3. Wo steht die Schreibforschung im Moment? 58. Übungen zum Schreiben 1. Was ist Schreiben? Schreiben kann Verschiedenes bedeuten: graphische Fixierung, Schriftkenntnis und -gebrauch und schließlich das Verfassen zusammenhängender Texte. Text ist hier zu verstehen als in sich abgeschlossene, syntaktisch-semantisch zusammenhängende Abfolge sprachlicher Zeichen mit erkennbarer kommunikativer Funktion. In der Fremdsprachendidaktik gilt das Schreiben als vierte und zugleich schwierigste Zieltätigkeit neben und nach dem Sprechen, Hören und Lesen. Beobachtet man einen Schreiber beim Verfassen eines Textes, so fällt meist Folgendes auf: Fast nie wird ohne Unterbrechung geschrieben, sondern der Schreibprozess enthält viele Pausen, in denen der Schreiber seinen Text plant. Außerdem wird schon Geschriebenes immer wieder neu gelesen, teilweise ergänzt oder gestrichen. Schon daran zeigt sich, wie komplex der Schreibvorgang ist und wie viel mehr er umfasst, als in dem geschriebenen Text als Endprodukt letztlich sichtbar wird. 2. Was unterscheidet Schreiben vom Sprechen? Das Schreiben gehört ebenso wie das Sprechen zu den produktiven Fertigkeiten, was parallele mentale Erzeugungsmechanismen voraussetzt. Schreiben wird meist von inneren (und zum Teil auch äußeren) Artikulationsbewegungen begleitet (Bohn 1989). Dennoch handelt es sich um zwei sehr unterschiedliche Existenzweisen von Sprache. Die beim Sprechen vorhandenen Hilfsmittel wie Gestik und Mimik fehlen beim Schreiben ebenso wie der gemeinsame zeitliche und räumliche Bezugs -rahmen von Sprecher und Hörer. Lexik, Syntax und Formalitätsgrad sind anders. Ein schriftlicher Text muss wegen der fehlenden Rückfragemöglichkeit auf Seiten des Lesers aus sich selbst heraus verstehbar sein. Mündliche Kompetenz bedeutet daher nicht automatisch auch schriftliche Kompetenz. Diese muss eigens trainiert werden. Seit etwa 20 Jahren (Hayes/Flower 1980) beschäftigt sich die muttersprachliche Schreibforschung mit der Frage, welche mentalen Prozesse sich beim Schreiben im Kopf des Schreibers abspielen. Probanden wurden hierzu mit Hilfe von Videoaufnahmen, Pausenanalysen, Interviews und Verfahren des lauten Denkens untersucht. Es zeigte sich Folgendes: Schreiben ist neben der motorischen Handbewegung eine komplexe mentale Aktivität mit den Teilaktivitäten Planen, Formulieren und Überarbeiten. All diese Teilaktivitäten bedingen und beeinflussen sich gegenseitig und können beliebig oft und auch simultan durchlaufen werden. Der gesamte Prozess wird durch die Schreibaufgabe, den Adressaten und das inhaltliche und sprachliche Wissen des Schreibers gesteuert. Neben diesen Grundmerkmalen variiert der Schreäb-prozess jedoch in Abhängigkeit von der Textsorte, der Textlänge, der Schreiberfahrung und dem persönlichen Schreibstil. Im Gefolge dieser Erkenntnisse wurde das muttersprachliche Schreibmodell von der L2-Forschung um L2-typische Prozesse und den unterrichtlichen Lehr-/Lernkontext (Steuerung und Lernfortschritt) erweitert (Börner 1998; Kast 1999). 4. Was ist das Besondere beim fremdsprachlichen Schreiben? Schreiben in der Fremdsprache unterscheidet sich in vielen Punkten von der muttersprachlichen Textproduktion (Krings 1992): Zu allgemeinen Schreibproblemen (Planungs-, Gliederungs- und Inhaltsfragen) kommen noch folgende spezifisch fremdsprachlich bedingte Schwierigkeiten hinzu: orthographische Probleme (wie schreibt man das Wort x?), grammatische Probleme (z.B. welchen Artikel hat das Wort x?), Wortschatzprobleme (wie heißt x in der Fremdsprache?) und textpragmatische Probleme (z.B. welche Anrede ist in einem englischen Geschäftsbrief erforderlich?). Diese Probleme unterbrechen ständig den inhaltlichen Planungsprozess. Dementsprechend verläuft die L2-Textproduktion wesentlich langsamer, mühsamer und bei weitem nicht so automatisiert (Fehlen von Routineformeln, Textbausteinen, Textsortenwissen) wie in der Muttersprache. Einen guten Überblick über die Schreibforschung geben Portmann (1991), Börner/Vogel (1992), Tribble (1996), Kupetz (1997) und Bräuer (1998). 58. Übungen zum Schreiben 293 5. Welchen Nutzen hat die Schreibfähigkeit in der Fremdsprache? Im Zeitalter des Computers, wachsender Mobilität und globaler Kommunikation per Fax und E-Mail gewinnen fundierte schriftliche L2-Kenntnisse wieder zunehmend an Bedeutung. Neben diesen funktionalen Aspekten hat das Schreiben aber auch wichtige Lern- und Bildungsfunktion (Bohn 1989): Schreiben zwingt im Gegensatz zum Sprechen zu längerer und intensiverer Reflexion über Inhalte und Darstellungsweisen und führt so zu einer stärkeren Durchdringung, Umwälzung und Festigung eigener Kenntnisse und hat dadurch wichtige spracherwerbsfördernde Funktion - zusätzlich zu seinen generellen Vorzügen als Gedächtnisstütze, Lern- und Erkenntnishilfe. Darüber hinaus ermöglicht es, über zeitliche und räumliche Distanz hinweg selbstbestimmt mit Angehörigen der Zielsprache und -kultur in Kontakt zu treten. 6. Welche didaktischen Ansätze und welche Übungstypen gibt es? Es existieren drei Hauptansätze: 1. der Ansatz des Freien Schreibens, 2. der kommunikativ-funktionale Ansatz und 3. der prozessorientierte Ansatz sowie zahlreiche Mischformen. Zu 1: Ziel dieses Ansatzes ist der freie, autonome und kreative (Selbst-)Ausdruck in der Fremdsprache. Zu 2: Hier geht es um das Erstellen von formal gebundenen Gebrauchstexten und die Vermittlung von Textsortenkenntnissen. Zu 3: Ziel ist eine Bewusstmachung der Komplexität des Schreibprozesses und die Vermittlung von prozessualen Hilfen und Schreibstrategien. Eine systematische Schreibübungstypologie liegt derzeit noch nicht vor. Schreibübungen lassen sich jedoch nach verschiedenen - wenn auch sich überlappenden - Kriterien klassifizieren, kombinieren und im Unterricht einsetzen. Zum einen lassen sich Übungen je nach Abhängigkeit von einem Ausgangstext und vom Grad der produktiven Eigenleistung auf einem Kontinuum anordnen von reproduktiven Übungen (Diktate, Lückentexte etc.) über reproduktiv-produktive Übungen (Ergänzen, Verkürzen, Modifizieren fehlender Satz- oder Textteile) bis hin zu produktiven Übungen (selbständiges Erstellen von Texten). Aus Prozessperspektive lassen sich Schreibübungen nach Börner (1998) unterteilen in schreib- vorbereitende Übungen und in textproduzierende Übungen. Hinzu kommen textrevidierende Übungen. Ausgehend von Lernziel und Schreibprodukt lassen sich funktionale und kreative Schreibübungen unterscheiden. Bei ersteren geht es um das Erstellen von Gebrauchstextsorten und die entsprechende Textsortenkompetenz, bei letzteren darum, sich schriftlich kreativ ausdrücken zu können. Gute Anleitungen hierzu finden sich bei Brenner (1990), Kast (1999), Mummert (1989), Pommerin et al. (1996). 7. Beispiele für Schreibübungen im Unterricht a) Schreibvorbereitende Übungen: zum Warmwerden, zur Ideenfindung und -strukturierung und zur Textkohärenz (Kast 1999) Zum Warmwerden: - Wortkette Der letzte Buchstabe des letzten Wortes bildet den Anfangsbuchstaben des folgenden. Bsp.: FERIEN^NATUR-»RUHE->... - Wortscrabble Aus Buchstaben eines Wortes werden - wie beim Scrabble - neue Wörter gebildet. - Ich buchstabiere mich - etwas buchstabiert sich Einzelne Buchstaben des eigenen Namens, eines Landes oder eines Gegenstandes bilden das Gerüst für neue Wörter und Ideen. Bsp. Rot (ist die Liebe) USA (da war ich schon einige Male) Tee (trinke ich gerne) Hüte (hasse ich) Alle Übungen können später als Grundlage für eigene kleine Lernertexte dienen. Zur Ideenfindung und -strukturierung: - Erstellen eines Assoziogramms oder Clusters nach Rico (1989) Ideen werden zu einem Kernwort gesammelt und durch Linien gedanklich miteinander verbunden. Zur Textkohärenz: - Textrekonstruktion Aus auseinandergeschnittenen Wörtern, Sätzen, Absätzen oder Textteilen den Ausgangstext rekonstruieren lassen - Übungen zur Funktion von Thema-Rhema-Struktur, Konnektoren und pronominalen Verknüpfungen z. B. durch Lückentexte oder Textstrukturbäume (Beispiele bei Kast 1999). 294 Ruth Eßer b) Textproduzierende Übungen: Lerner schreiben selber Texte - Schreiben eines Textes aus Wortlisten Der Lehrer zerlegt einen kurzen Text (z.B. ein Gedicht) bis auf den Titel in Einzelwörter. Die Lerner machen aus dieser Wortliste und unter erlaubter Hinzunahme neuer Wörter einen eigenen Text. - Schreiben eines Textes aus vorgegebenen Elementen (und evtl. einem Anfangs- oder Endsatz) Aus verschiedenen Textingredienzien (Akteur (z.B. Frosch), Ort (z.B. Flughafen), Tätigkeit (essen), Gegenstand (z.B. Portemonnaie)) muss ein Text geschrieben werden, der alle Elemente enthält. Je disparater die Textelemente sind, desto schwieriger wird die Schreibaufgabe. - Schreiben eines Textteils (Anfang, Mitte oder Schluss) zu einem vorgegebenen Text (z.B. Fabel) (Mummert 1989) - Schreiben als quantitative und/oder qualitative Modifikation einer Textvorlage durch Kürzung/ Erweiterung, Textsortenwechsel oder Perspektivenwechsel (Börner 1998) Bsp. Rotkäppchen neu schreiben lassen aus der Perspektive des Wolfs oder eines Tierschützers; Ausgangstexte bieten dem Lerner ein Textmodell und damit eine formale, inhaltliche und stilistische Fundgrube, die ihn entlastet. Andererseits regen solche Übungen die Kreativität an und machen Spaß. - Schreiben mit Liedern Ein Liedlückentext wird von den Lernern kreativ ergänzt (einzelne Wörter bis hin zu einer Strophe) und in einer anschließenden Hörver-stehensübung mit dem Original verglichen. - Schreiben mit Personenbildern, Kunstbildern, Werbebildern etc. Lerner schreiben einen Text z.B. zu folgenden Fragen: Wie ist die Person in diese Situation gekommen? Was würde in einem Brief dieser Person an ihre/n besten Freund/in stehen? Was ist wohl der größte Wunsch dieser Person? - Schreiben mit Bildergeschichten Lerner schreiben den Anfang (1. Bild weglassen) oder das Ende einer Bildergeschichte (letztes Bild weglassen) oder sie schreiben einen Erlebnisbericht aus der Perspektive einer Figur. c) Textrevidierende Übungen: Lemer überarbeiten ihre Texte - Anwendung von Revisionsfragen: Was erwartet ein fremder Leser von meinem Text? Ist dieser Punkt wichtig? Ist er mit dem vorhergehenden Text verbunden? Habe ich mich präzise ausgedrückt? Generell ist fast jede Übung auf jeder Niveaustufe einsetzbar, wenn die Aufgabenstellung und Schreibhilfen je nach Sprachstand und Lernerbedürfnissen lehrerseitig entsprechend dosiert werden. Hilfestellung und Entlastung vor, während und nach dem Schreiben kann erfolgen durch Partner- oder Gruppenarbeit, durch Zerlegung des Schreibprozesses in Einzelaktivitäten (nur planen, nur revidieren etc.), durch Textgerüste, durch Hilfstexte, durch Redemittelangebote, durch Computereinsatz etc. 8. Wie korrigiert man Lernertexte? Bei kreativen Schreibaufgaben sind Fehler von untergeordneter Bedeutung. Hier geht es darum, dass der Lerner Dinge ausprobiert und größere Schreibsicherheit gewinnt. Bei formal gebundenem Schreiben im Rahmen einer standardisierten Textsorte ist es jedoch wichtig, dass der Text möglichst fehlerfrei ist. Lehrerkorrekturen sollten allerdings so wenig wie möglich als Sanktionen, sondern als Hilfestellung fungieren, die den Lerner zu eigenständiger Fehlerbereinigung befähigen. Fehler sollten nicht nur als Normverstöße gekennzeichnet werden, sondern es sollte auch ihr Einfluss auf die kommunikative Funktion des Gesamttextes deutlich werden. Und zu guter Korrektur gehört auch eine positive Evaluation besonders geglückter Schreibprodukte (Art. 80). 9. Woran man beim Schreibunterricht sonst noch denken sollte - Die Aufgabenstellung muss präzise sein im Hinblick auf die erwartete Textsorte, den potenziellen Leser, die Textlänge, die zur Verfügung stehende Zeit. - Lerner sollten - auch aus Motivationsgründen -schon früh kleine eigene Texte schreiben. - Schreibunterricht sollte auf die Bewältigung von realen und später zu erwartenden Schreibanforderungen bzw. Textsorten vorbereiten. - Jeder Lernertext hat auch eine inhaltliche Botschaft, die respektiert werden will. - Ein guter Text entsteht nicht im ersten Anlauf. - Es gibt interkulturelle Unterschiede im Muster vieler Textsorten (andere Ix Form, Inhalt, Struk- tur, Stil), die beim zielkulturellen Leser zu Missverständnissen führen können und für die sensibilisiert werden sollte (Eßer 2000). - Entstandene Texte sollten nach Möglichkeit (weiter)benutzt werden (authentische Briefe, Klassenzeitung, Material für andere Lerner-gruppen). - Schreibenlernen braucht Zeit und Raum - auch im und während des Unterrichts. Literatur Bohn, R. (1989), „Das Schreiben im Ensemble der sprachlichen Tätigkeiten. Anmerkungen zur lernpsychologischen Bedeutsamkeit schriftlichen Sprachgebrauchs im Fremdsprachenunterricht", in: Heid, M., Hrsg., 51-60. Börner, W. (1998), „Schreiben im Fremdsprachenunterricht", in: Jung, U. O. H., Hrsg., 287-294. Börner, W./Vogel, K. Hrsg. (1992), Schreiben in der Fremdsprache. Prozess und Text. Lehren und Lernen, Bochum. Bräuer, G. (1998), Schreibend lernen: Grundlaßen einer theoretischen und praktischen Schreibpädagogik, Innsbruck. Brenner, G. (1990), Kreatives Schreiben. EinLeitfaden für die Praxis. Mit Texten Jugendlicher, Frankfurt a.M. Eßer, R. (2000), „Schreiben im Vergleich. Kulturelle Ge-prägtheit wissenschaftlicher Textproduktion und ihre Konsequenzen für den DaF-Unterricht", in: Krumm, H.-J., Hrsg., 56-108. Hayes, J. R./Flower, L. S. (1980), „Identifying the Organization of writing processes", in: Gregg, W. L./Stein-berg, E. R. Hrsg., Cognitive processes in writing, Hilldale, NJ, 3-20. Heid, M., Hrsg. (1989), Die Rolle des Schreibens im Unterricht Deutsch ah Fremdsprache, München. Jung, U. O.H., Hrsg. (1998), Praktische Handreichungen für den Fremdsprachenlehrer, 2. verbesserte u. erweiterte Auflage, Frankfurt a.M. Kast, B. (1999), Fertigkeit Schreiben, München. Krings, H. P. (1992), „Empirische Untersuchungen zu fremdsprachlichen Schreibprozessen - Ein Forschungsüberblick", in: Börner, W./Vogel, K, Hrsg., 47-78. Krumm, H.-J., Hrsg. (2000), Erfahrungen beim Schreiben in der Fremdsprache Deutsch, Innsbruck. Kupetz, R., Hrsg. (1997), Vom gelenkten zum freien Schreiben im Fremdsprachenunterricht: Freiräume sprachlichen Handelns, Frankfurt a.M. Mummert, I. (1989), Nachwuchspoeten. Jugendliche schreiben literarische Texte auch im Fremdsprachenunterricht, München. Pommerin, G. et. al. (1996), Kreatives Schreiben. Handbuch für den deutschen und interkulturellen Sprachunterricht in den Klassen 1-10, Weinheim und Basel. Portmann, RR. (1991), Schreiben und Lernen. Grundlagen einer fremdsprachlichen Schreibdidaktik, Tübingen. Rico, G.L. (1989), Garantiert schreiben lernen, Reinbek. Tribble, C. (1996), Writing, Oxford. Ruth Eßer