Heimat in Deutschland Page 1 of 2 www.heimat-in-deutschland.de > Heimatgeschichten > Lebensläufe: Menschen in Deutschland Hier sagen sie Ausländer, in der Türkei Deutschländer Fatma Ülker lebt fast drei Jahrzehnte in Berlin - ihre Töchter betrachten Anatolien nur noch als Urlaubsziel (von Wolfgang Kunath). "Ich hab' mir immer gedacht, wie leben die europäischen Leute?", erinnert sich Fatma Ülker an die Zeit, als sie noch in Anatolien wohnte. Ihr Bruder, der Berlin damals schon kannte, hatte ihr von den merkwürdigen Konsumgewohnheiten der Deutschen erzählt: Dass es dort Dosen gibt, mit nur zwei Portionen drin; dass Gemüse hundertgrammweise und - noch verrückter - Wassermelonen in Scheiben verkauft werden. "Wo wir doch immer fünf oder sechs auf einmal kaufen", erzählt sie heute lachend vom ersten Kulturschock, den ihr Deutschland schon eingejagt hatte, als sie noch in der Türkei lebte. Als Fatma Ülker am 10. Juli 1973 mit einem weißen Koffer und ohne Geld in Tempelhof aus dem Flugzeug stieg, stand die Berliner Mauer schon fast zwölf Jahre. Ihr Bau hatte in Westberlin eine heute kaum noch vorstellbare Knappheit an Arbeitskraft erzeugt; die traditionellen Arbeiterbezirke lagen nämlich im Ostteil der Stadt und damit jenseits der Mauer. Und so rückten schnell die Türken nach: 130 000 leben heute in Berlin, und auf weitere 45 000 wird die Zahl der Türkischstämmigen geschätzt, die eingebürgert wurden. Bleiben wollte Fatma Ülker eigentlich nur kurz; nun ist sie über 28 Jahre hier. Aber diese 28 Jahre, so lange sie sein mögen, sind eine kurze Zeit, wenn man bedenkt, wie sich ihr Leben verändert hat. Und vor allem, wie sich das Leben ihrer Töchter von ihrem unterscheidet. Kulturelle Anpassung, Spracherwerb, Bildungserfolg, beruflicher Aufstieg: Geht das wirklich so schnell -von einer Generation auf die andere? Berlin-Friedenau. Der Norden des Viertels ist eine großbürgerliche Wohnlage, und Günter Grass ist der prominenteste Bürger dort. Der Süden nimmt sich nicht so gediegen aus. Türken wohnen längst nicht mehr nur in Kreuzberg, Neukölln und im Wedding. Fatma Ülker hat von Anfang an in Friedenau gewohnt, auch wenn damals, anders als heute, kaum einer ihrer Landsleute zur Nachbarschaft zählte. Eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in einem älteren Mietshaus: Hier lebt sie seit 1984. Neben ihr auf der Couch sitzt ihre 1972 geborene Tochter Süheyla. Und was die beiden Frauen erzählen, hört sich an, als berichteten sie aus zwei verschiedenen Welten. Was ja auch tatsächlich so ist. Als junges Mädchen arbeitete die 1949 geborene Fatma je nach Wetter auf dem Feld, oder sie knüpfte Teppiche. In ihrem anatolischen Dorf ging es zu, wie man sich die ländliche Türkei der 50er und 60er Jahre vorstellt: ärmlich und rückständig. "Lange Haare, kurze Sätze", dieses Sprichwort übersetzt sie aus dem Türkischen - soll heißen: Mädchen sind minderbemittelt. Fünf Jahre lang ging sie zur Schule, wegen einer Krankheit mit einer Unterbrechung von zwei Jahren. Als sie die Volksschule abgeschlossen hatte, war sie schon so alt, dass ein weiterer Schulbesuch nicht in Frage kam. Sie würde ja sowieso bald heiraten. Um die Arbeit im fernen Deutschland bewarb sie sich 1973. Ihr Mann - die Ehe war nicht glücklich und zerbrach später in Deutschland - saß damals im Gefängnis. Er erfuhr nichts. Auch den Schwiegereltern, von denen sie sich gegängelt fühlte, sagte sie nichts. Die Passformalitäten, die erforderliche medizinische Untersuchung - alles betrieb sie heimlich. Nur der Vater unterstützte sie. Dem war klar, dass junge Menschen jede Chance ergreifen müssen, die sich bietet. Das Wort "Befreiung" versteht sie nicht; Süheyla muss übersetzen. Der Anwerber fragte sie damals, ob sie mit dem Zug oder mit dem Flugzeug nach Deutschland reisen wolle - sie hat natürlich fürs Flugzeug plädiert. "Haha - nur schnell weg, was?", schaltet sich Fatmas Nachbarin lachend ein, die bisher dem Gespräch stumm zugehört hat. Ja, sagt Fatma Ülker eher ernst, nur schnell weg. Bei Sarotti in Tempelhof fing sie zu arbeiten an. Seitdem, sagt die Tochter feixend, mag sie keine Schokolade mehr. Fünfzig Mark Vorschuss auf den Monatslohn von knapp 600 Mark, damit begann sie in Berlin. Der Mann und die Töchter zogen bald nach, aber die Hoffnung, dass die Ehe in Deutschland gekittet würde, schlug fehl. Freiheit - nach der Scheidung war das gleichbedeutend mit der Existenz als allein erziehende Mutter. 1984, als die Töchter nicht mehr ganz klein waren, übte der Betrieb Druck auf sie aus, sie sollte Nachtschichten machen. Eine Woche versuchte sie es. Dann hat sie sich wegen der Kinder eine neue Arbeit gesucht, als Putzfrau im Rathaus Schöneberg und später in einer Kindertagesstätte. Fatma spricht Gastarbeiter-Deutsch: Großer Wortschatz, kaum Grammatik. Süheylas Deutsch ist perfekt - wenn sie einen Akzent hat, dann einen Berliner. "Sehr gemütlich, alles freundlich und fröhlich, aber natürlich ohne Luxus", so beschreibt sie ihre Kindheit. Ausländerfeindlichkeit? "Damit war ich nie konfrontiert." Bis 1984 wohnten sie als einzige Ausländer in einem Wohnhaus, dessen Besitzer, ein Ärztepaar, die beiden Mädchen mochten. Da waren am Nikolaustag die Schuhe voll, und Elif und http://www.heimat-in-deutschland.de/print.php?thema=4&kategorie=18&textID=19 2. 10. 2004 Heimat in Deutschland Page 2 of 2 Süheyla sagten als Dankeschön zu Weihnachten brav Gedichte auf. Nach der Realschule hat Süheyla eine Erzieherinnenausbildung gemacht und danach das Fachabitur nachgeholt. Als sie fest angestellt war, "legte sich das dann mit dem Studienwunsch." Die Schwester - ausgebildet als Steuerfachangestellte - hat sich Anfang des Jahres selbstständig gemacht. Dass viele ihrer Landsleute unter sich bleiben, findet Fatma falsch: "Ich war immer mit den deutschen Arbeitskollegen zusammen, ich war sozial zufrieden." Süheyla kennt die Probleme der Koloniebildung aus ihrer beruflichen Praxis. "Ich finde, von unserer Seite müsste da oft mehr kommen", sagt sie und erzählt von Frauen, die kaum ein Wort Deutsch können, von Mädchen, die auf der Schule keinen Finger krumm machen, weil die Eltern ihnen sagen, bald gehe es zurück in die Türkei, und dann würden sie sowieso heiraten. Arthrose, Bandscheibenvorfall, Halswirbelverschleiß: Fatma kann seit zwei Jahren nicht mehr arbeiten, und das wird sich wohl kaum ändern. In die Türkei will sie nicht zurück, jetzt nicht mehr: "Hier gucken sie manchmal böse und sagen: Ausländer! Aber in der Türkei sagen sie: Deutschländer! Ist doch viel schlimmer!" Selbst wenn der damit ausgedrückte Neid sich irgendwann lege, sie kenne doch kaum noch jemanden dort. Die Älteren sind tot, der Freundeskreis von damals ist versprengt - warum zurück? Für Süheyla stellt sich diese Frage nicht. Mit ihrer Schwester war sie neulich mal in der Türkei: "Am Strand zum Baden, als ganz normale Touristen - so richtig mit Kamera." Quelle: http7Aivww.fr-aktuell.de/fr/spezial/auslaender/index.htm gedruckt am Samstag, 2. Oktober 2004 © 2002 - http://www.heimat-in-deutschland.de - info@heimat-in-deutschland.de http://www.heimat-in-deutschland.de/print.php?thema=4&kategorie=18&textID=19 2. 10. 2004 „Aus der Türkei? Geil!" Meral Düzgün, für das SPIEGEL-Titelbild fotografiert, möchte wie viele junge Deutsche türkischer Herkunft als Person, nicht als Passbesitzerin wahrgenommen werden. :25 \IS I st sie nun eigentlich Türkin, Kurdin wie ihre Eltern oder doch Deutsche? Die Berliner Abiturientin Meral Düzgün kann diese immer gleiche Frage schon lange nicht mehrt hören. „Ich bin in Deutschland geboren, ich lebe deutsch, ich träume deutsch", är- gert sich die junge Frau mit der Löwenmähne, „ich bin es nur für viele Leute nicht, von denen werde ich bloß als Türkin behandelt." Viel lieber würde Meral Düzgün, 18, statt dessen als das identifiziert, „was ich ausstrahle": als selbstbewusste junge Frau, die in einer Wohngemeinschaft mit Freunden lebt und manchmal als Hostess auf Veranstaltungen jobbt oder jetzt beim SPIEGEL zum ersten Mal für ein Titelbild posierte. Ihr Berufswunsch: Therapeutin oder So-zialpädagogin, in Deutschland, für Deutsche. Ein bisschen Hilfe, nicht viel, verspricht sich die Abiturientin nun „endlich" durch die geplante doppelte Staatsbürgerschaft. Bislang hat sie wie ihre Eltern, die seit über 25 Jahren in Deutschland leben, und ihre fünf Geschwister nur den türkischen Pass. Abiturientin Meral Düzgün „Das spaltet die Gesellschaft" Und bislang war die Frage der Staatsbürgerschaft für sie auch „gar nicht so wichtig". Doch seit die Ausländer immer mehr zum politischen Streitthema in Deutschland werden und ausländerfeindliche Übergriffe nicht abreißen, glaubt sie sich „einfach besser und sicherer" zu fühlen, wenn sie den deutschen Pass in der Tasche hätte. Zusätzlich zu ihrem alten, wohlgemerkt. Denn „ich häng' nun mal zwischen zwei Kulturen", sagt Meral, und das würde die doppelte Staatsbürgerschaft am treffendsten dokumentieren. Zunächst aber ist ihre Hoffnung neuer Angst gewichen. Sorge macht ihr dabei nicht etwa, das ersehnte Ausweispapier mit dem Bundesadler womöglich doch nicht zu erhalten. „Mir macht Angst, dass eine Partei solche Äußerungen von sich gibt und die Bevölkerung aufwiegelt." Schwestern Sema, Derya Mutlu Zwischen den Kulturen? „Ich werde als Bedrohung dargestellt, nicht als gleichwertiger Mensch", sagt Meral Düzgün, „das ist für mich rassistisch, und das spaltet die Gesellschaft." Davor freilich bietet der deutsche Pass allein noch lange keinen hinreichenden Schutz. Diese Erfahrung macht die Künstlerin Sema Mutlu, 29, immer wieder. Die Sängerin und Schauspielerin, die als weiteres Titelmodel ins SPIEGEL-Fotostudio geladen war, hat ganz eigene Erfahrungen mit dem Hamburger Ausländeramt. Vor einiger Zeit wollte sie ein Visum für ihren damaligen Ehemann, einen Palästinenser, verlängern lassen. „Was sind Sie?" fragte der pflichtbewusste Beamte und wollte sich mit der Antwort „Deutsche" so leicht nicht abspeisen lassen. „In echt?" begehrte er nun zu wissen. Darauf Sema Mutlu erneut: „Ja, Deutsche." Nur scheinbar gab sich der Staatsdiener jetzt zufrieden: „Also gut, Nationalität deutsch, aber Volkszugehörigkeit türkisch." Echt türkisch ist an der Rapperin und Rockmusikerin vor allem ihr Geburtsort Trabzon am Schwarzen Meer. Seit dem sechsten Lebensmonat lebt sie mit ihren Eltern in Bremen. Ihr Vater ist SPD-Mitglied und war lange Betriebsrat auf der Vulkan-Werft. Seit fast vier Jahren ist sie auch amtlich eine Deutsche, die einzige in der Familie. Zusammen mit ihrer Schwester Derya, 21, war sie schon mit Udo Lindenberg auf Tournee, und im Sommer feiert sie Premiere in einem Film mit Hannelore Eiser. Und doch wird ihr die türkische Identität „ständig aufgedrängt, da kannst du machen, was du willst". Selbst als Künstlerin, die ebenso einer Multi-Kulti-Szene in Berlin, Amsterdam oder Istanbul entstammen könnte, wird ihr der Stempel allzu schnell aufgedrückt. Noch bevor sie den ersten Ton hervorbringen kann, kriegt sie oft das Urteil schon zu hören: „Rapperin? Aus der Türkei? Geil!" Für die Künstlerin, die in Hamburg Turkologie und Islamwissenschaft studiert hat, ist die Herkunft ihrer Eltern eigentlich kein Problem. „Einen Großteil dieser Kultur trag' ich in mir", sagt sie und ist darauf stolz. Sie hätte auch gern beide Staatsbürgerschaften, „weil es dem entspricht, was mich ausmacht". Aber sie möchte, als Künstlerin verständlich, zuallererst nicht deutsch sein oder türkisch oder beides, sondern „als Individuum wahrgenommen werden". Die Sängerin ist empört „über die Art und Weise, wie unsere Abstammung zur Stimmungsmache gegen uns verwendet wird". Jeder Mensch müsse sich „abgrenzen, um sich selbst zu erkennen", sagt Sema Mutlu. Doch Klischees seien „nur so lange okay, wie sie nicht bösartig sind. Und zur Zeit macht der Ton die Musik". Manfred Ertel