63. Kreative Übungen 1. Kreativität im Fremdsprachenunterricht In den letzten 50 Jahren sind Hunderte von Versuchen unternommen worden, den schillernden Begriff der Kreativität zu definieren (einen knappen Überblick über die zumeist psychologische Forschung geben Urban 1989 und Weinert 1991). Auch für den pädagogischen Bereich liegt bis jetzt keine allgemein anerkannte Definition vor. Sie müsste berücksichtigen, - dass es sich bei Kreativität um die prinzipiell in jedem Menschen angelegte Fähigkeit handelt, verschiedene ihm bekannte Elemente in neuen Zusammenhängen so miteinander zu verbinden, dass daraus etwas für ihn bzw. für seine Gruppe ,Neues' und,Sinnvolles' entsteht, - dass im pädagogischen Bereich dem kreativen Prozess eine größere Bedeutung zukommt als dem dabei entstehenden Produkt, - und dass die gesamte Person mit ihren kognitiven und nicht-kognitiven Fähigkeiten in kreative Prozesse involviert ist. In Bezug auf den Premdsprachenunterricht müsste sie als weitere Elemente enthalten, - dass es sich um einen produktiven Umgang mit Sprache und Texten handelt, - der zwischen Normerfüllung und gezielter Veränderung oszilliert und - für den Interaktion eine herausragende Rolle spielt (Rück 1997; Art. 43). Die im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen wohl bekannteste Definition von Genzlinger (1980, 14), ist angesichts dieser Kriterien zu einseitig auf den vielgestaltigen Prozesscharakter von Kreativität gerichtet: „Kreativ ist jeder Vorgang selbsttätigen Entwickeins, Entdeckens, Findens, Experimentierens, Umdeutens, Umkehrens, Andersmachens, Variierens, Transferierens, Assoziierens etc., wobei das jeweils neu Geschaffene lediglich im Selbstverständnis des Individuums als ,neu' empfunden werden muss." Trotzdem haben Genzlingers Vorschläge für kreative Übungen ebenso wie die Anregungen von Care/Debyser (1978) entscheidend dazu beigetragen, dass seit Mitte der 80er-Jahre eine kaum noch überschaubare Fülle an zumeist praxisbezogenen Vorschlägen und Untersuchungen erscheint, die Kreativität als Ziel wie als Methode von Fremdsprachenunterricht propagiert (größere Studien liegen vor von Caspari 1994 und Wern-sing 1995). Auch in den neueren Richtlinien und Lehrplänen werden kreative Arbeitsformen als Ergänzung und Alternative, z.T. auch als gelegentlicher Ersatz für traditionelle' Verfahren aufgeführt. Diese rasche und weite Verbreitung des Kreativitätsgedankens im Fremdsprachenunterricht wird sicherlich durch den ungebrochenen Kreativitätsboom in Gesellschaft und Schule unterstützt (zur Kreativitätsförderung in der Schule Cropley 1990 und Serve 1994, Kritik z.B. von Hentig 1998). Der wichtigere Grund dürfte jedoch der sein, dass kreative Prozesse und Spracherwerbs- prozesse wichtige Parallelen aufweisen: Hier wie dort spielen das Wahrnehmen und Analysieren von ,Problemen', das Aufstellen und Überprüfen selbst erstellter Thesen durch Ausprobieren sowie die Modifikation bei Fehlkommunikation oder Nichtbestätigung eine große Rolle. Kreative Übungen trainieren somit Fähigkeiten, die auch für das Fremdsprachenlernen wichtig sind, z.B. Geläufigkeit (fluency), Flexibilität und Umstrukturierung (redefinition). Darüber hinaus unterstützen sie Lernende beim Aufbau sprachlichen Selbstbewusstseins, indem sie Hemmungen vor Unbekanntem und Angst vor dem Fehlermachen abbauen, und sie bewirken verblüffende motivationale und Be-haltenseffekte. Nicht zuletzt dürften sie langfristig die Ausbildung von language awareness (Art. 70) und den Sinn für ästhetische Qualitäten unterstützen. 2. Charakteristika und Einsatzbereiche kreativer Übungen Aufgrund dieser Forschungslage können nur wenige, allgemeine Charakteristika genannt werden, die kreative Übungen auszeichnen: - Sie weisen eine offene Aufgabenstellung auf, die nicht eine einzige, sondern viele ,richtige' Lösungen zulässt, auch originelle, komische, absurde etc. Lösungen. - Sie regen zu vielfältigen Arbeits- und Lernprozessen an. ~ Sie gestatten und fördern unterschiedliche, kollektive und individuelle Ausdrucksformen. - Sie beziehen die Person als Ganzes ein, d.h. sie sprechen nicht nur kognitive, sondern auch affektive Faktoren an, sie regen Intuition, Phantasie und Spontaneität an und geben Gelegenheit zum persönlichen Ausdruck. Die Spannbreite kreativer Übungen reicht von engen, stark vorlagengebundenen Formen bis zu weiten, vorlagenungebundenen Formen. Erstere sind aufgrund ihrer,Zwänge' oft besonders gut geeignet, das kreative Potential der Lerner herauszufordern. Wichtig für alle Übungen ist ein Stimulus, z.B. in Form von Textmaterial, Bildern, Musik, Geräuschen, Gegenständen oder einer Phantasiereise, und eine präzise Aufgabenstellung (die von den Lernern jedoch grundsätzlich verändert werden darf). Inzwischen wurden kreative Übungen für nahezu alle Bereiche des Fremdsprachenunterrichts entwickelt. Besonders viele Vorschläge liegen vor für - Lernspiele (vor allem für Wortschatz- und Grammatikarbeit, Art. 49, 55 und 56) - Lehrbucharbeit (vgl. Groeber 1988 und die Vorschläge in den entsprechenden Begleitmaterialien) - Spiele mit Sprache (Care/Debyser 1978; Art. 49) - kreatives Schreiben (Beile 1996; Minuth 1996; Art. 58) - kreativen Umgang mit Bildern (Brandi/Dom-mel/Helmling 1988; Hellwig 1995) - kreativen Umgang mit Texten (auch Hörtexten, Liedern/Chansons, Filmen etc.) (Caspari 1997; Hinz 1996) - Theaterarbeit/Dramenpädagogik (Bollinger 1999; Hagge/Leupold/Vignaud 1998). 3. Grundmuster kreativer Übungen Die folgende Systematisierung versucht die Vielfalt unterschiedlichster Übungen für den Fremdsprachenunterricht auf eine begrenzte Anzahl von Grundmustern kreativen Handelns zurückzuführen. Grundsätzlich können alle Grundmuster für die Arbeit mit isolierten sprachlichen Elementen (z.B. Wörtern oder Einzelsätzen) und mit Texten sowie auf die Arbeit mit Medien (z.B. Bildern) angewandt werden. Die Grundmuster können je nach Material und genauer Aufgabenstellung zu einer eher mechanischen, einer eher spielerischexperimentellen oder einer eher individuell-persönlichen Arbeitsweise bzw. einem entsprechenden Endprodukt animieren. Dabei ist zu beachten, dass als ,Produkte' kreativer Übungen nicht nur schriftliche Ergebnisse in Frage kommen, auch Ideen bzw. ,Denkprodukte', mündüche Äußerungen, Klangcollagen, bildliche oder plastische Darstellungen, Pantomimen und andere Theaterformen, Spiele usw. und nicht zuletzt die Entwicklung eigener Übungen können die Produkte kreativer Übungen sein. Der besseren Verständlichkeit halber werden die Grundmuster mit je einem Beispiel aus dem Bereich Aneignung, Festigung oder Wiederholung von Wörtern bzw. Begriffen illustriert. Diese Beispiele stammen aus Care/Debyser (1976), Gauthey/Spiekermann (1994), Genzlinger (1980), Karbe (1993) und Wernsing (1995), wo genauere Angaben zur Realisierung zu finden sind. Etwas ergänzen bzw. hinzufügen - zu etwas vollständig Gegebenem (z.B. zu einem gegebenen Wort ein zweites, zu diesem zweiten ein drittes Wort assoziieren usf.) - wo zuvor etwas weggelassen wurde (z.B. ein Wortteil zu möglichst vielen Wörtern ergänzen) Etwas weglassen (z.B. einen Lückentext erstellen oder einen Text auf Schlüsselwörter reduzieren) Unverbundenes zusammenfügen - Ungeordnetes ordnen (z.B. in ein Raster Wörter unter Benützung bereits vorhandener Buchstaben in jede Leserichtung eintragen bzw. ratend wiederfinden) - Beziehungen finden bzw. herstellen (z.B. Wort-und Themenfelder erstellen) Zusammenhängendes trennen und ggf. neu ordnen (z.B. aus zwei oder drei Einzelwörtern oder Wortteilen ein neues Wort erfinden und definieren: Europe + television = Eurovision) Möglichst viele bzw. möglichst unterschiedliche Elemente, Lösungen, Antworten etc. finden (z.B. durch Brainstorming: alle bekannten Wörter mit dem Anfangsbuchstaben ,1' oder alles, was rot ist) Etwas Vorgegebenes transformieren - in ein anderes Medium (z.B. Wörter bildlich oder pantomimisch darstellen) - in eine andere Darstellungsweise (z.B. Wörter definieren bzw. umschreiben) - mit anderen Elementen (z.B. aus einem Kinderzimmer (Foto) ein Jugendzimmer machen und dies beschreiben) Etwas Vorgegebenes variieren - ausgestalten (z.B. aus vorgegebenen Wörtern eine Geschichte schreiben) - nach Anweisung verändern (z.B. die einzelnen Buchstaben eines Wortes als Anfangsbuchstaben für neue Wörter nehmen) - Alternativen entwickeln (z.B. für Modewörter oder Jugendsprache) - weiter entwickeln (z.B. ausgehend von einem Buchstaben durch sukzessives Hinzufügen von weiteren Buchstaben eine Wörterpyramide erstellen) Etwas zuvor Verändertes rekonstruieren (z.B. Scharaden - die als einzelne Wörter definierte Silben eines längeren Wortes - enträtseln) Assoziationen entwickeln (z.B. Fantasiereisen zu Wörtern/Wortfeldern durchführen) 4. Ausblick Kreative Übungen dürften aufgrund einiger aktuellen Tendenzen im Fremdsprachenunterricht weiteren Aufschwung erhalten: So dürfte die gegenwärtige Diskussion um Lernerstrategien und Lerntechniken (Art. 69 und 71) sowie um Autonomieförderung und Individualisierung des Lernens (Art. 67, Stichwörter: Projektunterricht; Art. 48, Offener Unterricht, Freiarbeit) die Bereitschaft der Unterrichtenden und der Verlage erhöhen, immer auch kreative Übungen anzubieten. Bereits seit langem bewährt haben sich kreative Übungen als Prinzip und Element fremdsprachlichen Lernens bei den diversen Formen des Begegnungslernens (Stichwörter: Schülerkorrespondenz und -austausch, Art. 52 und 53; Tandemkurse, Art. 50; E-Mail-Projekte, Art. 51). Zusätzliche Argumente für den Einsatz kreativer Arbeitsformen im Umgang mit literarischen Texten liefert ihr Potenzial für Prozesse des Fremdverstehens (Caspari 2001). Eine zunehmend wichtigere Rolle dürften im Zuge der Forderung nach Schaffung komplexer Lernumgebungen komplexe Formen kreativer Arbeit spielen, wie z.B. die Simulation globale (Hagge/ Leupold 1994) oder der Storyline-Ansatz (Fehse 1995). Damit das Potenzial kreativer Arbeitsaufgaben und Übungen für den Fremdsprachenunterricht jedoch noch besser ausgeschöpft werden kann, müsste das Augenmerk der Forschung und der Praxis verstärkt auf folgende Bereiche gelenkt werden: 1. auf die Korrektur und Bewertung kreativer Leistungen, z.B. ihre Berücksichtigung im Abitur, 2. auf die Haltungen eines kreativitätsfordernden Lehrers (Eggert 1996) und 3. auf die noch genauere Zielbestimmung beim Einsatz kreativer Arbeitsaufgaben und Übungen. Nur bei präziser Bestimmung der Lernziele und bei sorgfältiger Formulierung der Arbeitsanweisungen kann das Potenzial kreativer Arbeitsaufgaben und Übungen voll ausgeschöpft werden. Beim Einsatz als Motivationshilfe, als Belohnung oder gar als ,Aktivität um der Aktivität willen' besteht dagegen die Gefahr, dass es wirkungslos verpufft. Literatur Beile, W. (1996), „Kreatives Schreiben in der fremden Sprache", in: Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch, 23,4-10. Bollinger, H. (1999), Spielend lernen - Theater im Englisch-und Französischunterricht, Wiesbaden: Hessisches Landesinstitut für Pädagogik (HeLP). Brandi, M.-L./Dommel, H./Helmling, B., Hrsg. (1988), Bild als Sprechanlass. Sprechende Fotos, München: Goethe-Institut. Care, J.-M./Debyser, F. (1978), Jeu, langageetcreativite. Les jeuxdans la classe defrancais, Paris. Caspari, D. (1994), Kreativität im Umgang mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht. Theoretische Studien und unterrichtspraktische Erfahrungen, Frankfurt a.M. Caspari,D. (1997), „Übersicht über kreative Umgangsformen mit literarischen Texten", in: Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch, 27, 44-45. Caspari, D. 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