Elias Canetti: Deutsch am Genfersee Elias Canetti, Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger, wurde 1905 in Rustschuk / Bulgarien geboren. Als Sohn spaniolischer Juden sprach er in seiner Kindheit Bulgarisch und das altertümliche Spanisch seiner Vorfahren. 1911 ging die Familie nach Manchester, wo Elias Englisch lernte. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters entschied die Mutter, mit ihren drei Kindern und der Gouvernante nach Wien zu ziehen. Die Reise führte über Lausanne am Genfer See. Dort begann die Mutter, Elias Deutschstunden zu geben. In seiner Autobiographie ‚Die gerettete Zunge’ erzählt er davon. Ich war acht Jahre alt, ich sollte in Wien in die Schule kommen und meinem Alter entsprach dort die 3. Klasse der Volksschule. Es war für die Mutter ein unerträglicher Gedanke, dass man mich wegen meiner Unkenntnis der Sprache vielleicht nicht in diese Klasse aufnehmen würde und sie war entschlossen, mir in kürzester Zeit deutsch beizubringen. Nicht sehr lange nach unserer Ankunft in Lausanne gingen wir in eine Buchhandlung. Mutter fragte nach einer englisch-deutschen Grammatik, nahm das erste Buch, das man ihr gab, führte mich sofort nach Hause zurück und begann mit ihrem Unterricht. Wir saßen im Speisezimmer am großen Tisch und sie hielt das Lehrbuch so, dass ich nicht hineinsehen konnte. „Du brauchst es doch nicht“, sagte sie, „du kannst sowieso noch nichts verstehen.“ Sie las mir einen Satz deutsch vor, und ließ mich ihn wiederholen. Da ihr meine Aussprache missfiel[1], wiederholte ich ihn ein paar Mal, bis er ihr erträglich schien. Das geschah aber nicht oft, denn sie spottete über meine Aussprache, und da ich um nichts in der Welt ihren Spott ertrug, gab ich mir Mühe und sprach es bald richtig aus. Dann erst sagte sie mir, was der Satz auf englisch bedeute. Das aber wiederholte sie nie, das musste ich mir sofort ein für allemal merken[2]. Dann ging sie rasch zum nächsten Satz über, und es kam zur selben Prozedur: Sobald ich ihn richtig ausgesprochen hatte, übersetzte sie ihn, sah mich streng an, damit ich mir’s merke, und war schon beim nächsten Satz. Ich weiß nicht, wie viel Sätze sie mir das erste Mal vorsprach, aber ich fürchte, es waren viele. Dann sagte sie: „Wiederhole das für dich. Du darfst keinen Satz vergessen. Nicht einen einzigen. Morgen machen wir weiter.“ Sie behielt das Buch, und ich war ratlos mir selber überlassen. Ich hatte keine Hilfe. Miss Bray, meine Gouvernante, sprach nur englisch und während des übrigen Tages weigerte sich die Mutter, mir die Sätze vorzusprechen. Am nächsten Tag saß ich wieder am selben Platz. Mutter nahm die Sätze vom Vortag wieder her, ließ mich einen nachsprechen und fragte, was er bedeute. Mein Unglück wollte es, dass ich mir seinen Sinn gemerkt hatte, und sie sagte zufrieden: „Ich sehe, es geht so!“ Aber dann kam die Katastrophe und ich wusste nichts mehr; außer dem ersten hatte ich mir keinen einzigen Satz gemerkt. Die Mutter sagte: „ Du hast dir doch den ersten gemerkt, also kannst du’s. Du willst nicht. Du willst in Lausanne bleiben. Ich fahre nach Wien. Du kannst allein in Lausanne bleiben.“ Ich glaube, dass ich das weniger fürchtete als ihren Spott. Denn wenn sie besonders ungeduldig wurde, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Ich habe einen Idioten zum Sohn!“ Ich geriet in eine schreckliche Verzweiflung. Es geschah, was ich heute noch nicht begreife: Ich passte wie ein Teufel auf und lernte den Sinn der Sätze sofort zu behalten. Wenn ich drei oder vier von ihnen richtig wusste, lobte sie mich nicht, sondern wollte die anderen. Sie wollte, dass ich mir jedes Mal alle Sätze merke. Da das aber nie geschah, lobte sie mich kein einziges Mal. Ich lebte nun in Angst vor ihrem Spott und wiederholte mir tagsüber, wo immer ich war, die Sätze. Bei den Spaziergängen mit der Gouvernante war ich einsilbig[3] und freudlos. Ich fühlte nicht mehr den Wind, ich hörte nicht auf die Musik, immer hatte ich meine deutschen Sätze im Kopf und ihren Sinn auf englisch. Ich hatte kein Buch, das mir zur Kontrolle diente, sie verweigerte es mir erbarmungslos[4], wohl wissend, welche Freundschaft ich für Bücher empfand und wie viel leichter alles mit einem Buch für mich gewesen wäre. Sie hatte die Idee, dass man besser lerne, wenn man Schwierigkeiten überwinden müsse, und dass Bücher für Sprachen schlecht seien; dass man sie mündlich lernen müsse und ein Buch erst unschädlich[5] sei, wenn man schon etwas von der Sprache wisse. Sie achtete nicht darauf, dass ich vor Kummer[6] wenig aß. Den Terror, in dem ich lebte, hielt sie für pädagogisch. nach: Elias Canetti, Die gerettete Zunge (1977), etwas gekürzt und bearbeitet Aufgaben: 1) Sind die folgende Aussagen richtig oder falsch? Kreuzen Sie an und begründen Sie mit einem Textzitat! (5 Punkte) a) Der Ich-Erzähler lernt Deutsch, um eine Schule in Wien besuchen zu können.  richtig  falsch --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- b) Elias findet, dass er zum Deutschlernen kein Buch braucht.  richtig  falsch --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- c) Elias hat vor allem Angst davor, dass ihn die Mutter verlacht.  richtig  falsch --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- d) Elias will nicht lernen und gibt sich keine Mühe.  richtig  falsch --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- e) Die Mutter glaubt, dass Lernen keinen Spaß machen darf, sondern schwierig sein muss.  richtig  falsch --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------- -------------- 3) Beschreiben Sie den Deutschunterricht, den der Ich-Erzähler bekommt! Charakterisieren Sie den Unterricht und das Verhalten der Mutter! (4 Punkte) 4) Wie reagiert der Sohn auf den Deutschunterricht seiner Mutter? Welche Folgen haben die Methoden der Mutter? (3 Punkte) 5) Wie finden Sie den Deutschunterricht, der hier beschrieben wird? Wie und unter welchen Bedingungen lernen Sie selbst am besten eine Fremdsprache? (4 Punkte) ________________________________ [1] missfallen: nicht gefallen [2] sich etwas merken: retenir quelque chose [3] einsilbig sein: kaum sprechen, nur sehr kurz und knapp antworten [4] erbarmungslos: sans pitié [5] unschädlich: ungefährlich [6] der Kummer: Angst und Sorgen