4.3.3 Grammatik im Unterricht Deutsch als Fremdsprache Grammatik - ein notwendiges Übel: Dieser Eindruck entsteht nicht selten, wenn man in Hochschulseminaren zur Didaktik und Methodik des Unterrichts Deutsch als Fremdsprache nach Einstellungen zur Grammatikvermittlung fragt und um spontane Äußerungen bittet. Oft ergibt sich dann, dass Lehramtsstudierende aus den deutschsprachigen Ländern nur über ein rudimentäres schulgrammatisches 174 4.3 Sprachliche Fähigkeiten Wissen zum Deutschen verfügen, das aus dem muttersprachlichen Unterricht in der eigenen Schulzeit stammt, und das für sie mit eher unangenehmen Erinnerungen an einen als demotivierend empfundenen Grammatikunterricht verbunden ist. Ihre ausländischen Kommilitonen dagegen können ihnen grammatische Regularitäten in der deutschen Sprache meist metasprachlich sicher erklären. Diese sehen dann in der Grammatikvermittlung oft auch eher den Aspekt einer Notwendigkeit, jene den eines Übels. Beobachtet man dann allerdings, dass die Aasländer trotz größerer metasprachlicher Sicherheit doch noch den einen oder anderen Fehler beim Sprechen und beim Schreiben machen und führt man sich den verführerischen Vergleich zum frühkindlichen Spracherwerb oder zum ungesteuerten Fremdsprachenlernen bei einem längeren Aufenthalt in einem Land der Zielsprache vor Augen, die beide oft so viel erfolgreicher zu verlaufen scheinen als der Fremdsprachenunterricht, dann drängt sich die Frage auf, ob Grammatikvermittlung denn überhaupt einen Beitrag zum Fremdsprachenlernen leistet. Wenn auch für andere Länder verallgemeinerbar ist, was Zimmermann (1984, S. 40) finden Fremdsprachenunterricht an deutschen Schulen festgestellt hat, nämlich dass 40-60% der Unterrichtszeit für Gramm atikvermittlung verwendet werden, dann ist zu prüfen, ob hier nicht eine Zeitvergeudung vorliegt. Darum soll es im Folgenden zunächst gehen. Im Anschluss ist zu fragen, welche Konzeption einer wissenschaftlichen Grammatik sich für eine Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache eignet und wie sie für didaktische Zwecke in eine pädagogische Grammatik umzusetzen ist. Als dritte Frage schließt sich die nach Grundsätzen und Möglichkeiten der Realisierung im Unterricht an. 4.3.3.1 Wozu Grammatik im Fremdsprachenunterricht? Von welchem Grammatikbegriff sollte der Fremdsprachenunterricht sinnvollerweise ausgehen? Unter Grammatik, so argumentiert Heibig (1992), ist nicht nur die Morphosyntax zu verstehen, also z.B. die Flexion oder Fragen der Stellung von Satzgliedern. Dies wäre verengend. Vielmehr umfasst sie den gesamten Bereich der „Zuordnungsbeziehungen zwischen Form und Bedeutung" sprachlicher Zeichen (Heibig 1.992, S. 150). Sie schließt also das Lexikon, die Semantik und die Phonetik bzw. Phonologie ein. Mit Blick auf den Spracherwerb kann der Begriff dann in einem dreifachen Sinne gebraucht werden: • Er bezieht sich erstens auf die Regularitäten dieser Zuordnungsbeziehungen im Zeichensystem der Sprache selbst, • zweitens auf die (wissenschaftlicher Theoriebildung folgende oder für didaktische Zwecke modifizierte und damit pädagogische') Beschreibung und Modellierung dieser Regularitäten durch Linguisten und Fremdsprachenlehrer, wie sie typischerweise in Büchern festgehalten wird, • sowie drittens auf die subjektiven, den individuellen Sprechern/Lernern oft gar nicht bewussten Annahmen, Wissensbestände und Konstruktionen zu diesen Regularitäten, die ihrer tatsächlichen Sprachverwendung zu Grunde liegen. 4. Unterricht 4.3 Sprachliche Fähigkeiten Dieser dritte Grammatikbegriff ist mit dem zweiten keinesfalls identisch, denn eine solche Grammatik im Kopf des Einzelnen entsteht ja beim ungesteuerten L2-F.rwerb und beim frühkindlichen Ll-Erwerb spontan und weitgehend ohne jede Unterweisung. Er ist auch mit dem ersten nicht identisch, denn in jenem Sinne existiert Grammatik ganz unabhängig vom einzelnen Sprachverwender. Einen 'grammatikfreien' Spracherwerb kann es also, führt man sich dies vor Augen, gar nicht geben. Zu fragen ist lediglich, inwieweit Grammatik im zweiten Sinne, also die metasprachliche, bewusst machende grammatische Beschreibung und ihre Didaktisierung, eine Lernhilfe sein kann. Notwendig ist eine solche metasprachliche Grammatikvermittlung nicht, das beweist die Möglichkeit des ungesteuerten Spracherwerbs. Aber sie könnte doch ein Weg zur Optimierung des Lernens sein und die Lerner dabei unterstützen, ihre subjektiven Grammatiken den Gegebenheiten in der Zielsprache anzunähern. Um diese Frage zu prüfen, ist es sinnvoll, zwei Typen des Sprachwissens zu unterscheiden, das explizite und das implizite. Explizites Sprachwissen ist metasprachlich formulierbares Wissen über Sprache, das 'Kennen' der Sprache. Ein Beispiel für das Vorhandensein von explizitem Sprachwissen ist die Fähigkeit, in einer gehörten Äußerung („Nimm's mit!") eine sprachliche Regularität zu erkennen und metasprachlich zu formulieren („Das ist die zweite Person Singular des Imperativs."). Implizites Sprachwissen sind die Wissensbestände, die den Sprechern das Produzieren und Verstehen von Äußerungen ermöglichen, das 'Können' der Sprache. Sie sind den Sprechern zumeist nicht bewusst und werden weitgehend automatisiert genutzt. Ein Beispiel wäre das spontane Verstehen der Äußerung oder auch die Fähigkeit, beim Formulieren zum Infinitiv eines starken Verbs wie „nehmen" problemlos die Formen „nimmst", „nahm" und „genommen" zu finden, ohne die Regelmäßigkeit der Ablautreihen, die hinter diesen Strukturen steht, zu kennen. Viele Sprecher mögen „nehmen" sogar irrigerweise, aber ganz schadlos für ein Verb halten, das in seinen Stammformen keiner Regularität folgt, Beide Typen des Sprachwissens lassen sich idealtypisch gegenüberstellen: explizites Sprachwis- implizites Sprachwis- sen (Sprache kennen) sen (Sprache können) Ziel des Sprachunterrichts ist der Erwerb von implizitem Sprachwissen. Um nun zu beurteilen, ob die Vermittlung von explizitem Wissen ein Umweg in Richtung auf dieses Ziel ist oder ob es eine Abkürzung sein kann, wäre es wesentlich zu wissen, ob sprachliche Wissenseinträge im Gedächtnis der Lerner ihren Charakter auch ändern können, ob also explizites Sprachwissen automatisiert werden kann und zu implizitem wird und ob sich Lernet' umgekehrt implizites Wissen bewusst, und metasprachlich formulierbar machen können. Eben diese Frage ist von der Spracherwerbsforschung und von der Sprachlehrforschung noch nicht abschließend beantwortet. Viele neuere Arbeiten deuten jedoch daraufhin, dass ein sol- cher Übergang im Charakter von Wissensbeständen durchaus möglich ist und dass er die Lerner bei der Ausdifferenzierung ihrer Lernersprachen wirkungsvoll unterstützen kann, dass Kognitlvierung also Lernhilfe sein kann (vgl. Tönshoff 1990,1992), Den tatsächlichen Verhältnissen angemessener ist deshalb vermutlich folgende Darstellung: explizites Sprachwis- >»»»»»»»»»»»» implizites Sprachwis-1 sen (Sprache kennen) <«««««««««««« sen (Sprache können) In welcher Weise kann man sich diese Unterstützung des Spracherwerbs durch Grammatikvermittlung vorstellen? Dazu drei Hinweise: • Bewusst machende Grammatikarbeit kann die Aufmerksamkeit des Lerners steuern, sodass er bei der Verarbeitung des fremdsprachlichen Inputs, dem er ausgesetzt ist, besonders auf solche sprachlichen Mittel und Strukturen achtet, die auf seinem individuellen Stand der Lernersprache gerade zum Weiterlernen anstehen. Sie kann also zu einem gezielteren Lernverhalten beitragen. • Damit ermöglicht Bewusstmachungbeim Lernen eine Ersparnis von Zeit und Anstrengung gegenüber dem ungesteuerten Erwerb. Dieser Aspekt wird oft vernachlässigt, wenn man das Lernen im Fremdsprachenunterricht dem anscheinend so viel erfolgreicheren ungesteuerten, 'natürlichen Erwerb gegenüberstellt: Hier gibt es typischerweise etliche Stunden Umgang mit der L2 am Tag, dort müssen meist nur wenige in der Woche ausreichen. • Explizites Sprachwissen kann aber auch direkt, also ohne (vollständige) Oberführung in implizites Wissen, Grundlage der Sprachverwendung sein. Dies hängt von der Art der Sprachverwendungsuulgabe ab, in die sich ein Lerner gestellt sieht. Beim Schreiben und Lesen und beim vorbereiteten Sprechen besteht durchaus die Möglichkeit, sich explizite Wissensbestände ins Gedächtnis zu rufen und sie zu verwerten. Lerner nutzen diese Möglichkeit zum Beispiel bei Selbstkorrekturen in schriftlichen Texten, wie Protokolle lauten Denkens zeigen (Huneke 1995, S. 488-497). Ob und in welchem Umfang Grammatikarbeit eine sinnvolle und entlastende Hilfe ist, hängt auch von den Lemern und von der jeweiligen konkreten Lernsituation ab. Ganz offensichtlich gill dies für das Lebensalter der Lerner: Auf der Pri-marstufe dürfte bewusst machende Grammatikarbeit in größerem Umfang wenig sinnvoll sein, Lerner nach der Pubertät oder Erwachsene werden oft auf Grund der fortgeschrittenen oder abgeschlossenen kognitiven Entwicklung einen viel größeren Gewinn aus ihr ziehen können, ja darauf angewiesen sein, wenn ihre Spracherwerbsfähigkeit für den ungesteuerten Erwerb nachgelassen hat. Weydt (1993) stellt weitere Faktoren zusammen, die zur Beurteilung eines sinnvollen Ausmaßes des Anteils der Grammatikarbeit am gesamten Lernaufwand herangezogen werden sollten: 176 177 4. Unterricht 4.3 Sprachliche Fähigkeiten • Die Lernphase: In den ersten Wochen des Unterrichts in einer neuen Fremdsprache wird er eher gering sein, in der Hauptphase höher, in der 'Perfektionierungs-phase' kann er absinken und der Anteil von Wiederholung wird gegenüber der Neueinführung zunehmen. • Die Struktur der Zielsprache: Erlernt man eine Sprache mit 'wenig' Morphosyntax wie das Englische oder Französische, so kann der Grammatikanteil geringer bleiben als bei einer Sprache mit einer 'reichen' Morphosyntax wie dem Russischen oder Lateinischen. Das Deutsche tendiert hier eher zur zweiten Gruppe. • Die Systemdistanz: Ist die strukturelle Ähnlichkeil zwischen LI und L2 groß, so ist ein niedrigerer Grammatikanteil am Lernaufwand sinnvoller als bei geringer Ähnlichkeit (z.B. Englisch - Französisch gegenüber Deutsch - Koreanisch). • Der Lernertyp: Für einen 'kognitiv-analytisch' geprägten Lernertyp ist ein höherer Grammatikanteil sinnvoller als für einen 'imitativ-ganzheitlichen'. • Der Wunsch der Lerner nach Grammatikarbeit, das Ausmaß der schulischen Grammatikarbeit im muttersprachlichen Unterricht, ihre Möglichkeiten zum Sprachkontakt mit der L2 außerhalb des Fremdsprachenunterrichts und die Zahl bereits gelernter anderer Fremdsprachen sind zu berücksichtigende Faktoren. Auch wenn die Geltung dieser Faktoren nicht für alle im gleichen Maße empirisch abgesichert ist, so können sie sich doch auf Plausibilität stützen. Die Frage nach dem Anteil, den Grammatikvermittlung im Fremdsprachenunterricht einnehmen sollte, lässt sich also pauschal überhaupt nicht beantworten. Sie ist immer nur im Blick auf die konkreten Bedürfnisse und Voraussetzungen in einer Lerngruppe zu klären. Grundsätzlich aber bleibt festzuhalten, dass Grammatikarbeit sehr wohl eine Lernhilfe darstellen kann. 4.3.3.2 Welche Grammatik für Deutsch als Fremdsprache? Im Anschluss ist nun zu fragen, welche Grammatikkonzeption den Anforderungen des DaF-Unterrichts am ehesten gerecht wird. Die traditionelle Schulgrammatik entspricht diesen Anforderungen nicht. Sie ist aus schulpraktischen Zwecken im Rahmen des herkömmlichen Lateinunterrichts entstanden und wurde von Karl Ferdinand Becker und anderen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Muttersprache übertragen. Im Kern besteht sie aus einer Wortartenlehre und einer Satzlehre, andere Gegenstandsbereiche werden kaum betrachtet. Sie verwendet keine einheitlich strukturierten Begriffe und Kriterien; teils orientiert sie sich formal, teils semantisch, teils an außersprachlicher Logik. Die vielfältigen Ansätze zur Abgrenzung von Wortarten und zur Klassifizierung von subordinierten Sätzen machen dies besonders augenfällig. Die Übertragung auf eine andere Objektsprache, der Wechsel der Funktion zu einer deskriptiven Grammatik der LI (die gleichwohl sprachliche Empfehlungen formuliert und dabei oft die gesprochene Sprache auf die Normen der geschriebenen verpflichten möchte) und das Fehlen einer einheitlichen Perspektive führen zu etlichen lnkonsistenzen und Widersprüchen. Dies erschwert es den Lernern zum einen, sich ein zusammenhängendes Bild zu machen. Zum andern beschreibt sie die Sprache nicht vollständig und lässt die Lerner gerade bei zentralen Lernproblemen des Deutschen wie der Morphologie und der sog. Wortstellung im Stich. Zum Dritten setzt sie als typische Muttersprachengrammatik die sprachliche Kompetenz immer schon voraus, sie benennt im Wesentlichen nur, ohne zu präskriptiven Regeln für den Bau von wohlgeformten sprachlichen Äußerungen zu kommen. Sie kann deshalb nicht helfen, sprachliche Kompetenz aufzubauen. Für den Fremdsprachenunterricht wird eine in sich konsistente Grammatik gebraucht, die notwendigerweise vollständiger und umfangreicher sein muss als eine Muttersprachengrammatik. Für deutschsprachige Studierende, die DaF-Lehrer werden, dürfte hier deshalb oft sicher eine größere und anstrengendere Lernaufgabe liegen als für ihre ausländischen Kommilitonen, so viele Vorteile ihnen die sprachliche Kompetenz sonst auch verschafft. Die Grammatikkonzeption, die sich im DaF-Unterricht und in den Lehrwerken in den letzten zwei Jahrzehnten weitgehend durchgesetzt hat, ist die Dependenz-Verb-Grammatik (DVG). Sie knüpft an der Oberfläche sprachlicher Äußerungen an und fragt nach den Bedingungen, die für das Vorkommen verschiedener syntaktischer Elemente im Satz gelten. Die Beziehungen zwischen den Elementen werden hierarchisch gesehen, d.h. manche Elemente legen anderen Bedingungen hinsichtlich ihres Vorkommens und hinsichtlich ihrer Form auf. Vor allem gilt das für das Hauptverb im Satz, dessen Stellung als zentral angesehen wird. So lassen sich zum Beispiel die morphosyntaktischen Lernprobleme beim Deutschen ebenso wie die sich aus der Wortstellung ergebenden gut erklären. Das Verb „stehlen" etwa eröffnet eine Position für einen 'Täter' und legt ihm die Bedingung auf, im Nominativ zu erscheinen, ferner die Position dessen, dem etwas gestohlen wird (Bedingung: Dativ) sowie die Position des Gestohlenen (Bedingung: Akkusativ). „Sich freuen" lässt je nach der Bedeutung die präpositionalen Ergänzungen „auf etwas" und „über etwas" zu, nicht aber „für etwas" oder „mit etwas". Solche Bedingungen, die das Verb anderen Elementen hinsichtlich der Notwendigkeit oder Möglichkeit ihres Vorkommens und hinsichtlich ihrer Form auferlegt, machen seine Valenz aus. Die Valenz muss im Wörterbuch angegeben sein (vgl. z.B. Wahrig 2003 und Götz/Haensch/Wellmann 2002). Ist sie bekannt, liegen schon wesentliche Informationen darüber vor, wie ein wohl geformter Satz mit diesem Verb gebildet werden kann. Eine Beschreibung mit dem schulgrammatischen Begriffsinstrumentarium könnte dies nicht leisten. Auch bezüglich der Abfolge verschiedener Elemente im Satz ('Wortstellung') spielt das Verb eine zentrale Rolle. So konstituieren der finite und der infinite Bestandteil des verbalen Komplexes im Normalfall eine Satzklammer (verbale Klammer): nimmt ... mit hat ... gestohlen will ... stehlen wurde ... gestohlen (usw.) 178 179 4. Unterricht 4.3 Sprachliche Fähigkeiten Die Satzklammer konstituiert ein syntaktisches ('topologisches') Mittelfeld, das verschiedene syntaktische Elemente aufnehmen kann: hat dem Huhn jeden Sonntag ein Frühstücksei gestohlen, hat der Fuchs dem Huhn ein Frühstücksei gestohlen. Vor dem Mittelfeld, im Vorfeld, kann nun genau ein syntaktisches Element stehen: Der Fuchs hat dem Huhn jeden Sonntag ein Frühstücksei gestohlen. Jeden Sonntag hat der Fuchs dem Huhn ein Frühstücksei gestohlen. oder auch: Bevor die Bäckereien ^ der Fuchs dem Huhn jeden gestohlen sonntags öffnen durften, Sonntag ein l-riihstüc ksei Auch das dritte topologische Feld, das Nachfeld, kann bestimmte syntaktische Elemente aufnehmen: Der Fuchs ^ dem Huhn jeden Sonntag aegtohien ^evor ^ie Bäckereien ein Frühstücksei ' sonntags öffnen durften. Die DVG konnte sich für den DaF-Unterricht weitgehend durchsetzen, weil sie eine konsistente Beschreibung des Deutschen ermöglicht, die alle für die Lerner wesentlichen Aspekte einschließt, dabei aber in ihrer Begrifflichkeit und in ihren Grundvorstellungen mit schulgrammatischen Ausgangskenntnissen relativ leicht zugänglich ist und verständlich bleibt. Außerdem stellt sie eine gute Basis für eine Kontrastierung des Deutschen mit vielen Ausgangssprachen dar (vgl. z.B. Engel 1986 für das Serbokroatische: Engel 1999 für das Polnische: Engel/Isbasescu/Sta-nescu/Nicolae 1993 für das Rumänische; Franco 1996 für das Portugiesische). Nun liegt es auf der Hand, dass eine Grammatik wie die DVG zwar für die Lehrerinnen und Lehrer, die ja linguistisch vorgebildet sind, eine sichere Informationsbasis über sprachliche Gegebenheiten der Zielsprache liefert, dass sie aber mit ihrer wissenschaftlichen Zielstellung den Bedürfnissen der unterschiedlichen Gruppen von Lernern nicht entsprechen kann. Dies liegt daran, dass sie sich in ihrer Strukturierung ausschließlich am Gegenstand und an der theoretischen Konzeption ausrichtet, nicht an Lernprozessen. Außerdem bemüht sie sich in der Darstellung um Knappheit, Präzision und Konsistenz - die Lerner brauchen aber Explizitheit, Erklärung und ausführlichen Bezug auf das Sprachmaterial sowie auf ihre Sprachpraxis. Eine wissenschaftliche Grammatik kann also lediglich das 'Rohmaterial' bereitstellen, das noch mit Blick auf die Lerner didaktisch reflek-tiert, reduziert und restrukturiert werden muss, damit es eine Lernhilfe sein kann. Das Ergebnis dieser Bearbeitung ist dann eine pädagogische Grammatik. Dabei sind Aspekte wie die folgenden zu prüfen: • Lernbarkeit: Für die Strukturierung einer pädagogischen Grammatik spielt nicht die Sachgemäßheit die zentrale Rolle, sondern die Lernbarkeit der Phänomene. Sie wird also zum Beispiel vom 'Leichten' zum "Schwierigen' vorgehen (und muss dazu wissen, was für die konkrete Lerngruppe 'leicht' und 'schwierig' zu lernen ist) und sich an den beobachtbaren typischen Frvverbssequen/.en ausrichten (vgl. Diehl 2002). Sie wird sich auch an lernpsychologischen Überlegungen wie der Berücksichtigung des Phänomens der Ähnlichkeit shemmung orientieren. Die Ähnlichkeitshemmung ist eine Gedächtnishemmung: Es ist ungünstig, zwei sehr ähnlich strukturierte Lerngegenstände gleichzeitig zu lernen, sie hemmen sich gegenseitig. Es wäre also zum Beispiel für Lerner mit dem Portugiesischen als LI nachteilig, die in ihrer Bedeutung sehr ähnlichen und in ihrer syntaktischen Funktion identischen Konjunktionen „als" und „wenn" gleichzeitig zu lernen - ein besonderes Lernproblem für sie, da beiden Wortern in ihrer Muttersprache nur eines entspricht, die Konjunktion „quando". Günstiger ist es für sie wohl, zuerst „wenn" zu erwerben und dann später, vielleicht im Zusammenhang mit den Tempora der Vergangenheit, „als", obwohl beide Konjunktionen unter systematischen Gesichtspunkten (also auch im Blickwinkel einer wissenschaftlichen Grammatik) eng zusammengehören. • Kontrastivität: Für die Beurteilung der Lernbarkeit von sprachlichen Phänomenen und für eine sinnvolle Schwerpunktbildung in einer pädagogischen Grammatik kann die Kontrastierung zur LI der Lerner eine wichtige Rolle spielen. Deutschsprachigen DaF-I.chrern stellt sich deshalb die Aufgabe, die Ausgangssprachen) ihrer Lerner möglichst gut keimen zu leinen: ihren ausländischen Kollegen gegenüber sind sie hier zunächst oft im Nachteil. Da Deutsch häufig zweite Fremdsprache zum Beispiel nach Englisch ist, kann auch der Vergleich mit der ersten Fremdsprache sinnvoll sein. • Strukturierung und Schwerpunktbildung nach der Frequenz der Phänomene: Eine wissenschaftliche Grammatik ist an Problemen interessiert. Sie wird Gegenstände dann ausführlicher behandeln, wenn sie für ihre theoretische Konzeption zentral sind oder wenn sie die Geschlossenheit und YViderspruchsfreiheit der Theorie zu sprengen drohen, also etwa bei seltenen Ausnahmen von einer gefundenen Begel. Einer pädagogischen Grammatik dagegen geht es um praktikable Resultate. Sie setzt ihre Schwerpunkte bei besonders frequenten, typischen oder für den Erwerb und die Verwendung der 1.2 bedeutsamen sprachlichen Phänomenen. Damit ist sie notwendigerweise adressatenspezifisch, denn was frequent und typisch ist. hängt vom Interesse der Lerner und von den Varietäten der Zielsprache ab. mit denen sie zu tun haben. Der Wissenschaftler, der in der Fachsprache seiner Disziplin im Deutschen kompetent werden will, wird gehäuft mit Passiv- und Passiversatzformen zu tun haben, mit vielen sehr komplexen und unübersichtlichen Nominalphrasen und mit anderen Phänomenen, die in der gesprochenen Umgangssprache eher selten sind, aber kaum mit einer Wortstellung wie in dem Satz „weil es ist einfach zu voll im Schwimmbad", die eben dort recht häufig ist und der zum Beispiel Jugendliche sicherlich begegnen werden, wenn sie Kontakt zu Gleichaltrigen im deutschsprachigen Raum aufnehmen. • Strukturierung nach der Art der Sprachverwendung: Für die Produktion von sprachlichen Äußerungen beim Sprechen und Schreiben reicht ein weniger umfangreiches Inventar an grammatischen Mitteln als für die Rezeption beim Hören 180 181 4. Unterricht 4.3 Sprachliche Fähigkeiten und Lesen. Sprecher können ja selbst entscheiden, welche grammatischen Mittel sie verwenden wollen. Was ihnen noch zu komplex oder zu wenig gesichert erscheint, können sie umgehen; ihr kommunikatives Ziel ist in den allermeisten Fällen auch so erreichbar. Als Hörer oder Leser haben sie diese Wahlmöglichkeit nicht. In diesen Rollen müssen sie mit einem viel größeren Bestand an sprachlichen Phänomenen zurechtkommen. Und außerdem muss ihr grammatisches Wissen in anderer Weise strukturiert sein, damit sie es sinnvoll nutzen können. Eine pädagogische Grammatik hat also nach Mitteilungsgrammatik (auch 'Produktionsgrammatik') und Verstehensgrammatik (auch 'Identifikationsgrammatik' oder 'rezeptive Grammatik') zu unterscheiden." • Darstellbarkeit: Eine pädagogische Grammatik muss darum bemüht sein, die Sachverhalte so verständlich, einprägsam und leicht verwendbar wie möglich darzustellen. Dabei wird sie Visualisierungen. Eselsbrücken und Ähnliches nutzen, sie wird zur Signalgrammatik. • Erarbeitbarkeit: Es ist in der Lernpsychologie eine altbekannte Tatsache, dass Lernen dann besonders gut funktioniert, wenn sich die Lerner die Gegenstande selbst erarbeiten, wenn sie also induktiv lernen können. Für die Grammatikvermittlung bedeutet dies, dass es wenig sinnvoll ist, die Lerner etwa über eine sprachliche Regularität zu informieren und sie dann aufzufordern, Beispiele dazu zu suchen oder zu bilden. Vielmehr sollten sie die Chance haben, auf der Grundlage des Sprachmaterials die Regularitäten und Strukturen selbst zu erarbeiten. Dann kann sie die Grammatikarbeit dabei unterstützen, ihr Inventar an lernersprachlichen Hypothesen über die Zielsprache auszubauen und auszudifferen-zieren, also dazuzulernen. • Kommunikative Einbettbarkeit: Sprachliche Phänomene zu kennen bedeutet noch nicht, sie in der Kommunikation auch verwenden zu können - dies muss geübt werden, und das Üben darf sich nicht im Drill von isolierten sprachlichen Strukturen erschöpfen. Es muss immer in kommunikative Situationen führen, wenn die sprachliche Kompetenz tatsächlich erweitert werden soll. Für eine pädagogische Grammatik heißt dies, dass sie funktional ausgerichtet sein sollte, dass sie also die Phänomene stets aus der Perspektive des 'Nutzens' darstellt, der sich beim Kommunizieren daraus ziehen lässt. Wo findet man eine pädagogische Grammatik, die all diesen Aspekten gerecht wird? Es dürfte deutlich geworden sein, dass es sie 'fertig' zum Nachlesen aus Expertenhand nicht geben kann - nur die einzelne Lehrerin und der einzelne Lehrer verfügen über das nötige Wissen und über die nötigen Fähigkeiten, um eine pädagogische Grammatik für ihre jeweiligen Lerner zu erarbeiten. 14 Wie eine Verstehensgrammatik vorgehen kann, zeigt sehr anschaulich Heringer (1987) für eine Lesegrammatik des Deutschen. Sie stellt nicht aus der Sprecherperspektive Fragen wie „Wie lautet die Flexionsendung der 3. Person Präsens der schwachen Verben?" oder „Wie heißt die Pluralform des Substantivs 'Student'?", sie fragt vielmehr aus der Leserperspektive „Wie lassen sich 'unselbstständige Strukturzeichen' an den Stammwörtern erkennen?", also Flexions- und Wortbildungsmorpheme wie -t, -en, -ig, -isch, -es, -em, -e, -erei; be- (S. 21), sie fragt danach, „Wie man das finite Verb erkennt", „Wie man das Subjekt erkennt" usw. 4.3.3.3 Welche unterrichtlichen Zugriffe sind geeignet? Nimmt man diesen Gedanken ernst, so kann es 'die' angemessene Zugriffsweise auf Grammatikarbeit in einem lernerorientierlen Fremdsprachenunterricht nicht geben. Aber aus dem bisher Gesagten ergeben sich aber doch einige Überlegungen und Prinzipien, die dem konkreten unterrichtlichen Handeln zu Grunde gelegt werden können. Progression: Zunächst einmal sind grammatikbezogene Überlegungen fast immer im Fremdsprachenunterricht enthalten, auch dann, wenn sie nicht im Unterricht thematisiert werden. Sie gehen in die Entscheidung zur Auswahl und Sequenzierung von Lernstoffen, Zielen, Themen, Texten. Notionen1:>, Wortschatz usw. ein, zum Beispiel in den Aufbau von Lehrwerkslcktionen. Sie bestimmen die Progression im Unterricht mit. Hier sind verschiedene Zugriffsweisen denkbar: Die Progression kann systematisch sein, sich also als eine so strukturierte Abfolge von Lernstoffen darstellen, dass sich für die Lerner ein zusammenhängendes Gesamtbild ergibt. Sie kann auch situationsorientiert sein, also grundsätzlich von aktuell auftretenden Sprachverwendungsproblemen und vom Lernerinteresse ausgehen und auf die Erzeugungeines systematischen Gesamtzusammenhanges verzichten. Eine systematische Progression kann linear angelegt sein oder spiralförmig, also auf jeweils höherem Niveau immer wieder zu den gleichen Problembereichen zurückkehren. Welche dieser drei Möglichkeiten (lineare oder spiralförmige systematische Progression, situationsorientierte Progression) für den Spracherwerb günstiger ist, lässt sich pauschal nicht entscheiden. Viele Lehrerinnen und Lehrer sehen aber gute Gründe dafür, auf der Grundstufe eine lineare, systematische Progression einzubeziehen und mit fortschreitendem Kursniveau zu einer spiralförmigen oder situationsorientierten überzugehen, in die zunehmend wiederholende Elemente aufgenommen werden, denn ca. 75% der Fehler von fortgeschrittenen Lernern sind 'kleine Fehler' im Bereich der Nomen und Artikelwörter, der Verbvalenz, der Stellung des finiten Verbs und der Adjektivdeklination, die in vielen Fällen wohl schon fossiliert sind (Wieland 1993). Strategievermittlung: Wenn bewusst machende Grammatikarbeit wirklich dazu beitragen soll, die Sprachverwendling direkt zu erleichtern und zu verbessern, muss sie das notwendige Wissen in einer Form bereitstellen, die den Lernern einen schnellen Zugriff erlaubt und möglichst wenig Konzentration und Aufmerksamkeit bindet. Sie muss effektive mentale Operationen und Strategien entwickeln helfen, halbautomatisierte Denkroutinen, mit denen das Wissen leicht genutzt werden kann, auch dann, wenn wie beim Sprechen und Hören nur wenig Zeit zur Verfügung steht. Hier können zum Beispiel 'Eselsbrücken und Merkverse helfen. So haben das altbewährte „Tum-chen-ma-ment-um" und die „Heit-keit- 15 Unter Notionen versteht man semantisch abgrenzbare Verständigungsbereiche, die grammatisch und lexikalisch auf unterschiedliche Weise gefüllt werden können, z.B. 'etwas vergleichen' oder 'Besitz ausdrücken (vgl. Wilkins 1976). 182 183 4. Unterricht 4.3 Sprachliche Fähigkeiten schaft-ion-ung" schon manchem Lerner geholfen, das Genus eines Substantivs zu finden. Auch geeignete visuelle Strukturierungshilfen haben hier ihren Platz. Das Lehrwerk Stufen International in dem auf solche signalgrammatischen Darstellungsmittel viel Wert gelegt wird, verwendet zum Beispiel in der Grammatikdarstellung immer wieder das Symbol x, um auf die Umstellung von finitem (VI) und nicht fmitem (V2) verbalem Bestandteil des Prädikats aufmerksam zu machen: Hauptsatz: VI V2 Gestern haben sie den Wagen da geparkt. Nebensätze: V2 VI weil sie den Wagen da geparkt haben. als sie den Wagen da parken wollten. / \s1 dass sie den Wagen da geparkt haben. (nach Vorderwülbecke/Vorderwülbecke 1996, S. 59) Für das Verstehen werden andere Strategien gebraucht. So kann es beim Lesen komplexer Sätze sehr sinnvoll sein, auf die Kommasetzung zu achten, die im deutschen Schriftsystem ja Hinweise auf den Bau von Sätzen gibt, auf zweiteilige Konjunktionen (je ... desto, entweder ... oder, sowohl ... als auch), auf Subjunktoren (nebensatzeinleitende Konjunktionen, Relativpronomen und Fragewörter) in Verbindung mit der charakteristischen Nebensatz-Verbstellung (V2 - VI). Autonomes Lernen: Von einer Äutonomisierung des Lernens' zu sprechen ist eigentlich eine Tautologie: Lernprozesse sind per se persönliche, eigenaktive, autonome Aneignungsprozesse des Einzelnen auf der Folie seines individuellen Vorwissens. Allerdings lassen sich diese Prozesse fördern, indem sinnvolle, mehr oder auch weniger vorstrukturierte Lernerfahrungen in geeigneten Situationen ermöglicht werden. Für den Grammatikunterricht ist es aus dieser Perspektive günstig, wenn er an aktuelle Sprachverwendungsprobleme der Lerner anknüpft, wenn er sie sprachliche Regularitäten selbst entdecken, strukturieren, überprüfen und formulieren lässt und wenn er sie anregt, sich über ihre individuellen Lösungsstrategien bei der Bearbeitung solcher Probleme und Aufgaben auszutauschen. Die Autonomie der Lerner wird auch gefördert, wenn sie lernen, selbstständig mit Lehrwerken, mit grammatischen Nachschlagewerken und mit Wörterbüchern umzugehen. Einsprachigkeit / Zweisprachigkeit: Für den Gebrauch der fremden Sprache und für den Umgang mit ihr stehen beim gesteuerten Erwerb meist nur wenige Stunden Unterrichtszeit in der Woche zur Verfügung. Deshalb ist es naheliegend, ei- nen größtmöglichen Teil dieser knappen Zeit dann tatsächlich für die Kommunikation in der L2 zu nutzen und sie auch zur Unterrichtssprache zu machen. In zeitlich eng begrenzten Phasen der Reflexion über die Sprache kann es allerdings auch einmal einen Gewinn an Zeit und an Effektivität bedeuten, wenn die Muttersprache verwendet wird. Dies gilt vor allem, wenn die Reflexion die Kontrastierung zur LI einschließt. Butzkamm (1978) prägte den Begriff der „aufgeklärten Einsprachigkeit" für einen liberalen Umgang mit dem Dogma der Einsprachigkeit in diesem Sinne. Er schlägt darüber hinaus vor, Übersetzungen in die Grammatikvermittlung einzubeziehen, die sprachliche Regularitäten im Kontrast zur Muttersprache auf einem direkten Wege erfahrbar werden lassen, ohne dass längere Erklärungen - gleichgültig, in welcher Sprache - notwendig wären (vgl. Butzkamm 1985). Er zeigt einen solchen grammatischen Minimalismus' an einem Beispiel: Is anybody listening?ftlört mir überhaupt jemand zu (egal wer)? Is everybody listening?Aiört auch jeder zu? Solche Sätze sind stille Regeln. Dieses Erklärungsprinzip wird weitergeführt durch bewusstes Nachbilden der fremden Struktur auch oder gerade dann, wenn dabei muttersprachliche Normen verletzt werden: Gut, nicht wahr? (Gut, was?): Good, isn't tfP'Gut, ist es nicht?' Es ist ein Uhr: (span.) Es la una. 'Ist die eins.' (finn.) Kello onyksi. 'Uhr ist eins.' (Butzkamm 1995, S. 191) Einbettung in kommunikative Handlungsrahmen: Eine zentrale Forderung an die Grammatikvermittlung im Unterricht und insbesondere an das Übungsgeschehen ist die nach der Einbettung in kommunikative Handlungsrahmen und übergreifende Aufgabenzusammenhänge. Grammatik als Selbstzweck zu betreiben wäre in der Praxis wohl eher eine Gefährdung als eine Erleichterung des Spracherwerbs. Ziel des Unterrichts ist es ja nicht, sprachliche Mittel und Strukturen als solche zu erkennen und zu beschreiben, sondern sie in der themen- und partnerbezogenen Kommunikation verwenden und nutzen zu können. Sprachbezogene Kommunikation im Grammatikunterricht ist deshalb immer wieder in mittei-lungsbezogene Kommunikation einzubinden, ihr kommt fast ausschließlich eine dienende Funktion für die Mitteilung zu.16 Eine kleine Einschränkung sei hier allerdings gemacht: Folgt man dem Gedanken von Harden (1990), so liegt in der Begegnung" gerade mit den grammatischen Regularitäten einer fremden Sprache durchaus eine Chance zu interkultureller Fremderfahrung, denn diese Regularitäten weichen ja von denen in der eigenen Sprache ab, also letztlich von sozialen Konventionen, die man bisher für selbstverständlich und unhinterfragbar gehalten haben mag: 16 Bolte (1993) zeigt an anschaulichen Beispielen, wie sich diese Forderung realisieren lässt. 184 185 4. Unterricht 4.4Globale Methodenkonzeptionen im DaF-Unterricht - Beispiel Lehrwerke Das 'Wie' des Funktionierens der Fremdsprache ist meines Erachtens das Fremde schlechthin, das eben nicht als überwindbar angesehen werden darf und das aus diesem Grund auch die motivierende Neugier wach halten kann. (Haiden 1990, S. 227) Ein winziges Beispiel dafür, wie schwer es sein kann, sprachlich-kulturelle Fremderfahrungen auszuhalten: Mancher deutschsprachige Portugiesischlerner hat erfahrungsgemäß bis in fortgeschrittenste Lernstadien ernsthaft, damit zu kämpfen, dass dem deutschen Kopulaverb „sein" in „Ich bin Lehrer." und .Ich bin in Lissabon." im Portugiesischen zwei Verben entsprechen, nämlich „ser" und .estar". Es heißt „Sou professor." aber „Estou cm Lisboa." Umgekehrt fällt es manchem portugiesischen Deutschlerner schwer, einfach hinzunehmen, dass es im Deutschen nur das eine Wort „sein" für die beiden für ihn so klar unterschiedenen Konzepte von .ser" und „estar" gibt, ohne dass sich die Missverständnisse häufen. Beide brauchen hier, wenn auch im Kleinen. Empathie, Rollendistanz und Ambiguitäts-toleranz, um erfolgreich kommunizieren zu können, und damit sind grundlegende Ziele interkultureller Erziehung angesprochen. Grammatikvermittlung könnte auch einen Beitrag dazu leisten, solche Erfahrungen bewusst zu verarbeiten, auf diesem Wege also interkulturelles Lernen fördern. Zusammenfassung Grammatikunterricht vermittelt explizites Wissen ('Wissen, dass...') über grammatische Regularitäten und fördert damit ihre Bewusstmachung. Für den Spracherwerb ist er hilfreich, wenn er die Entstehung von implizitem Wissen (Wissen, wie ...', 'Können') unterstützt und so als Lernhilfe fungiert. Dabei sind die Lerngewohnheiten und -bedürfnisse unterschiedlicher Lernergruppen zu berücksichtigen. Als fachliche Grundlage bietet sich die Dependenz-Verb-Grammatik an. Auf ihrer Grundlage sollte eine lernergerechte pädagogische Grammatik erarbeitet werden, die an der Lernbarkeit, an der Kontrastivität zur jeweiligen LI, an der Frequenz der sprachlichen Phänomene, an der Darstellbarkeit, an der Erar-beitbarkeit durch die Lernenden und an der kommunikative Einbettbarkeit orientiert ist. Die unterrichtlichen Zugriffe sollten die Sequenzierung von grammatischen Lerneinheiten, die Förderung geeigneter Lernerstrategien und die Autonomi-sierung des Lernens berücksichtigen. Dies setzt zumeist voraus, dass Grammatik funktional gesehen wird und in kommunikative Handlungsrahmen eingebettet wird. Lektürehinweise In Grundbegriffe und Grundgedanken zur Grammatik im Fremdsprachenunterricht führen Heibig (1991), (1992) und (1999) sowie Hoffmann (1999) knapp, präzise und übersichtlich ein. Einen fast handbuchartigen Überblick über den fachdidaktischen Diskussionsstand zum fremdsprachigen Grammatikunterricht stellt der Sammelband van Gnutzmann/Königs (1995) dar. Die Grundgedanken der Dependenz-Verb-Grammatik erläutert Fischer (19901, ohne einschlägige Spezialkenntnisse schon vorauszusetzen. Rall/F.ngel/Rall (1985) entfallen diesen' grammatischen Ansatz und beziehen ihn aul den DaF Unterricht. Eine wissenschaftlichen Grammatik, die konsequent von der DVG ausgeht, ist Engel (2004). Grundlegend ist auch Helbig/Buscha (2004). Ober die Satztopologie informiert Altmann/Hofmann (22008). Wer eine Hilfe zur Orientierung in verschiedenen wissenschaftlichen Grammatiken mit ihrer oft spezifischen und nicht einheitlich gebrauchten Regrifflichkeit sucht, findet in Hentschel/Weydt (2003) einen hilfreichen Wegweiser. In Engel (1990) werden überblicksartig 14 neuere Grammatiken vorgestellt. Eine leicht lesbare Einführung in grammatische Fragen aus der rezeptiven Perspektive (Verstehensgrammatik) ist Heringer 1987: Kritisches zur Gegenüberstellung von Verstehensgrammatik und Mitteilungsgrammatik hei Latzel (1991). Merkmale einer pädagogischen Grammatik erörtern Schmidt (1990), Schmidt (1991) und Nickel (1993); Thurmair (1997) betont die Notwendigkeit einer angemessenen linguistischen Grundlage. Die Fernstudieneinheit von Funk/König (1991) ist praktisch orientiert und zeigt verschiedene Wege auf, wie Lehrerinnen und Lehrer Bausteine einer eigenen pädagogischen Grammatik für die Bedürfnisse ihrer Lerner erarbeiten können. Krumm (1988) argumentiert in prägnanter Form für die Einbeziehung des Grammatikunterrichts in kommunikativ-pragmatische Unterrichtszusammenhänge, ebenso das Heft 9 Lebendiges Grammatiklernen der Zeitschrift Fremdsprache Deutsch (1993), in dem auch entsprechende Unterrichtsmodelle zu finden sind. Funk (1993) stellt eine Übungstypologie zum autonomen Grammatiklernen vor. Hennig (2001) ist ein sehr praxisnaher Überblick über verschiedene Grammatiken für Deutsch als Fremdsprache. 186 187