62. Interaktive Übungen 1. Grundlagen und Ziele Untersuchungen zeigen, dass sowohl die Redeanteile von Lernern im Fremdsprachenunterricht als auch die Variationsbreite ihrer Aktionsarten noch immer sehr begrenzt sind (Edmonson/House 1993; Art. 43). Interaktive Übungen begegnen diesem Missstand, indem sie auf eine aktive Tätigkeit der Lernenden abzielen und deren sprachliches miteinander Handeln zum Kernstück des Unterrichts machen. Dabei streben interaktive Übungen nicht nur eine quantitative Veränderung an; vielmehr sind sie darauf angelegt, das Interesse der Lernenden so zu engagieren, dass sie zu möglichst authentischer, d.h. natürlicher und ungeschützter Kommunikation in der Fremdsprache motiviert werden. Somit zeichnen diese Übungen sich durch eine qualitative Bestimmung aus: Durch das Ansetzen an den persönlichen Äußerungsbedürfnissen der Lerner soll der Austausch von bedeutsamen Botschaften gefördert werden, und damit jene Vereinigung von kognitiven, sozialen und emotionalen Lernprozessen, die maßgeblich für den Lernerfolg ist. Zusammengefasst sind es demnach zwei Merkmale, die das Wesentliche von interaktiven Übungen ausmachen (Schiffler 1985): • der Akzent auf die Interaktion der Lerner untereinander (im Gegensatz zu der ,ping-pong-förmigen' Kommunikation über den Lehrer im Frontalunterricht) • die Ausrichtung der Aktivitäten auf lernerge-lenkte Kommunikation (anstelle von Lernerreaktionen auf Lehrerimpulse). Das wissenschaftliche Fundament für interaktive Übungen im Fremdsprachenunterricht ist die kommunikative Didaktik der 70er-Jahre, die den Hand-lungs- und Beziehungsaspekt von Sprache in den Mittelpunkt stellte, so dass die Zielsprache nicht mehr vornehmlich als System von Strukturen, sondern als Medium sozialer Interaktion betrachtet wurde. Das daraus folgende Richtziel Kommunikative Kompetenz vereint eine sprachliche und eine pädagogische Dimension: neben dem pragmalin-guistischen Ziel, die Lerner zu einer situationsadäquaten Sprachverwendung zu befähigen, steht das emanzipatorische Ziel, die Lerner in der Entwicklung ihrer personalen und sozialen Identität zu unterstützen, indem ihre kognitiven Fähigkeiten und ihre kooperative Handlungsfähigkeit gefördert wird. Kommunikativer Fremdsprachenunterricht muss daher immer interaktiver Unterricht sein. Ein vornehmlich auf die sprachliche Dimension ausgerichtetes Einüben von Redemitteln ist nicht ausreichend, wenn nicht zugleich die Bereitschaft und Fähigkeit der Lemer unterstützt wird, diese Redemittel anzuwenden und sich dabei emotional und rational auf den Kommunikationspartner und die Kommunikationssituation einzustellen (Had-field 1992). Aus diesem Grunde gehen interaktive Übungen vom Hier und Jetzt der gesamten Sprech- und Lernsituation der Lernenden aus und nutzen die Interaktion im Klassenzimmer zum Erwerb wichtiger Fähigkeiten wie z.B. der Aushandlung von Kommunikationsinhalten und von der sprachlichen Ebene ihrer Erörterung, von Sprecherwechsel und von Rollen in der Kommunikationsbeziehung sowie dem Einfordern bzw. Vollbringen sprachlicher Reparaturleistungen zur Verständnissicherung. Interaktive Übungen setzen somit den Akzent auf die soziale Dimension der Kommunikation; dementsprechend liegt ihnen ein breiter Sprachbegriff zugrunde, der auch die para- und non-verbale Ebene einbezieht. Intonation, Mimik und Gestik spielen daher eine ebenso wichtige Rolle wie die kulturell und situativ unterschiedliche Bedeutung und Funktion von Schweigen für eine erfolgreiche Kommunikation. Nachdem die verstärkte Berücksichtigung der pädagogischen und lernpsychologischen Dimension seit den 80er-Jahren die Frage in den Vordergrund gerückt hat, wie Lernende dazu befähigt werden können, ihren Lernprozess selbstverantwortlich zu organisieren, haben die Planung, Überwachung und Evaluation des Lernprozesses als Teilbereiche authentischer Klassenzimmer-Interaktion an Bedeutung gewonnen (Art. 67). Neben das Ziel der Kommunikationsfähigkeit tritt damit dasjenige der Bewusst werdung und Reflexion der Bedingungen von Kommunikation. Um dieses umfassende Ziel zu gewährleisten, schließen interaktive Übungen eine metasprachliche Reflexion ein. Je nach aktuellem Lernziel kommt es dabei zu einem unterschiedlichen Zusammenspiel der folgenden Fokuspunkte: - die angewandten Sprachstrukturen mit dem Ziel, das linguistische Repertoire entsprechend den individuellen Äußerungsabsichten zu erweitern (grammatische/linguistische Kompetenz) - die Realisierung der individuellen situationsgebundenen Sprecherabsichten mit dem Ziel, für Diskursmuster zu sensibilisieren und die Wirksamkeit von Äußerungen für die Realisierung von Handlungsabsichten zu überprüfen (diskursive Kompetenz) - sozial und kulturell geprägte Konventionen und Normen mit dem Ziel, unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten von Äußerungen zu erfassen sowie mögliche Missverständnisse zu erkennen und zu vermeiden (soziolinguisti-sche/interkulturelle Kompetenz) - die Strategien, die zur Initiierung, Aufrechterhaltung und Beendung der sprachlichen Interaktion angewandt wurden, mit dem Ziel, Kommunikationssituationen aktiv mitgestalten zu können (strategische Kompetenz). In dem Sinne ist das Lernen über den Interaktionsprozess von gleicher Wichtigkeit wie das Lernen der dazu notwendigen sprachlichen Mittel. Erst die bewusste Wahrnehmung der verschiedenen Dimensionen der Interaktion und der Erwerb von Strategien zur Einflussnahme auf diese Dimensionen ermöglichen den Lernern ein selbsttätiges Weiterlernen in natürlichen Kommunikationssituationen außerhalb des Klassenzimmers. 2. Übungsformen In der fachdidaktischen Literatur wird häufig zwischen (eher freisetzenden, produktiven) Aufgaben und (eher bindenden, imitativen) Übungen unterschieden (z.B. Häussermann/Piepho 1996); da diese beiden Begriffe aber eher die Endpunkte auf einem Kontinuum darstellen, als dass eine klare Grenzlinie zwischen ihnen gezogen werden könnte, dient die Bezeichnung interaktive Übungen hier als Oberbegriff für kooperative Lernaktivitäten mit einem unterschiedlichen Grad an Steuerung hinsichtlich des Inhalts, der Versprachli-chung und der Zielformulierung. Gemeinsam ist ihnen ihre Ausrichtung auf ein bestimmtes Handlungsziel der Lernenden im Hier und Jetzt ihrer Lernsituation; dementsprechend rangiert die Fo-kussierung der Lerneraufmerksamkeit auf Verständigung vor derjenigen auf sprachliche Formen. Die Übungen bereiten die Lerner also nicht lediglich auf Kommunikation als Lernziel vor, son- dem basieren auf Kommunikation als Lernprinzip. Deutlich wird dies in den drei verschiedenen Übungsformen: a) Schließen von einseitigen oder gegenseitigen Informationslücken: Bei ersteren verfügt ein Lernender oder eine Gruppe von Lernenden über Informationen, die für den oder die anderen von Interesse sind und deswegen von ihnen erfragt werden; dies ist auf natürliche Weise in solchen Situationen gegeben, wo persönliche und damit einzigartige Wissensbestände oder Erfahrungen einzelner Lerner in das Unterrichtsgeschehen eingebracht werden (Partnerinterviews, hot chair). Gegenseitigkeit ist auf authentische Weise in Kennenlernsituationen zu Anfang eines neuen Kurses gegeben, oder wenn Lerner sich über ihre Lernerwartungen und -bedürfnisse austauschen; künstlich geschaffen werden kann sie durch Aufgabenstellungen, die verschiedenen Angehörigen der Lemergruppe unterschiedliche Teilinformationen zur Verfügung stellen, welche nur durch ein Zusammentragen zur Beantwortung der Ausgangsfrage führen: so z.B. wenn ein Teil der Lernergruppe lediglich die Tonspur eines Filmausschnittes hört, während die andere Hälfte nur die Bilder ohne Ton zu sehen bekommt - was genau im Film vorgeht, wird erst ersichtlich, wenn die Lerner ihre jeweiligen Informationen in Partneroder Gruppenarbeit zusammentragen. b) Gemeinsames Lösen von Problemen oder Erarbeiten von Projekten (Art. 48): Bei der Bearbeitung von Problemstellungen stehen real gegebene oder für den Zweck präsentierte Fragen oder Probleme zu einer gemeinsam auszuhandelten Lösung an: dies kann vom Planen des ünterrichtsablaufs über das Reflektieren des jeweiligen Lernverhaltens bis zur Vorbereitung und Durchführung von Projekten wie dem Erstellen einer kurseigenen Homepage oder einer Exkursion reichen. Das Aufteilen der Gesamtaufgabe und das Erarbeiten ihrer einzelnen Teile in Kleingruppen schafft beim Zusammentragen der Teilergebnisse wiederum eine Situation von Informationslücken und gibt somit Anlass zu echter Interaktion; findet die Auswertung nicht im Plenum, sondern in sog. Wirbelgruppen statt, die sich aus je einem Vertreter aller Kleingruppen neu zusammensetzen, ergibt sich die größtmögliche Beteiligung aller Lerner am Auswertungsprozess. c) Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Simulationen: Simulationen bieten eine Antwort auf die natürliche Begrenztheit von authentischen Kommunikationssituationen innerhalb des Klassenzimmers. Sie können auch eine Brücke schlagen zwischen lehrbuchgelenkter Arbeit und freier Sprachanwendung: so ermöglicht die bewusste Einbeziehung von fiktiven und phantasievollen Momenten es z.B., farblose Lehrbuchdialoge durch präzisere Konturierungen der Charaktere authentischer zu gestalten, oder durch ein Überzeichnen der Dialogpartner zu karikieren; während bei ersterem die Simulation an Authentizität gewinnt und durch Rollentausch jenen Perspektivenwechsel ermöglicht, der für Rollendistanz notwendig ist, kann letzteres helfen, Konventionen bewusst zu machen und für die gemeinsame Reflexion aufzubereiten. Damit dies in angemessener Weise möglich wird, ist es notwendig, dass die Lernenden zuvor die Interaktionssituation und die in ihr beteiligten Personen im Hinblick auf ihre soziale Rolle, ihr Handlungsmotiv und ihre Handlungsabsicht hinreichend spezifizieren (Schewe 1993). Das besondere Potenzial von Simulationen ist dann, durch die Einbeziehung para- und außersprachlicher Elemente wie Intonation, Lautstärke, Gestik und Mimik, der Emotionalität und der Leiblichkeit der Lerner Rechnung zu tragen. Die Betonung der sozialen Komponente als Spezifikum von interaktiven Übungen macht deutlich, dass eine Unterscheidung zu treffen ist zwischen sozial-interaktiven Aktivitäten innerhalb von Lernerpaaren oder -gruppen im Unterricht und dem Arbeiten einzelner Lernender mit sog. interaktiver Lernsoftware (Art. 94). Wenn auf diesem Gebiet in den letzten Jahren auch anerkennenswerte Entwicklungen geleistet wurden, gilt nichtsdestoweniger die pointierte Formulierung: Solange Computer nicht intelligent' sind, eigene Interessen vertreten, Gefühle ausdrücken und Humor zeigen können, muss die Interaktion im Rahmen von Sprachlernprogrammen zwangsläufig auf vorprogrammierte, mehr oder weniger differenzierte Rückmeldungen auf begrenzt mögliche Lerneraktivitäten beschränkt bleiben, die den Akzent auf den Erwerb von Strukturen und Wortschatz legen (Felix 1997). Damit soll dem Computer allerdings nicht generell abgesprochen werden, Interaktion im hier verstandenen Sinne zu ermöglichen; vielmehr sind die vielerorts dokumentierten Möglichkeiten, über das Internet Kontakte zu anderen Lernern oder zu Muttersprachlern der Zielsprache herzustellen und für den Lernprozess zu nutzen, ein Beispiel für die bestechenden Möglichkeiten zu authentischer Kommunikation (Art. 51), die bis auf die Möglichkeiten mit voice-mail und video-conferencing freilich weitgehend auf schriftliche Interaktion beschränkt sind (also die para- und körpersprachliche Dimension nicht einbeziehen). 3. Implikationen Die Fähigkeit zum kommunikativen Handeln im sozialen Kontext authentischer Situationen lässt sich durch Fremdsprachenunterricht nur erreichen, wenn die Lernenden ausreichend Gelegenheit zu selbstgelenkter Interaktion haben, um die reale Situation Fremdsprachenunterricht ihren jeweiligen Interessen und Gefühlen entsprechend miteinander auszuhandeln und zu gestalten. Den Lehrenden kommt dabei die Rolle zu, als Organisatoren des Lernprozesses und als Berater die Interaktionsbereitschaft der Lerner zu fördern und die Aufarbeitung ihrer Kommunikationserfahrungen zu effektivieren. Insbesondere ist anzustrebein, dass die Lernenden Toleranz entwickeln, wenn nicht sogleich Verständigung erreicht wird, und dass sie zur Klärung von Unklarheiten oder von Missverständnissen selbst aktiv werden. Zusammengenommen verlangt dies nach einer Veränderung der traditionellen Machtstrukturen im Unterricht, der nicht mehr vom Lehrwerk und vom Lehrenden dominiert sein darf, sondern von Anfang an einen hohen Anteil von selbstverantworteter Partner- und Gruppenarbeit aufweisen muss (Art. 46). Eine weitere Voraussetzung ist die Schaffung eines positiven Lernklimas, da davon auszugehen ist, dass die Lerner nur in einem so geprägten Klima zu kooperativem sprachlichen Handeln und zu der Aufbereitung davon bereit sind. Das Bemühen um eine positive soziale Interaktion darf allerdings nicht mit Konfliktvermeidung verwechselt werden; sind es im Alltag doch gerade Konflikte, die auf eine Lösung durch erfolgreiche Gesprächsführung drängen. Dies stellt Lehrende vor eine hohe Anforderung bezüglich ihrer Funktion als sprachliches Modell: Voraussetzung ist ein Lehrerverhalten, das von Respekt für die Einzigartigkeit der verschiedenen Lemer getragen ist und ihre unterschiedlichen Interaktionsstrategien als Chance für gemeinsames Lernen wahrnimmt. Für ein solches interaktives Lehrerverhalten, das die hier beschriebenen Lernformen fördert und unterstützt, sind Trainings-konzepte mit zahlreichen konkreten Übungen ausgearbeitet worden (Schiffler 1985; Art. 74). Eine weitere Implikation ist, dass ein auf interaktive Übungen ausgerichteter Unterricht konsequenterweise auch durch interaktive Formen von Tests evatuiert und bewertet werden muss: Tests sollten daher die Interaktionsfähigkeit in reaütäts-nahen Sprachverwendungssituationen zum Gegenstand haben und nicht: allein auf strukturelle Korrektheit ausgerichtet sein, wie dies beispielsweise beim mündlichen Prüfungsteil der revidierten Europäischen Sprachen-Zertifikate zu realisieren versucht wird (Art. 82). Literatur Edmonson, W./House, J. (1993), Einführung in die Sprach-khrforschung, Tübingen/Basel. Felix, U. (1997), „In the Future Now? Towards Meaningful Interaction in Multimedia Programs for Language Teaching", in: Meißner, F.-J-, Hrsg., Interaktiver Fremdsprachenunterricht. Wege zu authentischer Kommunikation. Festschriftßr Ludger Schiffler zum 60. Geburtstag, Tübingen, 129-142. Hadfield, J. (1992), Classroom Dynamics, Oxford. Häussermann, U./Piepho, H.-E. (1996), Aufgaben-Handbuch Deutsch als Fremdsprache. Abriss einer Aufgaben- und Übungstypologie, München. Legutke, M./Thomas, H. (1991), Process and Experience in the Language Classroom, London. Schewe, M. (1993), Fremdsprache inszenieren. Zur Fundierung einer dramapädagogischen Lehr- und Lernpraxis, Oldenburg. Schiffler, L. (1985), Interaktiver Fremdsprachenunterricht, 2. Auflage, Stuttgart. Susanne Duxa