehrere Handlungsstränge), aufs Ziel hin. Analytisches Erzählen: Geschichte wird grundsätzlich von hinten erzählt, damit der Anfang enthüllt/aufgeklärt wird (Detektivroman) Erzählgeschwindigkeit: Raffendes, dehnendes, synchrones Erzählen. Erzählökonomie. (Nicht zu verwechseln mit „schnellem/langsamem“ Eindruck.) Rahmen: 2 Typen: entweder ein Zyklus von Geschichten, welche unterschiedliche Personen zum Besten geben (Boccaccio). Oder eine Geschichte, die aus einer Binnen- und. Rahmengeschichte besteht. Eine Person, die im Rahmen auftritt erzählt die Binnengeschichte, die erst die Rahmenhandlung verständlich werden lässt, oder die auf die Rahmenpersonen zurückwirkt. Anfänge und Schlüsse: Für die Interpretation wichtige Stellen. Besondere Arten: Anfang in medias res, gemächlicher Anfang; Happy-end Montage: die Handlungseinheit sprengende Gegenüberstellung unterschiedlicher Textblöcke, die in keiner Beziehung zueinander stehen müssen B. Erzählform Ich-Form: Der Erzähler ist zugleich eine (Haupt oder Rand-) Figur des Textes. Der Ich-Erzähler ist körperlich verankert in der erzählten Welt. Differenz zwischen erzählendem und erlebendem Ich! Er-Form: Der Erzähler erzählt primär von anderen/dritten (von sich nur in auktorialen Eingriffen, die eigentlich nicht zum Geschehen gehören), er ist nicht als Person in die Geschichte integriert (von seiner „Persönlichkeit/Personalität“ erfährt man nichts, er hat z.B. keine Charaktereigenschaften.) Du-Form: selten, denn Modell: man erzählt einem Du Erlebnisse und Ereignisse, die es (das Du) selbst erlebte. C. Erzählposition, Standort des Erzählens (point of view) Das raum-zeitliche Verhältnis des Narrators zu den erzählten Vorgängen und Figuren ®® Nähe x Entfernung, großer x kleiner Überblick Olympische Position: höchste Stufe: Narrator hat zeitlich (kennt die Vorgeschichte und den Ausgang) wie räumlich (kennt alle Schauplätze) vollkommenen Überblick über das ganze Geschehen. Sein Wissen reicht viel weiter als das der Figuren. (Olymp. Position plus Innensicht = Allwissenheit) Begrenzter Blick: Narrator überblickt zeitlich wie räumlich nur einen Teil des Geschehens. Größte Nähe ist erreicht, wenn sich der Narrator neben seinem Helden aufhält, ihm keinen Schritt voraus ist, nur das weiß, was der Held selbst weiß. D. Sichtweisen/Erzählperspektiven Innensicht: Narrator kann in eine (oder mehrere) Figuren hineinblicken, weiß über ihre Gedanken, Gefühle etc. Bescheid. Außensicht: Narrator kennt das Innere der Figuren nicht, erzählt nur ihre Handlungen, Taten, das Äußere. E. Erzählverhalten Das Verhalten des Erzählers zur Geschichte, im Sinne der Präsentation der Geschichte Auktoriales Verhalten: Der Narrator bringt sich selber ins Spiel, mischt sich ein, greift kommentierend, reflektierend, urteilend in die Geschichte, wirkt engagiert, belehrend auf den Leser. Personales Verhalten: Der Narrator berichtet durch die Figurenperspektive, sieht das Erzählte mit den Augen einer der Figuren. Neutrales Verhalten: Die „Nullstelle“/die neutrale Position zwischen auktorialem und personalem Erzählen. Suggeriert ein Höchstmaß an Objektivität. Der Erzähler berichtet als außenstehender Beobachter, gibt nur das reine Geschehen wider, tritt hinter die Handlung zurück. F. Erzählhaltung Die wertende Einstellung des Erzählers zum Erzählten und/oder zu Figuren, auch der „Ton“ des Erzählens: ablehnend, affirmativ, kritisch, skeptisch, ironisch, parodistisch, neutral: objektiv, sachlich etc. Wird z.B. durch auktoriale Kommentare geäußert aber auch durch Redestil der Figuren, ihre Beschreibung usw. G. Darbietungsweisen Erzählerbericht: Narrator spricht von der Geschichte Erlebte Rede: Hier spricht der Erzähler, aber durch die Optik der Figur. Meist 3. Person Präteritum (ohne Verben des Sprechens), Stil der Figur, Wahrnehmung der Figur. Indirekte Rede: Konjunktiv I. Innerer Monolog: Gedanken der Figur werden direkt ausgedrückt (= direkte Rede ohne Anführungszeichen) Bewusstseinsstrom: ähnlich wie innerer Monolog, ist aber meist länger und schließt nicht nur die „Rede“ der Figur, sondern auch deren Gedanken, Gefühle, Empfindungen ein. Direkte Rede, Dialog Zusammenfassung der Begriffe zur Analyse erzählender Texte nach Jürgen H. Petersen Erzählform: Ich-Form Er-Form Erzählverhalten: auktorial neutral personal Erzählperspektive: Außensicht Innensicht Standort des Erzählers (point of view): olympische Position begrenzter Blick Erzählhaltung: neutral ironisch kritisch bejahend parodistisch Darbietungsweisen: Kommentar Bericht Beschreibung Innerer Monolog Erlebte Rede